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Eine Kräuterhexe ohne Freunde. Eine Schwangere in Not. Ein Feind mit finsteren Absichten …
Gute Hexe, böse Hexe? Für Penny Reid macht es keinen Unterschied. Sie hat kein Problem damit, dass man sie im Hexenzirkel nicht ausstehen kann und dass sie kaum Freunde hat. Magie nutzt die ebenso hübsche wie berechnende Kräuterhexe am liebsten zu ihrem eigenen Vorteil. Umso mehr überrascht es sie selbst, als sie einer verängstigten, schwangeren jungen Frau hilft, die plötzlich in ihrem Rosengarten auftaucht – in Panik, dass ihr ungeborenes Kind der Teufel sein könnte.
Entschlossen, der geheimnisvollen Fremden Schutz zu bieten, greift Penny zu Zaubersprüchen, List und Täuschung. Doch schon bald muss sie sich fragen, ob sie allein stark genug ist, um die drohende Gefahr aufzuhalten.
Wird Pennys einziger Akt von Mitgefühl ihr zum Verhängnis?
DER TEUFEL IM LEIBE ist der rasante zweite Band der Highland-Hexen-Krimis, einer paranormalen Cozy-Krimi-Reihe voller Magie, Spannung und schottischen Mythen. Wenn du außergewöhnliche Heldinnen, atmosphärische Settings und die richtige Prise Zauber magst, wirst du dieses Buch lieben.
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Veröffentlichungsjahr: 2017
Felicity Green
Der Teufel im Leibe
Ein Highland-Hexen-Krimi
Band 2
© Felicity Green, 1. Auflage 2016
Neue, überarbeitete Auflage 2025
www.felicitygreen.com
Veröffentlicht durch:
A. Papenburg-Frey
Schlossbergstr. 1
79798 Jestetten
Umschlaggestaltung: Lou Harper / May Dawney
Korrektorat: Wolma Krefting, bueropia.de
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
www.felicitygreen.com
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechzehn
Kapitel siebzehn
Kapitel achtzehn
Kapitel neunzehn
Kapitel zwanzig
Kapitel einundzwanzig
Kapitel zweiundzwanzig
Kapitel dreiundzwanzig
Kapitel vierundzwanzig
Kapitel fünfundzwanzig
Kapitel sechsundzwanzig
Kapitel siebenundzwanzig
Kapitel achtundzwanzig
Kapitel neunundzwanzig
Kapitel dreißig
Der Teufel in der Küche Leseprobe
Penny Reid genoss es für gewöhnlich, wenn Männer ihr zu Füßen lagen. Doch an Markttagen empfand sie liebeskranke Jünglinge, die um ihren Stand herumschlichen, als lästig.
Als der junge Mann mit dem knallroten Gesicht sich ihr nervös näherte, richtete sie rasch das Kopftuch, das ihr auffallend goldenes Haar verbarg.
Sie bereute, heute Morgen nicht auf ihre übliche Schönheitsroutine verzichtet zu haben. An Tagen, an denen sie ihre Waren auf Märkten verkaufte, war es wirklich hinderlich, zu schön zu sein. Entweder schüchterte es potenzielle Kunden ein, oder sie zog solche an, die sich mehr für ihre Telefonnummer interessierten als für Kerzen, Badesalze, Seifen und handgemachte Bio-Kosmetik.
»Hallo. Kann ich dir helfen?«, fragte sie den jungen Mann in einem knappen Ton.
Er war kaum achtzehn, pummelig und litt unter Akne.
»Äh«, räusperte sich der Junge und schlich näher. »Ich suche … etwas Besonderes. Ich habe gehört, dass Sie das hier verkaufen …«
Er brach ab und schaute nach rechts und nach links. Nachdem er sich versichert hatte, dass keiner in der Nähe war, der ihn hören konnte, trat er näher und beugte sich über den Stand.
»So inoffiziell«, sagte er und seine Gesichtsfarbe wechselte zu gefährlich aussehenden Lilatönen.
Penny musterte den Jungen, der ihrem Blick nicht standhielt und sich wieder nervös umschaute. »Was suchst du denn genau?«, fragte sie ungerührt.
»Also, Sie haben einem Freund von mir etwas verkauft, das …«, er schluckte, »… ihm dabei geholfen hat, ein Mädchen dazu zu überreden, mit ihm auszugehen.«
Penny zog eine Augenbraue hoch und sagte nichts. Natürlich wusste sie ganz genau, was er wollte, aber das unbeholfene Verhalten des Jungen amüsierte sie.
»Liebes …«, krächzte er, brachte das Wort aber nicht ganz heraus.
Penny beschloss, seinen Qualen ein Ende zu bereiten. »Meinst du Liebestropfen?«
Der junge Mann nickte erleichtert.
Penny überlegte für einen Moment.
Tatsächlich verdiente sie mehr Geld mit anderen Produkten als den harmlosen, die vor ihr als Waren auslagen.
Es war nicht illegal, Öle zu verkaufen, die beim Bestehen von Prüfungen halfen, Kerzen mit Kristallen, die Geld anzogen, Räucherbündel, die Häuser von negativen Energien reinigten, Kräutermischungen für Schönheit und Ausstrahlung – oder sogar Liebestränke.
Sie zog es nur aus verschiedenen Gründen vor, sich nicht als Kräuterhexe zu bewerben.
Stattdessen führte sie ein legales Geschäft, und alles andere betrachtete sie als lukratives Nebeneinkommen.
Es war jedoch so, dass sie vor nicht allzu langer Zeit Liebestropfen an jemanden verkauft hatte, der sie für unlautere Zwecke benutzen wollte. Obwohl man sie natürlich nicht dafür verantwortlich machen konnte, wie sie fand, hatte er die Frau in Lebensgefahr gebracht.
Gott sei Dank war alles gut ausgegangen und der Mann jetzt hinter Gittern. Aber seitdem war Penny ein kleines bisschen vorsichtiger, wem sie etwas von ihren ›besonderen Produkten‹ verkaufte.
»Aha«, sagte sie jetzt zu dem Jungen und schaute ihn abschätzend an. »Wer ist denn die Frau, die noch nichts von ihrem Glück weiß?«
Der Junge zeigte verlegen auf ein sehr hübsches dunkelhaariges Mädchen, das ein paar Stände weiter mit zwei Freundinnen Hüte aufprobierte.
»So, so. Hast du es schon mal auf die normale Tour versucht? Sie gefragt, ob sie mit dir ausgehen möchte?«
»Nicht direkt. Aber ein Kumpel hat mal vorgefühlt. Sie sagt, dass sie mich süß findet, aber nur als guten Freund sieht«, sagte der Junge deprimiert und in einem Tonfall, der Penny sagte, dass er das nicht zum ersten Mal gehört hatte.
»Okay, ich denke, ich habe da was für dich.«
Sie suchte unter dem Tresen nach einem Gesichtswasser mit Lavendelöl und einigen anderen Zusätzen, die sein unreines Hautbild verbessern würden.
»Hier. Das nimmst du einen Mond lang jeden Morgen und jeden Abend«, sagte sie in dem mysteriösen Tonfall, den sie für diesen Zweck gewöhnlich verwendete. »Du reibst dir damit das Gesicht ein, nachdem du es gewaschen hast.«
»Einen Mond lang?«, fragte er verwirrt und streckte die Hand danach aus.
»Von einem Neumond bis zum nächsten. Einen Monat«, erklärte sie geduldig. »Aber warte, ich bin noch nicht fertig. Nachdem du es genommen hast, musst du dreimal im Uhrzeigersinn um dein Haus herumlaufen.«
Der Junge zog die Brauen zusammen. »Mein Haus?«
»Oder um den Block, je nachdem, wo du wohnst. Die Hauptsache ist, du läufst dreimal ungefähr im Kreis, mit dem Haus, in dem du schläfst, in der Mitte, verstanden?«
»Hmm, ich schätze schon«, sagte der Junge skeptisch und kratzte sich im verpickelten Gesicht. »Kann ich nicht einfach solche Tropfen bekommen wie mein Freund?«
»Die brauchst du nicht«, winkte sie ab, »weil ihr schon Freunde seid und sie dich mag. Sie muss nur … dein wahres Gesicht sehen.«
»Okay.« Er streckte wieder die Hand nach der Flasche mit dem Lavendelgesichtswasser aus.
