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Erlebe magische Abenteuer mit den schottischen Hexen.
In der Bestseller-Paranormal-Mystery-Reihe von Felicity Green steht in jedem Band eine andere junge Frau mit einem besonderen magischen Talent im Vordergrund.
Im malerischen Städtchen Tarbet in den schottischen Highlands führt eine mysteriöse Gruppe Frauen etwas Böses im Schilde. Davon ist Dessie McKendrick überzeugt, deren Mann Connor während der Flitterwochen am Loch Lomond spurlos verschwand. Zehn Jahre später ist Dessie immer noch dort, betreibt ein B&B und untersucht bis zur Besessenheit jedes kleinste Detail, das mit Connors Verschwinden zu tun hat. Bis wieder ein junges Paar im unheimlichen Thistle Inn übernachtet und die Frau am nächsten Morgen allein aufwacht ...
Andie MacLeod hat einen Traum, der ihr unmissverständlich zu verstehen gibt, dass sie in ihrem Heimatort Tarbet einen Job zu erledigen hat. Sie folgt ihrem magischen Auftrag mit gemischten Gefühlen und bekommt einen Job in Dessie’s B&B. Kann Andie Dessie helfen? Oder muss ihre Loyalität bei den Highland-Hexen liegen?
»Ein im wahrsten Sinne des Wortes fantastischer Krimi.«
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Veröffentlichungsjahr: 2017
Felicity Green
Der Teufel im Detail
Ein Highland-Hexen-Krimi
Band 1
© Felicity Green, 1. Auflage 2016
www.felicitygreen.com
Veröffentlicht durch:
A. Papenburg-Frey
Schlossbergstr. 1
79798 Jestetten
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(www.circecorpdesign.com)
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Korrektorat: Wolma Krefting, bueropia.de
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Die Autorin
Prolog
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechzehn
Kapitel siebzehn
Kapitel achtzehn
Kapitel neunzehn
Kapitel zwanzig
Kapitel einundzwanzig
Kapitel zweiundzwanzig
Kapitel dreiundzwanzig
Kapitel vierundzwanzig
Kapitel fünfundzwanzig
Kapitel sechsundzwanzig
Kapitel siebenundzwanzig
Kapitel achtundzwanzig
Kapitel neunundzwanzig
Kapitel dreißig
Danke und gratis Geschichte
Teuflisch Einsam
Highland-Hexen-Krimis
LESEPROBE - Der Teufel im Leibe
Eigentlich wollte Andie MacLeod ihre Semesterferien in Edinburgh verbringen. Doch dann hat sie einen Traum, der ihr unmissverständlich zu verstehen gibt, dass sie in ihrem Heimatort Tarbet einen Job zu erledigen hat. Sie folgt ihrem magischen Auftrag mit gemischten Gefühlen: Das malerische Städtchen in den schottischen Highlands ist zwar sehr beliebt bei den Touristen, aber etwas Aufregendes passiert hier vielleicht nur einmal alle zehn Jahre.
Nein, es passiert genau alle zehn Jahre …
Vor zehn Jahren verbrachten Dessie McKendrick und ihr Mann Connor während ihrer Flitterwochen auch eine Nacht in Tarbet am Loch Lomond. Als Dessie am nächsten Morgen im unheimlichen Thistle Inn aufwachte, war Connor nicht mehr da. Nachdem die Polizei die Ermittlungen längst aufgegeben hat, lebt Dessie immer noch am Ort des Verbrechens, betreibt dort ein B&B und untersucht bis zur Besessenheit jedes kleinste Detail, das mit Connors Verschwinden zu tun hat.
Will Andie, die jetzt in Dessie’s B&B arbeitet, ihr dabei helfen? Als wieder ein junger Mann spurlos verschwindet, muss Dessie sich fragen, ob das Mädchen etwas damit zu tun hat. Und ob die Polizei, ja, die ganze Gemeinde, ein Auge zudrückt, als Andie und eine mysteriöse Gruppe Frauen etwas Böses im Schilde führen …
Felicity Green schreibt Urban Fantasy und Paranormal Mystery-Serien für Leserinnen, die Mythen und Magie, unerwartete Wendungen, Gänsehaut und große Gefühle lieben.
Felicity wurde in der Nähe von Hannover geboren und zog nach dem Abitur nach England. In Canterbury studierte sie Literatur und Schauspiel. Später tingelte Felicity mit diversen Theatergruppen durch England, Irland und Schottland – eine Inspiration für die Schauplätze ihrer Romane. An der University of Sussex schloss sie einen MA in Kreativem Schreiben ab.
Mit ihrem Mann Yannic, Tochter Taya und Kater Rocks lebt sie jetzt an der Schweizer Grenze.
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Für meine angeheiratete Familie, ohne deren Hilfe ich als frischgebackene Mama nicht die Zeit gefunden hätte, dieses Buch zu schreiben!
Das Boot glitt über den See, so als ob es nicht auf dem Wasser fahren, sondern auf dem dichten Nebel schweben würde. Im Boot stand eine hochgewachsene junge Frau. Sie glich einer Galionsfigur: hölzern, Kinn energisch vorgeschoben, Blick starr nach vorn gerichtet. Der See hätte jeder Loch in den schottischen Highlands sein können, aber Andie wusste, so wie man in Träumen Dinge einfach wusste, dass es sich um Loch Lomond handelte. Am Ufer angekommen, stieg die Frau mit den schulterlangen blonden Haaren aus dem Boot aus. Andie kannte sie. Es war Dessie McKendrick.
