Der Skandal um die Hitler-Tagebücher - Michael Seufert - E-Book

Der Skandal um die Hitler-Tagebücher E-Book

Michael Seufert

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Beschreibung

Die Fälschung des Jahrhunderts Am 25. April 1983 präsentierte der STERN der staunenden Öffentlichkeit seinen Sensationsfund: die Hitler-Tagebücher. Nur kurze Zeit später entpuppten sie sich als Fälschung, und der größte Presseskandal der Bundesrepublik war geboren. Aber wie konnte es dazu kommen? Michael Seufert, damals Redakteur beim STERN, war dabei, und er kennt alle Beteiligten. Schonungslos und detailliert berichtet er, warum ausgerechnet im Fall Hitler-Tagebücher alle normalen Kontrollmechanismen beim STERN versagten. Michael Seufert ist die persönliche und ungemein spannende Aufarbeitung einer wahren Geschichte gelungen, die vor allem von Machtgelüsten, Geheimhaltungswahn und Karrieren, von Blindheit und der Gier nach dem großen Geld handelt.

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Michael Seufert

Der Skandal um die Hitler-Tagebücher

Sachbuch

Fischer e-books

Prolog

Es ist Freitag, der 6.Mai 1983, 11.00 Uhr, als im 6. Stock des Redaktions- und Verlagshauses von Gruner+Jahr an der Hamburger Außenalster die Redaktionskonferenz des Stern beginnt. Einziges Thema: die Hitler-Tagebücher. In der Woche zuvor hatten die Stern-Chefredakteure Peter Koch und Felix Schmidt gemeinsam mit dem Tagebuchbeschaffer Gerd Heidemann und Ressortleiter Thomas Walde auf einer internationalen Pressekonferenz vor 250 Journalisten den Sensationsfund bekannt gegeben und weltweit Schlagzeilen gemacht.

Jetzt ist der zweite Teil der Tagebuchserie erschienen: Hitlers Aufzeichnungen über den spektakulären Flug seines Stellvertreters Rudolf Heß nach England – mitten im Zweiten Weltkrieg. Freitags ist Heftkritik beim Stern, und jetzt wird über die einseitige Präsentation der Tagebücher diskutiert. Wieder nur Bilder von Hitler, der Kinderwangen tätschelt, Heß als verwegenem Pilot, Joseph Goebbels und Hermann Göring in freundlichen Posen, keine Fotos von den Opfern ihrer Verbrechen. Der Stern mache Nazipropaganda, heißt es.

Chefredakteur Peter Koch ist auf einer Präsentationstour in den USA, um in Fernsehsendungen für die Tagebücher zu werben. Felix Schmidt wehrt sich gegen die Vorwürfe aus der Redaktion. Jeder wisse doch, was damals geschehen sei. Als Ingrid Kolb, Leiterin des Ressorts »Gesellschaft und Erziehung«, die öffentlich erhobenen Zweifel an der Echtheit der Tagebücher aufgreift und konkret wissen will, was es damit auf sich habe, wird Schmidt scharf: »Ich bin nie sicherer gewesen als jetzt.« Kritik, das Ressort »Zeitgeschichte« rühre in brauner Sauce, schmettert Schmidt mit dem Satz ab: »Wer an den Kollegen zweifelt, befindet sich beim falschen Blatt.« Als er nach den merkwürdigen Initialen auf einem Tagebuch gefragt wird, das sei doch kein »AH« für Adolf Hitler, sondern »FH«, antwortet Schmidt, über diese Verwechslung habe sich auch schon Hitler erregt.

Auf den Fluren und in der Kantine des »Affenfelsens« – so wird das Verlagsgebäude wegen seiner terrassenartigen Form im Volksmund genannt – gehen die Diskussionen nach der Konferenz weiter. Die Drohungen von Schmidt sorgen für Empörung. Und was ist an den Fälschungsvorwürfen dran? Die falschen Buchstaben sind wirklich komisch. Aber es gibt doch eindeutige Schrift- und Papiergutachten, die belegen, dass die Tagebücher echt sind? Der Stern würde doch nie solch brisante Dokumente veröffentlichen, wenn sie nicht nach allen Regeln der Kunst geprüft sind.

 

Es ist kurz nach halb zwei, als mein Kollege Teja Fiedler in mein Zimmer im fünften Stock des Redaktionshauses kommt und sagt: »Du, die Bücher sind gefälscht!« Ich mag das nicht glauben: »Woher hast du das?« – »Meine Mutter hat mich gerade angerufen. Die hat es im Radio gehört.«

Um 13.27 Uhr hat die Nachrichtenagentur AP eine Eilmeldung verbreitet, dass die vom Magazin Stern veröffentlichten Tagebücher Adolf Hitlers eine Fälschung seien. Kurz zuvor hat Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann dieses Ergebnis von Untersuchungen des Bundeskriminalamtes und des Amtes für Materialprüfung in Bonn bekannt gegeben. Es ist der größte Presseskandal in der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Beim Stern herrscht Entsetzen, Wut und Verzweiflung. Der Konferenzraum ist überfüllt, als Felix Schmidt um 14.30 Uhr der Redaktion offiziell bestätigt, was schon alle wissen. Fragen nach Details der Affäre wehrt der Chefredakteur ab. Es geht jetzt darum, das Heft zu aktualisieren. Die zweite Heß-Folge muss aus dem Blatt, Ersatzartikel müssen produziert werden. Für 17.00 Uhr wird eine Vollversammlung der Stern-Redaktion in der Kantine mit Schmidt und Gerd Schulte-Hillen, dem Vorstandsvorsitzenden von Gruner+Jahr, angekündigt.

Gegen 16.00 Uhr klingelt mein Telefon, am Apparat ist Henri Nannen, der Gründer, langjährige Chefredakteur und jetzige Herausgeber des Stern. Ich solle doch gleich in den 9. Stock in das Büro von Verlagschef Gerd Schulte-Hillen kommen. Um den großen runden Konferenztisch mit herrlichem Panoramablick über die Alster ist der Vorstand von Gruner+Jahr versammelt. Neben Nannen und Schulte-Hillen auch Zeitschriften-Vorstand Dr.Jan Hensmann und John Jahr jr. Es herrscht gedrückte Stimmung, die Gesichter sind grau.

So habe ich die Führungsmannschaft des Verlages noch nie erlebt. Ich bin jetzt dreizehn Jahre beim Stern. Angefangen habe ich im Sommer 1970 als Korrespondent in Westberlin. Von 1972 bis Ende 1977 habe ich im Düsseldorfer Büro gearbeitet und bin dann als Terrorismus-Experte in die Hamburger Zentrale gewechselt. Seit 1980 leite ich das Ressort »Deutschland Aktuell«. Mir ist klar, dass jetzt ein ganz besonderer Auftrag auf mich wartet.

Henri Nannen ist an diesem Freitag auf dem Hamburger Flughafen durch einen Anruf von Jan Hensmann über die Fälschung informiert worden und sofort ins Verlagshaus zurückgekehrt. Die Justiziare von Gruner+Jahr hatten vorab vom Bundesarchiv von der Pleite erfahren. Nun will Nannen, dass der Stern selbst die Fälschungsmeldung wenigstens als Erster an die Agenturen gibt, er wird aber von Minister Zimmermann überholt.

Nannen hat schon viele schwere Stunden durchgemacht. Die böseste Attacke ritt 1971 der Chef des »ZDF Magazin« Gerhard Löwenthal gegen ihn. Vorwurf: Nannen sei als Wehrmachtsoffizier während des Zweiten Weltkrieges in Italien in Geiselerschießungen verwickelt gewesen. Dank erfolgreicher Recherchen von Stern-Reportern konnte Nannen diese Beschuldigungen widerlegen, sein live übertragenes Streitgespräch mit Löwenthal ging in die Fernsehgeschichte ein. Die Pleite mit den angeblichen Hitler-Tagebüchern empfindet er selbst als seine schwärzeste Stunde.

