Der Tod setzt Segel - Robin Stevens - E-Book

Der Tod setzt Segel E-Book

Robin Stevens

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Beschreibung

Daisy und Hazel sind zusammen mit ihren Freunden George und Alexander in Ägypten auf einer Nil-Kreuzfahrt unterwegs. Sie freuen sich darauf, antike Tempel zu sehen und die eine oder andere Mumie. Doch stattdessen bekommen sie es mit einem Mord zu tun. Mit an Bord der Hatschepsut ist eine mysteriöse Gesellschaft, die sich "Der Atem des Lebens" nennt und aus einer Gruppe vornehmer englischer Damen und Herren besteht, die sich für Reinkarnationen der alten Pharaonen halten. Am dritten Tag der Kreuzfahrt wird die Anführerin der Gruppe erstochen in ihrer Kabine aufgefunden. Den Detektivinnen ist schnell klar, dass die schüchterne Tochter des Opfers, die zum Schlafwandeln neigt, als Täterin herhalten soll. Doch innerhalb der verschrobenen Gesellschaft hätte jeder einen Grund gehabt, die Anführerin umzubringen. Ständig von Gefahr umgeben, beginnen Daisy und Hazel in ihrem bisher schwierigsten Fall zu ermitteln – und nur eine der beiden wird nach Hause zurückkehren … 

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Seitenzahl: 376

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Titel der Originalausgabe: Death sets sail

Erschienen bei Random House Children’s Publisher UK, a division of The Random House Group Limited.

Copyright Text © 2020 Robin Stevens

Published by Arrangement with Robin Stevens

Copyright Gestaltung © 2020 Nina Tara Design

Diese Ausgabe wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Deutsche Erstausgabe

Copyright © 2021 von dem Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG,München

Ein Unternehmen der Média-Participations

Umschlagadaption: Leonore Höfer, Knesebeck Verlag

Übersetzung: Nadine Mannchen, Helmbrechts

Lektorat: Theresa Scholz, Knesebeck Verlag

Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig

eISBN 978-3-95728-604-8

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.

www.knesebeck-verlag.de

Für meine Mutter, Kathie Booth Stevens, meine Heldin.

Der Tod setzt Segel

Ein Bericht über

den »Fall des Todes auf dem Nil«im Rahmen der Ermittlungen derDetektei Wells & Wongmit der Unterstützung derJunior Pinkertons.

Aufgezeichnet von Hazel Wong(Schriftführerin und Vize-Vorsitzende der Detektei),15 Jahre alt.

Begonnen am Mittwoch, 23. Dezember 1936.

AUFTRETENDE PERSONEN

DIE DETEKTIVE

Daisy Wells – Detektei Wells & Wong

Hazel Wong (Wong Fung Ying) – Detektei Wells & Wong

Amina El Maghrabi – Detektei Wells & Wong

Alexander Arcady – Junior Pinkertons

George Mukherjee – Junior Pinkertons

DIE DS HATSCHEPSUT

Mr Mustafa Mansour – Manager der DS Hatschepsut

Vincent Wong (Wong Lik Han) – Hazels Vater

Rose Wong (Wong Ngai Ling, auch bekannt als Ling Ling) – Hazels Halbschwester

May Wong (Wong Mei Li, auch bekannt als Äffchen) – Hazels Halbschwester

Pik An – Roses Magd (und während dieser Reise auch Mays Magd)

Miss Adeline Beauvais – Aminas Gouvernante

Mr Joseph Young – Tutor von Alexander und George

Ahmed – ein Matrose, Crewmitglied der DS Hatschepsut

Mrs Theodora Miller – Anführerin der Hauch-des-Lebens-Gesellschaft und die Reinkarnation von Hatschepsut

Hephzibah »Heppy« Miller – Mitglied der Hauch-des-Lebens-Gesellschaft und Theodoras Adoptivtochter

Daniel Miller – ehem. Mitglied der Hauch-des-Lebens-Gesellschaft und Theodoras Adoptivsohn

Miss Ida Doggett – Mitglied der Hauch-des-Lebens-Gesellschaft und Reinkarnation von Kleopatra

Miss Rhiannon Bartleby – Mitglied der Hauch-des-Lebens-Gesellschaft und Reinkarnation von Nofretete

Mr Narcissus DeWitt – Mitglied der Hauch-des-Lebens-Gesellschaft und Reinkarnation von Thutmosis III.

Joshua Morse – ehem. Mitglied der Hauch-des-Lebens-Gesellschaft

FALLINGFORD

Rebecca »Küken« Martineau – Detektei Wells & Wong

Kitty Freebody – Detektei Wells & Wong

Lavinia Temple – Detektei Wells & Wong

Bertie Wells – Daisys Bruder

Harold Mukherjee – Georges Bruder

Chapman – Butler der Familie Wells

Hetty – Dienstmädchen der Familie Wells

Mrs Doherty – Haushälterin der Familie Wells

Toastie – ein Hund

Millie – ein Hund

Inhalt

TEIL EINS: KURZ VOR MITTERNACHT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

TEIL ZWEI: DER TOD WARTET

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

TEIL DREI: EIN GEFÄHRLICHER GEGNER

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

TEIL VIER: DER TODESWIRBEL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

TEIL FÜNF: MIT OFFENEN KARTEN

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

TEIL SECHS: RÄCHENDE GEISTER

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

TEIL SIEBEN: VORHANG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Aminas Ägypten-Führer

Anmerkungen der Autorin und Danksagung

• TEIL EINS •

KURZ VOR MITTERNACHT

1

Dies ist ein Bericht über den letzten Mordfall, den die Detektei Wells & Wong je gemeinsam gelöst hat.

Mein Name ist Hazel Wong und ich bin am Boden zerstört. Bisher habe ich fest daran geglaubt, dass sich die Dinge zwischen meiner besten Freundin Daisy und mir niemals ändern könnten, zumindest nicht wirklich. Selbst wenn der Rest der Welt aus den Fugen geraten und wie eine Weihnachtskugel auf dem Boden zerschellen sollte, könnte nichts uns beiden je etwas anhaben. Immerhin waren wir Wells & Wong. Wir waren die Detektei und würden immer Oberwasser behalten.

Doch nun muss ich einsehen, dass ich den Fehler begangen hatte, wie Daisy zu denken. In meinem Kopf haben sich ihre Stimme und meine eigene inzwischen so sehr miteinander vermischt, dass ich sie kaum noch auseinanderhalten kann, es sei denn, ich gebe mir bewusst die Mühe, innezuhalten und darüber nachzudenken – aber gerade das, nämlich innehalten, wollte ich nicht, nicht in diesem Fall. Außerdem hat Daisy mir versprochen … sie hat versprochen …

Allmählich sollte ich alt genug sein, um zu wissen, dass Versprechen gebrochen werden können, dass niemand unantastbar und auch der Mythos von Daisy Wells, dem Mädchen, das dem Tod die Stirn bietet, ohne auch nur einen Kratzer davonzutragen, eben nur das ist: ein Mythos.

