Teestunde mit Todesfall - Robin Stevens - E-Book

Teestunde mit Todesfall E-Book

Robin Stevens

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Beschreibung

Daisy und Hazel verbringen die Ferien bei Daisys Familie in Fallingford. Zu Daisys Geburtstag reist die gesamte Verwandschaft an - von der exzentrischen Tante Saskia bis zum schneidigen Onkel Felix. Nur der zwielichtige Mr Curtis passt nicht so recht ins Bild. Er scheint etwas im Schilde zu führen. Doch als Mr Curtis vor den Augen aller vergiftet wird, ist klar, dass einer der Gäste der Mörder ist. Während ein Sturm die Verdächtigen im Haus und die Polizei draußen hält, ermittelt Detektei Wells & Wong in ihrem zweiten Fall, diesmal im Kreis der eigenen Familie. Bei so vielen dunklen Geheimnissen wirkt Fallingford auf einmal gar nicht mehr so heimelig ...

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Seitenzahl: 320

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Titel der Originalausgabe: Arsenic for TeaErschienen bei Random House Children’s Publisher UK,a division of The Random House Group Limited.

Copyright Text © 2015 Robin Stevens

Published by Arrangement with Robin Stevens

Copyright Gestaltung © 2015 Nina Tara Design

Diese Ausgabe wurde vermittelt durch dieLiterarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

6. Auflage 2021

Deutsche Erstausgabe

Copyright © 2017 von dem Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG,München

Ein Unternehmen der Média-Participations

Umschlagadaption: Leonore Höfer, Knesebeck Verlag

Übersetzung: Nadine Mannchen, Helmbrechts

Lektorat: Tatjana Kröll, Knesebeck Verlag

Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig

eISBN 978-3-95728-596-6

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.

www.knesebeck-verlag.de

Für Boadie und die MBs,mit herzlichem Dank für Jahre vollerWärme und Freundschaft – und für Daisys Haus.

Inhalt

TEIL EINS: DIE ANKUNFT VON MR CURTIS

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

TEIL ZWEI: ERMITTLUNGEN UND GEBURTSTAGSKRÄNZCHEN

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

TEIL DREI: WIRKLICH UND WAHRHAFTIG ARSEN

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

TEIL VIER: ALLMÄHLICH SIEHT ES WAHRHAFT DÜSTER AUS

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

TEIL FÜNF: WER BLEIBT DENN DANN ÜBRIG?

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

TEIL SECHS: DETEKTEI WELLS & WONG LÖST DEN FALL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

DAISYS FALLINGFORD-FÜHRER

DANKSAGUNG

Teestunde mit Todesfall

Ein Bericht über

den »Mordfall Mr Curtis«,im Rahmen der Ermittlungender Detektei Wells & Wong.

Aufgezeichnet von Hazel Wong(Schriftführerin und Vizevorsitzendeder Detektei), 13 Jahre alt.

Begonnen am Samstag, 13. April 1935.

FALLINGFORD

DIE FAMILIE WELLS

George Wells – Lord HastingsMargaret Wells (geb. Mountfitchet) – Lady HastingsSaskia Wells – Tante von Lord HastingsFelix Mountfitchet – Bruder von Lady HastingsAlbert »Bertie« Wells – Sohn von Lord und Lady HastingsDaisy Wells – Tochter von Lord und Lady Hastings,außerdem Vorsitzende der Detektei

GÄSTE

Hazel Wong – Vizevorsitzende undSchriftführerin der DetekteiKatherine »Kitty« FreebodyRebecca »Küken« MartineauDenis Curtis – Hausfreund von Lady HastingsMiss Lucy Alston – Gouvernante von Daisy WellsStephen Bampton – Schulfreund von Bertie Wells

BEDIENSTETE

Chapman – Butler der Familie Wells

Mrs Doherty – Köchin und Haushälterinder Familie WellsHetty – Hausmädchen der Familie Wells

HUNDE

Toastie

Millie

STAMMBAUM DER FAMILIE WELLS

• TEIL EINS •

DIE ANKUNFT VON MR CURTIS

1

Etwas Grauenhaftes ist Mr Curtis zugestoßen.

Ich muss zugeben, es überrascht mich selbst, dass ich so erschüttert bin. Noch heute Morgen hätte ich jedem, der nach meiner Meinung gefragt hätte, erzählt, dass Mr Curtis ein ganz und gar scheußlicher Mann ist. Doch nicht einmal der gemeinste Mensch auf Erden hat so etwas verdient.

Unnötig zu sagen, dass Daisy das anders sieht. Ihrer Ansicht nach sind Verbrechen nicht real, nichts, worüber man sich aufregen sollte. Für sie zählt einzig und allein, dass etwas geschehen ist, und sie will begreifen, wie es dazu gekommen ist. Ich natürlich auch – sonst wäre ich ein schlechtes Mitglied unserer Detektei –, aber egal, wie viel Mühe ich mir gebe, ich kann nicht nur wie ein Detektiv denken.

Doch so wie die Dinge liegen, müssen Daisy und ich unseren ermittlerischen Spürsinn schleunigst aktivieren. Es ist nämlich so: Gerade haben wir etwas abgrundtief Bestürzendes belauscht. Es hat uns bestätigt, dass das, was Mr Curtis zugestoßen ist, weder ein Unfall noch eine plötzliche Krankheit war. Jemand hat ihm das angetan, was nur eins bedeuten kann: Die Detektei Wells & Wong hat einen brandneuen Fall!