»Aber du musst dich wirklich an das Ritual halten, sonst hilft das nicht. Außerdem, um deinen Körper und Geist rein zu halten, iss Lebensmittel, die so natürlich wie möglich sind.«
Wieder sah der Junge sie fragend an. »Gemüse, unbehandelte Lebensmittel, kein Fast Food«, erklärte Penny weiter. »Einen Mond lang, okay?«
Der Junge wiegte unsicher den Kopf hin und her.
»Und wie sieht es mit dem reinen Geist aus?«, fragte sie streng.
»Äh …«
»Keine schmutzigen Gedanken?«
Seine Gesichtsfarbe wechselte wieder von Rot zu Lila und er öffnete den Mund, brachte aber nichts heraus.
Penny machte Anstalten, die Flasche wieder unter den Tresen zu stellen. »Wenn sie es dir nicht wert ist, das Zauberritual einzuhalten und meine Instruktionen ernst zu nehmen, dann kann ich leider …«
»Doch«, sagte der Junge hastig. »Sie ist es mir wert. Ich mache es so, wie Sie es sagen. Versprochen!«
»Na gut.« Penny zog die Flasche wieder hervor. »Wenn sie sich nach einem Mond nicht in dich verliebt hat, dann komm wieder zu mir. Dann bekommst du die Liebestropfen zu einem Spezialpreis. Aber du wirst sehen«, sie schaute wieder zu dem Mädchen rüber, das mit ihren Freundinnen tuschelte und kicherte, »sie wird dich als mehr als einen guten Freund betrachten, wenn du dich an das Ritual hältst.«
»Danke«, sagte der Junge erleichtert. »Wie viel kostet es?«
»Dreihundert Pfund«, sagte Penny, ohne die Miene zu verziehen.
»Oh. Da muss ich aber noch mal zum Geldautomaten.«
»Gut, ich reserviere dir das Zaubermittel für die nächste Viertelstunde. Aber beeil dich besser, es ist die letzte Flasche!«
Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sie den Jungen beobachtete, der davon sprintete, um einen Geldautomaten zu finden.
Penny schaute dem Jungen immer noch hinterher, als sie aus dem Augenwinkel eine Frau auf ihren Stand zueilen sah.
»Sie da! Sind Sie Penny Reid?«, rief die Frau, die klein, aber recht rundlich war.
Penny wandte sich ihr zu und nickte. Bevor sie sich’s versah, hatte sich die Frau angeschickt, über den Verkaufstresen zu springen, was ihr auf Grund ihrer kurzen Beine nicht gelang. Dafür purzelten Seifen, Gläser und Potpourri-Säckchen vom Tresen und der ganze Stand wackelte gefährlich, als die Frau halb hinaufkletterte.
Penny machte instinktiv einen Schritt zurück und wich so der Hand aus, mit der ihr die Frau das Gesicht zerkratzen wollte.
»Du elendige Hure, du!«, schrie sie Penny an. »Was fällt dir ein, meinem Mann …«
Der Rest ging in einem Gemurmel unter, als sie mit dem Gesicht zuerst in eine Schüssel mit Rosmarin-Gesichtspeeling fiel, die Penny zu Demonstrationszwecken aufgestellt hatte.
Penny hatte Angst, dass noch mehr Gläser und Fläschchen zu Bruch gehen würden und traf blitzschnell eine Entscheidung. Sie zog sich das Tuch vom Kopf, schüttelte ihr Haar aus und rief: »Hilfe! Kann mir jemand helfen? So eine Verrückte versucht, mich anzugreifen.«
Sofort eilten ein paar Männer heran, zogen die Frau vom Stand und sammelten ihre Waren wieder auf.
Penny bedankte sich mit einem strahlenden Lächeln.
»Soll ich die Polizei rufen?«, sagte ein großer Mann mit grauen Schläfen ernst.
Er und ein anderer Mann hatten die kleine Frau an den Armen gepackt.
Die weiße Peeling-Masse mit den grünen Punkten, die an diesem warmen Sommertag etwas sehr flüssig war, lief ihr das Gesicht herunter und in den Mund, als sie keifte: »Diese Hexe hat meinen Mann verführt.«
»Ich weiß gar nicht, wovon sie redet«, sagte Penny so unschuldig wie möglich.
»Mein guter Desmond, dem würde so etwas im Traum nicht von alleine einfallen«, redete die Frau ungeachtet der Peeling-Masse im Mund weiter, spuckte sie dann aber aus.
Penny erkannte den Namen und musterte die Frau mit neu erwachtem Interesse. Steuern waren so langweilig, und sie hatte wirklich einen Buchhalter gebraucht. Desmond war nach ihrer gemeinsamen Nacht nur allzu hilfsbereit gewesen. Es hatte seinen Zweck erfüllt, aber sie hatte nicht vor, für eine zweite Runde zurückzukehren. Interessant fand sie nur, dass ein kalter Fisch wie Desmond eine Frau mit solch einem feurigen Temperament zu Hause hatte.
»Also, was denken Sie? Wollen Sie die Polizei rufen?«, fragte der ältere Mann erneut und genoss offensichtlich seine Rolle als edler Ritter. »Sie können sie bestimmt verklagen, weil sie einige Ihrer Produkte zerstört hat.«
»Nein, danke, das ist nicht nötig«, sagte Penny. »Gehen Sie nach Hause zu Ihrem Mann, wer auch immer das ist«, wandte sie sich an die Frau. »Lenken Sie etwas von diesem Feuer in Ihr Liebesleben, dann geht er vielleicht nicht mehr fremd.«
Die Frau lief unter dem grünen Zeug knallrot an und wollte gerade protestieren, bemerkte dann aber die großen Männer, die sich drohend um sie versammelt hatten.
Sie murmelte etwas, schüttelte die Hände ab, die sie zurückgehalten hatten, und schlich davon.
Penny sah sich mit einem Lächeln um. »Ich danke Ihnen allen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir helfen könnten, das zerbrochene Glas aufzuräumen. Ich wollte sowieso gerade einpacken und nach Hause fahren. Wenn sich ein paar Helfer fänden, die mir die Kisten ins Auto laden …«
Sofort drängten sich Freiwillige nach vorn. Sie verstauten die Kisten und den abgebauten Stand im Handumdrehen in ihrem Lieferwagen.
Penny war gerade dabei, die letzten Sachen zusammenzuraffen, als der junge Mann zurückkam. Außer Atem sagte er: »Bin ich zu spät?«
Er reichte ihr das Geld.
Penny packte seine Flasche Gesichtswasser in eine ihrer schönen, mit Kräutern bedruckten Papiertütchen.
»Vielen Dank. Besuch meinen Stand bald wieder«, lächelte sie ihn an.
Er war so glücklich, er hüpfte förmlich davon.
Penny verspürte nur einen kleinen Anflug von schlechtem Gewissen. Ja, sie hatte gerade 295 Pfund Gewinn mit einem einfachen, völlig zauberfreien Gesichtswasser gemacht, und vielleicht hatte sie den jungen Mann übers Ohr gehauen. Andererseits hatte sie ihm eine Möglichkeit verkauft, sich zu verbessern – und wenn es dazu führte, dass er das Herz seiner Angebeteten gewann … nun, darauf konnte man doch keinen Preis setzen.
Es war nicht Pennys Schuld, dass manche Menschen leichtgläubig waren. Warum sollte sie ihre Fähigkeiten nicht nutzen, um solche Menschen zu beeinflussen – vor allem, wenn noch nicht mal Magie im Spiel war?
Okay, gab sie zu, während sie davonfuhr und ihren Tag früher als geplant mit einem hübschen Gewinn in der Tasche beendete – vielleicht hatte sie ein klitzekleines bisschen Magie eingesetzt.
