Tödliches Spiel in Hongkong - Robin Stevens - E-Book

Tödliches Spiel in Hongkong E-Book

Robin Stevens

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Beschreibung

Als Hazels geliebter Großvater stirbt und sie nach Hause reisen muss, freut sich Daisy, ihre Freundin in das fremde Hongkong begleiten zu dürfen. Doch als sie bei Hazels Familie eintreffen, entdecken sie zu ihrer Überraschung ein neues Familienmitglied: Baby Teddy. Daisy und Hazel finden, dass Baby Teddy schon genug Aufmerksamkeit bekommt, doch da stecken sie auf einmal mitten in einem neuen Abenteuer. Bevor sich Hazel an ihren neuen Bruder gewöhnen kann, wird Teddy entführt – und Hazel gerät sogar unter Mordverdacht! Die Mädchen müssen so gut wie niemals zuvor zusammenarbeiten und sich geheimnisvollen Verdächtigen und fadenscheinigen Detektiven stellen, um den Fall aufzuklären. Und dabei haben sie einen mächtigen Verbündeten … Der sechste Fall der Detektiv-Reihe rund um Daisy Wells und Hazel Wong im exotisch-geheimnisvollen Hongkong.

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Seitenzahl: 362

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Titel der Originalausgabe: A Spoonful of Murder

Erschienen bei Random House Children’s Publisher UK,a division of The Random House Group Limited.

Copyright Text © 2018 Robin Stevens

Published by Arrangement with Robin Stevens

Copyright Gestaltung © 2018 Nina Tara Design

Diese Ausgabe wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

2. Auflage 2020

Deutsche Erstausgabe

Copyright © 2019 von dem Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG, München

Ein Unternehmen der Média-Participations

Umschlagadaption: Leonore Höfer, Knesebeck Verlag

Übersetzung: Nadine Mannchen, Helmbrechts

Lektorat: Theresa Scholz, Knesebeck Verlag

Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig

eISBN 978-3-95728-601-7

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.

www.knesebeck-verlag.de

Für Nat und Gemma,die Co-Mütter meiner Bücher.

Inhalt

TEIL EINS: DEM ABENTEUER ENTGEGEN

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

TEIL ZWEI: DER TOD LÄSST BITTEN

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

TEIL DREI: EIN HAUS VOLLER GEHEIMNISSE

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

TEIL VIER: GAUNEREI ZUR GEISTERSTUNDE

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

TEIL FÜNF: DER TOD KEHRT HEIM

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

TEIL SECHS: EIN KÖNIGLICHES LÖSEGELD

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Hazels Hongkong-Glossar

Anmerkungen der Autorin und Danksagung

Tödliches Spiel in Hongkong

Ein Bericht über

den »Fall des Jadenadel-Verbrechens«im Rahmen der Ermittlungender Detektei Wells & Wong.

Aufgezeichnet von Hazel Wong(Schriftführerin und Vizevorsitzendeder Detektei), 14 Jahre alt.

Begonnen am Montag, 24. Februar 1936.

Anmerkung zum Anwesen:

Das Haupthaus besteht aus drei Stockwerken: dem Erdgeschoss, das hier gezeigt wird; einem ersten Stock, in dem sich die Schlaf zimmer der älteren Familienmitglieder, der Speisesaal der Familie und die Quartiere der männlichen Dienstboten befi nden; und einem zweiten Stock, der die jüngeren Familienmitglieder, die Quartiere der weiblichen Dienstboten und die Gästezimmer beherbergt.

Im Erdgeschoss verbindet ein Gang das Haupthaus mit der Küche. Im ersten und zweiten Stock verbindet eine kleine Brücke das Haupthaus mit weiteren Dienstbotenquartieren (die sich über der Küche befi nden).