Ich beginne mit diesem Bericht zu Hause bei Daisy, auf Fallingford, am Tag vor Heiligabend. Als ich zuletzt an Weihnachten hier war, waren in jedem Kamin prasselnde Feuer entzündet, neben der großen Haupttreppe stand ein herrlich beleuchteter, riesiger Baum und Hetty, das Hausmädchen der Familie Wells, brachte aus der Küche unzählige Teller voll Weihnachtsküchlein, importierter Gewürze und dampfender Leckereien. Dieses Weihnachten jedoch ist vollkommen anders. Im Haus ist es kalt und irgendwie andauernd dunkel, egal wie viele Lampen und Kerzen Chapman und Hetty anzünden. Mrs Doherty, die Köchin, hat die Plätzchen verbrennen lassen und selbst die Hunde wirken todtraurig. Meine kleinste Schwester May versucht gerade, sie mit Keksen zu füttern, doch die Hunde ignorieren sie, weshalb May die beiden anbrüllt.

»Ich glaube, ich hasse englische Weihnachtsfeiern«, hat meine andere Schwester, Rose, gerade gesagt und ich kann ihr nur recht geben.

Aber nicht über England will ich nun schreiben, sondern über Ägypten: die Helligkeit dort, wie die Sonne auf dem Nil glitzert, das Dröhnen und Rütteln unseres Kreuzfahrtschiffs unter meinen Füßen – und Daisy. In dem Augenblick, als wir die Kabine betraten und das Blut sahen, hielt ich alles für nichts anderes als ein weiteres aufregendes Abenteuer, ein neues Rätsel, das es zu lösen galt, doch nun muss ich einsehen, wie falsch ich lag. Ich habe es lange vor mir hergeschoben, diesen Fall zu dokumentieren. Doch nun, endlich, will ich diese letzten Tage – unseren letzten Mordfall – noch einmal Revue passieren lassen, um noch einmal bei ihr zu sein.

Vielleicht kann ich Daisy so wieder zum Leben erwecken.

2

Vermutlich nahm alles während des Herbsttrimesters auf der Deepdean seinen Anfang. Daisy und ich waren inzwischen Elftklässlerinnen, was sich schrecklich erwachsen und vielversprechend anhört – nur leider entpuppte sich die Realität als ebenso vernebelt und verwirrend wie das englische Herbstwetter.

Unsere Detekteikolleginnen hatten schlechte Laune – und einen ausgesprochen guten Grund dafür. Der Mutter unserer Freundin Küken ging es von Tag zu Tag schlechter, ohne dass irgendjemand etwas daran ändern konnte. Im Sommer hatten wir alle erstmals davon erfahren, dass ihre Krankheit unheilbar war. Sobald der Schock darüber allmählich nachgelassen hatte, begriffen wir, dass es in der englischen Sprache einfach nicht die richtigen Worte dafür gibt, um auszudrücken, wie sehr wir das bedauerten. Außerhalb von Büchern ist diese Trauer irgendwie viel weniger dramatisch, dafür kostet sie wesentlich mehr Kraft, als einem in Büchern vorgemacht wird.

»Ich will nicht, dass ihr mich bemitleidet«, sagte Küken entschieden. »SEHT mich nicht so an!« Also mussten wir so tun, als würde uns nicht auffallen, wie sie immer dünner wurde, bis die großen Augen in ihrem schmalen Gesicht riesig wie Kutschenlampen wirkten.

Wir mussten ungeheuer vorsichtig sein, wenn es in irgendeiner Form um Mütter ging. Sobald Küken den Schlafsaal betrat, verkniff Kitty sich die Beschwerden darüber, dass ihre Mutter ein Baby erwartete (»Es wird genauso furchtbar werden wie Binny! Wahrscheinlich sogar schlimmer!«). Und Lavinia entsorgte die aufmerksamen Nachrichten, die sie gemeinsam mit wunderschön verpackten Paketen voller Süßigkeiten und Kuchen von ihrer Stiefmutter Patricia bekam, damit Küken sie nicht zu sehen bekam.

Daisy dagegen behandelte das Thema natürlich in typischer Daisy-Manier. Sie war die Einzige von uns, die tatsächlich die meiste Zeit vergaß, dass Küken überhaupt eine Mutter hatte. Sie stürzte sich wieder in Lacrosse und Reiten und mogelte voller Hingabe einfallsreiche Fehler in ihre Aufsätze – und sie legte sich erneut mächtig ins Zeug, unseren Kleinkrieg mit dem anderen Schlafsaal anzufeuern, vor allem mit Amina El Maghrabi.

Zuerst war ich darüber ziemlich überrascht. Immerhin hatten wir nach den Ereignissen des vergangenen Sommers mit Amina Freundschaft geschlossen, hatte ich zumindest angenommen – und Amina war zu uns auch freundlich. Sie winkte uns auf dem Flur, sie plauderte mit uns beim Abendessen und sie wartete auf uns, damit wir gemeinsam zum Wohnheim laufen konnten. Gezwungenermaßen bedeutete das, dass wir automatisch wesentlich mehr Zeit mit Clementine Delacroix verbrachten als je zuvor, und zu meiner Verblüffung stellte ich fest, dass sie gar nicht so schlimm war, wie ich immer angenommen hatte. Außerdem mochte ich Amina sehr – sie war witzig, schlau und mutig. Ich war fest entschlossen, nett zu ihr zu sein, weil ich nur zu gut wusste, wie schwer man es auf der Deepdean hatte, wenn man nicht dem Ideal einer englischen jungen Dame entsprach.

Daher verstand ich einfach nicht, warum Daisy jede von Aminas freundschaftlichen Gesten mit einer Gehässigkeit quittieren musste. Ich ärgerte mich über Daisy, außerdem war es mir peinlich – eines Morgens, drei Wochen nach Schulbeginn, entschuldigte ich mich daher am Frühstückstisch bei Amina, während Daisy uns über eine Scheibe Toast hinweg erdolchende Blicke zuwarf.

»Ach, das macht mir nichts aus«, sagte Amina. »Sie meint es ja nicht so, oder, Daisy?« Sie zwinkerte Daisy zu, während sie sich Marmelade vom Daumen lutschte.

»WOHL KAUM!«, sagte Daisy unsinnigerweise, während ihre Wangen Farbe annahmen.

In diesem Moment hätte ich es begreifen sollen; nur tat ich das nicht.

Es dämmerte mir nicht, als Amina Daisy im Unterricht Zettel zuschob, die Daisy zerfetzte und unter dem Absatz zertrat. Es dämmerte auch nicht, als Amina Daisy fragte, was sie von ihrem Sonntagskleid hielt, und Daisy ihr voller Zornesröte im Gesicht antwortete, dass sie wie eine Vogelscheuche aussehe.

Der Groschen fiel erst, als ich während der fünften Schulwoche mitten in der Nacht aufwachte, weil etwas leise, eigentlich kaum wahrnehmbar, raschelte. Noch vor einem Jahr hätte mich das nicht geweckt, doch inzwischen waren meine Detektivinnensinne schärfer, daher war ich sofort in Alarmbereitschaft. Ich öffnete die Augen sehr vorsichtig und nur einen winzigen Spalt breit, atmete gleichmäßig und langsam weiter und spähte durch meine Wimpern zu Daisy, die in ihrem Bett saß. Flink wie eine Katze schwang sie die Füße zu Boden und setze sie behutsam auf. Eine Detekteibesprechung war nicht angesetzt – es gab gar keinen Fall zu bearbeiten; das Trimester war bisher völlig frei von Verbrechen gewesen. Daher war es mir ein Rätsel, was sie vorhatte. Ich gab acht, vollkommen reglos zu warten, bis sie sich ans Fenster geschlichen hatte, und setzte mich erst auf, als ich hörte, wie der Fensterrahmen quietschend nach oben geschoben wurde, gefolgt von den leisen Geräuschen von Händen und Füßen, die am Regenrohr hinaufkletterten.