Warum sollte sie ihre besondere Gabe nicht zu ihrem Vorteil nutzen – das war doch nicht so schlimm, oder?
* * *
Penny fuhr zurück nach Hause – ein abgelegenes altes Haus zwischen Arrochar und Tarbet in den schottischen Highlands.
Es war nicht einfach gewesen, mit achtzehn das nötige Geld dafür aufzutreiben, aber Penny hatte gewusst, dass das Cottage ihr gehörte. Wie so oft hatte sie bekommen, was sie wollte – und sie hatte es nie bereut.
Dass es abgeschieden lag, war ein großer Pluspunkt. Es interessierte sie nicht, was andere über sie dachten, aber neugierige Nachbarn hätten ihr Leben doch etwas komplizierter gemacht. Einige von Pennys Tätigkeiten ließen sich schlicht besser im Verborgenen ausüben.
Aber das Beste an dem Haus war ihr großer Garten. Zu sagen, dass sie einen grünen Daumen hatte, wäre untertrieben. Gut mit Pflanzen umgehen zu können, war ihre besondere Gabe und sie konnte wahre Wunder mit Kräutern vollbringen. Buchstäblich wahre Wunder.
Wie es ihre Gewohnheit war, ging sie nach ihrer Ankunft erst einmal durch den Garten.
Sie kontrollierte die Kräuterbete, ging am von Wildblumen umgebenen Gartenteich vorbei zu dem Teil des Gartens, in dem sie Blumen anpflanzte. Dort verbrachte sie die meiste Zeit. Das Wissen um die Kräutermagie hatte ihre Mutter an sie weitergegeben. Aber was Blumen anging, lernte sie immer noch dazu. Sie liebte es, zu experimentieren und ließ sich dabei von ihrer Intuition leiten.
Ein echtes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als ihr Blick auf die rosa Pelargonien fiel. Als Penny in einem Buch gelesen hatte, dass sie nach dem griechischem Wort pelargos für Storch benannt waren, weil ihre Früchte wie Storchenschnäbel aussahen, kam ihr eine Idee, die mit einem ganz anderen Storchenmythos zu tun hatte. Seitdem benutzte sie Pelargonien in einem Öl, das nach längerer Anwendung zur Schwangerschaft führte.
Rosenblätter und Rosenöl konnte sie für viele Zwecke verwenden und sie war besonders stolz auf ihre wunderschönen Rosenbüsche. Penny schloss die Augen und sog genüsslich den süßen Geruch der roten, rosa und gelben Blüten ein, als sie ein Geräusch hörte. Eine Art Fiepen. Hatte sich da etwa ein Hund in ihren Sträuchern verirrt? Wo sollte der herkommen?
Stirnrunzelnd ging sie weiter, bis sie zu einem schmalen Pfad kam, der in die Mitte der Rosenbüsche führte, wo sie eine kleine steinerne Bank aufgestellt hatte. Der Pfad war um diese Jahreszeit allerdings von den Zweigen der Rosenbüsche überhangen und Penny hatte Mühe, ihren Kopf unten zu halten, damit sich die Dornen nicht in ihren Haaren verfingen.
Sie hatte die Bank noch nicht ganz erreicht, da konnte sie etwas Rosafarbenes zwischen den Pflanzen aufblitzen sehen. Verdutzt hielt sie inne. Ein Hund war das ganz sicher nicht. Aber den Urheber des Fiepens hatte sie gefunden. Hier, aus der Nähe, hörte es sich eher so an, als ob jemand weinte. Ein Mädchen.
Penny schob den letzten herunterhängenden Zweig beiseite und trat auf die kleine Lichtung.
Auf der Steinbank saß tatsächlich ein Mädchen. Es trug eine rosafarbene Tunika und hatte schwarze Locken, die wild vom Kopf abstanden. Penny schätzte es auf fünfzehn oder sechzehn, aber es war schwer zu sagen, da es so klein und zierlich war. Seine anmutige Gestalt und die Tatsache, dass es so in das Gesamtbild des Rosengartens passte, als ob es da hingehörte, verleitete Penny einen Augenblick lang, zu glauben, dass es sich gar nicht um einen Menschen, sondern um eine Elfe handelte.
Bis das Mädchen sich bewegte, die Tunika verrutschte und Penny der kugelrunde Bauch auffiel. Nein, das hier war kein Naturgeist. Es sei denn, Elfen konnten schwanger werden.
»Hallo«, sagte Penny vorsichtig zu dem Mädchen, das sie mit weit aufgerissenen Augen ansah und völlig erstarrt war. Wenigstens hatte es aufgehört zu weinen.
»Was machst du hier in meinem Garten?«, fragte Penny freundlich.
Doch das Mädchen fühlte sich offensichtlich ertappt und sprang sofort auf. »Tut mir leid, ich gehe gleich.«
Die Kleine hatte einen leichten Akzent, den Penny nicht genau zuordnen konnte und der zu ihrem exotischen Aussehen passte.
»Nein, warte«, rief Penny. »Was ist mit dir? Ist alles in Ordnung?«
Sie war mehr neugierig als besorgt, aber das Mädchen schaute sie aus runden braunen Augen hoffnungsvoll an.
»Ich … könnte ich mich einfach bei Ihnen ein wenig ausruhen? Ich kann nicht mehr laufen und ich weiß nicht, wo ich hinsoll …«
Jetzt erst fiel Penny der Rucksack auf, der hinter der Bank lag.
»Klar kannst du das. Bis Tarbet ist es aber nicht mehr weit, falls du da hin wolltest. Dort gibt es viele B&Bs und auch ein Café.«
Das Mädchen schaute auf seine Füße, die in Ballerinas steckten. Völlig ungeeignet zum Wandern, kein Wunder, dass ihr die Füße wehtaten, dachte sich Penny. Wer ging schon hochschwanger und in Ballerinas wandern? Und ein Mädchen in dem Alter allein?
»Kann ich mir leider nicht leisten«, sagte das Mädchen und biss sich auf die Lippe.
Penny nahm an, dass ihm das rausgerutscht war, denn es sah sie nicht an und seine Wangen färbten sich rosa wie ihre Tunika.
»Magst du vielleicht ins Haus kommen und etwas essen?«, fragte Penny.
Auch sie hatte nicht beabsichtigt, diese Einladung auszusprechen. Das sah ihr gar nicht ähnlich. Was kümmerten sie die Probleme eines fremden Mädchens?
Das Mädchen nickte heftig und eine perfekte kugelrunde Träne kullerte seine Wange herunter. Diesmal schien es aber aus Erleichterung zu weinen, denn seine Mundwinkel verzogen sich zu dem Ansatz eines Lächelns.
Penny musste sich eingestehen, dass sie es nicht bereute, das Angebot gemacht zu haben. In letzter Zeit hatte sie sich hier ein bisschen einsam gefühlt. Gegen ein wenig Unterhaltung heute Abend hatte sie nichts einzuwenden. Vielleicht hatte das Mädchen eine interessante Geschichte zu erzählen.
»Na, dann komm mal mit.« Sie hob den Rucksack auf und das Mädchen folgte ihr aus dem Rosengarten in Richtung Haus. »Ich bin Penny und du?«
Das Mädchen sagte nichts, aber seine Augen weiteten sich, als Penny sich fragend zu ihr umdrehte. Die Emotion, die sie darin las, verblüffte sie. Das Mädchen hatte Angst. Eine Heidenangst.
»Du musst es mir nicht sagen«, redete Penny in leichtem Tonfall weiter. »Ich nenne dich einfach Faye.«
Sichtlich erleichtert nickte das Mädchen, fragte dann aber nach ein paar Schritten: »Faye? Wieso Faye?«
»Faye wie Fairy. Weil du so ausgesehen hast wie eine Flower Fairy«, lachte Penny und ließ Faye den Vortritt durch die Verandatür. Das Mädchen schaute sie verständnislos an. »Cicely Mary Barker? Die Illustrationen mit den kleinen Blumen-Elfen? Als ich dich mitten in den Rosen entdeckt habe, hast du so ausgesehen, wie die Rosen-Elfe. Nur mit dunklen Locken statt blonden.«
»Kenn ich nicht«, murmelte Faye.