Daisy hat mir aufgetragen, im Fallbuch der Detektei festzuhalten, was wir bisher herausgefunden haben. Ständig liegt sie mir damit in den Ohren, wie wichtig es ist, sich Notizen zu machen – nebenbei ist sie fest davon überzeugt, dass nicht sie diejenige sein sollte, die das erledigt. Fallnotizen sind meine Sache, da schließlich ich Schriftführerin der Detektei und neuerdings auch Vizevorsitzende bin, während Daisy Vorsitzende ist. Obwohl ich eine ebenso gute Detektivin bin wie sie – wie ich bei unserem ersten echten Fall, der Untersuchung des Mordes an Miss Bell, bewiesen habe –, bin ich doch ein ganz anderer Schlag von Mensch als Daisy. Ich durchdenke gerne alles, bevor ich zur Tat schreite, während Daisy sich wie ein Hund auf ein Kaninchen Hals über Kopf auf die Dinge stürzt; und dabei bleibt für Notizen selbstverständlich wenig Zeit. Schon auf den ersten Blick sind wir beide grundverschieden: Ich habe dunkle Haare, bin klein und eher pummelig. Daisy dagegen ist dünn wie ein Windhund, hochgewachsen und hat prächtiges goldblondes Haar. Trotzdem sind wir beste Freundinnen und ein ausgezeichnetes Gespann, wenn es darum geht, Verbrechen aufzuklären.

Aber ich glaube, ich sollte endlich zum Wesentlichen kommen und erklären, was sich zugetragen hat und wer Mr Curtis überhaupt ist.

Vermutlich ist es ein guter Anfang, an dem Punkt zu beginnen, als ich Daisy zu Hause in Fallingford besucht habe, um die Osterferien dort zu verbringen und außerdem ihren Geburtstag zu feiern.

2

Das Frühlingstrimester an unserer Schule, dem Internat Deepdean, verlief ziemlich ungefährlich und gewöhnlich – was nicht selbstverständlich war nach all dem, was vergangenes Jahr dort passiert ist. Ich rede von dem Mord und dass die Schule im Anschluss an diese furchtbare Sache beinahe geschlossen worden wäre. Doch der Frühling verging friedvoll, ohne jeden Hinweis auf Gefahr oder Tod, und darüber war ich sehr froh. Der aufregendste Fall, in dem wir in letzter Zeit ermittelt hatten, war »Der Fall vom Frosch in Kittys Bett«.

Ich hatte erwartet, dass es in Fallingford ebenso ruhig weitergehen würde. Fallingford, um es für dieses neue Fallbuch festzuhalten, ist Daisys Zuhause: ein englisches Herrenhaus auf dem Lande, wie man es sich vorstellt – mit holzvertäfelten Wänden und mehreren Morgen Land außenherum, auf denen es unter anderem einen Irrgarten und sogar einen gigantischen Affenschwanzbaum gibt, der mitten in der vorderen Einfahrt wächst. Zuerst habe ich den Baum für künstlich gehalten, doch als ich ihn mir näher angesehen habe, musste ich feststellen, dass er tatsächlich echt ist.

Ganz im Ernst, Fallingford ist wie ein Haus aus einem Buch. Es hat seinen eigenen Wald und einen See, vier verschiedene Treppen (Daisy ist davon überzeugt, dass es auch einen Geheimgang geben muss, den sie bisher noch nicht entdeckt hat) und einen eingefriedeten Küchengarten, der ebenso gut versteckt ist wie der von Mary Lennox im Buch Der geheime Garten. Von außen wirkt das Haus wie ein riesiger prächtiger Würfel aus warmem gelbem Stein, der von fleißigen Helfern über Jahrhunderte hinweg vergrößert wurde. Das Innere ist wie eine Zauberschachtel voller Zimmer, Treppenhäuser und Korridore, die auf gleich drei verschiedenen Wegen miteinander verbunden sind. Es gibt ganze Schwärme von ausgestopften Vögeln (am ausgefallensten ist eine präparierte Eule auf dem Treppenabsatz im ersten Stock), einen Konzertflügel, mehrere spanische Truhen und sogar eine echte Ritterrüstung in der Eingangshalle. Genau wie in Deepdean wird mit allem so achtlos umgegangen, ist alles so alt und heruntergekommen, dass ich eine Zeitlang brauchte um zu begreifen, wie wertvoll all die Dinge in Wirklichkeit sind. Daisys Mutter lässt ihre Juwelen auf ihrer Frisierkommode herumliegen, die Hunde werden nach matschigen Spaziergängen mit Handtüchern abgetrocknet, die Daisys Großmutter einmal als Hochzeitspräsent vom König persönlich bekommen hat! Und Daisy hinterlässt Eselsohren in den Erstausgaben der Bibliothek. Nichts im Haus ist jünger als Daisys Vater, und gegen diesen Landsitz wirkt unser blitzend weißes Anwesen in Hongkong, als würde es nur so tun, als ob.

An einem sonnigen Samstagmorgen, dem 6. April, wurden wir von Chauffeur O’Brian (der außerdem auch der Gärtner ist – anders als meine Familie scheinen die Wells nicht genug Dienstboten zu haben, und ich frage mich, ob das in Zusammenhang damit steht, dass das Haus ein bisschen heruntergekommen wirkt) im Familienwagen vorgefahren. Aus dem strahlenden Tag traten wir in die große dunkle Eingangshalle (im Zwielicht ragte furchteinflößend die Ritterrüstung von den steinernen Fliesen auf) und Chapman, der alte Butler der Wells, nahm uns in Empfang. Er hat weißes Haar und geht gebeugt – er arbeitet schon so lange für die Familie, dass ihn allmählich die Kräfte zu verlassen scheinen, wie bei der alten Standuhr, die niemand mehr aufzieht. Auch die beiden Hunde waren da: Der kleine Spaniel Millie schwänzelte um Daisys Knie und der dicke, alte, semmelfarbene Labrador Toastie schaukelte auf seinen steifen Beinen vor und zurück, wobei er ächzende Laute ausstieß, als ob er krank wäre. Als Chapman sich bückte, um Daisys Knabbertruhe aufzuheben, ächzte er genau wie Toastie (er ist wirklich sehr alt – andauernd mache ich mir Sorgen, er könnte beim nächsten Handgriff einen Krampfanfall bekommen wie ein rostiges altes Spielzeug) und sagte: »Miss Daisy, es ist eine Freude, Sie zu Hause zu wissen.«

Dann kam Daisys Vater aus der Bibliothek gehastet. Lord Hastings (so nennt man Daisys Vater, Lord Hastings, auch wenn sein Nachname Wells lautet, wie der von Daisy – wenn man zum Lord ernannt wird, erhält man offenbar einen zusätzlichen Namen, der zeigt, wie wichtig man ist) hat runde rosige Wangen, einen buschigen weißen Schnurrbart und einen Bauch, der seine Tweedjacken kräftig spannt. Doch wenn er lächelt, sieht er haargenau wie Daisy aus.