AUFTRETENDE FIGUREN

DIE WONGS

Vincent Wong (Wong Lik Han )

June Wong (Wong Ka Yan ,auch Ah Mah genannt) – Mr Wongs erste FrauJie Jie (Wong Min Su ) – Mr Wongs zweite Frau

Hazel Wong (Wong Fung Ying ,auch Ying Ying genannt) – Vizevorsitzende undSchriftführerin der Detektei Wells & Wong

Rose Wong (Wong Ngai Ling , auch Ling Linggenannt) – Hazel Wongs Halbschwester

May Wong (Wong Mei Li , auch Äffchen genannt) –

Hazel Wongs Halbschwester

Edward Wong (auch Teddy genannt) –

Hazel Wongs Halbbruder

HAUPTHAUS

Su Li – Teddys Magd

Ping – Hazels Magd

Wo On – Hazels Chauffeur

Assai – Ah Mahs Magd

Ah Kwan Mays Magd

Pik An – Roses Magd

Ng – Koch

Ah Lan – Gärtnerjunge

Thomas Baboo – Wärter

Maxwell – Mr Wongs Sekretär

Daisy Wells – Vorsitzende der Detektei Wells & Wong,

Gast der Wongs

HONGKONG

Mr Peter Svensson (bekannt als Sven) – Geschäftsmann

Mrs Kendra Svensson – seine Gattin

Roald Svensson – sein Sohn

Mrs Bessie Fu – Geschäftsfrau,

Eigentümerin des Luk Man Teehauses

Mr Kai Wa Fan – Geschäftsmann

Wu Shing – Liftboy

Dr. Crispin Aurelius – Arzt

Sai Yat – Boss einer Triadenbande

Detektiv Leung – privater Ermittler

• TEIL EINS •

DEM ABENTEUER ENTGEGEN

1

Irgendwie, obwohl Daisy und ich die Leiche mit unseren eigenen Augen gesehen hatten, konnte ich erst fassen, dass dieses Verbrechen wirklich geschehen war, als wir am Nachmittag von der Arztpraxis zu Hause ankamen.

Davor war mir alles wie ein böser Traum erschienen, und zwar einer von der schlimmsten Sorte – wie der, den ich manchmal habe, in dem wir in einem Fall ermitteln und ich schaudernd begreife – als würden mir Spinnenfinger über den Rücken laufen –, dass der Mörder es auf Daisy abgesehen hat und ich ihn nicht aufhalten kann.

Doch anders als in diesen Träumen kann ich diesmal nicht aufwachen, wie sehr ich mich auch zwicke. Noch dazu weiß ich, dass es mir möglich hätte sein sollen, dieses Unglück zu verhindern.

Daisy meint, das sei Blödsinn. Sie sagt (mit gerümpfter Nase), dass ich rein gar nichts hätte verhindern können – dass ich viel wahrscheinlicher ebenfalls ermordet worden wäre, wäre ich dabei gewesen. Wie vieles von dem, was Daisy sagt, ist das zwar logisch, aber leider kein großer Trost. Ich werde das Gefühl nicht los, versagt zu haben.

Dazu muss man wissen: Ich bin wieder in Hongkong. Hier ist es wunderschön und hell, die Luft ist warm und schwer – und vor allem bin ich hier zu Hause. Keiner schaut mich schief an. Hier bin ich keine Fremde und das ist ein herrliches Gefühl, als würde man die Hand öffnen und merken, dass man die Muskeln darin schon viel zu lange angespannt hatte.

Dennoch hat sich hier so einiges auf unschöne Weise verändert. Seit fast zwei Jahren bin ich nun in England und habe dort nicht nur gelernt, was es bedeutet, ein englisches Schulmädchen und eine beste Freundin zu sein, sondern auch eine Detektivin – worauf die Freundschaft zwischen mir und Daisy quasi beruht. Insgeheim sind wir Detektivinnen, die bereits fünf Mordfälle aufgeklärt haben, und obwohl wir den Opfern streng genommen nicht mehr helfen konnten, haben wir zumindest die Wahrheit über ihren Tod herausgefunden – was die Polizei nicht geschafft hat.