Interessant, dachte sich Penny und zeigte dem Mädchen den Weg in die Küche. Die Flower Fairies kannte in Großbritannien doch jedes Kind. Faye war ganz offensichtlich nicht hier aufgewachsen, obwohl ihr Englisch wirklich sehr gut war. Aber wo kam sie her?
Als Penny ihren Kühlschrank aufmachte und Faye ein Sandwich zubereitete, beobachtete sie das Mädchen aus dem Augenwinkel.
Faye saß still am Küchentisch, aber ihr Blick ging panisch hin und her und fixierte dann die Tür, so als ob sie es gewohnt war, überall, wo sie war, ihre Fluchtmöglichkeiten im Auge zu behalten.
Was auch immer ihre geheimnisvolle Herkunft war – dieses Mädchen lief vor etwas oder jemandem davon. Sie war zu Tode verängstigt, völlig am Ende und hatte offenbar niemanden, der ihr half.
Niemanden außer Penny.
Penny schnitt sich mit dem scharfen Messer, mit dem sie gerade die Sandwiches halbiert hatte. Es war kaum ein Tropfen Blut zu sehen, aber sie zuckte zusammen und steckte sich fluchend den Finger in den Mund.
Nachdem sie ihn unter fließendem Wasser gehalten und mit einem Papiertuch abgetrocknet hatte, war nur noch der kleinste Kratzer zu erkennen.
Penny schalt sich im Stillen für ihre Überreaktion. Im Garten schnitt oder kratzte sie sich ständig an den Händen – selbst wenn sie oft Handschuhe trug.
Sie rang sich ein Lächeln ab, als sie den Teller mit den Sandwiches auf den Tisch stellte und Faye fragte, was sie trinken wolle.
»Ähm … haben Sie Saft?«, fragte Faye mit kindlicher Stimme.
»Klar.« Penny holte den Orangensaft aus dem Kühlschrank und fragte sich erneut, was sie hier eigentlich tat. Fayes Anwesenheit würde ihr Leben mit Sicherheit durcheinanderbringen – und im besten Fall ungewollte Aufmerksamkeit auf sie lenken. Warum tat sie sich das an? Sie hatte keinerlei Verpflichtung gegenüber einer fremden Ausreißerin. Und wenn das Mädchen minderjährig war, sollte sie eigentlich die Polizei rufen.
Penny stellte Faye ein Glas Saft hin, während diese gierig die Sandwiches verschlang.
»Ich habe ein Gästezimmer, falls du eine Weile bleiben möchtest. Du sagst, du hast kein Geld – aber ich könnte Hilfe im Garten gebrauchen. Die Arbeit wäre gewissermaßen ein Tausch gegen Unterkunft und Verpflegung.«
Faye kämpfte offensichtlich mit sich, aber der Ausdruck in ihren großen, runden Augen sagte Penny, dass sie keine andere Wahl hatte, als das Angebot anzunehmen.
Als das Mädchen zustimmte, spürte Penny etwas … ein warmes Gefühl … in der Brustgegend. Es dauerte einen Moment, bis sie es benennen konnte.
Es war Freude, vielleicht sogar Zuneigung.
Penny schüttelte den Kopf.
Sie wusste selbst nicht, was auf einmal in sie gefahren war.
»Setz dich doch, bitte«, sagte Penny zu ihrem Bruder.
Declan lief in der Küche auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und sah sich neugierig um.
»Sorry. Berufskrankheit«, sagte Declan mit einem entschuldigenden Lächeln.
»Nun, das hier ist kein Tatort.«
»Ja. Natürlich. Es ist nur so …«
Er verstummte und setzte sich schließlich an den klobigen Holztisch, der in der Mitte der rustikalen Küche stand.
Penny vermutete, dass ihr Bruder etwas über die Tatsache hatte sagen wollen, dass er noch nie hereingebeten worden war. Sie verspürte einen kleinen Stich des schlechten Gewissens darüber, dass sie ihn nie in ihr Zuhause eingeladen hatte. Es war nicht so, dass ihr Bruder sie nie besucht hätte – aber wie die meisten Gäste hatte sie ihn bisher immer gebeten, direkt durch den Garten zu kommen.
Am Anfang, nachdem Penny ihren fünf Jahre jüngeren Bruder allein mit ihrem Vater zurückgelassen hatte, hatte sie sich noch regelmäßig nach ihm erkundigt. Als Declan dann in seine eigene Wohnung gezogen war, wurde der Kontakt zwischen den Geschwistern seltener. Penny hatte ihn nur hin und wieder besucht.
Während sie den schwarzen gusseisernen Wasserkessel unter dem Wasserhahn des altmodischen, tiefen Kupferbeckens füllte, ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. Ihr Zuhause hätte kaum unterschiedlicher sein können als das ihres Bruders.
Declans kleine, moderne Küche war funktional – mehr nicht – und Penny hatte den Verdacht, dass er sie kaum benutzte. Wahrscheinlich noch seltener, seit er Dessie McKendrick, die Besitzerin eines Bed & Breakfasts in Tarbet, kennenlernt hatte und die meiste Zeit bei ihr verbrachte.
Pennys Küche dagegen wirkte … belebt.
Die Wand hinter der Küchenzeile mit dem Gasherd war unverputzt, sodass man die Backsteine der Hauswand sah. Für den Parkettfußboden, der unter den bunten Flickenteppichen hervorblitzte, war altes Treibholz wiederverwendet worden. An der weiß gestrichenen Decke sah man die dunklen Holzbalken. Auf dem Küchentresen und dem zweiten langen Holztresen unter dem Fenster, das fast die ganze Breite einer Wand einnahm und einen schönen Ausblick auf den Garten bot, standen so einige Sachen herum.
Bunte Teller mit verschiedenen Mustern, die in einem Gestell an der Wand hingen, klobige Weingläser und Wassergläser in unterschiedlichsten Farben und Formen im Regal sowie die freundliche Tischdecke auf dem Esstisch luden förmlich dazu ein, hier in entspannter Atmosphäre und in interessanter Gesellschaft zu speisen.
Penny mochte ihre Küche ein wenig unordentlich, voller Farben und Muster. Sie fand, dass sie dadurch gemütlich wirkte. Erst in dieser Woche, nachdem Faye, ihr Bruder und ein weiterer unerwarteter Gast hier gewesen waren, wurde ihr klar, dass ihre Küche eigentlich für Gesellschaft gemacht war. Sie musste sich eingestehen, dass sie diesem Zweck bisher kaum gedient hatte – was irgendwie traurig war.
Deshalb hatte sie sich heute entschieden, ihren Bruder in die Küche einzuladen.
Außerdem war da die Tatsache, dass sie sich in letzter Zeit deutlich näher gekommen waren. Declan war jetzt mit Dessie zusammen – seit einer polizeilichen Ermittlung, bei der sowohl die B&B-Besitzerin als auch Pennys Zirkel eine Rolle gespielt hatten. Seitdem hatte ihr Bruder Pennys besondere Gabe anerkannt.
Die beiden waren schon seit ihrer Kindheit sehr unterschiedlich gewesen. Penny hatte ihre Mutter vergöttert, während Declan immer der Liebling ihres Vaters gewesen war. Nach dem Tod der Mutter – Penny war damals erst vierzehn – hatte sich alles noch verschlimmert. Ihr Vater, der schon vorher gerne tiefer ins Glas geschaut hatte, war zum Alkoholiker geworden. Es war an Penny gewesen, den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen und sich um ihren Bruder zu kümmern. Die Abneigung ihres Vaters gegen sie hatte sich in offenen Hass verwandelt – wahrscheinlich, weil sie ihrer verstorbenen Mutter zu ähnlich war.