Die Vorstandsrunde wirkt ratlos. Gerd Schulte-Hillen, der den Verlag mit straffer Hand führt und für Selbstzweifel nicht bekannt ist, schweigt. Nannen sagt, dass der Verlag und der Stern Opfer von Betrügern geworden sind. »Klären Sie die Sache auf, ohne Ansehen der Person. Sie haben freie Hand.«

Zurück in meinem Büro rufe ich die Redakteure des Ressorts »Deutschland Aktuell« zusammen und berichte ihnen von Nannens Auftrag. Bevor die Recherchen richtig beginnen können, brauchen wir als wichtigsten Informanten Gerd Heidemann, den Mann, der die »Hitler-Tagebücher« beschafft hat.

 

Heidemann, seit 1955 beim Stern, gilt als Mann für die schwierigen Fälle, ein penibler Rechercheur, Fotograf und Kriegsberichterstatter. Als Reporter hat er von dreizehn Kriegen in Afrika und im Nahen Osten berichtet. In der Bestechungsaffäre um die Beschaffung des Lockheed-Kampfflugzeugs Starfighter für die Bundesluftwaffe hat Heidemann bewiesen, dass der Hauptbelastungszeuge Ernest Hauser sein Tagebuch mit kompromittierenden Eintragungen über den ehemaligen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß gefälscht hatte. Heidemann ist einer, der bei Recherchen jeden Stein zweimal umdreht. Die Kollegen nennen ihn halb hochachtungsvoll, halb spöttisch »den Spürhund«.

An diesem Freitag ist Heidemann in Süddeutschland unterwegs. Er besucht im bayerischen Miesbach die Witwe eines Druckereibesitzers und ehemaligen SS-Mannes. Der Reporter fahndet nach alten Papiermustern aus der NS-Zeit, in denen er optische Aufheller erhofft. Denn die hat ein Gutachter in einer angeblich von Adolf Hitler geschriebenen Notiz gefunden und das Dokument für falsch erklärt, weil solche Aufheller erst nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Papierproduktion verwendet worden seien. Aber bei der SS, so hat Heidemann von einem Informanten erfahren, sei schon mit diesen Chemikalien experimentiert worden. Heidemann hört im Autoradio die Nachricht von der Fälschung. Er hält an der nächsten Telefonzelle und ruft in Hamburg Thomas Walde an, den Chef des Ressorts »Zeitgeschichte«, mit dem er seit mehr als zwei Jahren an den Tagebüchern gearbeitet hat.

Walde sagt zu Heidemann, er solle zum Flughafen München-Riem fahren und sofort nach Hamburg zurückkommen. Aber nicht mit einer Linienmaschine, sondern mit einem Charterflugzeug. »Die Konkurrenz ist hinter dir her!« In der Bar des Flughafens erwartet ihn der Münchner Stern-Korrespondent. Beide trinken einige Glas Whisky, ehe die Privatmaschine gegen 21.00 Uhr endlich in Riem landet. Kurz vor Mitternacht ist Heidemann in Hamburg.

Im 9. Stock des »Affenfelsen« erwarten ihn Gerd Schulte-Hillen, Henri Nannen und Jan Hensmann. Nannen begrüßt ihn mit dem Satz: »Entweder Sie sind ein Betrüger, oder Sie gehören ins Irrenhaus.« Schulte-Hillen fragt den Reporter: »Was sagen Sie dazu?« Heidemann antwortet zur Verblüffung der Anwesenden. »Die Bücher sind echt.« Nannen und Schmidt werden nun endgültig wütend und wollen endlich wissen, von wem Heidemann die sechzig Tagebuchbände bekommen hat. Der weigert sich, seine Quelle zu nennen, und beruft sich auf den ihm vertraglich zugesicherten Informantenschutz. Die Bücher seien heimlich aus der DDR in den Westen gekommen. Er könne die Namen nicht nennen, hier gehe es um Menschenleben.

Und dann stellt Heidemann sein Tonbandgerät auf den Konferenztisch, legt eine neue Kassette ein und spielt das mitgeschnittene Gespräch mit einem seiner Informanten vor. Der kündigt an, dass Hitlers ehemaliger Sekretär und rechte Hand Martin Bormann aus Südamerika Heidemann mit Dokumenten des »Führers« zu Hilfe kommen wolle. Alle Anwesenden wissen, dass Bormann seit 1945 tot ist. Die Situation wird immer absurder.

Als Nannen massiv wird und darauf hinweist, dass Betrüger kein Recht auf Informantenschutz haben, gibt Heidemann nach und sagt, sein Kontaktmann sei ein Konrad Fischer aus Stuttgart. Um die Runde zu beruhigen, schaltet Heidemann sein Tonbandgerät noch einmal an und spielt ein Telefonat vor, das er mit diesem Fischer geführt und mitgeschnitten hat. Der Mann erklärt darin, dass Zweifel an der Echtheit der Tagebücher unbegründet seien. Kurz vor zwei Uhr nachts löst sich die Versammlung auf.

Drei Etagen tiefer, im Büro von Chefredakteur Felix Schmidt, warten seit Stunden vier Leute auf Heidemann: Ressortleiter Thomas Walde, Gunther Len Schönfeld, der Chef der Nachrichtenredaktion, Wolf Thieme, der nach Heidemanns Angaben die Fundgeschichte der Tagebücher für den Stern geschrieben und sich bei der Chefredaktion darüber beschwert hatte, dass Heidemann ihn nur unzureichend informiere und wichtige Details vorenthalte, und ich. Heidemann kommt mit Schmidt, er ist müde und mag nicht mehr reden, seine Frau will ihn mit nach Hause nehmen. Nach kurzer, heftiger Debatte bleibt er. Das Gespräch dauert bis 5.30 Uhr und wird per Tonband aufgezeichnet. Heidemanns Aussagen sind die unglaublichste Geschichte, die ich in meinem Leben gehört habe. Schon der Beginn ist bezeichnend:

Heidemann: »Ja, wie soll ich die Geschichte erzählen?«

Seufert: »An einer Geschichte kommen wir doch nicht vorbei, dass die Bücher gefälscht sind.«

Heidemann: »Das sagt ihr, ich bin da nicht von überzeugt.«

In dieser Nacht erzählt der berühmte Stern-Reporter von dem Militaria-Sammler Konrad Fischer aus Stuttgart, von dessen Bruder Heinz, der General in der Nationalen Volksarmee der DDR in Köthen ist und den Tagebuchschmuggel in den Westen organisiert, und von Fischers Schwager Günter K., einem Museumsdirektor im sächsischen Löbau, der die Tagebücher von einem alten Bauern aus Börnersdorf besorgt hat, wo doch 1945 ein Flugzeug auf dem Weg von Berlin nach Süddeutschland mit mehreren Kisten wichtiger Dokumente von Adolf Hitler abgestürzt war. Der Stern hatte den Flug dieser Unglücksmaschine in der ersten Tagebuchveröffentlichung genau dokumentiert.

Und Heidemann berichtet von dem vielen Bargeld, das er dem Tagebuchlieferanten übergeben hat. Insgesamt hat der Verlag Gruner+Jahr 9,3 Millionen Mark für die Beschaffung der Hitler-Tagebücher investiert. Heidemann hat das Geld immer bar auf die Hand bekommen.

Besonders abenteuerlich ist Heidemanns Schilderung, wie er drei Mal selbst Tagebücher aus der DDR geholt habe. Normalerweise seien die Bände in Klavieren versteckt von einem Fahrer der DDR-Spedition Deutrans in den Westen geschmuggelt worden. Der sei aber einmal krank geworden. Und da habe eben er selbst in Absprache mit seinem Kontaktmann Fischer mehrere Bücher auf der Transitstrecke zwischen Lauenburg und Westberlin kurz vor Perleberg in Empfang genommen – und zwar im fahrenden Auto. An einer bestimmten Kurve habe wie verabredet ein DDR-Wagen gewartet. Der Fahrer habe ihn dann überholt und durch das geöffnete Seitenfenster das Paket mit den Tagebüchern geworfen. Danach habe er selbst das DDR-Auto überholt und im Gegenzug den Umschlag mit dem Bargeld dort hineingeworfen.