Ich stand auf und stahl mich durchs Zimmer – obwohl Daisy es vermutlich nicht zugeben würde, hatte ich gelernt, mich ebenso leise zu bewegen wie sie, sodass keine der anderen aufwachte. Dann stand ich am Fenster. Abwartend sah ich Daisy nach, bis sie hoch über mir aufs Dach verschwand, dann erst streckte ich die Hände aus und kletterte selbst vorsichtig nach oben – auch darin bin ich inzwischen gut.

Schließlich zog ich mich auf das abfallende Dach hinauf. Da war Daisy. Die goldenen Haare unter einer dunklen Stola versteckt, kauerte sie im Schatten der Giebel. Angestrengt schaute sie wie eine Eule um einen runden Schornstein auf etwas auf der anderen Seite. Ich schlich mich hinter sie, hielt den Atem an und setzte sanft wie Seide einen Fuß vor den anderen.

»Hazel«, sagte Daisy, ohne sich umzudrehen. »Was fällt dir eigentlich ein?«

»Woher wusstest du, dass ich es bin?«, zischte ich verdattert. »Und … was machst du überhaupt? Warum schleichst du dich ohne mich weg? Ermittelst du?«

»Psst! Ich weiß immer, wenn du es bist. Du wüsstest doch auch immer, wenn ich es bin, oder nicht?«

Jetzt hatte ich sie erreicht. Ich linste über ihre Schulter, um zu sehen, was sie da inspizierte und –

»Daisy«, sagte ich, »warum beobachtest du Amina?«

Denn dort war Amina. Etwa zwanzig Schritte von uns entfernt lehnte sie im Schneidersitz an einem Dachgiebel und las im Schein einer Taschenlampe ein Buch. Bemerkt hatte sie uns nicht – sie schien vollkommen in ihrer eigenen Welt versunken.

»Sie verhält sich verdächtig«, flüsterte Daisy. »Sie ist eine mögliche Gefahr! Hazel, ich –«

Da begriff ich es: die eine Sache, die ich längst hätte sehen müssen. Allerdings war mir klar, dass ich Daisy nicht damit konfrontieren konnte. Noch nicht.

»Nein, ist sie nicht«, sagte ich. »Sie ist kein bisschen eine Gefahr! Du … du suchst nur zwanghaft nach einem Rätsel, das du dieses Trimester lösen kannst, und weißt, dass es keins gibt.«

Selbstverständlich entsprach dies nicht der Wahrheit.

»Hmpf!«, machte Daisy verärgert. »Aber es könnte eins geben, Hazel! Ständige Wachsamkeit!«

»Ich glaube, in diesem Fall bist du möglicherweise etwas zu wachsam.« Ich staunte selbst über meine Kühnheit – ich triezte Daisy Wells!

»Hazel, das ist nicht witzig. Aber … ach, eins muss ich dir zugestehen, hier gibt es nichts zu tun. Ich brauche nur so dringend eine Ablenkung! Alle sind so trübsinnig.«

»Wegen Kükens Mutter! Nicht alles ist ein faszinierendes Geheimnis, Daisy. Manche Dinge sind einfach nur traurig. Können wir jetzt wieder ins Bett, bevor ich erfriere?« Es war beinahe November und die Nacht war schneidend kalt. Amina hatte eine Decke und Daisy ihre Stola, doch ich trug lediglich meinen ganz normalen Schlafanzug.

»Von mir aus«, sagte Daisy. »Aber … Ach, wenn doch nur etwas Interessantes passieren würde!«

Daher kam es mir wie die Antwort auf all unsere Probleme vor, als Amina einige Tage später nach Latein zu uns trat und sagte: »Meine Eltern haben mir geschrieben. Was haltet ihr davon, Weihnachten in Ägypten zu verbringen?«

3

Daisy tat selbstverständlich so, als wäre sie alles andere als interessiert.

»Das müssen wir uns erst noch überlegen«, antwortete sie Amina kühl.

»Danke!«, ergänzte ich über die Schulter, als Daisy mich schon zurück zum Schlafsaal hetzte.

»Du solltest ihr nicht danken!«, zischte Daisy mich an. Plötzlich waren ihre Wangen vor Aufregung hochrot. »Immerhin könnten wir gar keine Zeit zum Verreisen haben!«

»Unfug!«, erwiderte ich. »Ägypten, Daisy! Da wolltest du schon immer hin!«

»Hmpf!« Über Daisys Nase zeigte sich die übliche Falte. »Ich … nun …«

»Mumien«, sagte ich. »Pyramiden. Tutanchamun. Ägypten ist voller Geheimnisse!«

Ich sah genau, wie Daisys Augen funkelten, auch wenn es ihr nicht recht war. »Ich muss erst Onkel Felix um Erlaubnis bitten. Er könnte Nein sagen.«

»Nie im Leben sagt er Nein!«, entgegnete ich. Es stimmt, dass Onkel Felix vorsichtig ist, wenn es um Daisy geht – sie ist seine einzige Nichte und er entwickelt ihr gegenüber einen richtigen Beschützerinstinkt. Aber genauso stimmt es, dass Daisy und ich Onkel Felix und seiner Frau, Tante Lucy, in den Sommerferien dabei geholfen hatten, ein gewisses Problem zu lösen. Wir hatten etwas gut bei ihm.

»Wir müssen uns wohl neu einkleiden«, sagte Daisy. »Unsere Garderobe aus Hongkong wird zu klein geworden sein. Und was ist mit deinem Vater?«

In der Tat bereitete mir die Reaktion meines Vaters die größten Sorgen – doch als ich ihn am Tag darauf anrief, klang er trotz der knisternden Leitung nahezu begeistert.

»Was für eine Gelegenheit!«, sagte er. »Hazel, ich weiß, ich habe versprochen, dich an Weihnachten in England zu besuchen, aber was, wenn wir stattdessen gemeinsam nach Ägypten reisen? Die Geschichte, die Kultur – ihr alle könntet dabei so viel lernen.«

Als mir das Kreischen vom anderen Ende der Welt ans Ohr drang, stellte ich mir meinen Vater in seinem Arbeitszimmer vor, umringt von meinen tanzenden kleinen Schwestern, während deren Mägde, Pik An und Ah Kwan, sich alle Mühe gaben, sie wegzuziehen.

»Ehrlich?« Ich wagte es kaum zu glauben. »Ich … darf wirklich hin?«

»Natürlich, meine Hazel. Wir können alle dorthin reisen.«

Auch Daisy kehrte strahlend von ihrem Telefonat zurück. »Onkel Felix hat zugestimmt«, berichtete sie mir. »Er … Oh, Hazel, ich glaube, wir reisen nach Ägypten!«

Überschäumend vor Freude lagen wir uns in der schäbigen Eingangshalle des Wohnheims in den Armen – und danach gab Daisy ihre Fassade endlich auf.