Declan hingegen hatte er immer geliebt, also hatte Penny beim Auszug mit achtzehn auch nicht zurückgeblickt. Sie und Declan hatten sich auseinandergelebt. Penny war immer davon ausgegangen, dass ihr Vater ihren Bruder gegen sie eingenommen hatte. Erst nach dem Tod des Vaters hatte sie sich schuldig gefühlt, Declan mit der ganzen Sache allein gelassen zu haben.
Sie stellte die Kanne mit frisch aufgebrühtem auf den Tisch und legte Tassen, Milch und Zucker bereit.
»Möchtest du sonst noch etwas?«, fragte sie Declan.
»Ein Stück von dem köstlich aussehenden Kuchen auf dem Tresen würde ich nicht ausschlagen«, antwortete er mit einem Grinsen.
Penny schnitt zwei Stücke ab, brachte die Teller zum Tisch und setzte sich.
»Wo ist das Mädchen jetzt?«, begann Declan.
»Sie ist in den Garten gelaufen, als du mit dem Auto vorgefahren bist. Ich habe ihr gesagt, dass sie dir vertrauen kann, also hoffe ich, dass sie nicht einfach inmitten der Rosenbüsche verschwindet, genauso wie sie dort unvermittelt aufgetaucht ist.«
»Interessant«, sagte Declan und nahm einen Bissen von dem Marmorkuchen.
Penny verschränkte die Arme vor der Brust und kippte ihren Stuhl leicht zurück. »Was ist interessant?«
»Ach, dass du dir wünschst, dass sie hierbleibt«, meinte Declan kauend.
»Reine Neugier«, entgegnete Penny. »Sie ist ein Mysterium, ein Rätsel, das ist alles. Ich möchte natürlich gerne wissen, was dahintersteckt. Wäre doch schade, wenn sie einfach wieder fortläuft und ich es nicht herausfinde.«
»Hmmmm«, sagte Declan nur.
»Jetzt spann mich doch nicht länger auf die Folter. Hast du etwas herausgefunden über sie?«
Declan schüttelte den Kopf. »Es wird kein Mädchen vermisst, auf das ihre Beschreibung passt.«
Penny ließ diese Information kurz auf sich wirken, dann nahm sie die Tassen und goss Tee ein. Sie blies nachdenklich auf die Oberfläche ihres heißen Getränks, bevor sie gedankenverloren ein paar Tropfen Milch zugab. »Ich glaube, sie ist Ausländerin«, sagte sie mehr zu sich selbst.
»Habe ich auch alles geprüft.« Declan schob den Teller mit dem angebissen Stück Kuchen von sich. »Penny, ich will dir nichts vorschreiben, das weißt du, aber ich muss das offiziell melden. Wenn das Mädchen minderjährig ist …«
»Ich weiß ja nicht, ob sie minderjährig ist. Sie sieht einfach nur jung aus.« Penny blickte ihren Bruder forschend an. »Du hast mir versprochen, dass es unter uns bleibt.«
»Ich weiß, aber es ist meine Pflicht als Polizeiinspektor …«
»Sie hat Angst vor jemandem. Sie läuft vor jemandem davon. Jemand Mächtigem. Es gibt einen Grund, warum sie nicht zur Polizei gegangen ist. Sie ist sich sicher, dass diese Person sie finden wird. Faye glaubt, dass sie niemandem trauen kann. Wenn ich die Polizei einschalte, bestätige ich ihr nur, dass sie recht hatte.«
»Aber ich habe eine Verantwortung …«
»Und ich dachte, du bist als mein Bruder hier, nicht als Polizeiinspektor.«
Declans überraschter Blick ging zu seiner Schwester. »Das ist nicht fair.«
Penny stand auf. »Bitte, Declan.«
»Na gut, ich gebe dir etwas Zeit, herauszufinden, was mit ihr los ist. Aber sobald du mehr weißt, erzählst du es mir. Dann können wir gemeinsam entscheiden, was wir machen.«
»Danke.« Penny legte ihrem Bruder die Hand auf die Schulter und ließ sich dann erschöpft auf ihren Stuhl sinken. Sie nahm einen großen Bissen vom Kuchen.
»Ich muss dann los.« Declan warf einen Blick auf den restlichen Kuchen unter der Haube. »Kann ich vielleicht ein paar Stücke mitnehmen? Der ist wirklich gut.«
Penny verdrehte die Augen, stand aber auf und kam seinem Wunsch gern nach.
Gerade als sie ihm die Tupperdose reichte, spazierte eine schwarze Katze in die Küche, setzte sich neben Penny und schaute sie mit einem klagenden Maunzen an.
Penny öffnete einen Küchenschrank, nahm einen Napf und eine Dose Katzenfutter heraus.
»Hey, seit wann hast du denn eine Katze?«, wollte Declan wissen.
»Seit gestern.« Penny stellte den vollen Napf auf den Fußboden und die Katze machte sich sofort über das Futter her.
»Kam die mit dem Mädchen?«, meinte Declan leicht spöttisch.
»Nein, Faye ist vor ein paar Tagen hier aufgetaucht. Die Katze hingegen ist mir erst gestern zugelaufen.«
»Und da hast du sie gleich adoptiert?«, fragte Declan skeptisch. »Vielleicht gehört sie jemandem.«
Penny zuckte mit den Schultern. »Gestern Morgen habe ich diese Katze um die Wacholderbüsche herumstreichen sehen. Hier wohnt ja eigentlich niemand in der Nähe und deshalb verirren sich auch selten Haustiere hierher. Diese Katze ist wohlgenährt und das Fell sieht gepflegt aus, ich gehe also nicht davon aus, dass sie schon lange herumstreunt. Auf alle Fälle war sie mittags wieder bei den Wacholderbüschen und am Abend hatte sie sich bis auf die Terrasse getraut. Faye und ich haben dort gerade zu Abend gegessen. Ich habe Hühnerfrikassee gemacht und das Mädchen isst wie ein Spatz. Da blieb noch einiges über. Als mich diese Katze also mit ihren hübschen goldenen Augen so anblickte, da dachte ich, ich könnte ihr eine Portion Frikassee nun wirklich nicht vorenthalten, wo wir doch so viel übrig hatten.«
Declan äußerte sich nicht zu ihrer langwierigen Erklärung. Trotzdem fuhr Penny fort: »Als ich heute einkaufen war, da bin ich zufälligerweise am Katzenfutter vorbeigekommen und da habe ich gedacht, na ja, wenn die Katze heute immer noch hier ist, dann kann ich ihr auch richtiges Katzenfutter geben.«
»Und die Katze war immer noch hier.«
»Genau.« Penny streichelte das glänzende schwarze Fell.
»Hast du ihr denn zufällig auch einen Namen gegeben?«, fragte Declan wie beiläufig. Schließlich hatte sie auch keine Zeit verloren, dem unbekannten Mädchen einen Namen zu verpassen.
»Juniper.«
»Alles klar«, verstand Declan, »weil du sie in den Wacholderbüschen gefunden hast.«
»Genau«, sagte Penny erneut.
»Interessant.« Declan konnte sich seinen amüsierten Tonfall nicht verkneifen.
»Was ist denn jetzt schon wieder interessant?«, meinte Penny leicht entnervt und hörte auf, die Katze zu streicheln.
»Na ja, wenn mich jemand gefragt hätte, wem es am ähnlichsten sieht, Streuner aufzunehmen, wäre mir dein Name als Allerletzter eingefallen. Und jetzt hast du hier innerhalb von wenigen Tagen zwei Streunern Unterschlupf gewährt.«
»Ich bin doch kein gefühlloses Monster, Declan«, sagte Penny, genervt von ihrem Bruder. Der Streit erinnerte sie tatsächlich an ihre Auseinandersetzungen in der Kindheit.