»Tochter!«, rief er und breitete die Arme aus. »Freundin meiner Tochter! Kenne ich dich?«

Daisys Vater hat kein sonderlich gutes Gedächtnis.

»Natürlich kennst du Hazel, Daddy«, sagte Daisy seufzend. »Sie war über Weihnachten bei uns.«

»Hazel! Willkommen, willkommen. Wie geht es dir? Wer bist du? Wie Daisys übliche Freunde siehst du nicht aus. Bist du Engländerin?«

»Sie kommt aus Hongkong, Daddy«, sagte Daisy. »Sie kann nichts dafür.«

Fest umklammerte ich die Griffe meines Reisekoffers und bemühte mich, mein Lächeln aufrechtzuerhalten. Ich habe mich schon so an Deepdean gewöhnt – und jeder dort hat sich an mich gewöhnt –, dass ich manchmal ganz vergesse, dass ich anders bin. Doch sobald ich das Internat verlasse, werde ich ganz schnell daran erinnert. Wenn die Engländer mich zum ersten Mal sehen, starren sie mich an, manchmal fangen sie sogar an zu tuscheln. Ich weiß, dass es sich nicht ändern lässt, aber ich wünschte trotzdem, ich wäre nicht die Einzige meiner Sorte – und ich wünschte, meine Sorte würde sich nicht wie die falsche Art von Sorte anfühlen.

»Ich bin Lord Hastings«, sagte Lord Hastings, bemüht hilfsbereit, »aber du darfst mich gerne Vater von Daisy nennen, denn genau das bin ich.«

»Das weiß sie doch längst, Daddy!«, schalt Daisy. »Ich habe doch gesagt, sie war bereits bei uns.«

»Tja, jedenfalls freue ich mich außerordentlich, dass ihr beide nun hier seid«, sagte ihr Vater. »Kommt mit in die Bibliothek.« Er hopste auf den Zehen auf und ab, die Wangen über seinem Schnurrbart zu einem breiten Grinsen verzogen.

Daisy betrachtete ihn misstrauisch. »Wenn das einer deiner Streiche ist …«

»Ach, nun komm schon, lästiges Kind!« Er reichte Daisy seinen Arm, den Daisy grinsend annahm, wie eine feine Dame, die zum Dinner geleitet wurde.

Lord Hastings führte sie aus der Empfangshalle in die Bibliothek und ich folgte ihnen. Dort drinnen war es wärmer und die Regale standen voller zerlesener Lederbücher, denen man ihr Alter deutlich ansah. Es ist komisch, sie mit der Bibliothek meines Vaters zu vergleichen, wo alles aus einem Guss ist und zweimal täglich von einem der Diener abgestaubt wird. In Fallingford herrscht ebensolche Unordnung wie in Daisys Kopf.

Lord Hastings wies Daisy einen großen grünen Sessel zu, der von Kissen bevölkert war. Vornehm setzte sie sich – ein lautes, äußerst unziemliches Geräusch ertönte.

Lord Hastings prustete vor Lachen. »Gut, nicht?«, rief er. »Ich habe es in Die Zeitschrift für Knaben entdeckt und sofort bestellt.«

Daisy stöhnte. »Daddy, du bist schrecklich albern.«

»Aber Daisy, meine Liebe. Es ist ein vortrefflicher Scherz. Manchmal frage ich mich, ob du überhaupt ein Kind bist.«

Daisy richtete sich zur vollen Größe auf. »Also wirklich, Daddy! Noch ein Kind hätte in diesem Haus ja wohl kaum Platz.« Doch sie grinste schon wieder und Lord Hastings zwinkerte ihr zu.

»Jetzt komm, Hazel, wir sollten unser Zimmer beziehen. Gehen wir nach oben.«

Und so gingen wir.

3

Die ganze Woche über spielte Lord Hastings uns unterhaltsame Streiche. »Daddy«, beschwerte sich Daisy, als sie am Dienstag einen falschen Tintenklecks von ihrem Teller pickte, »ich schäme mich für dich.« Doch so, wie sie ihn ansah, während er in sein Taschentuch kicherte, war deutlich, dass sie es nicht so meinte. Obwohl sie nach wie vor darauf achtete, die artige Daisy zu spielen, solange ihre Mutter zusah, fiel mir auf, dass sich Daisys geheimes Ich, ihre schlaue Seite, die sich für alles und jeden interessierte, in Gegenwart von Lord Hastings ab und an zeigte – und das, so wusste ich, hatte etwas zu bedeuten. Daisy zeigt ihr wahres Ich nur Menschen, die sie wirklich mag, und davon gibt es weiß Gott nicht viele. Als wir an jenem Abend am Esstisch saßen, war Lady Hastings jedenfalls anwesend und Daisy darauf bedacht, so zu erscheinen, wie es sich ziemte.

»George, ich bitte dich«, zischte Lady Hastings und warf ihrem Gatten einen vorwurfsvollen Blick zu.

Jeder von uns zuckte ein wenig zusammen. In diesen Ferien stimmte etwas zwischen Lord und Lady Hastings ganz und gar nicht. An Weihnachten erschien mir Daisys Mutter wie die Freundlichkeit in Person, wenn auch etwas flatterhaft, doch diesmal war sie ein ganz anderer Mensch: so kühl und ständig gereizt. Sie war noch immer genauso groß, blond, glamourös und hinreißend schön wie an Weihnachten, doch diesmal wirkte ihre Schönheit wie die einer Porzellanvase, die man nicht anrühren durfte. Was Lord Hastings auch tat, schien das Falsche zu sein. Mit beiden unter einem Dach zu wohnen, war ein bisschen so, wie zwischen die Fronten eines Kriegs zu geraten, in dem die Kugeln der verfeindeten Truppen über unseren Köpfen hinwegsausten. Eltern, die sich anschweigen, sind mir bestens vertraut – zu Hause kommt es vor, dass meine Mutter und mein Vater nur durch mich miteinander kommunizieren, als wäre ich ein wandelndes Telefon –, aber dies war eine völlig ungewohnte Situation. Der arme Lord Hastings ließ nur noch die Schultern hängen. Vor Lady Hastings’ Zimmer tauchten in regelmäßigen Abständen geknickte Blumen und zermalmte Pralinen auf, die auf direktem Weg in die Küche verbannt wurden, wo es immer mehr wie in einem Gewächshaus aussah. Die meisten der Pralinen vertilgten Daisy und ich während unserer Süßen Pause (Daisy bestand darauf, auch in den Ferien eine Süße Pause einzulegen – »zu Ehren von Deepdean«, und ich sah keinen Grund, es ihr auszureden).