Schon der angebliche NVA-General Fischer in Köthen kommt mir wenig glaubhaft vor, denn ich kenne die Kleinstadt in Sachsen-Anhalt und weiß, dass dort sowjetische Truppen, aber keine Soldaten der Nationalen Volksarmee stationiert sind. Aber als Gerd Heidemann von seiner Transitfahrt erzählt, bin ich überzeugt, dass er uns belügt. Wer je zu DDR-Zeiten auf der alten Reichsstraße 5 gefahren ist, weiß, was für eine gefährliche Piste das war. Die Straße ist schmal, Kopfsteinpflaster und löchriger Asphaltbelag wechseln sich ab, auch die zahlreichen sowjetischen Militärlastwagen machen die Fahrt zum Abenteuer. Man ist jedes Mal froh, wenn man die Strecke hinter sich hat. Und ausgerechnet dort soll die filmreife Übergabe von Auto zu Auto stattgefunden haben.

Merkwürdigerweise kann sich Heidemann, der sich normalerweise kleinste Details merkt, nicht an die Marke des DDR-Autos erinnern. Die Farbe? So silbrig-grün wie Waldes Zigarettenschachtel Marlboro Menthol, sagt er. Das Kennzeichen? Das weiß er genau: BT – wie B. Traven, der sagenumwobene Autor des Bestsellers »Das Totenschiff«, auf dessen Spuren Heidemann in Mexiko unterwegs war. (1967 erschien im Stern der große Heidemann-Bericht »Wer ist der Mann, der Traven heißt?«. Aus seinen Recherchen entsteht auch ein Fernsehfilm, außerdem veröffentlicht Heidemann das Buch Postlagernd Tampico.)

Gerd Heidemann berichtet in dieser Nacht immer wildere Geschichten von Konrad Fischer und dessen Bruder Heinz. Angeblich habe der einige Generalskollegen in die Geheimsache einweihen und mit Westgeld ruhigstellen müssen. Die hohen Offiziere hätten sich inzwischen am Plattensee im sozialistischen Bruderstaat Ungarn Ferienhäuser davon gebaut. Ein Rechercheansatz? Felix Schmidt schlägt vor, am Plattensee nach den Generälen und ihren Datschen zu suchen. Die Idee wird als wirklichkeitsfremd verworfen.

Mehrmals spricht Heidemann seinen Ressortleiter Walde hilfesuchend an, wenn es um Konrad Fischer geht: »Das weißt du doch, Thomas.« – »Das habe ich dir doch von Conny erzählt.« Doch Walde hält sich bedeckt. Er besteht nur darauf, das Tonband abzuschalten, wenn die Sprache darauf kommt, dass es bei der Tagebuchrecherche auch Kontakte zum DDR-Geheimdienst gegeben hat. Niemandem in der Runde ist zu diesem Zeitpunkt bekannt, dass Heidemann seinen Vorgesetzten von Anfang an über alle seine Schritte und Kontakte mit dem geheimnisvollen Konrad »Conny« Fischer informiert hat.

Über der Alster zieht langsam die Dämmerung auf. Ich bitte Gerd Heidemann, uns endlich die Anschrift von seinem Konrad Fischer zu geben. »Schreiberstraße 22, das ist, wo er seinen Laden hat.« – »Da wohnt er nicht?« – »Nein, der wohnt irgendwo auf dem Lande. Er hat vorher in Ditzingen gewohnt. Jetzt ist er umgezogen. Und ich habe immer gesagt: Gib mir doch mal deine neue Anschrift. Die wollte er mir immer nicht geben. Weil wir uns immer telefonisch verabredeten und uns immer in der Schreiberstraße treffen.« – »Gib uns seine private Telefonnummer. Wenn wir die haben, können wir doch den Ort feststellen.« Heidemann sagt: »07142–32 ...«

Es ist 5.30 Uhr. Heidemann fährt nach Hause. Aus meinem Büro rufe ich den Frankfurter Stern-Korrespondenten Rudolf Müller an und bitte ihn, nach Stuttgart aufzubrechen und vor Ort über Konrad Fischer zu recherchieren. Die Telefonnummer ist schnell entschlüsselt, der Anschluss in Bietigheim-Bissingen ist auf die Lebensgefährtin des Tagebuch-Lieferanten eingetragen.

Den DDR-Korrespondenten des Stern und Fotografen Harald Schmitt erreicht Rolf Gillhausen, der im Stern für die Optik verantwortliche Chefredakteur, in Westberlin und bestellt ihn nach Hamburg, um ihn in den Fall einzuweihen. Schmitt soll nach Löbau in Sachsen fahren, den Museumsdirektor Günter K. interviewen und in Köthen nach dem NVA-General Heinz Fischer suchen. Eigentlich bräuchte er für solche Recherchen eine Genehmigung des Presseamtes im DDR-Außenministerium, doch das kann Wochen dauern, und es ist zweifelhaft, ob er je die Erlaubnis dafür bekäme. Harald Schmitt macht sich auf eigenes Risiko auf den Weg.

Wenige Stunden später ruft mich Rudolf Müller zu Hause an. Er steht in Stuttgart vor Konrad Fischers Militaria-Laden in der Schreiberstraße 22. Auf dem Klingelschild befindet sich ein Aufkleber mit der Aufschrift »Militaria«. Müller hat den Zettel abgenommen. »Darunter steht Kujau.« Auch im Treppenhaus hat Müller diesen Namen gefunden, auf der Liste der Mieter, die Woche für Woche zur Treppenreinigung eingeteilt sind.

In Bietigheim-Bissingen findet Müller gegen 8.30 Uhr in der Straße Im Friederikele 10 ein neues schmuckes Einfamilienhaus mit kleinem Garten und schmiedeeisernem Zaun. An der Tür hängt das Wappen von Baden-Württemberg mit dem Wahlspruch: »Furchtlos und treu«. An Klingel und Gegensprechanlage fehlt ein Name. Bei Nachbarn erfährt er, dass in dem Haus kein Herr Fischer wohnt, der Mann habe einen anderen Namen. Die Postbotin weiß Bescheid: »Hier wohnt kein Fischer. Ich habe immer nur Post für Dr.Kujau und die Frau gehabt. Gestern waren die aber noch da, da waren jedenfalls noch die Jalousien hoch.«

 

Keine vier Stunden nach dem Gespräch mit Gerd Heidemann steht fest, die Geschichte von der Beschaffung der Hitler-Tagebücher ist eine Legende. Es gibt keinen Konrad Fischer und damit auch keinen DDR-General Heinz Fischer. Wenn denn der Bruder Heinz in Köthen tatsächlich existiert, muss er wohl auch Kujau heißen.

Während Harald Schmitt auf dem Weg nach Löbau ist, treffen sich Thomas Walde, Leo Pesch, der dritte Mann vom Ressort »Zeitgeschichte«, und ich, um das Gespräch mit Gerd Heidemann fortzusetzen. Doch der ist nicht zu erreichen. Niemand geht an sein Telefon, und auch als wir an seiner Wohnungstür an der Elbchaussee klingeln, wird nicht geöffnet. Mehrere Kollegen des Ressorts sind unterwegs nach Stuttgart, um Rudolf Müller bei den Nachforschungen zu helfen.