Dessie drehte sich zu ihr um und spätestens jetzt wurde sich Andie bewusst, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Traum handelte. Sie selber war in diesem Traum zugegen und folgte Dessie in den kleinen Ort, der am Ufer des Sees gelegen war. Es war Tarbet, Andies Heimatort. Andie erkannte die Namen der Gasthäuser und B&Bs auf den Schildern vor den Häusern. Jedes zweite Haus in Tarbet vermietete Gästezimmer. Das malerische Örtchen in den Highlands lebte vom Tourismus. Dessie war ebenfalls hier zu Hause. Vor einigen Jahren zugezogen, war auch sie die Besitzerin eines B&Bs. Dort schien sie jetzt, in Andies Traum, auch hinzugehen. Immer wieder schaute sie sich um, um sicherzustellen, dass Andie ihr auch folgte. Ihre grauen Augen wirkten ausdruckslos. Dennoch hatte ihre ganze angespannte Körperhaltung etwas Dringliches.
Dessie's B&B war ein weiß getünchtes, großes, verwinkeltes Cottage, das Andie noch nie zuvor betreten hatte. Sie folgte Dessie ins Haus, bis sie vor der Tür mit der Nummer 3 standen. Dessie schaute Andie an, hielt einen Moment lang inne, nahm dann den Schlüsselbund aus der Tasche und schloss die Tür auf. Plötzlich befand sich Andie mitten im Zimmer, ohne sich daran zu erinnern, hineingegangen zu sein. Die Tür war geschlossen.
Dessie, oder um genauer zu sein, Dessies Doppelgängerin, hob langsam den Zeigefinger und legte ihn auf ihre Lippen. Andie sah sich im Zimmer um. Die Wände waren voll mit Zeitungsausschnitten, Fotos und Dokumenten. Ab und zu blitzte noch die Tapete mit dem Blümchenmuster dahinter hervor, aber der größte Teil der Wandfläche war bedeckt. Unzählige Gegenstände lagen überall herum. Unter dem Chaos konnte Andie ein gewöhnliches Gästezimmer entdecken. Das war es wohl einmal gewesen, bevor es so zugemüllt worden war. Ein großer Schreibtisch war in eine Ecke gequetscht worden. Der Schrank, dessen Türen offen standen, quoll über mit Männerkleidung. Auf dem Fußboden waren Gegenstände zu kleinen Haufen aufgetürmt. Hier ein Turm CDs, dort ein Stapel Bücher. In einer Ecke stand eine Sammlung verstaubter Whiskyflaschen auf einem Wägelchen aus Edelstahl. Vor dem Bett lagen ein großer grüner Rucksack und weitere Dinge, die zur Campingausrüstung gehörten. Andere, eher ungewöhnliche Sachen, waren auf dem Bett ausgebreitet. Auf den ersten Blick hatte es Andie für Unordnung gehalten, doch jetzt sah sie, dass die Gegenstände der Größe nach sortiert worden waren. Ein silberner Brieföffner, eine Spieluhr mit Zirkustieren, kleine Bilder mit bunten geometrischen Figuren, eine Dartscheibe, Billardstöcke.
Dessies Doppelgängerin nahm die Spieluhr in die Hand, ließ sie dann wieder fallen, ging zur Wand, zeigte auf ein Foto und verzog den Mund zu einem Lächeln, das aber ihre Augen nicht erreichte. Auf dem Foto war ein junger Mann zu sehen, der wie ein kalifornischer Surfer aussah. Strahlend blaue Augen, blonde zerzauste Haare, blendend weiße Zähne, braun gebrannt. Dessie wirkte immer noch irgendwie mechanisch, wie es Doppelgängern so eigen war. Doch aus ihren ausdruckslosen Augen flossen Tränen, die ihre blassen Wangen herunterkullerten.
Andie wartete gespannt, was als Nächstes passieren würde. Vielleicht handelte es sich ja tatsächlich nur um einen Traum. Sie hoffte, dass es nur ein Traum war. Doch insgeheim wusste sie, was am Ende dabei herauskommen würde. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass sie so etwas erlebte.
Dessies Haut wurde immer blasser und trockener, bis sie an Pergamentpapier erinnerte. Andie strengte sich an aufzuwachen. Doch es gelang ihr nicht. Traum-Andie konnte sich noch nicht einmal von der Stelle rühren, als Dessies graue Augen in die Höhlen zurücktraten, die Haare büschelweise ausfielen und die Fingernägel sich von den Fingerkuppen lösten. Die große Frau wurde vor Andies Augen immer verschrumpelter, wie eine Mumie. Andie kannte das Gefühl der Hilflosigkeit nur zu gut, das sie nun überkam. Wieder gab sie sich Mühe, endlich aufzuwachen, doch Andie im Traum gelang es noch nicht einmal, die Augen abzuwenden. Sie war gezwungen mit anzusehen, wie Dessie McKendrick sich zersetzte.
Dann kam das Schlimmste, das, was Andie als Kind immer eine Heidenangst eingejagt und ihr schlaflose Nächte bereitet hatte. Aus Dessies Körperöffnungen, den Augenhöhlen, den Ohren, dem Mund, den Nasenlöchern, quollen weiße kleine Maden. Die Maden schienen sie von innen aufzufressen, bis nur noch Knochen und die Pergamenthaut übrig waren. Schließlich fiel auch das Knochen-Haut-Gebilde in sich zusammen. Wie aus dem Nichts erschienen Käfer und andere Insekten, die sich über die Reste von Dessie McKendrick hermachten. Der winzige Haufen auf den Holzdielen in Zimmer Nummer 3, der einmal Dessie gewesen war, verschwand schneller, als Andie sich ekeln konnte. Aus Erfahrung wusste Andie, dass es sowieso nichts brachte. Sie war gezwungen, das hier mit anzusehen. Als Dessie vollends verschwunden war, wurde es richtig kalt im Raum. Traum-Andie klapperten die Zähne. Sie schlang die Arme um den fröstelnden Körper. Nebel drang unter dem Türspalt hervor, durch das offene Fenster und diverse Ritzen und Spalten in den Wänden. Bald war das ganze Zimmer voller Nebel, sodass Andie nichts mehr sehen konnte. Panisch versuchte sie, sich im Raum zu orientieren und die Tür zu finden. Sie musste aus diesem Traum entkommen. Aus diesem Haus. Aus diesem Zimmer.