Doch in Hongkong wohne ich bei meiner Familie, die mich noch als die kleinere, jüngere Hazel kennt, die damals das Schiff Richtung Deepdean bestiegen hat. Und es stellt sich als ungeheuer schwierig heraus, tapfer, erwachsen und vernünftig zu sein, wenn man von mir erwartet, nichts anderes als eine pflichtbewusste gute Tochter und ältere Schwester zu sein. Vor allem das Zweite fällt mir schwer, denn … Aber ich greife vor. Daisy meint, man muss die Dinge möglichst der Reihe nach erzählen, und damit hat sie recht. Wenigstens wie man einen Fall in einem neuen Fallbuch aufzeichnet (das schöne, das Daisy mir zu Weihnachten geschenkt hat), habe ich nicht vergessen.

Bevor ich nun zu dem Augenblick zurückspringe, an dem alles begann – diese Reise, dieses Verbrechen –, will ich nur noch eins sagen: Etwas Grauenhaftes ist geschehen, etwas, was die Detektei Wells & Wong untersuchen muss. Und das werden wir – doch diesmal stecke ich selbst mittendrin in dem Fall. Ich bin nicht nur Ermittlerin, sondern auch Zeugin. Und ich fürchte, dass ich sogar als Verdächtige gelte.

2

Alles begann im Januar mit einem Anruf. Das Frühlingstrimester am Deepdean-Internat war keine Woche alt. Auf der Erde lag Schnee und meine Gedanken kreisten noch immer um das weihnachtliche Cambridge und das schockierende Ereignis vom ersten Januar, das auf der Hochzeit von Daisys Onkel Felix passiert ist, der an diesem Tag in London geheiratet hatte. Als man mich eines Morgens also ins Büro der Hausmutter rief, damit ich den Anruf meines Vaters entgegennahm, schien mir Hongkong sehr weit entfernt.

Es knisterte und hallte in der Leitung. »Hallo?«, sagte ich und hörte, wie meine Stimme weit in die Ferne schallte, einmal um die halbe Welt. Erst entstand eine Pause, dann begann mein Vater zu sprechen.

»Wong Fung Ying«, sagte er. Trotz der schlechten Verbindung war deutlich der hohle Ton in seiner Stimme zu hören. »Am besten, du setzt dich.«

Wong Fung Ying ist mein chinesischer Name. Alle in England, und für gewöhnlich auch mein Vater, nennen mich Hazel Wong. Meinen vollen Namen benutzt er nur, wenn es um etwas besonders Ernstes geht, weshalb sich mein Magen in diesem Moment wie auf Kommando verkrampfte.

»Es geht um deinen Großvater Ah Yeh. Hazel, du weißt, dass es ihm nicht gut ging. Es tut mir leid, aber er ist von uns gegangen. Gestern. Wir hätten nicht gedacht … Wir haben nicht so bald damit gerechnet, aber so ist es nun einmal.«

»Vater!« Es verschlug mir die Worte. »Bist du sicher … wirklich?« Ich umklammerte das Telefon, während das Mundstück an meiner Lippe zitterte. Absoluter Unglaube überfiel mich. Ich konnte die Pfeife meines Großvaters riechen, den Tabak in seinem Atem, seine Hand spüren, die schwer auf meinem Kopf liegt.

»Ich würde dich niemals anlügen, Hazel. Jetzt höre gut zu und beruhige dich. Du musst nach Hause kommen. Die Bestattung wirst du natürlich verpassen – sie findet bereits nächste Woche statt –, doch wenn du in den nächsten Tagen aufbrichst, bist du zumindest für einen Teil der Trauerzeit bei uns. Hast du mich verstanden? Das darfst du auf keinen Fall versäumen.«

»Nein, selbstverständlich nicht«, wisperte ich. So viel steckte mir im Hals, so vieles wollte ich sagen, doch aus meinem Mund kam lediglich das. Klar und deutlich, als brauchte ich nur die Hand danach auszustrecken, sah ich mich im Geiste neben Ah Yeh sitzen und dabei zuschauen, wie er eine Orange in ihre Einzelteile zerlegte und mir jedes dritte Stück reichte. Er war zu groß und zu wichtig, um einfach fort zu sein. Ich konnte es nicht glauben. »Was sagt Ah Mah dazu?«, fragte ich.