Es sprudelte nur so aus ihr heraus, während sie mir von Ägypten, Pharaonen, Flüchen und Überschwemmungen erzählte. Ihre Hausaufgaben erledigte sie doppelt so schnell wie sonst, damit sie noch in dicken, in Leinen gebundenen Wälzern über Forschungsreisen auf dem Nil und die Carter-Expedition lesen konnte, bei der Tutanchamun hatte ausgegraben werden sollen. »Es gab auch weibliche Pharaonen, weißt du?!«, berichtete sie mir mit leuchtenden Augen. »Frauen haben über ganz Ägypten regiert! Hatschepsut herrschte fünfzehn Jahre lang und sie trug einen falschen Bart, damit die Männer sie akzeptiert haben. Stell dir das nur vor! Glaubst du, mir würde ein Bart stehen?«

»Nein«, antwortete ich und streckte ihr die Zunge raus, obwohl ich sehr wohl wusste: Wenn überhaupt jemand mit einem falschen Bart gut aussähe, dann die Ehrenwerte Daisy Wells.

»Ja«, sagte Amina in der Reihe vor uns und drehte sich grinsend zu Daisy um, die schrecklich rot wurde und den Kopf hinter ihrem Buch verbarg.

»Natürlich bist du vor allem daran interessiert, die Pharaonen zu sehen«, sagte ich später zu Daisy.

»Selbstverständlich«, bestätigte Daisy, ohne mit der Wimper zu zucken. »Was sollten wir sonst in Ägypten wollen?«

Das brachte mich auf eine Idee. Wenige Tage später faltete ich im Englischunterricht in meinem Aufsatzheft einen Zettel, tauschte meinen normalen Stift gegen einen weit ungewöhnlicheren, den ich ganz unten in meinem Schulranzen aufbewahrte, und setzte etwas auf, das gewiss nicht die Abhandlung über Spenser war, um die Miss Dodgson gebeten hatte.

Lieber Alexander, schrieb ich mit klopfendem Herzen, wobei meine Worte sich beinahe sofort in Nichts auflösten, sobald sie aus meinem Stift geflossen waren.

Wie läuft es an der Weston? Haben du und George das Problem mit dem Hund gelöst? Hier geht es meistens sehr langweilig zu. Keine Fälle. Und ohne sind wir irgendwie alle ein bisschen neben der Spur.

Aber gute Nachrichten: Man hat uns für die Weihnachtsferien nach Ägypten eingeladen. Daisy ist schrecklich aufgeregt, auch wenn sie es abstreitet, und ich bin es auch. Wir sind extra vom Unterricht befreit, damit wir vorzeitig die Schule verlassen dürfen, weil es als eine lehrreiche Exkursion gilt. Zuerst besuchen wir die Familie von Amina El Maghrabi in Kairo, dann wird Vater mit meinen Schwestern May und Rose (Weißt du noch, ich habe euch von ihnen erzählt?) zu uns stoßen. Gemeinsam wollen wir nach Luxor, um am 13. Dezember zu einer Kreuzfahrt auf dem Nil aufzubrechen. Wirst du deine Eltern in Boston besuchen? Komisch, dass wir alle uns nun erst nächstes Jahr wiedersehen werden.

Liebe Grüße an George – und dich

Hazel

Ich war fertig, noch bevor mir Zeit blieb, darüber nachzudenken, was ich da eigentlich tat. Diese letzten beiden Wörter – und dich – hatten sich in meinem Kopf wahnsinnig gewagt angehört, doch auf dem Papier wirkten sie eher peinlich, wie etwas, das ein überdrehter Shrimp schreiben würde. Trotzdem drehte ich den Brief möglichst schnell um, tauschte zurück zu meinem normalen Füller und schrieb:

Lieber Alexander,

schon zweimal Grütze diese Woche! Widerlich. Und dann diese Lateinhausaufgaben … schrecklich öde. Hoffentlich habt ihr mehr Spaß.

Auf dem Sprung zur Andacht

Henry

Ich faltete den Brief und adressierte ihn an Alexander Arcady, Weston-Schule. Diese Art der Korrespondenz nutzten Alexander und ich seit Jahren, nachdem wir sie uns nach unserem ersten gemeinsamen Fall im Orientexpress ausgedacht hatten.

Am Abend steckte ich meinen Umschlag auf dem Weg von der Schule zum Wohnheim in den Briefkasten, während Daisy Amina und Clementine, die gemeinsam kicherten, nachdrücklich ignorierte – und dann war es zu spät, mir länger den Kopf darüber zu zerbrechen.

Eine Woche später erhielt ich eine Postkarte mit der Vorderansicht des British Museums darauf.

Georgina liebt Mumien. Genau wie ich. Alexandra x

Das kleine x verlieh mir Aufwind wie ein Drachen und versüßte mir endlose verregnete Sportstunden, die Streitereien zwischen Kitty und Küken und die zwischen Lavinia und dem Rest der Welt, die Andachten, Französisch und den Benimmunterricht. Ich bemühte mich sehr, nicht allzu viel hineinzuinterpretieren, konnte aber doch an nichts anderes denken.

Wir würden tatsächlich nach Ägypten reisen. Mit einem Mal stellte ich fest, dass ich vor Aufregung kaum noch Luft bekam.

4

Dennoch hatte ich es irgendwie geschafft, mir keine Gedanken über das reale Ägypten zu machen, bis ich aus dem Flugzeug und in die Hitze Kairos trat. Ich war zu sehr damit beschäftigt gewesen, mich von Kitty, Küken und Lavinia zu verabschieden, zu beschäftigt mit meinen Schuldgefühlen, weil wir sie nicht mitnahmen, und sogar noch mehr mit dem schlechten Gewissen wegen der Erleichterung darüber, unsere Probleme zurückzulassen, zumindest für einige Wochen.

Außerdem hatte ich damit zu tun gehabt, den Schock meines ersten Flugs zu bewältigen. Als wir drei der Hausmutter zum Abschied zugewinkt und die Passagiermaschine in Southampton bestiegen hatten, war mir alles so unglaublich glamourös vorgekommen: die strahlenden Flugbegleiterinnen in den adretten Uniformen, die bequemen und schick gepolsterten Sitze. Daisy lehnte sich auf ihrem Platz zurück und seufzte glücklich. »Genau wie in Tod in den Wolken«, murmelte sie. »Oh, stell dir nur vor, es gäbe wirklich einen Mord, genau jetzt, und wir hätten ihn gelöst, noch bevor wir wieder auf dem Boden wären!«

»Das würde nicht einmal Poirot schaffen.« Ich rollte mit den Augen und grinste sie an.

»Wir sind viel besser als der Alte!«, meinte Daisy schnaubend. »Himmel, er hat seinen ersten Fall ja erst gelöst, als er schon uralt war – außerdem sind wir echt und er nicht, damit sind wir entschieden im Vorteil.«

»Worüber redet ihr?«, wollte Amina neugierig wissen.