Vorsichtig tastete Andie nach der Tür und bekam eine Klinke zu fassen. Als sie die Augen aufmachte, brauchte sie einen kleinen Moment, bis ihr bewusst wurde, dass sie in ihrem Zimmer in Edinburgh stand. Sie träumte nicht länger, sie war wach und sie war schlafgewandelt. Es war ihre Tür, ihre Klinke, die sie erreicht hatte, nicht die in Zimmer Nummer 3 in Dessie’s B&B. Ihr Atem ging keuchend und ihr war immer noch kalt. Es dauerte eine Weile, bis sie dem Gefühl der Erleichterung trauen konnte. Andie nahm sich den Bademantel, der an einem Haken an der Tür hing, und zog ihn sich über. Das Zimmer in dem Haus, das sie sich mit anderen Studenten teilte, war in fahles Mondlicht getaucht. Andie setzte sich auf die Bettkante, schaltete die Nachttischlampe an und ließ sich den Traum, die Vision, noch einmal durch den Kopf gehen.
Seit Beginn ihres Biotechnologie-Studiums hier in Edinburgh hatte sie derartige Träume nicht mehr gehabt. Sie war recht froh gewesen, Tarbet zu entkommen, obwohl sie immer gewusst hatte, dass ihre besondere Gabe sie wahrscheinlich dorthin zurückbringen würde. Selbst einem stillen, introvertierten Mädchen wie ihr kam der kleine Ort langweilig vor. Edinburgh war um einiges aufregender. Und sie hatte schließlich Optionen. Dennoch musste sie hart dafür arbeiten. Nicht nur die akademischen Leistungen hatte sie bringen müssen, sondern sich auch das Studium selber finanzieren. Ihre Eltern waren nicht gerade wohlhabend. Das Semester war gerade zu Ende und sie musste sich sowieso einen Job suchen. Ihre Hoffnung, die Semesterferien in Edinburgh verbringen zu können, hatte sich mit diesem Traum zerschlagen. Natürlich gab es auch die Möglichkeit, den Traum zu ignorieren, aber das konnte sie einfach nicht. Das lag nicht nur daran, dass sie ein verantwortungsbewusstes Mädchen war. In der Vergangenheit hatte sie schon öfter versucht, derartiges zu verdrängen. Die Träume würden nur schlimmer werden, eine Dunkelheit würde sich in ihr ausbreiten und von innen auffressen. Sie würde nicht mehr schlafen, nicht mehr essen, nicht mehr ihr Zimmer verlassen können, bis sie den Hilferuf der Doppelgängerin erhörte.
Dessie McKendrick brauchte ihre Hilfe – und vermutlich wusste sie nichts davon. Ihre Freundin Tara half den Sommer über in Dessie’s B&B aus. Vielleicht konnte Andie ihre Stelle übernehmen. Tara würde die besonderen Umstände verstehen. Andie schob sich eine Strähne ihres langen, dunkelbraunen Haares hinter das Ohr und seufzte. Dann stand sie auf, zog den Koffer aus dem Schrank, legte ihn aufs Bett und fing an zu packen. Morgen früh würde sie nach Tarbet fahren. Es gab keinen Grund, das Ganze aufzuschieben.
Sie hatte einen Job zu erledigen.
Grayson zeigte auf die Flasche Wein. Dessie schüttelte nur stumm den Kopf, nahm ihr leeres Glas in die Hand, stand auf und ging zur Küchenzeile am anderen Ende der großen Wohnküche. Sie stellte das Glas in die Spüle und horchte, hörte aber kein gluck, gluck des Weins, der aus der Flasche gegossen wurde. Ihre Schultern entspannten sich. Sie konnte es sich nicht leisten, mehr als ein Glas Wein mit Grayson zu trinken. Sie hatte das Gespräch wie immer sehr genossen, wünschte sich jedoch jetzt, dass Grayson auf sein Zimmer gehen würde. Dennoch war sie etwas enttäuscht, als sie das Scharren des Stuhles vernahm. Regentropfen hämmerten leise gegen das Fenster über der Spüle. Ein typischer schottischer Sommer. Einer der Gründe, warum sie hier so gerne wohnte, dachte Dessie bitter.
Grayson räusperte sich. »Ich gehe besser schlafen. Ich muss morgen früh raus, schon vor dem Frühstück.«
»Stimmt, dein Trip«, sagte Dessie, immer noch aus dem Fenster in die dunkle, regnerische Nacht starrend. Der Gedanke, dass sie Grayson vermissen würde, war Dessie unangenehm. Sie versuchte, die Schmetterlinge in ihrem Bauch zu ignorieren, die sich jedes Jahr vermehrt dort breitmachten, wenn Grayson den Sommer in ihrem Bed & Breakfast verbrachte. Seit vielen Jahren war der Amerikaner nun Dauergast über die Sommermonate, benutzte Dessie's B&B als Basis für seine Abstecher zu anderen Destinationen in Europa. Lange hatte Dessie es gar nicht zugelassen, dass sich eine Freundschaft bilden konnte. Doch irgendwann waren aus Smalltalk tiefere Gespräche geworden und mittlerweile hatten sie sich angewöhnt, in der großen Wohnküche, in der Dessie Frühstück für ihre Gäste servierte und abends für sich selber kochte, die Abende mit einem Glas Wein ausklingen zu lassen, wenn Grayson da war. Natürlich fühlte sich Dessie schuldig. Aber da war noch eine andere Emotion, etwas Köstliches, Gefährliches, dem sie nicht widerstehen konnte. Doch widerstehen musste und würde sie.