»Er liebt sie«, sagte Daisy, während sie eine Praline mit Orangencremefüllung verputzte, »und sie liebt ihn eigentlich genauso, nur zeigt sie es manchmal nicht. Sie kriegt sich schon wieder ein.«

Ich war mir da nicht so sicher. Lady Hastings schien sich entweder in ihrem Zimmer einzusperren oder hing am Telefon in der Eingangshalle, wo sie emsig tuschelte und vollkommen verstummte, sobald wir ihr zu nahe kamen.

Nicht nur Daisy und ich waren zu Geiseln des Kleinkriegs zwischen ihren Eltern geworden. Auch Daisys Bruder, Bertie, der im Augenblick sein Abschlussjahr in Eton absolvierte, war für die Ferien nach Hause gekommen.

Bertie sah Daisy schon beinahe erschreckend ähnlich – er war wie eine Daisy, die man wie Kautschuk in die Länge gezogen und geschoren hatte. Nur während Daisy wie eine Rakete hochgehen konnte, köchelte in Bertie dauerhaft die Wut. Ununterbrochen war er schlecht gelaunt, und sobald er angekommen war, fing er an, im Haus herumzupoltern. Drei Dinge hatte er stets bei sich: eine tiefgrüne Hose, eine verstimmte Ukulele, auf der er Tag und Nacht zu den unmöglichsten Zeiten herumzupfte (laut Daisy konnte er genau drei Lieder spielen, und die waren alle unanständig), und einen Freund namens Stephen Bampton.

Ich war äußerst dankbar dafür, dass Stephen kein schlecht gelaunter Mensch war. Er war klein und stämmig, hatte glattes rötliches Haar und schien nicht nur freundlich, sondern auch etwas traurig. Außerdem sah er mich wie einen Menschen an, nicht wie »Eine aus dem Orient«, daher mochte ich ihn auf Anhieb.

Ich war froh, dass er da war, denn in diesen Ferien fühlte Fallingford sich fremd an – oder vielleicht erinnerte es mich auch nur daran, wie fremd ich selbst war. Bertie schrammelte auf seiner Ukulele herum, voll musikalischer Wut, Lord und Lady Hastings stritten und Daisy stürmte durchs Haus, um mir geheime Verstecke, Mehlschwalbennester und ein Schwert zu zeigen, das ihrem Urgroßvater gehört hatte. Mit der Zeit sehnte ich mich nach der schwülen Hitze und den unechten Blumenarrangements meines eigenen Zuhauses in Hongkong.

Die einzige andere Bewohnerin – abgesehen von der Köchin und Haushälterin, Mrs Doherty, und Hetty, dem Hausmädchen – war Miss Alston, Daisys Gouvernante. In den Ferien gab es auf Fallingford immer eine Gouvernante, die Daisy bei den Hausaufgaben half, sie von Ärger fernhielt – und Lord Hastings beim Verfassen von Briefen unterstützte. »Wenn er es alleine versucht, gerät er immer ganz durcheinander, der Arme!«, lieferte mir Daisy als Erklärung.

In diesen Ferien war die leiernde Miss Rose, die wir an Weihnachten hatten ertragen müssen, aus unerfindlichen Gründen verreist. »Und teilt uns das am Telefon mit!«, zeterte Lady Hastings, erzürnt wie eh und je. »Also nun wirklich!« Stattdessen hatten wir nun also Miss Alston.

Miss Alston war, wie Kitty, unsere Zimmergefährtin in Deepdean, gesagt hätte, eine Vogelscheuche. Sie war das Abbild eines Blaustrumpfs: Sie trug hässliche Kleider ohne jede Form oder Taille, ihre Haare standen ihr an der Stirn in einem schweren Büschel ab und ständig trug sie eine riesige Handtasche aus hässlichem braunen Schweinsleder mit sich herum. Auf den ersten Blick wirkte sie sehr verlässlich und sehr langweilig, doch das war ein Irrtum. Je mehr Stunden wir mit ihr verbrachten, desto deutlicher wurde es, dass Miss Alston kein bisschen langweilig war. Sie war sogar interessant.

Miss Rose hatte mit uns unser Deepdean-Hausaufgabenprogramm durchgezogen wie ein General, der keine Zeit zu verlieren hatte. Doch Miss Alston war ganz anders. Wenn wir an einer Lateinübersetzung über Hannibal arbeiteten, warf sie eine Anekdote über seine Elefanten ein. Wenn wir etwas über Wasser lernten, nahm sie uns mit nach draußen, um die Wolken zu betrachten. Wenn wir ein Stück von Shakespeare lasen, fragte sie uns, ob uns die Macbeths leid täten. Ich antwortete mit Ja (auch wenn sie es eigentlich nicht verdient hatten), und Daisy sagte natürlich Nein, kein bisschen. »Warum?«, fragte uns Miss Alston, und beinahe eine halbe Stunde lang vergaßen wir alle beide, dass wir überhaupt Hausaufgaben erledigten, noch dazu in den Ferien und mit einer Gouvernante.

Am seltsamsten war, dass sich Miss Alston in Gegenwart der Erwachsenen vollkommen anders verhielt. Sie war ganz normal. Wenn sie nicht mit uns beschäftigt war, saß sie bei Lord Hastings, entwarf seine Briefe, stellte Listen auf und bestellte für ihn Jo-Jos und falsche Bärte aus den Katalogen seiner Knabenzeitschrift. Er hielt Miss Alston für tödlich öde, genau wie Daisy und ich, bevor sie mit dem Unterricht begonnen hatte. »Sie lacht nicht einmal über meine Witze!«, beklagte er sich.