»Nichts weiter«, antwortete Daisy. »Vergiss es.«

Das Flugzeug, das über den Asphalt getuckert war, schoss unerwartet vorwärts und stieß ein Heulen aus, das sich zu einem schrillen Kreischen entwickelte, was mir durch und durch ging. Keuchend klammerte ich mich an Daisys Hand, während wir rüttelnd in die Höhe stiegen. Mit einem abhebenden Vogel hatte das nun wirklich nichts gemeinsam, dachte ich bei mir, als das Flugzeug über das Nichts hopste und mein Magen gleich mitmachte.

»Ich glaube, Fliegen hasse ich fast so sehr wie Schiffe«, sagte ich durch klappernde Zähne und kniff die Augen fest zu. Amina warf den Kopf in den Nacken und lachte.

»Unfug, Watson«, sagte Daisy, die sich über mich beugte. »Oh, sieh nur, wie klein alles ist! Als wären wir Riesen. Ich glaube, ich könnte dort hinuntergreifen und das Haus da hochheben. Als würde man mit der Welt Puppe spielen.«

Es hätte mich nicht überraschen sollen, dass Daisy den Ausblick so genoss, nur konnte ich leider nur daran denken, wie sehr er mir missfiel. Die Luft roch irgendwie falsch so weit oben und in meinen Ohren knackte es.

»Weißt du …«, sagte Daisy, »wenn du sowieso nicht aus dem Fenster schauen willst, können wir dann den Platz tauschen?«

Durch ihr Hochgefühl vergaß sie sogar, Amina die kalte Schulter zu zeigen, und unterhielt sich den ganzen Flug über mit ihr, bis wir in Marseille aufsetzten – und das war der Moment, in dem mir bewusst wurde, welche Schrecken vor mir lagen. Auf und ab holperten wir: Marseille, Rom, Brindisi, Athen (wo wir in einem wunderschönen Hotel übernachteten, das einem Freund von Aminas Vater gehörte, und wo Daisy sich als amerikanische Erbin ausgab), Alexandria (unter uns das Mittelmeer, unglaublich klein, nachdem wir im Lateinunterricht so viel davon gehört hatten) und zu guter Letzt, durchgerüttelt bis auf die Knochen, die Landung in Kairo.

Ich erinnerte mich an den Augenblick, als wir im Frühling in Hongkong eingelaufen waren, und begriff endlich, wie seltsam Daisy sich dabei gefühlt haben musste. Nun kam ich selbst in einer fremden Großstadt an und hatte den Eindruck, orientierungslos in einem kilometertiefen, tiefschwarzen Meer zu schwimmen. Kairo war mir fremd, sogar fremder als London. Doch dann richtete ich mich auf und rief mir in Erinnerung, dass ich es immerhin geschafft hatte, mich in England einzuleben, also würde ich es auch in Ägypten schaffen. Innerlich mochte ich nervös sein, doch das würde ich mir nicht anmerken lassen. Ich war nicht mehr dieselbe Hazel Wong wie früher.

Dann eilte Amina kreischend vor Freude durch die Menschenmassen und warf sich einem Mann an den Hals, den ich wiedererkannte.

»Wo bleiben deine Manieren, Habibti!«, sagte Mr El Maghrabi – allerdings merkte ich ihm an, dass es ihm eigentlich gar nichts ausmachte. Er strahlte seine Tochter an und Amina strahlte zurück.

»Entschuldige, Baba!«, sagte sie. »Baba, du erinnerst dich an Daisy Wells und Hazel Wong?«

»Willkommen in Kairo!« Mr El Maghrabi schüttelte uns die Hand. »Wir freuen uns sehr, Sie bei uns als Gäste begrüßen zu dürfen, nach dem, was Sie im Sommer für uns getan haben. In schā' Allāh werden Sie eine wundervolle Zeit hier verbringen. Sie sind unsere Gäste – sollten Sie irgendeinen Wunsch haben, brauchen Sie es nur zu sagen. Miss Beauvais wird sich um Sie kümmern – Miss Beauvais! Hier drüben!«

Er winkte einer kleinen Europäerin, die sich durch das Gedränge an Reisenden kämpfte. Sie hatte dünner werdendes, braunes Haar und wirkte reichlich missmutig. Als sie Amina sah, zog sie ein noch längeres Gesicht, beinahe, als würde sie mit dem Schlimmsten rechnen.

»Das ist Miss Beauvais. Sie ist Aminas Gouvernante und Amina wird sich ihr gegenüber während der Ferien höchst anständig benehmen – nicht wahr, Amoona?«

»Oh ja, Baba«, antwortete Amina und schenkte zuerst ihrem Vater, dann Miss Beauvais ihr breites, verschmitztes Lächeln. Die Gouvernante zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und drückte es sich gegen die Stirn. »Wohin wollen wir zuerst?«

Das war der erste von mehreren Tagen, in denen wir durch Kairo wirbelten, die Sehenswürdigkeiten und Gerüche in uns aufsaugten. Hocherfreut stellte ich fest, dass der unfassbar schnelle Verkehr, die aufsteigenden Düfte des Essens auf den Straßen, die Rufe der Menschen, die sich entweder nicht ausstehen konnten oder aber beste Freunde waren, die spielenden Kinder und die räudigen Straßenhunde, die in den gewundenen, staubigen Nebengassen kläfften, Kairo zu einem Echo Hongkongs machten. Doch während Hongkongs Hitze feucht ist, sodass die Luft schwer und köstlich auf der Haut liegt, ist die Hitze Ägyptens so trocken wie Sand und Knochen. Kairos Gebäude sind ganz weiß, gelb und rosa, ein Viereck auf dem anderen, trockene Ziegel, die zu staubigem Schmutz zerfallen, aufeinandergestapelte Balkone mit plumpen kleinen Geländern und dahinter zierliche, elegante Minarette. Der Himmel über uns war blau, die Wedel der Palmen waren staubbedeckt, die Luft war erfüllt von Gebeten und Stimmen, die ich nicht verstand, und auf meiner Zunge wogen Gerüche, die ich nicht kannte. Es war wie Hongkong und gleichzeitig vollkommen anders.

Und allzeit und überall schwebte am Horizont das Wunder der Pyramiden.

»Stell dir nur vor!«, sagte Daisy zu mir. »Ich hätte nie gedacht, dass sie einfach so da sind. Als würde man auf eine Wiese laufen und neben einer Kuhherde einen Wal entdecken.«

Das war nicht ganz der Vergleich, den ich verwendet hätte, aber ich stimmte ihr zu. Die Pyramiden waren immer nur Geschichten in meinem Kopf gewesen – wie die Hängenden Gärten von Babylon – und plötzlich befanden sich diese Geschichten im Blickfeld am Ende einer Straße. Es gab mir das Gefühl, als könnte Ägypten unmöglich echt sein.

Doch dann sah ich, wie Amina – ungeachtet der verzweifelten Rufe von Miss Beauvais – aus unserem fahrenden Wagen kletterte, um für uns bei einem Straßenhändler Zuckerrohr zu kaufen, und begriff, dass mir ein Denkfehler unterlaufen war. Für sie war dies Alltag. Sie brachte uns in den Turf Club (dafür musste Miss Beauvais widerstrebend so tun, als wäre sie die Herrin und Amina ihre Dienerin, da Ägypter in diesem Club nicht geduldet waren), wo wir neben den Tennisplätzen ein Teekränzchen abhielten. Unser weiß gedeckter Tisch wurde von Bäumen beschattet und ächzte unter Obstbaiser, Schokotorten, Gewürzkuchen und Sahnegebäck. Wenn keiner der anderen Gäste hinsah, naschte Amina heimlich vom Kuchen und schüttelte sich vor unterdrücktem Kichern. Miss Beauvais lehnte derweil in ihrem Stuhl und ignorierte uns matt.