Dessie drehte sich zu Grayson um. Sie musste sich nicht zu einem Lächeln zwingen, als sie den gut aussehenden Mann mit den klaren blauen Augen und dem dunklen Haar ansah. Die silbernen Schläfen ließen ihn älter wirken, als er war, wahrscheinlich Ende dreißig, Anfang vierzig, und gaben ihm außerdem ein äußerst respektables Erscheinungsbild. Sicherlich half es ihm bei seiner Arbeit als Vermögensberater, so vertrauenswürdig auszusehen, dachte sich Dessie. Er war immer vage, was seinen Beruf anging, aber sie nahm an, dass er sehr erfolgreich war. Schließlich konnte er es sich erlauben, mehrere Monate im Jahr Urlaub zu machen. Doch manchmal traf er sich auch mit Kunden in Europa, und Grayson hatte ihr erzählt, dass er morgen ein Meeting in London hatte.
Dessie musste sich auf die Zunge beißen, bevor ihr ein »Du wirst mir fehlen« entweichen konnte. Deshalb sagte sie gar nichts, sondern nickte nur stumm. Wenigstens musste sie sich keine Sorgen machen, dass Grayson sie für abweisend hielt, schließlich war er ihre sehr distanzierte Art gewöhnt. Er wünschte ihr ruhig eine gute Nacht, schenkte ihr ein strahlendes Lächeln und ging dann in sein Zimmer.
Dessie nahm Graysons Glas, trank den letzten Schluck aus, den er immer darin ließ – eine Angewohnheit von ihm – und stellte es neben ihres in die Spüle. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, die Gläser dort stehen zu lassen, überlegte es sich dann aber schnell anders. Es würde morgen früh, wenn viel zu tun war, eine weitere Arbeit bedeuten, die sie womöglich nur stresste. Routine, die sie immer strikt einhielt, brachte Dessie durch den Tag.
Sie war gerade dabei, den Hahn aufzudrehen, als die Türklingel sie in ihrer Bewegung innehalten ließ. Dessie schaute auf die Wanduhr über der Tür. Unweigerlich zog sie die Brauen zusammen. Das Wassertaxi von der Jugendherberge, dachte sie, und ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken. Wenn so spät noch Gäste kamen, dann waren es meist die armen West-Highland-Way-Wanderer, die in der Rowardennan-Jugendherberge am anderen Ufer des Sees kein Zimmer mehr bekommen hatten. Ein mulmiges Gefühl beschlich Dessie, als sie zur Haustür ging und sie öffnete.
Vor ihrer Tür standen tatsächlich vier junge Menschen mit großen Rucksäcken auf dem Rücken. Dessie schaltete die Außenbeleuchtung an. Die jungen Leute, zwei Mädchen und zwei Jungen, höchstens Anfang zwanzig, waren vom Regen durchnässt.
»Ja bitte?«, fragte Dessie.
»Auf Ihrem Schild steht nicht Kein Zimmer frei«, sagte eine der jungen Frauen in jammerndem Tonfall. Die roten Locken klebten ihr im Gesicht, schwarzer Mascara hatte Spuren auf ihren Wangen hinterlassen und ihr Lippenstift war verschmiert. Dessie konnte kein großes Mitleid für sie aufbringen. Wieder einmal Wanderer, die unterschätzt hatten, wie anstrengend der berühmte Langstreckenwanderweg war, der von Milngavie hinter Glasgow bis Fort William in den Highlands ging. Dieses Mädchen, das wahrscheinlich eine große Schminktasche im Rucksack mitschleppte, würde es sicherlich nicht bis Fort William durchhalten. Vermutlich würden sie und ihre Freunde morgen schon in den Zug steigen und mit der West-Highland-Bahn weiterfahren, statt die ganze Wanderung, die gut neun Tage dauern konnte, zu überstehen.
»Bitte sagen Sie uns, dass Sie noch Zimmer haben«, wiederholte das Mädchen und sah sie mit einem flehenden Blick aus den großen blauen Kulleraugen an.
»Ich habe nur noch ein Zimmer mit einem Doppelbett frei«, sagte Dessie und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Sie war schon dabei, die Tür wieder zu schließen, als das Mädchen mit den roten Locken einen Fuß dazwischenschob. Bevor Dessie sichs versah, stand sie halb in ihrem Eingang.
»Wir nehmen es«, schrie sie, packte den Jungen, der neben ihr stand, am Arm und zog ihn ins Haus.
»Ein Zimmer mit einem Doppelbett«, wiederholte Dessie etwas überrumpelt. »Also leider nicht genug Platz für vier Personen.«
»Sie sind unsere letzte Rettung«, sagte das Mädchen und strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. »Wir waren schon überall, doch im ganzen Ort hat es keine freien Zimmer.«
»Aber Val«, sagte der junge Mann, den die Rothaarige immer noch am Handgelenk hielt. »Was ist denn mit Denise und Nate, wir können doch nicht …«
»Jetzt waren wir eben schneller«, winkte Val ab. »Müssen wir etwa alle leiden und im Regen stehen bleiben, wenn es nun mal nur noch dieses eine Zimmer gibt?« Sie ließ den Jungen los und streifte den Rucksack von ihren Schultern. »Gott, ist das Scheißding schwer!«
»Tut mir leid«, sagte der junge Mann, ein richtiger Durchschnittstyp, in Richtung des anderen Mädchens.