Sie hob den leeren Napf auf, um ihn im Spülbecken auszuspülen. »Ich werde die Katze doch nicht verhungern lassen. Oder ein verängstigtes, schwangeres und mittelloses Mädchen sich selbst überlassen. Beide können jederzeit wieder gehen, wenn sie wollen. Ich halte sie nicht fest. Es ist einfach nur anständig, ihnen Essen und ein Dach über dem Kopf zu geben. Jeder hätte das getan.«
»Wenn du das sagst.«
Penny trocknete den Napf ab und stellte ihn zurück in den Schrank. Als sie sich umdrehte, stand Declan immer noch da.
»Na los, raus mit der Sprache. Warum glaubst du, habe ich das Mädchen und die Katze aufgenommen?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht genießt du einfach die Gesellschaft? Vielleicht bist du ein bisschen einsam hier draußen, ohne enge Freunde oder Familie? Vielleicht hast du gemerkt, dass es schön ist, sich um jemanden zu kümmern? Mal etwas für andere zu tun – zur Abwechslung?«
Sie setzte zum Widerspruch. Declan hob die freie Hand. »Nur eine Vermutung.«
»Pfft.« Penny verdrehte die Augen. »Ich bin zufrieden mit meinem Leben, danke sehr. Ich bin unabhängig, kann tun, was ich will. Ich brauche niemanden. Und ich muss ganz sicher nicht für andere sorgen, um mich besser zu fühlen oder mir irgendeinen Lebenssinn zusammenzureimen. Den habe ich nämlich schon, falls du es vergessen hast. Ich helfe genug Menschen mit meiner Gabe.«
Declan verzog das Gesicht. »Ja, auf eine gewisse Art. Aber im Grunde ist es doch einfach ein Geschäft für dich, oder nicht? Du hilfst den Leuten nicht unbedingt, weil sie dir am Herzen liegen, sondern weil du mit deinen Fähigkeiten Geld verdienst.«
»Das eine schließt das andere doch nicht aus. Ich verstehe nicht, warum Leute immer glauben, gute Taten müssten völlig selbstlos sein. Ehrlich gesagt – ich halte das für völligen Quatsch. Diese Gutmenschen stehen doch auch nur drauf, anderen zu helfen, weil sie sich dann besser fühlen.«
Declan grinste. »Das kann ein schöner Nebeneffekt sein. Und bei dir? Fühlst du dich jetzt nicht auch ein bisschen besser, wo du dich um deine zwei Streuner kümmerst?«
»Du machst da viel zu viel draus. Es ist ja nicht so, dass mir das wirklich etwas bedeutet. Ich mache das nur aus …«
»Aus Neugier, ja, ich weiß. Erzähl dir das ruhig weiter.«
Penny schlug mit dem Geschirrtuch nach ihrem Bruder. »Ich dachte, du musstest los. Na los, verschwinde schon!«
Der Tumult war der Katze zu viel, sie flitzte durch die Hintertür hinaus.
Declan ging ebenfalls.
Penny blieb stehen und schaute aus dem Fenster, auf der Suche nach einem Zeichen von Faye. Als sie nichts entdeckte, drehte sie sich um und begann, das schmutzige Geschirr vom Tisch in die Spüle zu räumen.
Die Küche wirkte plötzlich viel zu leer. Penny murmelte: »Verdammt noch mal, Declan.«
Am nächsten Vormittag stand Penny in ihrem großen Gartenhäuschen, das sie liebevoll Kräuterhütte nannte, und breitete gerade Lavendelzweige auf ihrer Arbeitsfläche aus, als Faye schüchtern an die offene Tür klopfte. Penny lächelte sie an und bat sie einzutreten.
»Ich dachte, ich könnte dir ein wenig zur Hand gehen«, sagte Faye leise und sah sich interessiert in der Hütte um. »Bei deiner … Arbeit?« Nach einer kurzen Pause, in der Penny nicht auf die unausgesprochene Frage, was ihre Arbeit genau war, einging, sprach sie weiter: »Es ist ja das Geringste, was ich für dich tun kann, wo du mich bei dir wohnen lässt und so.«
Penny grinste. »Dir ist wohl ein bisschen langweilig, was?«
Faye wurde rot. »Das auch«, gab sie zu.
»Klar, du kannst mir gerne helfen«, sagte Penny.
Sichtlich neugierig, was Penny denn hier wohl mit den Kräutern und Blumen aus ihrem Garten anstellte, kam Faye um den Tisch herum und stand nun neben Penny.
Sie wendete sich aber nicht dem Lavendel zu, sondern sah sich mit großen Augen den altmodischen Küchenschrank an, der sich hinter ihnen befand.
In den Glasfächern konnte man kleine braune Apothekerflaschen, Einweggläser und Tontiegel sehen, alle fein säuberlich beschriftet.
Darunter, auf dem Küchentresen, stand eine Reihe alter, in Leder gebundener Bücher. Davor Gerätschaften, die Penny andauernd benutzte. Mörser und Stößel in verschiedenen Größen, Spachtel, Gartenscheren, eine Mappe mit kleinen Stickern, deren Abbildungen verschiedene Kräuter zeigten.
Man konnte Faye ansehen, dass sie am liebsten die weiß angestrichenen Holzschränke aufgemacht hätte, um zu sehen, was sich Mysteriöses darin verbarg. Stattdessen drehte sie sich wieder um und befasste sich mit dem Lavendel.
»Du hast den ganz früh am Morgen geschnitten, richtig? Ich konnte nicht schlafen und habe dich durch das Fenster im Garten gesehen.«
»Das stimmt«, sagte Penny. »Bei Sonnenaufgang. Pflanzen haben verschiedene Energien. Und die wiederum sind je nach Tages-, Mond-, oder Jahreszeit wieder etwas unterschiedlich.«
Faye kräuselte die Nase und Penny wusste nicht, ob aus ihrer Mimik Verachtung sprach – nach dem Motto: Was für ein esoterisches Zeug faselt die da? – oder ob sie das Konzept nicht verstand.
Einem Impuls folgend erklärte sie es so, wie es ihre Mutter einmal getan hatte: »Stell dir die Energien so vor wie Farben, die die Pflanzen umgeben. Je nach Tageszeit hat die Farbe zum Beispiel eine leicht andere Schattierung.«
»Farben? So wie … eine Aura?«
»Genau!« Penny machte sich normalerweise nichts draus, was andere von ihr hielten, aber es freute sie seltsamerweise, dass Faye sie verstand.
»Ich erkläre jetzt also, was wir mit den Stängeln machen«, ging Penny direkt zum praktischen Teil über. »Wir hängen sie erst mal zum Trocknen auf. Hier, nimm vier Stück, binde ein Stück dieses Fadens viermal herum und mache drei Knoten. Dann hängen wir sie dort oben auf.«
Sie zeigte auf den spitz zulaufenden Dachbereich. Eine Leiter führte zu einer Art Dachboden, der aber wie bei einem Heuboden nur die Hälfte der kleinen Kräuterhütte in zwei Stockwerke unterteilte. Dort oben gelangte nicht allzu viel Licht hin und Faye kniff die Augen etwas zusammen, um die Reihen getrockneter Kräuter genauer zu erkennen, die dort schon zum Trocknen hingen.
»Ist dort noch Platz?«, fragte sie skeptisch.
»Wir machen Platz«, antwortete Penny. »Außerdem nehmen wir etwas von dem Salbei ab, der dort hängt. Der ist schon getrocknet und ich werde ihn gleich weiterverarbeiten.«
Staunend gingen Fayes Blicke vom Dachboden zu der Badewanne aus weißer Emaille, die unter dem Dachboden in der Ecke stand. Dort nahm Penny ihre Schönheitsbäder. Das wollte sie Faye aber jetzt nicht unbedingt erklären. Deshalb holte sie erst einmal zu der etwas langweiligen Lektion aus, dass sie ein System für das Trocknen der Kräuter habe, damit diese nicht völlig verdorrten.
Währenddessen fingen sie beide an zu arbeiten. Faye fragte nicht nach, wieso sie den Faden genau vier Mal wickeln und drei Knoten machen musste, sondern arbeitete einfach schweigend gemäß Pennys Anweisungen. Mit ihren kleinen Händen war sie sehr geschickt.