»Ich zwinge sie ziemlich oft dazu«, flüsterte Amina uns zu. »Miss Beauvais verbietet mir nie etwas. Sie hat schon auf meine großen Schwestern aufpassen müssen, daher ist ihr Kampfgeist inzwischen völlig gebrochen. Sie macht nie Ärger!«

»Aber warum kommst du hier her, wenn man Ägypter hier nicht mag?«, fragte ich und schaute mich um.

Amina schnaubte verächtlich. »Genau deswegen, Hazel – weil man es mir verbieten will! Immerhin ist das hier mein Zuhause. Warum sollte es denn nur den Europäern gut gehen?«

Wir besuchten das Ägyptische Museum (die Steinmauern waren herrlich kühl nach der staubigen Hitze von Kairos Straßen) und drückten staunend die Nase gegen die Glasvitrinen, in denen all die Pracht und das Gold Tutanchamuns lagen. An der Maske des jungen Königs konnte ich mich nicht sattsehen, sosehr bemühte ich mich, den wahren Menschen zu erkennen, der er unter all dem Prunk gewesen war. Bei seinem Tod war er nur wenige Jahre älter gewesen als wir. War er gern König gewesen oder war es ihm schwergefallen?

Daisy war natürlich viel mehr daran interessiert, die Schaukästen mit den ausgepackten Mumien zu besichtigen. Mit vor Neugier weit aufgerissenen Augen stand sie davor. Ich versuchte, mich neben sie zu stellen und zu sehen, was sie sah, doch meine Augen fingen vor Mitleid an zu brennen. Die Mumien wirkten unbekleidet, traurig und klein. Ich fand, man sollte sie nicht einfach so ausstellen, wo jeder sie begaffen konnte.

»Die Armen!«, sagte ich zu Daisy und Amina.

»Ach, sei still, Hazel! Das ist Wissenschaft!«, sagte Daisy, doch Amina nickte mir zu.

»Finde ich auch«, sagte sie. »So wollten sie sicher nicht in Erinnerung bleiben, stimmt’s? Es waren echte Menschen, keine Dekorationen. So zur Schau gestellt zu werden … und jeder glaubt, die Pharaonen würden ihm gehören – es gibt sogar ein paar schrecklich dumme Ausländer, die durch Kairo ziehen und behaupten, sie wären ihre Reinkarnationen.«

»Schon, aber man erinnert sich an sie!«, erklärte Daisy. »Und darauf kommt es an.«

»Ach, findest du?«, fragte Amina. »Ich weiß nicht, ob es mir was ausmacht, ob man sich nach meinem Tod an mich erinnert oder nicht.«

»Du hast keine Ambitionen!«, meinte Daisy. »Selbstverständlich sterbe ich sowieso nie, aber wenn, dann wird man sich an mich erinnern. Keine Frage.«

Sobald an diesem Abend die Sonne untergegangen war, stibitzte Amina einen Teller mit Kuchen aus dem Esszimmer und schleppte uns hinaus auf das prächtig gekachelte und mit Gold bemalte Dach ihres riesigen Hauses mit Blick auf den Nil. Kichernd ermahnte sie uns, leise zu sein. Aus ihren Taschen holte sie eine Handvoll bunter Raketen, die sie unter meinen fassungslosen Blicken in einer Reihe aufstellte und anzündete. Helle Streifen schossen in den Himmel. Amina und Daisy standen am Rand des Dachs, tanzten und warfen mit vollen Händen runde Kracher in die Höhe, die knisterten und laut knallten. Ich stand da, beobachtete die Lichter vor meinen Augen und das Funkeln des Flusses unter mir.

Ägypten, fand ich, war wundervoll.

5

Am Abend danach erreichte der Zug meines Vaters und meiner Schwestern Kairo. Wir wollten uns mit ihnen in dem Hotel treffen, in dem sie untergebracht sein würden. Bevor sie ankamen, war ich ehrlich gesagt hin- und hergerissen, gleichzeitig aufgeregt und nervös, sodass mir richtig flau im Magen war. Sie bedeuteten für mich Heimat, doch das letzte Mal, als ich zu Hause gewesen war, das letzte Mal, dass ich sie gesehen hatte, war in Hongkong gewesen, unter Umständen, vor denen es mir noch immer graut. Und da war noch etwas: Seit Hongkong hatten Daisy und ich drei Morde aufgeklärt. Würde mein Vater sich darüber ärgern, dass ich mich erneut darin verwickeln lassen hatte? Dafür, dass ich sein Vertrauen missbraucht hatte, um den Fall in Hongkong zu lösen, hatte er mir vergeben, trotzdem war mir wohl bewusst, dass es ihm nicht gefiel, wenn ich mich mit Verbrechen beschäftigte.

Über all das zerbrach ich mir den Kopf, während wir in der glitzernden goldenen Lobby standen, umringt vom Kommen und Gehen, vom Ab- und Anschwellen der Gäste und umspült von zahlreichen Gesprächswellen. Als ich mich umsah, bemerkte ich unsere Abbilder in einer Reihe zahlreicher Spiegel, ziemlich klein und schäbig (ich zumindest) inmitten all dem Samt, Marmor und Prunk.

Dann wurde ich abrupt aus den Gedanken gerissen, weil Daisy mich hart mit dem Ellbogen in die Rippen stieß.

»Au!«, rief ich. »Daisy!«

»Mach nicht so einen Aufstand, Hazel! Ich habe dich kaum berührt. Schau, da drüben!«

Mit klopfendem Herzen, sollte sie meinen Vater gesichtet haben, drehte ich mich in die Richtung, in die sie zeigte. Doch die Leute, auf die sie deutete, waren eine Gruppe europäischer Männer und Frauen, deren Abendgarderobe und Gesichtsausdrücke mir verrieten, dass es sich höchstwahrscheinlich um Urlauber aus England handelte.

Neugierig musterte ich sie und fragte mich, warum um alles in der Welt Daisy auf sie aufmerksam geworden war. Eine der Frauen, eine große, knochige alte Dame mit einer spitzen Nase, brüllte barsch einen Hotelportier an. Der hob entschuldigend die Hände.