»Wie bitte? Natürlich unterstützt deine Mutter meine Entscheidung. Du musst nach Hause kommen.« Mein Vater klang verwirrt. Mir war klar, wie merkwürdig meine Frage ihm vorkommen musste – trotzdem hatte ich sie stellen müssen. »Deine Hausmutter wird deine Reise arrangieren. Du wirst im Hafen von Tilbury ein Schiff nehmen und es sollte nicht länger als einen Monat unterwegs sein …«

»Ich will, dass Daisy mitkommt«, platzte ich heraus und staunte selbst über meine Dreistigkeit. Beinahe wurden mir meine eigenen Worte erst bewusst, als ich sie ausgesprochen hatte. Aber es war mir ernst damit. Wenn ich schon nach Hause kam (und meiner Mutter gegenübertreten musste, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf), dann nur mit Daisy an meiner Seite.

»Hazel!« Mein Vater seufzte. »Bei dir dreht sich alles immer nur um Daisy. Eine unpassendere Freundin könnte ich mir für dich gar nicht ausmalen, auch wenn sie eine Dame zu sein scheint. Glaubst du, sie würde in Hongkong zurechtkommen?«

Er war hörbar anderer Meinung, doch ich traute es ihr zu. Daisy passt sich überall an, verschmilzt mit ihrer Umgebung wie ein Chamäleon. Also holte ich tief Luft und nahm all den Mut zusammen, den ich mir im Orientexpress angeeignet hatte, um mich gegen den Willen meines Vaters zu behaupten. »Ohne sie komme ich nicht«, sagte ich fest, auch wenn die Hand am Hörer noch stärker zitterte als zuvor.

Wieder seufzte mein Vater, bevor er einen ungeduldigen Laut ausstieß. »Ich werde mit der Schule reden«, sagte er. »Wenn sie zustimmt und auch Daisys Familie nichts dagegen hat … Nun, ich schätze, dann kannst du sie mitbringen. Aber, Hazel, ich will, dass du das nicht auf die leichte Schulter nimmst, verstehst du? Lass dir von Miss Wells ja keine ihrer Flausen in den Kopf setzen! Dein Ah Yeh war alt. Alt und müde. Seine Zeit war gekommen. Er ist keiner von euren Fällen wie … nun, wie der im vergangenen Sommer oder diese anderen lächerlichen Dinge, in die ihr euch verstricken lassen habt. Hast du mich verstanden?«

»Ja«, presste ich heraus und wischte mir über die Augen. Ich hatte verstanden. Doch das war gar nicht der Grund, weshalb ich Daisy dabei haben wollte. Ich brauchte sie nicht etwa, um irgendwelche Ermittlungen anzustellen. Dieses eine Mal brauchte ich sie einfach nur, weil sie meine beste Freundin war.

»Gut. Dann reich den Hörer an deine Hausmutter weiter. Sie soll mich mit eurer Direktorin verbinden.«

Nachdem ich genau das getan hatte, ging ich auf wackligen Beinen aus dem Büro. Daisy wartete im hallenden, kühlen Flur des Wohnheims, die blauen Augen weit aufgerissen und die Nase vor Neugier gerümpft.

»Was ist los, Hazel?«, fragte sie, doch ich schob mich wortlos an ihr vorbei. Ich eilte über den abgewetzten Läufer der Wohnheimtreppe und durch den schmalen, schlecht beleuchteten Korridor in unseren Zehntklässler-Schlafsaal. Das Fenster stand offen, obwohl das Gras draußen frostbedeckt war. Schlotternd wickelte ich die kratzige graue Wolldecke um meine Schultern und legte mich aufs Bett.