»Nun, das kann wohl kaum überraschen«, triezte Daisy ihn, während sie ihm den Kopf tätschelte, als wäre er Toastie. »Mami, wo hast du Miss Alston denn aufgetrieben?«

»Gute Güte, wie sollte ich mir so etwas merken?«, meinte Lady Hastings, die damit beschäftigt war, Hundehaare von ihrem Cape zu bürsten. »Über die Agentur vermutlich. Wir haben einen Brief bekommen … Himmel, Daisy, warum musst du dich immer über deine Gouvernanten beschweren? Du weißt ganz genau, dass ich nicht auf dich achtgeben kann.«

»Offensichtlich«, erwiderte Daisy eisig. Mir war klar, was sich hinter dieser Frage verbarg. Daisy wollte Miss Alston begreifen, verstehen, was sie so außergewöhnlich machte – doch es gab darauf keine Antwort. Miss Alston war weiterhin insgeheim interessant und öffentlich spröde, sodass Daisys und meine Neugier immer weiter wuchs.

4

Wenn Lady Hastings nicht geheimniskrämerisch am Telefon hing, verbrachte sie ihre Zeit damit, Daisys Geburtstagsparty zu planen – obwohl ziemlich deutlich war, dass die Feier eigentlich nicht Daisys, sondern Lady Hastings’ Party sein würde.

»Ein Kinder-Teekränzchen!«, beschwerte Daisy sich bitter. »Für wie alt hält sie mich?!«

Immerhin hatte Daisy die Erlaubnis bekommen, Gäste einzuladen. Kitty und Küken, mit denen wir uns auf der Deepdean einen Schlafraum teilten, kamen übers Wochenende, worauf ich mich schon freute. Die Zeit in Fallingford schaffte es, dass ich schon fast sehnsüchtig an die kratzigen Decken und den Geruch von frisch gewaschener Wäsche und gekochtem Essen der Deepdean dachte.

Freitagmorgen saßen wir im Esszimmer. Ich hatte mich zur Hälfte durch ein Stück Toast gefuttert (Pflaumenmus aus dem hauseigenen Garten und Butter von Fallingfords höchsteigener Kuhherde), als wir das Rumoren und Knirschen eines Wagens in der gekiesten Einfahrt hörten.

Daisy stand auf und ließ ihren halb gegessenen Räucherhering auf den Teller fallen. »Kitty!«, rief sie. »Küken!« Sie schob ihren Stuhl zurück und schoss in die Empfangshalle hinaus. Noch immer kauend folgte ich Daisy, ging zur Esszimmertür während ich Mus von meinen klebrigen Fingern schleckte, bog links ab – und prallte geradewegs gegen sie.

Mit einem überraschten Schrei hielt ich mich an ihrer Strickjacke fest, um nicht zu fallen. »Daisy!«, keuchte ich. »Was um alles –«

Weiter kam ich nicht. Daisy war zu Eis erstarrt, genau wie Millie, wenn sie ein Kaninchen erspäht hat. »Hallo«, sagte sie. »Wer sind Sie?«

Ich reckte den Hals, um zu sehen, mit wem sie redete. Im steinernen Torbogen des Eingangs stand ein Mann. Für einen Erwachsenen war er ziemlich jung und er hatte breite Schultern und eine schmale Taille, genau wie die Männer in den Werbeanzeigen. Ganz wie es Mode war, kam er mit lässigem Schritt herein, und mir fiel auf, dass er ein attraktives Gesicht hatte, dunkle, sehr glatte Haare und ein breites Zahnpastalächeln. Er wirkte ganz und gar nicht wie die Sorte Mann, die in die Empfangshalle von Haus Fallingford gehörte.

Er ließ seine Zähne blitzen und grinste Daisy an. »Du musst Daisy sein«, sagte er. »Das kleine Geburtstagskind.«

»Ganz recht«, sagte Daisy und trat vor, um ihm mit ihrem hübschesten Lächeln die Hand zu schütteln – obwohl ich ihr anmerkte, dass sie innerlich vor Wut kochte, weil man sie kleines Kind genannt hatte. Andererseits brannte sie vor Neugier darauf, wer dieser Fremde war und woher er sie kannte, wo sie ihm noch nie zuvor begegnet war. Denn Daisy hasst es, gegenüber irgendjemandem im Nachteil zu sein.

Dann flog die Tür zum Esszimmer erneut auf und Daisys Mutter erschien hinter uns.

»Mami«, sagte Daisy leichthin, »wer ist das?«

»Um Himmels willen!«, rief Lady Hastings. Ihre Stimme war äußerst schrill geworden und ihre Wangen hatten eine hochrote Farbe angenommen. »Welch freudige Überraschung! Ich habe dich erst viel später erwartet, Denis. Daisy, Liebes, das hier ist mein guter Freund Denis Curtis. Er ist extra gekommen, um mit dir zu feiern. Sei nett zu ihm.«

»Das bin ich doch immer«, meinte Daisy und strahlte Mr Curtis an. Mir war klar, dass sie innerlich brodelte.

»Deine Mami und ich sind sehr gut befreundet«, sagte Mr Curtis, der den Eindruck zu haben schien, wir seien sieben Jahre alt.

»Denis ist wahnsinnig klug«, schwärmte Lady Hastings und schlug Mr Curtis mit den Fingern gegen den Arm. »Er handelt mit Antiquitäten, weißt du. Mit schönen Dingen kennt er sich bestens aus. Er wird sich am Wochenende hier in Fallingford einiges ansehen. Aber … Daisy, ich will, dass das alles eine Überraschung für deinen Vater wird. Du darfst ihm kein Wörtchen verraten!«

Daisy konnte es sich nicht verkneifen, die Augen zu verengen. »Sicher?«, fragte sie.