Am frühen Abend ist Harald Schmitt von seiner Reise nach Löbau und Köthen zurück. Das Ergebnis seiner Recherchen ist ebenso komisch wie niederschmetternd: »Der von euch gesuchte Mann heißt in Wirklichkeit Konrad Kujau, ist geboren am 27.6.1938 in Löbau, Vater Richard Kujau aus Löbau, Mutter Herta aus Karl-Marx-Stadt. Konrad Kujau ist 1957 in den Westen abgehauen.«

Kujaus Schwager Günter K., Ehemann seiner Schwester Doris und angeblicher Museumsdirektor und Tagebuchbeschaffer, ist in Wahrheit Hausmeister im kleinen, örtlichen Museum und arbeitet als Heizer in einem Krankenhaus. Er hat nie etwas mit Tagebüchern zu tun gehabt. Die Verwandten wissen, dass Konrad Kujau eine große Begabung fürs Zeichnen und Malen hat und sich für alles Militärische und für Adolf Hitler interessiert. Bei seinen Besuchen in Löbau habe er im nahen Bautzen mehrere Kladden mit festem, schwarzem Einband gekauft und nach Stuttgart mitgenommen. Und er hat ihnen erzählt, dass er sich einen zweiten Namen zugelegt habe, er heiße jetzt manchmal auch Fischer.

Die Mär vom NVA-General Heinz Fischer ist eine ähnliche Groteske: Der 1929 geborene Bruder Heinz Kujau ist Gepäckträger bei der Reichsbahn in Köthen und nebenbei Hilfspolizist bei der Bahnpolizei.

Ich weiß nicht, ob ich lachen oder heulen soll. Die Hitler-Tagebücher seien »ein bedeutender zeitgeschichtlicher Fund und der größte Knüller seit Watergate«, derentwegen »die Geschichte des 3. Reiches in weiten Teilen umgeschrieben werden« müsse, wie es im Kommentar zur ersten Tagebuchveröffentlichung vollmundig geheißen hatte. Im Vorspann zum ersten, 21 Doppelseiten langen Bericht heißt es sogar: »Die Geschichte des Dritten Reiches wird in großen Teilen neu geschrieben werden müssen.« Die »Hitler-Tagebücher« habe der Stern mit »großer Sorgfalt prüfen lassen – ein Aufwand, der in der Historikerzunft nicht immer üblich ist. Schriftsachverständige und Zeitgeschichtler der Spitzenklasse machten sich über die Dokumente her. Ihr Urteil ist so einstimmig wie eindeutig.« So stand es im Stern. Nun sind diese Bücher, für die der Verlag 9,3 Millionen ausgegeben hatte, nicht mehr als Altpapier.

Je länger unsere Recherchen und die Ermittlungen von Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft dauern, umso deutlicher wird: Der Skandal um die gefälschten Hitler-Tagebücher ist eine programmierte Katastrophe. Es ist kein Zufall, dass alle normalen Kontrollmechanismen beim Stern in diesem Fall versagt haben. Denn beim Geheimprojekt Hitler-Tagebücher steht im Verlag Gruner+Jahr von Anfang an die Welt auf dem Kopf. Und bei den Beteiligten geht es um Karrieren, Macht und vor allem um das große Geld.

Vorstandschef Gerd Schulte-Hillen und sein Vorgänger Dr.Manfred Fischer spielen Chefredakteur und wollen beweisen, dass sie einen journalistischen Knüller erkennen und für den Verlag sichern können. Millionenbeträge werden Gerd Heidemann bar in die Hand gedrückt, einem Mann, der enorme Schulden und teure Obsessionen hat.

Der Verlag schließt mit dem Tagebuchbeschaffer Gerd Heidemann und seinem Ressortleiter Dr.Thomas Walde ohne Wissen der Chefredaktion Verträge, die sie zu reichen Leuten machen und ihnen gleichzeitig die exklusive Auswertung der Tagebücher sichern. Damit sind die Leute, die den spektakulären Fund kritisch hätten prüfen müssen, am wirtschaftlichen Erfolg direkt beteiligt. Eine fatale Interessenkollision, wie sich bald zeigen soll.

Die absolute Geheimhaltung über den angeblichen Jahrhundertscoop erzeugt bei den wenigen Eingeweihten eine Bunkermentalität, die den Blick für die Realitäten verstellt und jeden Zweifel mit abenteuerlichen Geschichten zerstreuen lässt.

Als die Chefredakteure Peter Koch, Felix Schmidt und Rolf Gillhausen durch einen Zufall von dem unglaublichen Vorgehen der Verlagsspitze erfahren, wird ihr Protest vom Tisch gewischt. Geblendet von der angeblichen historischen Sensation und der Tatsache, dass der Verlag damals in das Projekt schon sagenhafte 1,5 Millionen Mark investiert hat, geben sie ihren Widerstand auf.

Henri Nannen, der Herausgeber des Stern, will namhafte Hitler-Experten wie Sebastian Haffner und Joachim Fest als Sachverständige zu dem Tagebuchprojekt hinzuziehen. Er scheitert mit diesem Plan aber an den Exklusivparagraphen der Verwertungsverträge, die der Verlag mit Heidemann und Walde geschlossen hat.

Und in der Schlussphase vor der Veröffentlichung, als noch immer die Chance besteht, das Desaster zu stoppen, bricht in den Chefetagen Hektik aus. Verlagschef Gerd Schulte-Hillen schaltet sich selbst in die Verhandlungen um die internationalen Abdruckrechte ein, denn es geht um viel Geld. Handfeste Zweifel an der Echtheit der präsentierten Dokumente werden zur Seite geschoben. Die falschen Initialen etwa – »FH« in Textur-Buchstaben statt »AH« – werden zwar erkannt, aber Heidemann liefert dafür eine, wenn auch abenteuerliche Erklärung. Ein negatives Papiergutachten, in letzter Minute eingeholt, wird mit dem Argument entkräftet, es betreffe ja nicht die Tagebücher direkt.

Die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Am Schluss werden Gerd Heidemann, Konrad Kujau und seine Lebensgefährtin angeklagt und vor Gericht gestellt. Die 11. Große Strafkammer des Hamburger Landgerichts verurteilt Heidemann am 8.Juli 1985 wegen Betruges zu vier Jahren und acht Monaten Freiheitsstrafe. Kujau bekommt wegen Betruges in Tateinheit mit Urkundenfälschung vier Jahre und sechs Monate Haft. Kujaus Lebensgefährtin wird wegen Hehlerei zu acht Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt.

 

Das Ansehen und die Glaubwürdigkeit des Stern sind auf Jahre hinaus ramponiert. Nur mühsam gelingt es der Redaktion, das Vertrauen der Leser zurückzugewinnen. Keiner der damals Verantwortlichen ist heute noch in der Redaktion des Stern oder im Verlag Gruner+Jahr tätig.

Der Aufstieg des Konrad Kujau

Konrad Kujau wird am 27.Juni 1938 in Löbau bei Dresden geboren. Seine Mutter Herta ist Hausfrau, Vater Richard ist Schuhmacher. Er wird seit den letzten Kriegsmonaten vermisst. Konrad und seine vier Geschwister wachsen ohne Vater auf. Der Junge besucht in Löbau die Preusker-Grundschule. Nach der 8. Klasse, im Juli 1954, verlässt er die Schule und beginnt eine Lehre als Bauschlosser. Doch schon ein Jahr später bricht er die Ausbildung ab und jobbt als Packer, Lagerarbeiter, als Hilfsarbeiter in einer Dachdeckerei und in einer Mälzerei. Bei seinen Freunden gilt er als lustiger Vogel, der immer zu Späßen aufgelegt ist.

Nach einem Krach mit Funktionären der »Freien Deutschen Jugend« (FDJ) entschließt er sich 1957, nach Westdeutschland zu flüchten. Er kommt in die Nähe von Stuttgart und schlägt sich zunächst als Arbeiter in einer Getränkefirma, als Beifahrer und Kellner durch. Später arbeitet er als Gebäudereiniger. Der humorvolle Kujau legt Wert auf elegante Kleidung und feiert gern. Seine neuen Freunde sind beeindruckt von seinem großen Zeichentalent.

Anfang der 60er-Jahre trifft er seine zukünftige Lebensgefährtin. Auch sie stammt aus der DDR. Nach der Grund-schule hat sie in Stendal als Verkäuferin gearbeitet und dann eine Lehre als Krankenschwester begonnen. 1961, kurz vor dem Bau der Berliner Mauer, flüchtet sie. Als sie Kujau kennenlernt, arbeitet sie als Serviererin.