Schließlich stieg Penny die Leiter hoch, nahm die getrockneten Salbeibündel ab und legte sie in einen Korb, mit dem im Arm sie wieder herunterkletterte.
Dann nahm sie die Lavendelbündel in einen anderen Korb und stieg wieder hoch.
»Soll ich schon irgendwas mit dem Salbei machen?«, fragte Faye von unten.
»Nein!«, rief Penny. »Fass ihn nicht an.«
Sie hängte die Lavendelbündel auf und kam wieder herunter. Faye hatte nichts weiter gesagt und stand jetzt wie ein ängstliches, verschüchtertes Kind in der Ecke.
Erst jetzt bemerkte Penny, dass ihr Ton etwas scharf gewesen war.
»Hey, so meinte ich das nicht«, sagte sie. »Es geht mir nur darum, dass es für dich schädlich sein könnte, wenn du mit dem Salbei arbeitest. Weil es einen negativen Einfluss haben könnte – in deinem Zustand.«
Es war, als wäre die ganze Luft aus der Hütte gesogen worden.
Faye starrte Penny mit großen Augen an. Sie wirkten jetzt noch dunkler, denn das Mädchen war totenbleich geworden.
Keine von beiden hatte bisher das Offensichtliche ausgesprochen: dass Faye schwanger war.
Einen Moment lang hatte Penny Angst, dass Faye davonlaufen würde. Doch als sie nur stumm nickte, atmete Penny langsam aus.
Sie bemühte sich um einen sachlichen Ton, als sie vorschlug: »Du kannst dich ja um etwas anderes kümmern. Wie wäre es mit Rosmarinsalz?«
Faye nickte erneut, und Penny deutete auf die mittelgroßen Tontöpfe neben dem Schrank.
»Nimm dir einen davon und stell ihn auf den Tisch. Ich habe schon etwas Rosmarin zerkleinert – der ist in der Schale dort drüben.«
Penny hievte einen Sack Salz auf den Tisch.
»Also: Du nimmst eine kleine Schaufel Salz, gibst sie in den Topf, verteilst sie gleichmäßig, dann kommt eine dünne Schicht Rosmarin darüber, dann wieder Salz – und das Ganze wiederholst du. Die letzte Schicht sollte wieder Salz sein. In Ordnung?«
Faye wirkte erleichtert, dass sie sich auf eine Aufgabe konzentrieren konnte, also ließ Penny sie machen.
Penny stellte einige Tiegel auf die Arbeitsplatte und summte dazu eine Melodie. Schließlich ging sie durch die offene Tür zur Kochstelle nach draußen, die sich an der Wand der Hütte befand und durch ein Vordach geschützt war, und erhitzte Wasser.
Dann holte sie einen Topf mit Schweineschmalz aus dem Haus. Als sie zurückkam, hatte das Wasser die richtige Temperatur und sie stellte das Schweineschmalz in das Wasserbad. Zurück in der Hütte machte sie sich daran, den Salbei zu zerkleinern und mit dem Stößel im großen Mörser zu verarbeiten.
Faye war immer noch konzentriert am Werke. Es war, als hätte sie gar nicht bemerkt, dass Penny wieder reingekommen war. Penny nahm den schweren Mörser, trug ihn nach draußen und gab Salbei in das mittlerweile geschmolzene Fett. Sie rührte es im Uhrzeigersinn um und sprach die notwendigen Worte:
Reiner Geist, reiner Körper.
Reiner Schein, reiner sein.
Wieder in der Hütte sah sie, dass Faye fertig war. »Schau mal, ich habe da auf dem Tresen eine Mappe mit Stickern. Da ist auch Rosmarin dabei, klebe doch einen darauf.«
Dann zeigte sie Faye, in welchen der Holzschränke sie den Topf stellen sollte. »Den musst du jetzt ab und zu abgießen, bis das Salz in zwei Wochen fertig ist. Das Salz zieht Wasser und es bildet sich dann eine Flüssigkeit. Kann ich dir dafür die Verantwortung geben?«
Faye nickte heftig. Tränen sammelten sich in ihren großen braunen Augen.
Keiner von beiden sprach es aus, aber Pennys Anweisungen bedeuteten, dass sie Faye mindestens für weitere zwei Wochen bei sich bleiben ließ.
»Komm, setz dich hier draußen hin, auf den Stuhl etwas weiter weg von den Salbeidämpfen. Ich muss den Balsam ab und zu mal umrühren.«
Faye nahm auf dem mit orange-weiß gestreiften Tuch bespannten Gartenstuhl Platz.
Penny rührte, setzte sich auf einen Holzschemel vor den Topf und wandte sich dann Faye zu.
»Erzähl mir von dem Kind«, sagte sie nur.
Die Angst, die sie in Fayes Augen sah, hätte eigentlich vom Rosmarin verbannt werden sollen. Doch sie war zu stark, zu mächtig. Faye hätte jetzt reden sollen, erleichtert darüber, dass sie Penny ihr Herz ausschütten durfte.
Stattdessen sagte sie: »Ich … Ich kann nicht. Ich kann einfach nicht darüber reden.«
»Du musst mir ja nicht vom Vater erzählen, wenn du nicht möchtest. Ich verstehe, dass du vor ihm Angst hast.« Penny versuchte, sich so sanft wie möglich anzuhören. »Aber vom Kind? Magst du mir vom Kind erzählen? Wann es kommt, zum Beispiel? Weißt du, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?«
Faye hatte schon beim Wort Kind angefangen, wie wild mit dem Kopf zu schütteln. »Nein!«, rief sie. »Das ist es ja. Vor dem Kind habe ich Angst. Es ist … es ist …« Sie fing an zu weinen und brachte das Nächste kaum heraus. »… der Teufel.«
Penny stand auf und rührte im Uhrzeigersinn in ihrem Topf herum, obwohl sie wusste, dass sie den Balsam aufgrund der Bemerkung wahrscheinlich wegschmeißen musste. Er war jetzt mit negativer Energie behaftet.
Es war ihre eigene Schuld. Sie hatte Faye nicht in Ruhe lassen können. Trotzdem war sie etwas verärgert, dass die Arbeit an dem Balsam umsonst gewesen war.
»Das kannst du doch nicht wirklich glauben«, sagte sie. »Sein eigenes Kind einen Teufel zu nennen ist ein bisschen krass, oder?«
Daraufhin fing Faye noch heftiger an zu schluchzen.
Penny drehte sich erschrocken um. »Okay, tut mir leid. Ich hätte dich nicht so drängen sollen.« Etwas unschlüssig ging sie zu Faye hinüber und tätschelte unbeholfen ihre Schulter.
»Es ist nur …«, versuchte sie das Mädchen zu beruhigen, »so ein kleines, noch ungeborenes Baby, das kann bestimmt nicht du weißt schon wer sein. Es hat doch noch nichts getan. Es ist, wie man immer so schön sagt, völlig unschuldig.«
Wieder schüttelte Faye heftig den Kopf. »Ich weiß es. Jeder weiß es.«
Sie holte tief Luft und wischte sich die Tränen weg. Sie schaute zu Penny hoch und in ihren Augen war jetzt mehr als Angst zu sehen.
Es war die schiere Verzweiflung.
»So lautet die Prophezeiung«, flüsterte sie. »Das Blut der zwei Familien darf sich nicht vermischen, weil sonst der Teufel leibhaftig aus der Vereinigung …« Sie unterbrach sich, indem sie sich mit der flachen Hand auf den Mund schlug.
Ihre Augen weiteten sich und sie sprang auf.
Faye rannte davon, ehe Penny sie aufhalten konnte.
Penny starrte in die Richtung, in der das Mädchen verschwunden war. Zwei Familien? Der Teufel? Was für eine Prophezeiung?
Ungeduldig trommelte Penny mit den Fingernägeln auf dem Plastiktisch im Fisherman’s Café herum.