»Hazel«, sagte Daisy. »Weißt du denn nicht, was das für Leute sind?«

»Engländer«, antwortete ich. »Aber abgesehen davon –«

»Hazel, wenn du doch ein Mal die Zeitung lesen würdest! Das ist wirklich ein grässlicher Makel an dir – das habe ich dir schon unzählige Male gesagt. Das dort ist –«

»Es ist die Hauch-des-Lebens-Gesellschaft«, mischte Amina sich unerwartet ein. Als ich zu ihr sah, runzelte sie wütend die Stirn. »Wieder da! Das sind die Leute, von denen ich euch vorhin erzählt habe!«

»Wie meinst du das, wieder da?«, fragte ich. »Wer sind sie? Woher kennst du sie?«

»Sie halten sich für Altägypter«, erklärte Amina im selben Moment, als Daisy sagte: »Sie sind ein absolut fantastischer Kult.«

Amina und Daisy sahen sich abschätzend an, dann sagte Daisy: »Na schön, dann erklär du es ihr.«

»Fast will ich nicht«, meinte Amina. »Sie sind schrecklich. Mama und Baba hassen sie. Sie kommen jedes Jahr nach Kairo und jedes Mal wird es schlimmer. Sie stellen sich an Straßenecken, schwingen Reden darüber, dass sie die alten Pharaonen sind, zu neuem Leben erwacht, und dass wir alle uns ihnen anschließen und sie verehren sollten. Warum die Pharaonen ausgerechnet als Engländer wiedergeboren werden sollten und nicht als Ägypter, können sie selbstverständlich nicht erklären, daher ignorieren wir sie alle. Doch ziemlich viele der Europäer, die in Kairo leben, sind Mitglieder geworden. Die Europäer glauben ja auch, das Alte Ägypten würde ihnen gehören, daher gefällt ihnen, was der Hauch-des-Lebens zu sagen hat.«

»Ja, ja«, mischte Daisy sich ein. »Sie haben haufenweise Geld. Je mehr man spendet, desto wahrscheinlicher ist es nämlich, dass der Hauch-des-Lebens feststellt, dass man in einem früheren Leben ein König oder eine Königin war, und genau das will jeder hören.«

»Jeder?«, wiederholte ich.

»Tja, also ich war in einem früheren Leben eine Königin«, sagte Daisy. »Das liegt auf der Hand. Aber wenn ich wollte, dass der Hauch-des-Lebens mir das bescheinigt, müsste ich ihnen Tausende und Abertausende an Pfund zahlen. Diese Leute da drüben sind die wichtigsten Mitglieder der Gesellschaft, also sind sie natürlich alle Reinkarnationen von Tutanchamun und Kleopatra und so weiter. Angeführt wird die Gesellschaft von einer gewissen Mrs Theodora Miller, die sich für die wiedergeborene Hatschepsut ausgibt – und sich nebenbei für die mächtigste Person im Universum überhaupt hält.«

»Was eine glatte Lüge ist!«, platzte Amina heraus. Vor Zorn wurde sie rot im Gesicht – man sah deutlich, wie sehr sie die Sache ärgerte. »Sie verdrehen alles – an so etwas haben die Alten Ägypter nie geglaubt.«

»Welche ist Theodora Miller?«, fragte ich neugierig, während ich die weiblichen Mitglieder des Hauch-des-Lebens musterte. Sie alle sahen aus wie x-beliebige englische Ladys, denen man in Deepdean begegnen mochte.

»Die kleine Pummelige.« Daisy nickte zu einer kleinen, rundlichen Frau mittleren Alters mit sandfarbenem Haar, die neben der großen, knochigen Dame stand. Ich blinzelte. Mit einer Königin, welcher Art auch immer, hatte sie so gar keine Ähnlichkeit.

Doch dann sagte der Hotelportier etwas, zog nervös den Kopf ein und Theodora Miller richtete sich schlagartig zu ihrer vollen Größe auf, während ihr Busen vor Wut bebte.

»Das ist INAKZEPTABEL! Wissen Sie denn nicht, wer ich bin, Bursche?«, brüllte sie, dass man sie in der gesamten Lobby hören konnte. Da erkannte ich, dass ihre Erscheinung trügerisch war. Diese Frau, so klein sie auch war, war verbissen und furchteinflößend. Ich war fasziniert.

In diesem Augenblick, gerade als ich meine Familie völlig vergessen hatte, wurden die Türen zur Hotellobby von den Portieren geöffnet und meine kleinste Schwester May flitzte herein, schlitterte über den polierten Marmorboden und ruderte vor Aufregung mit den Armen.

Der Hauch-des-Lebens würde warten müssen.

»GROSSE SCHWESTER!«, schrie May, huschte um mehrere erschrockene Hotelgäste in Abendgarderobe herum und stürzte sich auf mich, um sich absolut begeistert an meiner Taille festzuklammern. Ich beugte mich nach unten, um sie zu umarmen – sie duftete nach Reise, Schmutz und May, ein heller Geruch, ein bisschen wie von Orangen –, und sie schaute zu mir hoch und schrie: »Ich bin jetzt SECHS, Große Schwester! SECHS!«

»Du bist schon so groß, Äffchen«, sagte ich lächelnd zu ihr.

»Rose und Vater und Pik An kommen auch, nur sind sie LANGSAM«, erklärte May. »Das Schiff hat so lange gebraucht, Hazel. Rose hat sich gelangweilt, aber Rose ist ja auch langweilig und will immer nur Bücher lesen, also kein Wunder. Ich habe mich gar nicht gelangweilt – ich habe Piratin gespielt und bin über die Brücke gesaust, um sie zu kapern – nur hat mich der Kapitän ausgelacht und mich zum Tee eingeladen. Und dann durfte ich kurz das Schiff steuern!«

Als ich aufblickte, stand da meine mittlere Schwester, Rose, in einem geblümten Reisekleid. Elegant und neugierig wirkte sie. Ihr Haar war sorgsam geflochten und hinter ihr schnaufte unter einem Berg von Koffern ihre Magd Pik An. Sie nickte mir zu und ich winkte ihr. Ich freute mich riesig, sie zu sehen.

»Hazel, du siehst so alt aus, wie eine Erwachsene. Wirklich wahr –«

»Ach, sei still, Äffchen«, sagte ich, gab ihr einen zärtlichen Schubs und fand mich dann auch in Roses Umarmung wieder, die etwas steif ausfiel – oder vielleicht war auch ich diejenige, die schüchtern war. Sie hielt eins ihrer Lieblingsschulgeschichtenbücher in der Hand, das mich pikte, als ich sie drückte.

»Hallo, Wong Fung Ying«, sagte mein Vater. Als ich aufsah, streckte er in einem Nadelstreifenanzug mit glänzend goldenen Manschettenknöpfen seine vertrauten, kantigen Hände mit den dicken Knöcheln nach mir aus.

»Hallo, Vater«, sagte ich, ebenso schüchtern wie Rose.

»Es ist schön, dich zu sehen, Hazel«, sagte mein Vater – und da begriff ich, dass er sich nicht über mich ärgerte, kein bisschen. Im nächsten Moment blieb mir beinahe die Luft weg, als ich an seiner Brust klebte, so fest, wie May mich umarmt hatte.

»Ich habe dich vermisst, Vater«, sagte ich etwas gedämpft.

»Ich dich auf, mein liebes Mädchen«, erwiderte mein Vater – und gleich aus mehreren Gründen bekam ich deswegen ein schrecklich schlechtes Gewissen. »Aber nun erzähl, wie läuft es an der Schule? Bekommst du die bestmöglichen Noten? Soweit ich mich erinnere, hast du im Sommer keine Auszeichnung erhalten, und ich hätte gerne gewusst, warum.«

Und während May uns alle hinaus zu den Wagen schleppte, die darauf warteten, uns zum Abendessen zu den El Maghrabis zu bringen, blickte ich noch einmal zum Hauch-des-Lebens und ging davon aus, sie zum letzten Mal gesehen zu haben.

Selbstverständlich sollte ich mich ordentlich täuschen.