1963 freunden sich die beiden an. Auf Bitten Kujaus meldet sie auf ihren Namen eine Gebäudereinigungsfirma an. Wenig später beziehen die beiden im schwäbischen Schmiden ihre erste gemeinsame Wohnung. Kujau ist mit der Firma erfolgreich. Zuerst arbeitet er allein, aber schon bald wächst die Zahl der Kunden. Er stellt Mitarbeiter ein. Seine Freundin hat inzwischen eine Anstellung als Strickerin angenommen, 1966 arbeitet sie als Filialleiterin in einem Krawattengeschäft in Stuttgart, danach führt sie den gemeinsamen Haushalt. Anfang der 70er-Jahre hat Kujau immer mehr Schwierigkeiten, geeignetes Personal zu finden, die Kunden springen ab. 1973 ist die Firma am Ende.

Die beiden beschließen, ihr Glück als Campingplatz-Betreiber zu versuchen. Sie pachten einen Platz am Ammersee. Zum Saisonende im Oktober 1973 ziehen sie Bilanz. Es hat sich nicht gelohnt. Sie kündigen den Pachtvertrag. Kujaus Lebensgefährtin arbeitet wieder in Stuttgart, zuerst in einer Kantine und dann gut sechs Jahre bis Mai 1983 als Verkäuferin bei der Firma Hochland-Kaffee.

Konrad Kujau sucht sich keinen neuen Arbeitsplatz, er macht sein Hobby zum Beruf. Schon in den 60er-Jahren hat er angefangen, sich mit Militaria zu beschäftigen. Er sammelt vor allem Reservistenkrüge und alte Soldatenhelme. Als er 1970, dreizehn Jahre nach seiner Flucht aus der DDR, zum ersten Mal seine Familie in Löbau wieder besucht, gelingt es ihm auch dort, solche Stücke aufzutreiben und mitzunehmen.

1974 ist die Sammlung derart angewachsen, dass Kujau mehr Platz braucht. Im April 1974 mietet er in Stuttgart einen Laden in der Aspergstraße 22 und trifft sich dort mit Gleichgesinnten. Immer mehr beschäftigt er sich auch mit NS-Devotionalien. Er merkt, dass mit der Nazizeit ein gutes Geschäft zu machen ist. Adolf Hitler übt auf die Zeitgenossen noch immer eine merkwürdige Faszination aus. Kujau wird nach Schlachtengemälden aus dem Zweiten Weltkrieg gefragt. Als begabter Maler und Zeichner mit viel Phantasie hat er keine großen Probleme, solche Werke selbst zu produzieren.

In dieser Zeit legt er sich auch den Namen Fischer zu, unter dem er gegenüber neuen Bekannten und Kunden auftritt. Seine Kriegsbilder signiert er mit »Kujau«, sodass seine Abnehmer ihn nicht als Urheber der Werke identifizieren können. Er verdient ganz gut dabei. Aber den Durchbruch schafft er, als er beginnt, Dokumente führender Nazis zu produzieren. Neben Zeichnen und Malen hat Kujau auch das Talent, Schriften nachzuahmen. Besonders die Handschrift von Adolf Hitler kann er nach kurzem Üben flüssig und täuschend ähnlich imitieren.

Wie eine glückliche Fügung muss es Kujau da erscheinen, dass er über einen Versicherungsvertreter mit dem Unternehmer Rolf Hartung aus Reutlingen [Name und Ort geändert] bekannt gemacht wird. Der Unternehmer hat mit seiner Firma für Kugel- und Rollenlager sowie Industriediamanten Millionen gemacht. Im Keller seines Hauses hat er schon etliche NS-Sachen zusammengetragen. Allerdings hat er keine Zeit, sich seiner Sammlung intensiv zu widmen. Damit will er sich im Ruhestand beschäftigen.

1974 besucht Hartung zum ersten Mal Konrad »Fischer« Kujau in der Aspergstraße 22 und kauft ihm einige Orden und Urkunden ab. Kujau erkennt bald, dass Hartung wenig Ahnung, aber viel Geld hat. Er ist auf eine Goldader gestoßen. Die beiden freunden sich an, bald sind sie per du. Es wird eine glückliche Geschäftsbeziehung. Fast acht Jahre lang verkauft »Conny« dem »lieben Rolf« alles, was dessen Herz begehrt. Was immer Kujau seinem Freund in seinem Laden präsentiert, will Hartung auf jeden Fall haben: Briefe, Gedichte, Manuskripte von Adolf Hitler und Autographen anderer Nazigrößen. Außerdem produziert Kujau Gemälde und Zeichnungen, die von Hitler stammen sollen. Hartung kauft Orden, Uniformteile, Kleidungsstücke und Gebrauchsgegenstände, von denen Kujau versichert, sie hätten Hitler gehört. Etwa Hitlers Stahlhelm, Hitlers Frack und Zylinder, auch die Uhr und den Fotoapparat des »Führers«. Für rund 50 000 Mark übernimmt Hartung eine Sammlung von etwa fünfzig Teilen »Allenbach-Porzellan«, Figuren aus einer Manufaktur, die im Besitz der SS war. Dabei hat er Glück, das »Allenbach-Porzellan« ist wirklich echt.

In der Regel nimmt Kujau zivile Preise. Pro Blatt mit Hitler-Unterschrift verlangt er 100 bis 150 Mark. Er hat Hartung erzählt, dass er Verwandte in der DDR habe, und erwähnt, dass sie einflussreiche Positionen innehätten. Sie würden ihm helfen, die Stücke zu beschaffen und über die Grenze zu bringen. Da die Verwandten vor allem an Westgeld interessiert seien, könne er so billig liefern.

Hartung kauft und kauft. Ein Auszug aus der Bildersammlung: »Zelle in Landsberg« (1200 Mark), Mappe mit 28 Arbeiten Hitlers von 1908 für die Allgemeine Malerschule in Wien (7000 Mark), zwei Bleistiftzeichnungen mit Hundeköpfen (1400 Mark), Entwurf der SS-Mütze und der SS-Runen (1500 Mark), »Der Führer in Paris« (1000 Mark), weiblicher Akt »Pummerl E. Braun« (800 Mark), »Sterbender Soldat« (1000 Mark), »Aufbruch des Jagerburschen« (6000 Mark).

Auch an Gedichten Hitlers ist Hartung interessiert. Kujau liefert »Der Kamerad«, »Blauweiß und Schwarzweißrot«, »Auf Funkwache«, »Waldfriedhof«, »Für uns« und »Stilles Heldentum«. Das angeblich von Hitler stammende Gedicht »Der Kamerad« wird später im Tagebuchskandal noch eine große Rolle spielen.

Hartung sammelt Hitler-Briefe an SS-Chef Heinrich Himmler, SA-Chef Ernst Röhm, den späteren Generalgouverneur von Polen Dr.Hans Frank, den Hitler-Kanzleichef Martin Bormann. Kujau liefert handschriftliche Manuskripte von Reden, Denkschriften, Zeitungsartikeln, Erlassen und Befehlen. Besondere Trouvaillen sind eine Kassette mit 233 Seiten Urschrift Mein Kampf (22 000 Mark) und 21 Seiten Einleitung für den dritten Band von Mein Kampf. Was insofern bemerkenswert ist, als Hitler den ersten Teil während seiner Festungshaft in Landsberg seinem späteren Stellvertreter Rudolf Heß diktiert hat.

 

Das Landgericht Hamburg wird 1985 feststellen, dass Rolf Hartung für seine Sammlung allein zwischen 1977 und 1983 insgesamt 281 615,96 Mark an Kujau gezahlt hat.

Nur ein historisches Dokument kann Hartung nicht kaufen, das bekommt er aber am 12.November 1975 von Kujau geliehen: Ein Tagebuch von Adolf Hitler, erstes Halbjahr 1935.