Die zierliche junge Frau, die noch vor der Tür stand, schob frustriert die Kapuze ihres Regenmantels vom Kopf. Sie hatte lange, dunkle Haare und große traurige Augen. »Schon gut, Sam«, sagte sie resigniert. Sie drehte sich zu dem anderen Mann um, der sich etwas weiter im Hintergrund hielt. Doch der schaute nur auf seine Schuhe und murmelte etwas Unverständliches.
»Haben Sie vielleicht noch einen Tipp, wo die beiden hingehen könnten?«, wandte sich Sam an Dessie.
Die Nackenhaare stellten sich ihr auf und sie konnte kaum atmen. Ohne zu blinzeln, starrte sie den jungen Mann für eine gefühlte Ewigkeit an. Die Unsicherheit stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Entschuldigung, aber wissen Sie vielleicht von einem B&B, das noch nicht belegt ist?«, wiederholte Sam seine Frage, in der Annahme, dass sie ihn nicht verstanden hätte.
Dessie schluckte schwer, atmete langsam durch die Nase ein und räusperte sich. Nein, sie durfte nicht projizieren, sondern musste sich zusammenreißen. Sei nicht albern, schalt sie sich selber. Sie zwang sich, die Worte auszusprechen, obwohl sich alles in ihr dagegen sträubte. »Mrs MacDonald hat sicher noch ein Zimmer frei. Zwei Straßen weiter links den Berg hoch. Es heißt Thistle Inn, aber eigentlich ist es …«, schweifte Dessie ab.
»Versucht es doch da«, meinte Sam, »oder sollten wir vielleicht alle dorthin …?«
Unsicher blickte er Val an. Die schüttete energisch den Kopf. »Wir bleiben hier«, entschied sie.
»… Inn ist etwas irreführend«, fuhr Dessie fort. »Es sind nur zwei Zimmer in ihrem Haus, die Mrs MacDonald vermietet, man teilt das Bad mit ihr und so weiter, also, äh, eine Art traditionelles Bed & Breakfast. Eher altmodisch, falls Ihnen das etwas ausmachen sollte«, fügte sie hoffnungsvoll hinzu. Doch es half nichts. Schließlich war das hier für die jungen Leute die letzte Zuflucht. Ein Dach über dem Kopf war jedenfalls besser als im Regen zu stehen, auch wenn es das schlechteste B&B in Tarbet war. Nun, schlecht war es ja nun nicht gerade, aber … Dessie schüttelte den Kopf, so als ob sie die düsteren Gedanken damit abschütteln könnte.
Das Mädchen mit den traurigen Augen sah sich wieder zu dem Jungen um, dessen Gesicht Dessie im Dunkeln und im Regen nicht genau ausmachen konnte. »Also sollen wir?«
Nate zuckte unschlüssig mit den Schultern und brummelte etwas, das wie »Mir egal« klang.
»Na dann«, sagte Denise seufzend und winkte den anderen beiden zum Abschied zu. »Bis morgen.«
»Zimmer Nummer fünf«, sagte Dessie tonlos zu Val und Sam. Die beiden gingen ins Haus, doch Dessie blieb noch einen Moment an der Tür stehen und sah den traurigen Gestalten nach, eine groß, eine klein, die in der dunklen Nacht verschwanden.
Sie wusste, es war völlig irrational, aber sie konnte das schreckliche Gefühl nicht abschütteln, dass sie Nate und Denise ins Verderben geschickt hatte.
Andie MacLeod unterdrückte ein Gähnen, als sie um sechs Uhr dreißig am nächsten Morgen die Tür zu Dessie's B&B aufschloss. Zwischen sieben und neun wurde hier Frühstück serviert und dementsprechend gab es früh am Morgen am meisten zu tun. Eine Frühaufsteherin war Andie nicht, andererseits war es schön, am Mittag schon Feierabend zu haben. Nach dem Frühstück und dem Abwasch half sie Dessie noch mit der Wäsche und dem Beziehen der Betten, doch das Putzen der insgesamt sieben Zimmer und der Küche übernahm dann Dessie. Ab und zu war Andie auch am späten Nachmittag im B&B, um Gäste einzuchecken, wenn Dessie mal außer Haus war. Doch für gewöhnlich erledigte Dessie die Besorgungen am Mittag, wenn geschlossen war, und hielt sich abends im Bed & Breakfast auf. Dessie lebte sehr zurückgezogen, hatte nicht viele Freunde und, soweit Andie wusste, auch keine Hobbys. Man sah sie nicht oft im Dorf. Sie war als Eigenbrötlerin bekannt.
Als Andie ins Haus ging, kam ihr Dessie schon entgegen. Andie wollte ihr einen fröhlichen guten Morgen wünschen, stutze aber, als sie Dessies Gesicht sah. Die grauen Augen waren weit aufgerissen und sie war ganz blass, bis auf die hektischen roten Flecken auf den Wangen. Sie hatte eine Hand an die Kehle gelegt, so als ob sie keine Luft bekäme. Unschlüssig blieb Andie im Flur stehen. Noch im Gehen zog Dessie ihr Schlüsselbund aus der Tasche, doch es glitt durch ihre Finger, und für einen Moment starrte sie es an, wie es auf dem Boden lag, bevor sie sich bückte und es aufhob. Sie nickte Andie stumm zu, steckte einen Schlüssel in das Schloss zu Zimmer Nummer 3, drehte ihn um, verschwand durch den Türspalt und machte die Tür mit einem lauten Knall zu. Andie blieb noch etwas stehen und lauschte, nur um zu hören, wie sich der Schlüssel von innen im Schloss wieder drehte.