»Ja!« Lady Hastings’ Stimme war so schrill wie noch nie. »Du weißt, wie sentimental er werden kann. Aber denk nur, wie aufregend es wäre, wenn einige dieser grässlichen alten Gemälde tatsächlich etwas wert sein sollten! Ich kann sie loswerden und schöne neue kaufen!«

Das beunruhigte mich. Doch was mir noch mehr Kopfzerbrechen bereitete, war die Art, wie Mr Curtis Daisys Mutter anlächelte, und die Weise, wie er seine Hand viel länger auf ihrem Arm ließ, als nötig gewesen wäre. Es war die Sorte von hässlichem Erwachsenenkram, die ich nicht verstehe … oder doch verstehe, aber wünschte, ich täte es nicht.

5

In diesem Moment knirschte es erneut in der Einfahrt – zunächst unter bremsenden Reifen, dann unter Füßen –, doch als sich die Tür öffnete, kamen noch immer weder Kitty noch Küken. Stattdessen erschien eine sehr große und breite alte Dame. Ihre Haare waren zu einem großen Berg um ihr Gesicht herum aufgetürmt und um den Hals trug sie einen mottenzerfressenen Pelz und mehrere Schals. Und keins ihrer Kleidungsstücke passte zum anderen.

»MARGARET! DAISY!«, kreischte sie, während sie mit Händen und Schals in der Luft wedelte. »ICH BIN DA!«

Lady Hastings drehte sich um und blickte sie mit verkniffenen Lippen an. »Hallo, Tante Saskia«, sagte sie. »Ach, komm ruhig herein, ohne zu fragen! Denis, das ist Saskia Wells, Georges Tante.«

Tante Saskia kam in die Halle gestürmt, warf bunte Handschuhe und Büschel von Fell von sich und drückte Daisy an ihren Busen. Mich schien sie gar nicht bemerkt zu haben.

»DAISY!«, schrie sie noch einmal. »Wo steckt dein Bruder? Wo ist dein lieber Herr Papa? Und dann ist es natürlich dein Geburtstag! Zwölf Jahre! Was für ein herrliches Alter! Ich habe ein Geschenk für dich … irgendwo … Es sei denn – oje! Ich glaube, ich habe es im Bridesnades vergessen. Es war ein Schal – glaube ich zumindest … Ach, nein warte – hier ist er!«

Sie zerrte die Hand aus der Tasche ihrer Strickjacke und präsentierte ein äußerst kleines und verknittertes Stück Stoff.

»Ist er nicht wunderbar?«, rief Tante Saskia. »Seide. Glaube ich wenigstens. Es sei denn, es ist keine.«

»Danke, Tante Saskia«, sagte Daisy. »Mein Geburtstag ist morgen. Ich werde vierzehn.«

»Aber natürlich!« Tante Saskia blinzelte. »Natürlich. Habe ich das nicht gesagt? Und – Himmel, wer ist das? Daisy – Daisy, Liebes!« Sie zog Daisy zu sich und flüsterte wie ein Nebelhorn: »In eurer Eingangshalle scheint EINE ASIATIN zu stehen.«

So, wie sie es sagte, hätte man meinen können, ich sei ein Bär oder eine Schlange.

»Ich weiß, Tante Saskia«, entgegnete Daisy. »Darf ich vorstellen: meine Freundin, Hazel. Ich habe dir von ihr erzählt. Sie ist unser Gast.«

»Tatsache!«, keuchte Tante Saskia. »Das stelle sich einer vor! Zu meiner Zeit hätte man das nie gestattet!«

»Zweifellos«, sagte Daisy höflich. Während Tante Saskia sich zu Lady Hastings umwandte, beugte Daisy sich dicht zu mir und wisperte: »Zu ihrer Zeit hat man Dienstboten erschossen und Brot aus Tapetenkleister gegessen. Die Vergangenheit ist grässlich, nur wollen alte Leute das nicht einsehen.«

Ein wenig tröstete mich das – doch nur ein wenig.

Dann kam Miss Alston aus dem Musikzimmer, wo sie unsere nächste Unterrichtsstunde vorbereitet hatte. Am Samstag würden wir zu Ehren von Daisys Geburtstag frei haben, doch bis dahin mussten wir arbeiten. Eine der wenigen Gemeinsamkeiten zwischen Fallingford und Deepdean ist der Umstand, dass die Erwachsenen davon überzeugt sind, es sei gefährlich, Kindern freie Zeit zu lassen. Ich glaube, sie machen sich Sorgen, wir könnten auf falsche Gedanken kommen.

Miss Alston sah Mr Curtis in der Halle stehen, den Koffer zu seinen Füßen. Einen Augenblick lang glotzte sie ihn an, wie zur Salzsäule erstarrt. Ich betrachtete ihr Gesicht und bemerkte darin einen absolut merkwürdigen Ausdruck – eine Art wilde Entschlossenheit, als stünde ihr eine Herausforderung bevor, die sie gar nicht erwarten konnte. Dann war ihre Miene wieder nichtssagend wie sonst auch. Ihre Finger verstärkten den Griff um die Träger ihrer übergroßen braunen Tasche, bevor sie sich schwungvoll umdrehte und zurück ins Musikzimmer marschierte. Die Bewegung musste Mr Curtis’ Aufmerksamkeit erregt haben, denn er schaute ihr verdattert hinterher.

Komisch, dachte ich so für mich. So wie Miss Alston reagiert hatte, hätte ich angenommen, dass sie Mr Curtis kannte – doch Mr Curtis schien ihr umgekehrt noch nie begegnet zu sein. Natürlich hatte er nur ihren Hinterkopf und ihre Schultern gesehen, doch das sollte für gewöhnlich ausreichen. Und überhaupt – woher sollte eine unförmige, ernste Dame wie Miss Alston einen so modischen, lässigen Mann wie Mr Curtis kennen? Dieser Vorfall machte Miss Alston seltsamer und interessanter denn je – und auch Mr Curtis wirkte dadurch geheimnisvoller. Als ich zu Daisy schielte, wurde mir klar, dass ihr die Szene ebenso wenig entgangen war. Sie musterte Mr Curtis mit ihrer arglosesten Miene und ich konnte ihre Gedanken förmlich hören: Verdächtig.