Das Warten an sich machte ihr nichts aus, aber heute nervte es sie, dass sich die Männer die Hälse nach ihr verdrehten. Sie hätte einfach heute Morgen auf ihre Schönheitszauber verzichten sollen.
Normalerweise stand sie schon vor Sonnenaufgang auf, um ein Bad in der Badewanne ihres Kräuterhäuschens zu nehmen. Eine spezielle Mischung aus ätherischen Ölen, roten Kerzen und altbewährten Zaubersprüchen, die in der Abstammungslinie ihrer Mutter von Hexe zu Hexe weitergegeben worden war. Diese rituelle Erneuerung bei Tagesanbruch verlieh ihr eine jugendlichere, strahlendere Energie, die eine entsprechende Wirkung auf andere hatte.
Zusätzlich zauberte sie jeden Morgen vor dem Spiegel und nahm ein Schönheitswässerchen ein. Früher war das vom Anlass abhängig gewesen, aber mittlerweile tat sie es einfach aus Gewohnheit.
Man konnte es in etwa damit vergleichen, als würde man sich jeden Morgen schminken. Man war gewohnt, ebenmäßigere Haut, definiertere Wangenknochen und Augenbrauen, leuchtendere Augen, dunklere, längere Wimpern zu sehen. Blickte man dann mal ohne Make-up seinem Spiegelbild entgegen, erschrak man darüber, was für ein ausgewaschenes, farbloses Gesicht mit diversen Makeln einen ansah.
Genauso erging es Penny mit ihrem zauberlosen Erscheinungsbild. Sie mochte ungern ohne diese Maske aus dem Haus gehen, fühlte sich dann viel zu unattraktiv und irgendwie verletzlich.
Jetzt nahm sie ihren Taschenspiegel aus der Tasche und flüsterte einen Umkehrzauber. So konnte sie ihre Ausstrahlung etwas dimmen.
Im Fisherman’s Café, dem einzigen Café im kleinen Touristenörtchen Tarbet am Loch Lomond, wimmelte es vor Männern.
Hier gab es nämlich Essen, das vordergründig satt machte. So ziemlich alles wurde mit Fritten serviert. Wer auf gesunde Ernährung achtete, war hier fehl am Platz. Salat fand man auf der Karte nicht, dafür aber mehrere Frühstücksoptionen, die unter die Rubrik schottisches Fry-Up fielen und die den ganzen Tag über bestellt werden konnten.
Fionna Simmonds, die Penny hier im Fisherman’s Café abfangen wollte, bestellte sich fast jeden Tag so ein gekochtes schottisches Frühstück mit Eiern und anderen eher vor Fett triefenden Zutaten. Meist holte sie es sich ab. Fionna aß gern, war aber zu bequem, um zu kochen. Deshalb wusste Penny, dass ihre Freundin hier auftauchen würde.
Endlich kam die rundliche, rothaarige Hexe durch die Tür. Erleichtert stand Penny auf.
Sofort ging Fionnas überraschter Blick zu Penny. »Was machst du denn hier?«
»Ich muss bitte mit dir reden. Es ist wichtig.«
Fionna zog nur eine Augenbraue hoch. »Ich habe etwas zum Mitnehmen bestellt. Warte, ich hole es ab.«
Fionna ging zu Fred, dem Besitzer des Cafés, der schon die Tüte mit dem Styroporcontainer in der Hand hielt, nahm diese in Empfang und zahlte. Dann ging sie wortlos an Penny wieder vorbei, die ihr einfach folgte.
»Wollen wir ein bisschen am See entlang spazieren gehen?«, fragte Penny. »Es ist ganz schönes Wetter.«
»Mein Frühstück wird kalt. Ich habe Hunger und gehe deshalb nach Hause«, meinte Fionna mürrisch.
Penny seufzte. Gut, dass sie gar nicht erst versucht hatte, direkt bei Fionna daheim aufzukreuzen. Bestimmt hätte die ihr nicht die Tür aufgemacht.
Fionna war eine von Pennys engsten Freundinnen geworden, seit die Kräuterhexe ihr und Andie geholfen hatte, Dessie McKendrick vor einem Stalker zu schützen.
Dabei spielte es keine Rolle, dass Penny dies nur aus schlechtem Gewissen getan hatte. Sie hatte dem Mann, der Dessie nachgestellt hatte, nämlich einen Liebestrank verkauft. Andie – eine Hexe mit Visionen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Dessie zu beschützen – war deswegen wütend auf Penny gewesen und hatte ihr vorgeworfen, Geld über alles zu stellen.
Andies Meinung über Penny hatte sich auch danach kaum geändert, obwohl die Kräuterhexe sich bemüht hatte, es durch ihren Einsatz wieder gutzumachen. Nun ja – Penny fand ohnehin, dass Andie ein bisschen zu hoch auf ihrem moralischen Ross saß. Ihre Gutmenschen-Attitüde machte Andie auch zur Liebling der Oberhexe des Zirkels, Mrs MacDonald, während Penny lediglich geduldet wurde.
Fionna war eher eine Außenseiterin – genau wie Penny. Und außerdem hatte Fionna weder Vater noch Bruder oder sonstige männliche Verwandte, mit denen Penny hätte flirten können. Nach der Sache mit Dessie McKendrick hatten die beiden jedenfalls hin und wieder etwas miteinander unternommen.
Bis zu dem Tage, als Penny den Fehler beging, Fionna ein Abnehmtonikum andrehen zu wollen.
Und Fionna tödlich beleidigt reagiert hatte: »Willst du damit sagen, dass ich fett bin?«
»Na ja«, hatte Penny gestottert. Zu verdutzt war sie gewesen, um die Sache zu überspielen. Sie hatte tatsächlich angenommen, dass Fionna etwas gegen ihre Leibesfülle unternehmen wollte.
Penny kochte gut und gerne, aß genauso gern, passte aber genau auf, wenn sich ihre Kleider auf einmal enger anfühlten. Sie hatte kein Problem damit, mit eiserner Disziplin Diät zu halten.
»Ich meine nur: Wenn du etwas dagegen tun könntest – ganz einfach sogar – warum solltest du es dann nicht tun?«, hatte Penny schließlich geantwortet. »Unter dem Schutzpanzer von Körperspeck bist du ein hübsches Mädchen. Du musst doch nicht so unattraktiv sein.« Je mehr sie gesagt hatte, desto schlimmer war es geworden.
Seitdem hatten sie nur noch sporadisch Kontakt gehabt. Offenbar hatte es nicht viel gebraucht, damit Fionna sich dem ›Wir-hassen-Penny‹ Lager anschloss. Penny fand das ungerecht. Sie hatte gehört, wie Andie mehrfach angemerkt hatte, dass Fionna in letzter Zeit deutlich zugenommen habe und dass sie sich Sorgen um deren Gesundheit mache. Okay, vielleicht hatte Andie das etwas subtiler formuliert als Penny – aber trotzdem …
Anscheinend war Fionna wohl nachtragend. Jetzt sagte sie gar nichts zu ihr. Wenigstens schickte sie Penny aber auch nicht weg. Und nahm es hin, als Penny ihr ins Haus folgte.
Fionna wohnte noch bei ihrer Mutter, Rosa, der Rezeptionistin des Polizeireviers in Helensburgh.
Fionna war schon ungefähr Mitte zwanzig, hatte aber keinen richtigen Job. Wenn Penny es richtig verstand, dann verdiente sie sich ihr Geld mit dem An- und Verkauf von antiquarischen Büchern, die wohl im Keller des Hauses lagerten.
Den bekam Penny aber nicht zu sehen, ebenso wenig wie das Dachgeschoss, das Fionnas Reich war. Stattdessen gingen sie in die Küche.
Eindeutig Rosas Domäne, stellte Penny sofort fest, als sie sich in dem ordentlichen Raum umsah, der viel Platz bot.
»Hör zu, es tut mir leid, wenn ich dich damals beleidigt habe, mit dem Kommentar zu deiner, äh, Figur. Das war nicht meine Absicht. Ich wollte dir nur helfen. Ehrlich.«