An sich war das kein sonderbares Verhalten, denn sie hatte Dessie schon öfter in Zimmer Nummer 3 verschwinden sehen. Dessie hatte ihr erklärt, dass dieses Zimmer Gästen nicht zugeteilt wurde, sondern dass sie es für private Zwecke nutzte. Nur sie hatte einen Schlüssel dafür und unter keinen Umständen sollte Andie es betreten.
Andie war nicht sonderlich überrascht darüber, schließlich hatte ihr Tara schon von Dessies eigentümlichem Verhalten erzählt. Kichernd hatte Tara Vermutungen aufgestellt, was sich wohl hinter der Tür zu Zimmer Nummer 3 so Geheimes verbarg. Leichen, Lederfetisch-Sachen, ausgestopfte Tiere, Actionfigurensammlungen? Andie, die wusste, wie es tatsächlich in diesem Raum aussah, es aber Tara nicht sagen wollte, hatte gemeint, dass es vielleicht eine Art Meditationsraum sei, wo Dessie ungestört sein wollte. Tara wusste natürlich über Andie Bescheid, aber so ganz genau nun auch wieder nicht. Sie waren im selben Alter, waren zusammen aufgewachsen und gemeinsam zur Schule gegangen, hätten unterschiedlicher aber nicht sein können. Sie gingen freundlich miteinander um, aber so wirklich mochte Andie das oberflächliche Mädchen nicht, das hauptsächlich an Schminke, Klamotten und Jungs interessiert war.
Obwohl Andie Zimmer Nummer 3 in ihrem Traum gesehen hatte, war sie natürlich trotzdem neugierig, wie es wirklich darin aussah. Es würde sich ihr schon noch offenbaren, dachte sie, als sie in Richtung Küche ging. So aufgebracht hatte sie Dessie zwar noch nie gesehen, aber sie arbeitete schließlich erst seit ein paar Wochen hier, und vielleicht war auch Dessies heutiges Verhalten nichts Ungewöhnliches. Sie würde einfach das Frühstück vorbereiten, wie an jedem anderen Tag auch.
Was Andie allerdings überraschte, war, dass sich in der großen Wohnküche schon zwei Personen befanden. Normalerweise trudelten die ersten Gäste tatsächlich erst zwischen sieben und halb acht ein.
Die beiden, ein rothaariges Mädchen und ein großer Junge, ungefähr in Andies Alter, bemerkten anscheinend ihre hochgezogenen Augenbrauen. Wohl unschlüssig, was sie sagen sollten, stellten sie sich vor. »Hallo, wir sind Val und Sam«, sagte der Junge.
Andie ging zu einem der Schränke an der Wand, öffnete die Türen, holte Teller heraus und begann, die Tische zu decken. »Ich bin Andie, ich arbeite hier. Eigentlich gibt's Frühstück erst ab sieben.«
Die beiden sahen sich an. »Ja, das wissen wir«, meinte die Rothaarige, »aber wir hatten gehofft, wir könnten schon früher etwas bekommen. Eine Tasse Kaffee? Eine Scheibe Toast?«
Andie bemerkte, wie Sam von einem Fuß auf den anderen trat. Auch Val sah nervös aus. »Jetzt setzt euch doch erst einmal.«
»Wir wussten nicht, ob wir vielleicht die Besitzerin mit unserer Bitte verärgert haben«, sagte Sam. »Sie hat die Gläser fallen lassen, die sie dort drüben in den Schrank stellen wollte, und ist aus dem Zimmer gelaufen.«
»Wir wollen ja echt keine Umstände machen, aber eine Tasse Kaffee ist doch drin, oder nicht?«, meinte Val.
Mit gerunzelter Stirn ging Andie zum Schrank hinüber. Tatsächlich. Auf dem Fußboden lagen zwei Weingläser in Scherben. »Ja, ich mach gleich die Maschine an«, sagte Andie zerstreut.
»Es ist nur so, wie wir schon der Besitzerin erklärt haben«, redete Sam weiter, »dass wir einen Anruf von unserer Freundin Denise bekommen haben. Sie und ihr Freund Nate sind gestern Nacht im Thistle Inn untergekommen. Hier war ja nur noch ein Zimmer frei und die beiden mussten sich was anderes suchen. Naja, und jetzt, jetzt ist Nate irgendwie verschwunden oder so.«
»Auf jeden Fall hat Denise vorhin ganz panisch angerufen«, fühlte Val sich genötigt, weiter zu erklären, wahrscheinlich, weil sie sich erhoffte, so schneller an ihr Frühstück zu kommen. »Als sie heute Morgen aufgewacht ist, war Nate nicht mehr da. Ob wir so schnell wie möglich rüberkommen können. Was wir da machen sollen, weiß ich auch nicht. Durch unsere Anwesenheit kommt er schließlich auch nicht schneller wieder. Wahrscheinlich ist er schon zurück, bis wir da sind.« Energisch schob sich Val eine rote Locke hinter das Ohr.
Gedankenverloren schaltete Andie die Kaffeemaschine an und holte das Toastbrot aus dem Schrank. »Das Thistle Inn? Mrs MacDonald?«
»Ja, genau.« Val setzte sich an einen Tisch. »Nate ist wahrscheinlich nur spazieren gegangen. Er hat manchmal so komische Anwandlungen. Wollte vielleicht die Arrochar Alps bei Sonnenaufgang sehen oder so etwas.«
»Ohne Denise eine Nachricht zu hinterlassen?« Sam stand immer noch und holte sein Handy aus der Tasche. »Zumindest hat sie noch nicht geschrieben, dass er schon wieder zurück ist, und es ist schon mindestens eine Stunde her, seit sie bemerkt hat, dass er fehlt.«
Val winkte sichtlich genervt ab und nahm dann erleichtert die Tasse Kaffee entgegen, die Andie ihr reichte. »Jetzt lass uns wenigstens erst einmal frühstücken«, sagte sie, nachdem sie einen Schluck getrunken hatte.