6

Am Tag danach brachen wir auf zum Nil.

Man fuhr uns in zwei der schicken schwarzen Wagen von Aminas Eltern zum Bab-al-Hadid-Bahnhof, wo wir von Lärm, Staub und sengender Sonne empfangen wurden. Kofferträger mit Turban und Dschallabija eilten hin und her, unsere Koffer alarmierend hoch gestapelt (mein Vater und meine Schwestern waren nicht gerade mit leichtem Gepäck unterwegs), während Pik An und Miss Beauvais sie anflehten, vorsichtig zu sein. Ich sah mir die gigantische Steinstatue an, die auf dem Bahnhofsvorplatz stand. Es war ein Wesen mit Löwenpfoten und einem Menschenkopf, eingerahmt von einem enormen Kopfschmuck, das neben einer Frau kauerte, die stolz in die Ferne blickte und einen Arm hob, um das Tuch aus ihrem Gesicht zu heben. Ich fand es wunderschön, wenn auch sehr merkwürdig.

»Nahdet Misr«, sagte Mr El Maghrabi mit einem Wink zur Statue. »Ägyptens Vergangenheit – die Sphinx – und seine Zukunft: seine Frauen. Amoona, Habibti, vergiss nicht, den Mädchen von deiner Geschichte zu erzählen. Sei stolz darauf!«

»Ja, Baba«, sagte Amina, ausnahmsweise mit ernstem Gesicht. »Das werde ich.«

Von Bab al-Hadid aus nahmen wir den Nachtexpress nach Luxor. Als die Sonne unterging, schaute ich aus dem Zugfenster und sah Rechtecke aus saftigem grünen Gras und hohem, spitzem Zuckerrohr, flankiert von Palmen mit dunklen Wedeln und schmalen Wasserläufen, die den Himmel reflektierten. Neben Lehmhäusern standen Kühe und Esel und davor saßen Menschen mit angezogenen Knien und baumelnden Armen, die lachten und sich unterhielten. Der Himmel war rosa, zitronengelb und cremeorange, ruhig, mit nur wenigen Klecksen dunkler Wolken.

Der Zug war nahezu leer. Während wir auf das Abendessen warteten und darauf, dass unsere Schlafwagenabteile bereit gemacht wurden, hatten wir einen ganzen Waggon für uns allein. May baute unter den Sitzen ein Fort und platzte von Zeit zu Zeit hervor, um uns als uraltes Seemonster anzugreifen (Pik An musste überrascht spielen). Rose las Millie aus der zehnten Klasse, mein Vater löste ein Kreuzworträtsel, Miss Beauvais schnarchte und Daisy tigerte ruhelos hin und her. Ich wusste genau, dass sie an unsere letzte gemeinsame Zugreise denken musste und daran, was während dieser Fahrt passiert war.

»Bist du schon aufgeregt?«, fragte Amina leise und sah mich von der Seite an. In Ägypten war ihr Haar sogar noch glänzender und so prächtig wie nie, außerdem trug sie einen unglaublich hinreißenden Reiseanzug und einen kleinen Hut mit Schleier, so wie ihn alle ägyptischen Frauen zu tragen schienen.

»Ja!«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Alles war so fremd und wundervoll. Obwohl ich durch Aminas Augen immer wieder Ausschnitte des wahren Ägyptens sah, eines Landes, in dem sich die Menschen selbstverständlich ebenso um langweilige, gewöhnliche Dinge wie Hausaufgaben und Zugfahrkarten kümmern mussten, war es mir unmöglich, das Gefühl abzuschütteln, in eine Geschichte eingetaucht zu sein, als wäre ich einmal quer durch Zeit und Raum gepurzelt. Ich hatte die ganz seltsame Überzeugung (vielleicht ging mir dabei einmal mehr der Hauch-des-Lebens durch den Kopf), dass ich jeden Moment den jungen König Tutanchamun erblicken könnte, kränklich und doch herrschaftlich, gleich neben mir im Waggon – oder dass sich die Frau, die ich im nächsten Waggon schreien hörte, als die Pharaonin Hatschepsut herausstellen könnte, deren Augen (in meiner Vorstellung so durchdringend und schlau wie die von Amina) mit Kajal dunkel und dick bemalt waren, und mit einem kleinen Holzbart, der mit einer Schnur am Kinn festgebunden war.

»Ich kann es nicht erwarten«, sagte Amina. »Ich habe das noch nie gemacht, zumindest keine richtige Kreuzfahrt. Dafür kenne ich all die Geschichten. Das meinte Baba auch, als er sich verabschiedet hat – er will, dass ich dafür sorge, dass ihr die wahren Geschichten zu hören bekommt. Manchmal erzählen sie sie den Leuten aus dem Westen nicht richtig.«

Ich atmete den bloßen, heißen Geruch des Waggons ein, außerdem den Geruch von Schweiß und Aminas Parfüm, das so luftig und hübsch war wie sie.

»Warum haben dich deine Eltern auf die Deepdean geschickt?«, fragte ich. »Hat Miss Beauvais nicht gereicht?«

»Miss Beauvais ist ziemlich nutzlos, wenn man mal ehrlich ist«, erklärte Amina mit einem Blick zu ihrer schlafenden Gouvernante. »Wir behalten sie nur, weil Sachen aus Frankreich gerade in Mode sind. Ich habe Baba gesagt, dass ich von ihr nichts lernen kann, also musste ich zur Schule. Und nachdem ich sämtliche Schulen von Kairo durchgemacht hatte, gab es nicht mehr viele Möglichkeiten. König Farouk war vor dem Tod des alten Königs in England auf der Schule – sie mussten ihn extra nach Kairo einfliegen und zurückholen, weil er den Thron besteigen musste, weißt du? Daher ist das im Moment angesagt. Die Tantchen und meine älteren Schwestern sind Baba so lange auf die Nerven gegangen, bis er Ja gesagt hat. Mama hat sich geärgert, aber sie wusste, wie gern ich hin wollte. Ich mag Abenteuer, weißt du?«

»Meine Mutter wollte auch nicht, dass ich in England zur Schule gehe«, sagte ich leise, damit Rose und May nicht hörten, wie ich Ah Mah erwähnte. »Sie … sie mag nichts, was mit Europa zu tun hat.«

»Warum ist deine Mutter nicht hier?«, fragte Amina und sah mich forschender an denn je.

Ich zuckte mit den Schultern. Es zu erklären, ertrug ich nicht, nicht Amina gegenüber, deren Mutter so stolz auf sie war.

»Aber ich habe darum gebeten«, fuhr ich schnell fort. »Ich wollte England mit eigenen Augen sehen.«

»Hazel Wong!« Amina grinste mich an. »Ich glaube, wir sind uns ein bisschen ähnlich, du und ich.«

»Aber ich bin nicht … ich bin nicht abenteuerlustig, nicht wie du und Daisy«, sagte ich.

»Du gehörst zu den abenteuerlustigsten Menschen, die ich je getroffen habe!«, meinte Amina. »Du bist um die halbe Welt gereist, als du erst ein Shrimp warst, und du hast alle möglichen wilden Sachen erlebt – du bist mit Jungs befreundet. Baba würde mich umbringen, würde ich einen auch nur ansehen …«