Da kam Lord Hastings aus dem Garten und wischte sich Blätter und kalte Luft von seiner schicken Wachsjacke. Verwundert sah er sich um. »Du meine Güte«, sagte er. »Hallo! Gäste! Tante Saskia, welch Freude. Und … Wer könnten Sie wohl sein?« Er betrachtete Mr Curtis unter seinen vorstehenden weißen Brauen, bevor er eine dicke rosa Hand zum Gruß ausstreckte.

»Denis Curtis«, sagte Mr Curtis. »Ein Freund Ihrer Frau. Haben uns vor einigen Monaten auf einer Party in London kennengelernt. Sie hat mich eingeladen.«

Als das Wort Freund über seine Lippen kam, lag in seiner Stimme ein Schmunzeln. Jeder von uns hörte es. Mir wurde das Herz schwer. Lord Hastings räusperte sich, ohne Lady Hastings anzusehen. »Vorzüglich«, sagte er hohl. »Wie vorzüglich. Ich hoffe, Sie genießen Ihren Aufenthalt bei uns.«

»Oh, da habe ich keine Zweifel.« Die Stimme von Mr Curtis strotzte vor Gelächter. »Solch ein wunderschönes altes Haus. Einzigartig. Ich kann es nicht erwarten, eine Führung zu bekommen.« Dabei strahlte er Lady Hastings an.

»Selbstverständlich«, meinte Lord Hastings. »Selbstverständlich. Margaret, du … Ich meine, ich wollte sagen … Ich glaube, ich werde mich für eine Weile in die Bibliothek zurückziehen. Saskia, möchtest du mir Gesellschaft leisten?«

Ich konnte das Elend, das Lord Hastings verströmte, regelrecht spüren, als er Tante Saskia in die Bibliothek geleitete und rief: »Chapman! He, Chapman!«

Ich mochte den selbstgefälligen, unhöflichen Mr Curtis kein Stück, beschloss ich, und so wie Daisy neben mir vor Zorn kochte, war deutlich, dass es ihr genauso ging. Sein Tonfall, in dem andauernd nur Spott mitzuschwingen schien, als würde er einen Witz erzählen, den nur Eingeweihte verstanden, und die Art, wie sich die Wangen von Daisys Mutter röteten … Etwas ging hier vor.

Als sich die Haustür unter lautem Knarzen erneut öffnete, drehten sich sämtliche Anwesende um.

»Hallo!«, sagte Kitty. »Wir haben geklopft, aber es ist niemand gekommen. Küken kann ihren Koffer nicht heben, also steht er noch immer draußen. Sind wir etwa zu spät?«

6

Eine Zeitlang dachte ich, die Hausgesellschaft wäre komplett – doch dann, kurz nachdem wir das Mittagsessen beendet hatten (kaltes Hühnchen mit Kartoffeln, gefolgt von einem herrlich saftigen Rhabarbernachtisch), traf der letzte Gast ein. Mit Glanz und Gloria kam er in einem blitzend silbernen Wagen mit einer Schnauze wie von einer Weltraumrakete bis vor die Eingangstür gedüst, ließ den Motor laufen, sprang aus dem Sitz und stürmte winkend und rufend zum Haus. Es war Lady Hastings’ Bruder, Daisys Onkel Felix, der ebenso jung und glamourös aussah wie seine Schwester.

An der Deepdean machen dermaßen viele Gerüchte über ihn die Runde – dass er ein Geheimagent sei, dass er im Alleingang ganz Großbritannien gerettet habe, zweimal, und dafür ein Dankesschreiben vom König persönlich erhalten habe –, dass mir diese erste Begegnung mit ihm vorkam wie das Treffen mit einer Figur aus einem Buch. Dass er gefährlich große Ähnlichkeit mit einem der besser aussehenden Helden eines Spionageromans hatte, war auch keine große Hilfe. Sein blondes Haar war mit Pomade nach hinten gekämmt, sein Anzug war perfekt gebügelt, er hatte ein hinreißend farbiges Seidentuch im Knopfloch und ein kleines funkelndes Monokel im linken Auge klemmen.

Er überließ das Automobil O’Brian, der es zum alten Stall fuhr, und flitzte zu uns vieren die Stufen hinauf (Kitty glotzte ihn an, wie ich es gerne getan hätte, und Küken platzte vor Aufregung ein »Ooh!« heraus), bückte sich und gab Daisy einen Handkuss. »Hallo, Daisy«, sagte er und zwinkerte ihr zu.

»Hallo, Onkel Felix«, sagte Daisy, knickste und zwinkerte zurück.

Onkel Felix schien grundsätzlich zu wissen, was die Situation erfoderte. Er küsste auch meine Hand, genau wie die von Kitty und Küken – Kitty geriet ganz schön ins Schwanken (um ein Haar wäre es mir nicht anders ergangen). Dann eilte er durch Fallingford, um alle anderen zu begrüßen. Er gab Toastie und Millie einen behutsamen Klaps auf den Po, boxte Bertie liebevoll gegen die Schulter, schüttelte Stephen die Hand, küsste Lady Hastings behutsam auf die Wange, klopfte Lord Hastings auf den Rücken und verneigte sich vor Tante Saskia. Mr Curtis erhielt lediglich einen äußerst steifen und kühlen Händedruck – begleitet von einem durchdringenden, abschätzenden Blick. Sie nebeneinander zu sehen, machte mir umso deutlicher, wie fehl am Platz Mr Curtis hier war. Einer war gutaussehend wie der andere, doch Mr Curtis war ungeheuer dreist, unhöflich und innerlich verdorben, während Onkel Felix auf eine Art zu strahlen schien, die einen dazu brachte, ihn ohne Unterbrechung anstaunen zu wollen.

Mr Curtis murmelte etwas von wegen, er wolle sich oben die Gemälde anschauen, und schlenderte davon, während Daisy sich auf die Zehenspitzen stellte und Onkel Felix verärgert etwas ins Ohr flüsterte. Ohne Zweifel berichtete sie ihm über die Ankunft von Mr Curtis. Er hob eine Augenbraue – selbst seine Brauen waren elegant – und erwiderte etwas mit gedämpfter Stimme.