Andie tat ein paar Scheiben Brot in den großen Toaster und stellte eine Auswahl an Marmeladen und Honig auf den Tisch, an den sich Val gesetzt hatte. »Also, kann ich euch Eier und Speck anbieten? Das ist schnell gemacht.« Bevor die beiden geantwortet hatten, holte sie schon die große Pfanne aus dem Schrank und die Zutaten aus dem Kühlschrank. Schließlich wollten die meisten der anderen Gäste, die bald eintrudeln würden, bestimmt das obligatorische schottische Fry Up essen. Wenn sie das Frühstück alleine zubereiten musste, dann würde es für sie ganz schön stressig werden. Der Gedanke erinnerte sie daran, dass Dessie einfach abgehauen und die beiden Gäste allein in der Küche gelassen hatte.
»Nein, so früh am Morgen kriege ich so etwas nicht runter«, lehnte Val ab.
»Dann für mich auch nicht«, sagte Sam.
Das gab Andie genug Zeit, die Frühstückscerealien und das Obst, die Milch und diverse Säfte auf dem Frühstücksbuffet anzurichten. »Also Dessie, ich meine Mrs McKendrick, ist einfach aus dem Zimmer gelaufen, als ihr um ein früheres Frühstück gebeten habt?«, fragte sie verwundert.
»Na ja, nicht sofort«, antwortete Val mit vollem Mund und schluckte den Bissen Toast hinunter, bevor sie weitersprach. »Erst als wir erklärt haben, warum wir gerne früher frühstücken wollen, ließ sie die Gläser fallen. Ich dachte erst, sie wolle ein Kehrblech holen, aber als sie nicht wiederkam …« Val zuckte mit den Schultern.
»Wahrscheinlich hat sie das Ganze an ihre eigene Vergangenheit erinnert«, dachte Andie laut nach. Als sie sich umdrehte, sahen Sam und Val sie erwartungsvoll an. Andie wurde rot. »Dessies Mann ist vor zehn Jahren hier in Tarbet verschwunden«, fuhr sie fort und ärgerte sich, dass sie sich nun in Erklärungsnot befand. Aber vielleicht würden die beiden sich ja mit dieser kurzen Erläuterung zufriedengeben, hoffte sie. Nichts da. Sie hatte sie natürlich damit nur noch neugieriger gemacht.
»Wie, verschwunden?«, wollte Val wissen. »Er wird immer noch vermisst, oder was?«
»Genau«, murmelte Andie, drehte den beiden den Rücken zu und beschäftigte sich mit den Vorbereitungen für das typisch schottische, gekochte Frühstück, das meist aus Eiern, Speck, Blutwurst, Würstchen, Pilzen, Tomaten und Hash Browns bestand.
»War das hier in diesem B&B?«, ließ Val nicht locker.
»Nein, damals hatte Dessie das B&B noch nicht. Sie wohnte noch gar nicht hier. Dessie und ihr Mann waren Touristen, so wie ihr, die hier in Tarbet Urlaub gemacht haben. Dann ist ihr Mann verschwunden, und … Mehr weiß ich auch nicht«, sagte Andie und biss sich auf die Lippe.
»Aber …« Val ließ sich so leicht nicht vom Thema abbringen. Sam war mehr damit beschäftigt, sein Handy zu checken.
»Es ist schon zehn Jahre her«, unterbrach Andie Val. Sie zwang sich zu einem Lächeln und drehte sich um. »Damals war ich ja noch ein Kind, als das passiert ist.«
Sie steckte das Brot in den silbernen Toasthalter und stellte ihn auf den Tisch.
»Mein Gott, du wirst ja wohl schon hören, wenn du eine SMS von Denise bekommst«, sagte Val zu Sam und rollte verärgert mit den Augen. »Außerdem wird sie bestimmt anrufen, wenn Nate wieder auftaucht.«
»Ja, wenn er wieder auftaucht«, meinte Sam skeptisch, immer noch auf das Display starrend.
Andie machte sich wieder daran, Pilze zu schneiden, beobachtete Val und Sam aber aus dem Augenwinkel. Das Verschwinden des jungen Mannes war sonderbar, besonders in Anbetracht der Tatsache, dass Dessie vor zehn Jahren Ähnliches passiert war wie dieser Denise. Aber Andie hatte Val und Sam noch nie vorher gesehen, weder in Träumen noch anderswo, und war sich ziemlich sicher, dass ihre Aufgabe hier nichts mit ihnen zu tun hatte. Wenn Nate irgendetwas Schlimmes zugestoßen wäre oder zustoßen würde, dann wäre sie wohl die Erste, die davon erfuhr, und zwar bevor es passierte. Also konnte sie Val guten Gewissens beipflichten. »Der kommt bestimmt wieder.«
»Das glaube ich nicht.« Dessies Stimme hörte sich gefasst an. Andie hatte gar nicht gemerkt, dass ihre Chefin wieder in die Küche gekommen war und drehte sich zu ihr um. Dessies Gesichtsausdruck wirkte wieder völlig neutral, so als ob nie etwas Ungewöhnliches vorgefallen wäre. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Nate nicht wiederkommen wird.« Sie ging zu dem Tisch hinüber, an dem Sam und Val saßen und sagte resolut zu ihnen, in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: »Los, wir holen Denise ab und fahren zum Polizeirevier in Helensburgh. Ich fahre.«
Val und Sam sahen sich erst überrascht an, standen dann allerdings auf.