Dieser Tagebuchband ist eines der kuriosesten Stücke in dem an Kuriositäten reichen Tagebuchskandal: Hartung behält das Buch jahrelang und gibt es Kujau erst im Frühjahr 1983 zurück. Der reicht es an Heidemann weiter, und plötzlich besitzt der Stern für die Zeit von Januar bis Juni 1935 drei Hitler-Tagebücher, denn zwei Vierteljahrsbände für die ersten sechs Monate 1935 hatte Kujau schon geliefert.

Auf die Idee, Hitlers Leben auch in Tagebüchern nachzuzeichnen, kommt Konrad Kujau etwa Anfang 1975. Er schreibt den Text zunächst mit Maschine, das Ergebnis gefällt ihm aber nicht. Sehr viel überzeugender erscheint ihm ein handschriftliches Tagebuch. Hitlers Handschrift kann er flüssig nachahmen. Also überträgt er seine Texte mit schwarzer Tinte in die mit schwarzem Kunststoff beklebten Kladden, die er im Konsum im sächsischen Bautzen gekauft hat. Um dem Ganzen etwas mehr Glanz zu verleihen, schmückt Kujau den Umschlag mit zwei vergoldeten Klebebuchstaben aus Plastik. Er wählt für Hitlers Initialen Buchstaben in Texturschrift und verwechselt dabei A und F. Weder Hartung noch anderen Betrachtern fällt das später auf.

Bei aller Freundschaft sichern der Unternehmer und sein Lieferant ihre Geschäftsbeziehung auch vertraglich ab. Am 1.April 1976 verpflichtet sich Hartung, die von »Konrad Fischer« erworbenen Dokumente nicht zu verkaufen, »Fischer« /Kujau versichert im Gegenzug, dass alle Schriftstücke echt sind.

Um Hartung zusätzlich davon zu überzeugen, dass seine Hitler-Sammlung über jeden Zweifel erhaben ist, hat Kujau damit begonnen, die Dokumente mit Echtheitszertifikaten auszustatten. Dazu benutzt er nachgedruckte Briefbögen der NSDAP-Reichsleitung. Darauf tippt er mit Maschine eine Beschreibung des Dokuments, Bildes oder Gegenstandes und unterschreibt mit den Namen hoher NS-Funktionäre. Drei Beispiele:

 

»Manuskript der ersten Seite des Völkischen Beobachters vom 14.März 1938. Verfaßt vom Führer und Reichsleiter Adolf Hitler.

 

Als der Führer das Manuskript des Schriftleiters des Völkischen Beobachters las, mußte er seine Unzufriedenheit äußern, da die Meldungen den welthistorischen Ereignissen nicht gerecht waren, und so auch nicht richtig erfaßt. Sofort begab sich der Führer an das Stehpult, verfaßte und gestaltete die erste Seite selbst. 15 handgeschriebene Seiten! (gez.) Hummel

 

nationalsozialistisch, historisches Schriftgut! (gez.) Bouhler Ph. Bouhler, Reichsleiter«

»Manuskript zur Einleitung des III. Bandes zu Adolf Hitlers ›Mein Kampf‹.

 

Vom Führer verfaßt im Jahre 193321 handgeschriebene Seiten. Heil Hitler! (gez.) Hummel

 

Den unschätzbaren Wert, den dieses Manuskript darstellt, bitte ich dieses unter Verschluß zu halten, und nur auf meine oder des Führers Weisung Einsicht zu gewähren. (gez.) Bouhler Ph. Bouhler, Reichsleiter«

 

Auf dem Briefbogen mit dem Aufdruck »Der Reichsführer der Schutzstaffel der NSDAP« ist Folgendes geschrieben:

 

»Rasse- und Siedlungshauptamt den 16.August 1936Ich überlasse Ihnen auf Wunsch für Ausstellungszwecke für das Adolf-Hitler-Museum in Linz acht Handschreiben des Führers an mich. Die Handschreiben sind für die Ausstellung Adolf Hitler und seine Bewegung gedacht. Heil Hitler! (gez.) Himmler

 

21.August 1936Acht Handschreiben vom Führer. Reg. No: 1922(gez.) D. Hummel«

Um diese Echtheitszertifikate noch echter wirken zu lassen, färbt Kujau sie mit Tee oder Kaffee ein, sodass sie schön vergilbt aussehen. Ganz nebenbei, so kalkuliert er, kann er mit diesen Schreiben auch etwaige Ansprüche der Erben von Adolf Hitler abwehren, denn am Eigentum der NSDAP dürften sie ja wohl keine Rechte haben. Kujau fürchtet insbesondere Aktionen von Prof.Werner Maser aus Speyer, der in der Öffentlichkeit als Hitlers Testamentsverwalter auftritt.

Seine Sammlung ist 1976/77 so umfangreich geworden, dass Rolf Hartung gern unabhängige Gutachten dazu haben möchte. Bei der Industrie- und Handelskammer Stuttgart fragt er zunächst nach einem materialkundigen Sachverständigen. Er wird an einen örtlichen Experten verwiesen. Dem legt er ein Hitler-Gedicht nebst Zertifikat vor. Urteil des Fachmanns: Das Material sei echt, er kenne diese Briefbögen. Das Papier wird nicht untersucht. Auch ein Gutachter aus Wien, den Hartung beauftragt, zwei Hitler-Bilder zu prüfen, weiß Erfreuliches zu berichten: alles echt.

Über einen Münchner Militaria-Händler kennt Hartung auch den Sachverständigen Prof.Dr.August Priesack, der studierter Historiker ist und von August 1935 bis August 1939 im »Hauptarchiv der Reichsleitung der NSDAP« gearbeitet hat. Nach dem Krieg ist er Gymnasiallehrer in Bayern. Ein ausgewiesener Fachmann also. Im Oktober 1978 beginnt Priesack, die Sammlung Hartung zu begutachten und ist beeindruckt.

Ein paar Details machen ihn stutzig. So hat er nie etwas von einer geplanten »Linzer Ausstellung« gehört. Auch findet er es merkwürdig, dass schon 1936 darüber geredet worden sein soll. Denn Linz liegt in Österreich, und das hat Hitler erst 1938 annektiert. Auch ein Brief, den Hitler angeblich am 19.Dezember 1920 an einen »Putzi« Hanfstaengl geschrieben hat, findet er merkwürdig. Hitler duzt Hanfstaengl darin, das hält Priesack für sehr unwahrscheinlich. Diese Zweifel ändern aber nichts an seinem Urteil, dass Hartung echte Stücke gesammelt hat. Sehr gern hätte er noch den ehemaligen NS-Funktionär Hummel gesprochen, der so viele Dokumente beglaubigt hatte. Der Mann lebt in Süddeutschland und könnte bestimmt eine Menge interessante Details liefern. Aber Priesack hat Pech, der Mann empfängt ihn nicht.

Während Priesack die Sammlung prüft, erzählt ihm Hartung, dass er sämtliche NS-Devotionalien von einem Konrad »Fischer« aus Stuttgart erwirbt. Der beziehe sie aus der DDR, ein »Onkel in Uniform« sei beim Transport in den Westen behilflich. Da die meisten Sachen einheitliche Begleitschreiben haben, erscheint es Priesack logisch, dass sie aus ein und derselben Quelle stammen. Er versucht der Sache auf den Grund zu gehen und findet einen ersten Hinweis in dem Buch Ich flog Mächtige der Erde. Autor ist der ehemalige Chefpilot Adolf Hitlers, Hans Baur, der im bayerischen Herrsching wohnt. Baur hat seine Erinnerungen 1956 im Verlag Albert Pröpster in Kempten veröffentlicht. Über die letzten Kriegstage im April 1945 ist darin zu lesen:

 

»Tempelhof ging an jenem 22.April verloren, wir hatten also nur noch den Flugplatz Gatow. Am 25.April flogen von hier aus zum letzten Mal Maschinen nach München und Salzburg. Sie starteten in der Nacht um 2 Uhr, um noch vor dem Licht des neuen Tages an Ort und Stelle zu sein. Lediglich Major Gundelfinger konnte sich nicht auf den Weg machen, weil noch einige Passagiere fehlten. Als er endlich in der Luft war, konnte er sich ausrechnen, daß er noch rund 50 Minuten bei Sonnenlicht würde zurücklegen müssen. Von allen Maschinen bekamen wir noch in der Nacht oder in den Morgenstunden Landemeldungen, von Gundelfinger nicht.