»Er meint, ich soll mir keine Sorgen machen«, wisperte Daisy, als sie sich hinter mich stellte. Dabei war die berühmte Falte über ihrer Nase aufgetaucht, die immer erscheint, wenn sie sich Sorgen macht. »Er sagt, es sei nichts weiter. Onkel Felix täuscht sich so gut wie nie, aber trotzdem … Du weißt, was ich meine.«

Ich nickte. Wie nichts war es mir nicht vorgekommen.

»Immerhin ist er jetzt hier«, sprach Daisy weiter, als sie ihrem Onkel nachblickte, der die Treppe zu seinem Zimmer hinaufging. »Er wird dafür sorgen, dass alles in Ordnung kommt … Zumindest … Ach, ich finde das blöd! Warum hat er mir nicht einfach geglaubt? Das sieht ihm gar nicht ähnlich!« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und zog die Nase umso krauser. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Komischerweise war die einzige Person, bei der Onkel Felix seine guten Manieren zu vergessen schien, Miss Alston. Sie trafen im Gang aufeinander, als Miss Alston uns zum Nachmittagsunterricht abholen kam: Sobald Miss Alston ihn erblickte, wurde sie ganz verlegen und steif. Ihre Unbeholfenheit schien ihn anzustecken, und so schüttelten sie wie zwei Automaten die Hände, Onkel Felix spähte durch sein Monokel und Miss Alston reckte das Kinn vor.

»Daisys Onkel, wie ich annehme«, sagte Miss Alston kühl. »Es ist mir ein Vergnügen. Wenn Sie mich nun entschuldigen würden – kommt, Mädchen …«

Sie schritt Richtung Musikzimmer davon und wir hatten keine andere Wahl, als ihr zu folgen. Als ich mich noch einmal umblickte, sah ich, wie Onkel Felix mit erhobenen Augenbrauen ins Leere starrte. Er schien reichlich amüsiert, auch wenn ich keinen Anlass dazu sah. War Miss Alston tatsächlich immun gegen seinen Charme? Diese Frau wirkte immer seltsamer. Und warum hatte er sie nicht ebenso höflich begrüßt wie den Rest von uns? Ich hatte den Eindruck, die beiden waren sich nicht recht grün – nur warum? Ein weiteres Rätsel an einem Wochenende, das mehr als rätselhaft werden sollte.

7

An diesem Abend zogen wir, Daisy, Kitty, Küken und ich, uns fürs Abendessen im Kinderzimmer im Obergeschoss um. Das Kinderzimmer ist Daisys Reich – und hier waren wir alle während unseres Besuchs einquartiert. Es war wirklich merkwürdig, unsere besten, feinsten Kleider in solch einem schäbigen alten Raum zu tragen: Die gemusterte Tapete löste sich in Streifen von der Wand, die Flickenteppiche waren ausgefranst und die Bettgestelle voller Dellen, als hätte man sie mit einem Hammer bearbeitet. Unsere Gesichter und Arme wurden vom Licht mehrerer Kerzenhalter erhellt, das unsere Kleider weich und farblos erscheinen ließ. Daisys Abendgarderobe bestand aus rosa schillernder Seide, die von uns anderen heiß begehrt wurde, vor allem von mir – auch wenn ich weiß, dass ich in Rosa so krank und blass wie ein Koboldkind aussehe.

»Deine Tante ist sehr seltsam, aber deinen Onkel mag ich«, sagte Kitty, während sie ihr dickes braunes Haar bürstete. »Er sieht furchtbar gut aus.«

Ich erhaschte Daisys Blick und wir lächelten uns an. Kitty hält ausnahmslos jeden für furchtbar gutaussehend.

»Ist er wirklich ein Spion?«, wollte Küken wissen. »Das behauptet zwar jeder, aber …«

Daisy setzte ein äußerst geheimnisvolles Gesicht auf. »Das kann ich dir nicht verraten!«, sagte sie. »Angenommen, er wäre einer, dann würde ich ja Staatsgeheimnisse ausplaudern! Man könnte mich dafür erschießen.«

»Oh!« Küken legte die Hände vor den Mund. »Oh, ich will nicht, dass man dich erschießt. Es tut mir leid.«

»Keine Sorge«, meinte Daisy großmütig. »Ich werde so tun, als wäre es nie passiert.«

Ich sah, dass Kitty mit den Augen rollte. »Ich kann mich nicht entscheiden, wer mir lieber wäre«, sagte sie. »Dein Onkel oder der Freund deiner Mutter. Sie sind beide himmlisch.«

»Mr Curtis ist nicht himmlisch«, sagte Daisy schroff.

»Nein, wirklich nicht«, stimmte Küken zu, während sie sich abmühte, die Schleife an ihrer Taille zu binden. »Er ist nicht nett. Bei ihm fühle ich mich … so unbehaglich, als hätte ich eine hässliche Spinne vor mir. Vorhin hat er mich angerempelt und dann auch noch angeschnauzt, ich solle gefälligst aufpassen, wo ich hingehe.«

Ich war schockiert. Küken ist so klein und süß, und ihre großen braunen Augen sind immer so voller Sorge, dass es fast weh tut, sich vorzustellen, dass jemand fies zu ihr ist.

»Ach, komm schon her, Küks, und lass mich das machen.« Kitty zerrte Küken näher zu einer der Kerzen und versuchte, die schlaffe Schleife zu richten, die Küken gebunden hatte. »Du hast ihn sicher nur falsch verstanden.«

»Ganz sicher nicht«, raunte Daisy mir zu, als wir in unseren guten Lackschuhen die Treppe hinunterpolterten. »Vorhin bin ich die Dienstbotentreppe nach unten gelaufen und im ersten Stock auf Mr Curtis gestoßen. Offenbar dachte er, er sei allein im Flur. Er klebte förmlich an der alten blau-weißen Vase, die auf der Kommode neben Tante Saskias Zimmer steht. Ich konnte praktisch hören, wie er im Kopf durchrechnete, wie viel sie wert ist, und dann – er hat nicht gesehen, dass ich hinter ihm war – hat er etwas vor sich hingemurmelt. Ich glaube, es war Ming