»Ähm, okay«, sagte Val unsicher. Doch Dessie war schon aus dem Zimmer gestürmt. Val und Sam folgten ihr, und aus dem Fenster konnte Andie beobachten, wie sie zu Dessie ins Auto stiegen und wegfuhren.
Andie kaute auf der Unterlippe herum und schaute dann auf die Uhr. Fünf vor sieben. Gott sei Dank schienen die anderen Gäste noch auf sich warten zu lassen. Zeit genug, einen Anruf zu tätigen. Andie zog ihr Handy aus der Tasche und wählte die eingespeicherte Nummer vom Thistle Inn.
Die Fahrt nach Helensburgh, wo sich das für Tarbet zuständige Polizeirevier befand, dauerte gewöhnlich eine halbe Stunde, fühlte sich für alle im Auto aber sicher an wie eine Ewigkeit. Anfangs hatte Val, die darauf bestand, vorne zu sitzen, ein paar Fragen gestellt. Zum Beispiel, warum sie unbedingt sofort zur Polizei fahren mussten. Aber Dessie hatte nur einsilbig geantwortet. Bald herrschte ein bedrücktes Schweigen. Denise, die sie vom Thistle Inn abgeholt hatten, kaute nur auf ihren Fingernägeln herum. Ihre Augen, denen Dessie im Rückspiegel ab und zu begegnete, wirkten noch trauriger als gestern Abend. Sam schaute Denise dauernd besorgt an. Val, sichtlich genervt, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und starrte aus dem Fenster. Dessie konnte sich nicht vorstellen, dass sie tatsächlich verärgert darüber war, die Wanderung nicht fortzusetzen, so wie sie gestern Abend ausgesehen hatte. Vielmehr vermutete sie, dass Val nicht darüber erbaut war, was für ein Drama um Nates Verschwinden gemacht wurde. Wenn sie das rothaarige Mädchen richtig einschätzte, dann war sie gewöhnlich diejenige, die im Mittelpunkt stand.
Die Stimmung im Auto wurde immer unangenehmer, je näher sie Helensburgh kamen. Dessie war sehr erleichtert, als sie endlich auf den Parkplatz vor der Polizeistelle einbiegen konnte, und wartete ungeduldig, bis alle aus dem Auto ausgestiegen waren. Schnell drückte sie auf den Schlüssel, um ihren Wagen automatisch abzuschließen und eilte dann ins Gebäude.
»Jetzt warten Sie doch mal!«, rief Val ihr nach. »Wollen Sie uns vielleicht nicht zuerst einmal sagen, wieso wir hierhergekommen sind?«
»Du, Nate ist immer noch nicht wieder zurück«, sagte Denise mit sanfter Stimme, und hielt dabei ihr Handy hoch. Sie hatte wohl Mrs MacDonald gebeten, sich bei ihr zu melden, sollte Nate zum Thistle Inn zurückkehren.
»Ja, aber da muss man doch nicht sofort zur Polizei rennen«, regte sich Val auf.
»Ihm kann doch nur was zugestoßen sein, er hätte doch nicht Denise …«
Dessie hörte nicht mehr, wie Sam diesen Satz beendete, weil sie schon durch die Drehtür ins Polizeigebäude gegangen war.
An der Rezeption saß eine ältere Dame, die auf den ersten Blick wie eine gemütliche schottische Großmutter aussah. Graue Haare, zu einem lockeren Dutt aufgetürmt, eine Brille, die tief auf der Nasenspitze saß. Es hätte zu dem Bild gepasst, wenn sie dort hinter dem Schreibtisch mit Stricknadeln und Wolle gesessen hätte. Doch als Dessie näher trat, fiel ihr auf, dass der erste Eindruck trog. Rosa Simmonds, wie die Dame laut dem Namensschild hieß, hatte einen äußerst scharfen Blick. Ihre Stimme passte allerdings wieder zum Erscheinungsbild, fand Dessie, als Rosa mit kehligem, weichem Highland-Akzent sagte: »Hallo, meine Liebe. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich muss unbedingt mit Inspektor Murray sprechen«, antwortete Dessie in recht barschem Tonfall. Sie hatte keine Zeit für ein gemütliches Schwätzchen.
»Da muss ich Sie wohl enttäuschen … Miss McKendrick, richtig? Inspektor Murray ist seit zwei Jahren pensioniert. Worum geht es denn?«
»Mrs McKendrick«, verbesserte Dessie. »Das möchte ich lieber mit dem zuständigen Beamten besprechen.«
»Dachte ich es mir doch, dass Sie es sind«, plauderte Rosa Simmonds locker weiter. »Von Dessie’s B&B, richtig?«
»Ja, ja. Wer ist denn nun Inspektor Murrays Nachfolger?«
»Das wäre Inspektor Declan Reid, meine Liebe. Mögen Sie mir vielleicht nicht doch lieber sagen, um was es sich hier handelt?«
Mittlerweile waren Sam, Denise und Val auch an der Rezeption angekommen. Rosa warf ihnen neugierige Blicke zu.
»Denises Freund Nate ist verschwunden«, meinte Dessie seufzend und etwas ungehalten. »Ich möchte aber erst einmal mit Inspektor Reid sprechen, weil ich wertvolle Informationen zu dieser Sachlage habe.«
»Ach, Sie Arme«, sprach Rosa Denise an. »Wie lange ist er denn schon …«
»Bitte!