 

Aufschlußreiche Papiere verbrannt?

 

Die Nachforschungen nach der Maschine blieben erfolglos. Als ich Hitler Meldung machte, war er sehr erregt, denn ausgerechnet in dieser Maschine war einer seiner Diener mitgeflogen, der ihm besonders am Herzen lag. Hitler: ›Ich habe ihm außerordentlich wichtige Akten und Papiere anvertraut, die der Nachwelt Zeugnis von meinen Handlungen ablegen sollten!‹ Hitler konnte sich lange Zeit nicht beruhigen, der Verlust schien ihm unendlich nahe zu gehen.

Erst acht Jahre später stellte sich heraus, daß Gundelfinger in der Nähe des Bayerischen Waldes abgeschossen worden war. Alles, was sich in der Maschine befand, war verbrannt. Bauern hatten die zwölf Leichen begraben, ohne zu wissen, wen sie begruben. Erst nach dieser Zeit wurde das Schicksal der Zwölf durch den Suchdienst aufgedeckt.«

 

Ein zweiter Hinweis findet sich in dem 1975 bei der DVA erschienenen Buch Die Katakombe von Uwe Bahnsen und James P. O'Donnell. Dort ist nachzulesen, dass Gundelfinger in der Nacht vom 22. auf den 23.April 1945 geflogen und zwischen Böhmerwald und Bayerischem Wald abgestürzt sei. Priesack und Hartung sind sich einig, es sei nicht auszuschließen, dass die Dokumente aus der Ju 352 des Majors Gundelfinger stammen.

Priesack findet, die Sammlung Hartung sei so interessant, dass sie der Wissenschaft zugänglich gemacht werden müsste. Und er weiß auch gleich einen Interessenten: den Stuttgarter Professor für Neuere Geschichte Eberhard Jäckel. Der ist gerade mit seinem Kollegen Axel Kuhn dabei, eine Sammlung aller erreichbaren Schriften Adolf Hitlers aus den Jahren 1905 bis 1924 zusammenzustellen und zu kommentieren. Priesack hilft Jäckel insbesondere dabei, Hitlers Sütterlin-Handschrift zu entziffern. Hartung ist damit einverstanden, dem Professor die Dokumente zu zeigen, vorher will er allerdings mit seinem Lieferanten »Fischer« sprechen. Aber auch Kujau hat keine Einwände.

So reisen denn am 27.November 1978 Prof.Priesack und Prof.Jäckel in Reutlingen an. Rolf Hartung führt sie durch seine Sammlung, in der auch der angebliche Frack und Stahlhelm Hitlers mit den beigefügten Echtheitszertifikaten ausgestellt sind. An den Devotionalien zeigt Jäckel wenig Interesse, ihn interessieren die Handschriften. Viele Dokumente passen zeitlich genau zu seinem Buchprojekt. Zweifel an der Echtheit hat der ausgewiesene Hitler-Experte Jäckel nicht. Hartung und Priesack weihen ihn auch in die Fundgeschichte ein: Die Dokumente stammten aus einem im April 1945 abgestürzten Flugzeug und seien aus der DDR geschmuggelt worden. Weitere Einzelheiten könne man nicht nennen, um die Beteiligten nicht zu gefährden. Im Laufe der folgenden Wochen bekommt Jäckel Fotokopien von 72 Hitler-Handschriften, die er für sein Buch ausgewählt hat.

Die im April 1945 abgestürzte Ju 352 des Majors Gundelfinger rückt immer weiter ins Zentrum des Interesses. Hitlers ehemaliger Chefpilot Hans Baur ist inzwischen gut bekannt mit Rolf Hartung. Nachdem er sein Buch Ich flog Mächtige der Erde veröffentlicht hat, reist er als Vortragender durch die Lande. Am 31.März 1979 hat er einen Auftritt im Gasthof »Sonnenberg« in Sonnenberg bei Stuttgart. Hartung ist zu seinem Bedauern verhindert, bittet aber Kujau, sich den Vortrag anzuhören, ihn bei Baur zu entschuldigen und den alten General für den nächsten Tag nach Reutlingen einzuladen. Kujau tut wie gebeten. Er stellt sich Baur und dessen Frau als »Fischer« vor und lernt bei der Gelegenheit dessen Bekannten Jakob Tiefenthäler kennen, auch ein Mann mit Faible für Adolf Hitler, der in der Bildstelle der US-Streitkräfte in Augsburg arbeitet.

Am nächsten Tag, es ist der 1.April 1979, chauffiert Konrad Kujau die drei Gäste und seine Lebensgefährtin nach Reutlingen, wo sie von Rolf Hartung zum Essen erwartet werden. Es wird ein denkwürdiges Treffen. Denn neben seiner Sammlung präsentiert Hartung jetzt zum ersten Mal einem größeren Kreis den Tagebuchband 1. Halbjahr 1935. Großes Erstaunen. Für Hans Baur, den Chef der »Führer«-Flugstaffel, gibt es keinen Zweifel, das Buch kann nur aus der Maschine stammen, die wichtige Dokumente aus dem von der sowjetischen Armee eingeschlossenen Berlin nach Salzburg bringen sollte, dort aber nie ankam. Eine schöne Information für Konrad Kujau, die sich mühelos in seine Legende einbauen lässt.

Ein halbes Jahr später zeigt Hartung das »Hitler-Tagebuch« zwei weiteren Vertrauten. Am 21.September 1979 sind Prof.Jäckel und Prof.Priesack wieder einmal zu Gast in Reutlingen, auch Konrad »Fischer« ist zugegen, als Hartung das Tagebuch hervorholt. Die beiden Experten halten es für sensationell, dass Adolf Hitler Tagebuch geführt hat. Jäckel möchte den Band gern übernehmen und veröffentlichen.

Jäckel weiß inzwischen, dass »Fischer« die Hitler-Dokumente besorgt hat, die er in seinem Buch veröffentlichen will. Nun erfährt er, dass »Fischer«/Kujau auch das Tagebuch aus der DDR beschafft hat. Kujau erwähnt, es gebe weitere Bände, einige befänden sich derzeit in Amerika. Hartung weiß, dass sein Lieferant im Jahr zuvor in den USA gewesen ist, und hält es für denkbar, dass er bei der Gelegenheit Kunden gesucht hat. Jäckel mag sich das gar nicht vorstellen.

Kujau verfolgt die Debatte interessiert, gibt sich aber eher zurückhaltend. Zu den Tagebüchern an sich könne er wenig sagen. Schon die merkwürdige Schrift von Adolf Hitler könne er nicht lesen. Umso lieber beantwortet er die Frage, in welchem Zeitraum der »Führer« denn seine Erlebnisse und Gedanken zu Papier gebracht habe. Zwischen 1932 und 1945, antwortet Kujau. Dann müssen also 27 Halbjahresbände existieren, folgert Priesack.

Ein paar Wochen später im Oktober trifft man sich erneut in Reutlingen. Jakob Tiefenthäler mit Frau und Konrad Kujau mit Lebensgefährtin sind geladen, und wieder geht es um das Tagebuch und die Hitler-Dokumente. Diesmal hat Kujau seine Legende aus allen Informationen und Rückschlüssen von Baur, Hartung und Priesack zu einem Mosaik zusammengesetzt und durch die eigene Verwandtschaft angereichert: Alles Material stammt aus dem abgestürzten Flugzeug, auch die 27 Tagebuchbände. Ein Verwandter, Museumsdirektor, beschafft die Dokumente, ein anderer Verwandter, General der DDR-Grenztruppen, sorgt für den Transport in die Bundesrepublik. Höchste Geheimhaltung ist geboten, weil die Leute in der DDR mit einem Bein im Gefängnis stehen.

So sind nun alle Leute versammelt, die in dem Skandal um die gefälschten Hitler-Tagebücher eine wichtige Rolle spielen. Zu einem von ihnen hat Stern-Reporter Gerd Heidemann auch schon einen ersten Kontakt geknüpft. Auch die Legende ist gestrickt. Die Lunte glimmt, knapp vier Jahre später wird die Bombe platzen.

Der »Spürhund«

Gerd Heidemann wird am 4.Dezember 1931 im damals preußischen Altona geboren. Gemeinsam mit drei Geschwistern wächst er bei Mutter und Stiefvater auf. Der kleine Junge ist häufig krank und wird deshalb erst im Alter von sieben Jahren eingeschult. Bei den Bombenangriffen der Alliierten 1943 auf Hamburg wird auch die elterliche Wohnung zerstört. Die Familie zieht ins niedersächsische Fallingbostel und lebt dort mehrere Jahre.

Der Junge absolviert die Volksschule und träumt davon, Kameramann zu werden. Er hat Glück und kann eine Fotografen-Lehre beim damaligen Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) beginnen. Er besucht die Berufsschule für Fotografie und wechselt zu einer Bildagentur. Danach arbeitet er ab 1951 als freier Fotograf und macht Bilder für die Deutsche Presse Agentur und Hamburger Zeitungen. Dabei demonstriert er viel Talent und Einfallsreichtum. Es gelingen ihm eindrucksvolle Reportagen über die Waffenarsenale der US-Armee in Deutschland und kriminelle Banden in Italien. 1954 bekommt er den ersten Auftrag von Henri Nannen. Im September 1955 wird Heidemann »fester freier Mitarbeiter« beim Stern, er fotografiert und arbeitet als Laborant. Am 1.Januar 1960 wird er fest angestellt.

Sein erster großer Erfolg ist die Serie »Deutschland deine Sternchen«, die er gemeinsam mit dem Autor Will Tremper veröffentlicht und in der alle Film- und Schlager-Stars der 50er-Jahre gefeiert werden. Heidemann recherchiert und fotografiert. Anfangs sollen nur wenige Folgen erscheinen, aber die Leser sind dermaßen begeistert, dass die Serie länger als ein Jahr läuft – von Heft 17/1959 bis Heft 20/1960.

Ein ähnliches Großprojekt beginnt Heidemann 1962. Er bekommt von Henri Nannen den Auftrag herauszufinden, wer den Bestseller Das Totenschiff geschrieben hat. Es ist allgemein bekannt, dass sich der wahre Autor hinter dem Pseudonym »B. Traven« versteckt. Heidemann macht sich auf die Suche und reist nach Mexiko. Die Traven-Berichte erscheinen 1967 im Stern, die ARD macht einen Fernsehfilm daraus (»Im Busch von Mexiko – Das Rätsel B. Traven«), und Heidemann veröffentlicht sein Buch Postlagernd Tampico.

Auch als Kriegsberichterstatter macht er sich einen Namen. Heidemann ist kein Haudegen. Eher zurückhaltend, leise, freundlich und vorsichtig, entspricht er so gar nicht dem Klischeebild vom eiskalten Krisenreporter. Er spielt in allen Lebenslagen Schach. Bei dreizehn Kriegen ist er mit der Kamera dabei, im Kongo, in Biafra, Angola, Kenia, Israel, und dokumentiert die Grausamkeit der Kämpfe. Seine Fotos schockieren und beeindrucken. 1965 erhält er für eine Fotoserie aus dem Kongo-Krieg die Goldmedaille im »World Press Photo«-Wettbewerb und wird mit dem ersten Preis in der Sparte Reportage ausgezeichnet. Mit der jüngsten deutschen Vergangenheit, mit Hitler und seinem mörderischen Regime, hat er sich bis dahin nur gelegentlich beschäftigt. Das ändert sich, als ihm 1972 ein Kollege von einem ganz besonderen Schiff erzählt, das zum Verkauf steht. Ein Schnäppchen, mit dem sich sicherlich viel Geld machen ließe. Es ist die 28 Meter lange Motoryacht »Carin II« von Hermann Göring.

Hitlers Intimus, Reichsluftmarschall, Reichsjägermeister und Preußischer Ministerpräsident Göring, hatte sich schon einmal eine Yacht schenken lassen und auf den Namen seiner 1931 gestorbenen ersten Frau Carin getauft. Bei Ausflügen über die Ostsee hatte er Gefallen an der Schifffahrt gefunden, empfand das kleine Boot mit offenem Ruderstand auf Dauer aber wohl doch als ein wenig zu unspektakulär. Über einen Vertrauten ließ er die deutsche Automobilindustrie wissen, dass er sich über ein doppelt so großes Schiff sehr freuen würde. Göring war damals Chef des »Vierjahrplanes«, mit dem die Wehrmacht aufgerüstet wurde. Er entschied über lukrative Aufträge, daher sollte man sich den Mann gewogen halten. Und so wurde 1936 bei der Alsterbootswerft Heidtmann in Hamburg die neue Yacht in Auftrag gegeben, 1937 als verspätetes Hochzeitsgeschenk Göring übergeben und auf den Namen »Carin II« getauft. Baukosten: mehr als 1 Million Reichsmark.

Um dem Vorwurf vorzubeugen, der zweite Mann im NS-Staat lasse sich von der Industrie mit einem so teuren Geschenk bestechen, wurde das Schiff auf den Namen von Görings zweiter Frau Emmy registriert.

Göring fuhr mit seiner aufwändig ausgestatteten Yacht auf Rhein und Elbe und über Nord- und Ostsee. NS-Größen und Staatsgäste kamen an Bord. Während des Zweiten Weltkrieges lag das Schiff fest vertäut und ständig bewacht von drei Soldaten in einem Bootshaus in Berlin-Gatow. Erst im März 1945 wurde die »Carin II« ins schleswig-holsteinische Mölln verlegt. Dort fiel das Schiff den britischen Truppen in die Hände. Der Oberbefehlshaber, Feldmarschall Montgomery, ließ die »Carin II« nach Kiel bringen, besichtigte sie und machte sie der britischen Kronprinzessin Elizabeth zum Geschenk. Die ließ es auf den Namen »Royal Albert« taufen. Nachdem sie 1953 zur Königin gekrönt worden war, benannte sie das Schiff nach ihrem damals zweijährigen Sohn in »Prince Charles« um und war mehrfach mit Mann und Kindern an Bord.

1960 hatte Emmy Göring in London beantragt, die Yacht zurückzubekommen. Schließlich sei sie die rechtmäßige Eigentümerin. Das britische Königshaus stimmte der Rückabwicklung zu, und schon Anfang 1961 konnte die Göring-Witwe das Schiff für 33 000 Mark an einen Bonner Druckereibesitzer weiterverkaufen. Ein stolzer Preis damals. Und nun steht das Schiff wieder zum Verkauf.

 

Heidemann hat vor Jahren seinen Motorbootführerschein gemacht und will sich eigentlich ein kleines Motorboot zulegen. Die Reise nach Oberwinter bei Bonn, wo die Yacht liegt, über die der Kollege eine Reportage für eine Fachzeitschrift schreiben soll, macht Heidemann eher zum Vergnügen mit, er will für den Bericht dann die Fotos machen.

Doch nachdem er das Schiff besichtigt und fotografiert hat, entschließt er sich spontan, Görings Motoryacht für 160 000 Mark selbst zu kaufen. Die Summe bringt er zum größten Teil durch den Verkauf seines Hauses auf, den Rest leiht er sich. Er ist hoffnungsfroh, das geschichtsträchtige Schiff bald an einen amerikanischen Sammler weiterverkaufen zu können. Für 160 000 Dollar, schätzt er, was beim damaligen Dollar-Kurs einen Wertzuwachs von 300