Ich hatte gewusst, dass Ah Yeh krank gewesen war. Doch er hätte nicht einfach so ohne jede Vorwarnung sterben dürfen, während ich nicht einmal da war. Ich hätte bei ihm sein sollen. Und überhaupt … Er hätte erst gar nicht sterben dürfen, weil er schließlich Ah Yeh war! Er gehörte zu unserem Zuhause und zu Hongkong wie die Säulen unserer Eingangshalle, der Teich im Garten und die Stufen vor der Haustür. Er durfte nicht tot sein.

Ich schrieb Daisy eine Nachricht. Manchmal, wenn ich etwas nicht über die Lippen bringe, schreibe ich es auf. Und jetzt war so ein Zeitpunkt. Ich verfasste eine verschlüsselte Botschaft, weil Daisy und ich uns gerade im Codieren üben (und sie kann einfach nicht am Ball bleiben). Dann faltete ich den Zettel und platzierte ihn auf ihrem Bett, bevor ich mich wieder hinlegte.

Kurz darauf kam Daisy herein. Ich erkannte sie, ohne hinsehen zu müssen, weil sie so behutsam auftrat, immer einen Fuß vor den anderen, wie ein Dieb. Als sie den Zettel auffaltete, raschelte es, was von einem genervten Laut gefolgt wurde. Ich hörte, wie sie ihren Schulranzen öffnete und eine Seite aus einem Arbeitsheft riss. Anschließend lauschte ich dem Kratzen ihres Bleistifts, als sie sich daranmachte, die Codes zu entziffern.

Ich zählte die Sekunden, dann die Minuten.

»Hazel«, sagte Daisy schließlich. »Die Nachricht war unnötig. Du hättest es mir einfach sagen können.«

»Konnte ich eben nicht«, nuschelte ich in meine Decke. Meine Augen brannten, was ich auf die raue Wolle schob. »Nicht laut.«

»Ich setze mich zu dir aufs Bett«, kündigte Daisy an. »Wenn du nichts dagegen hast.«

Das war Daisys Art, mir wegen meines Großvaters ihr Mitgefühl auszusprechen. Normalerweise fragt Daisy nämlich niemals um Erlaubnis. Sie lässt sich einfach immer auf meinen Bauch oder meine Beine fallen und kümmert sich nicht einmal darum, ob es wehtun könnte.

»In Ordnung«, sagte ich.

»Also«, fing Daisy nach einer Weile an, »wenn ich recht verstehe, fahren du und ich gemeinsam nach Hongkong?«

Ich sprang auf und schlang die Arme um sie. In diesem Moment fing ich wirklich an zu weinen.

3

Schiffe sind mir noch nie gut bekommen. Auf See fühle ich mich immer so aufgewühlt, innen wie außen – davon ganz abgesehen war ich dieses Mal sowieso näher am Wasser gebaut als sonst. Unsere Reise nach Hongkong ist in meiner Erinnerung fest verbunden mit dem Geschmack von Salz – vom Meer und von den Tränen, die mir über die Wangen rollten.

Daisy hingegen amüsierte sich prächtig und staunte lauthals über den Speisesaal und die Kabinen (so imposant wie die im Orientexpress, jedoch größer). Ich dagegen kann mich nur vage an die Zeit auf dem Schiff erinnern – mit wenigen Ausnahmen. Eine davon ist der Morgen, an dem wir die Neuigkeiten über George V. erfuhren.

»Tot!«, sagte Daisy verdutzt und starrte auf die fünf Tage alte Zeitung vor ihr. Wir saßen nach dem Frühstück in der Sonne Ägyptens auf dem Erste-Klasse-Deck der SS Strathclyde und schauten auf das spiegelglatte Wasser des Suezkanals, durch den wir von einem dampfspuckenden Schlepper gezogen wurden. »Du meine Güte, jetzt brauchen wir einen neuen König! Oh, ich muss mir von irgendwoher eine Trauermanschette besorgen. Du bist gerüstet, Hazel. Du trägst bereits Schwarz.«

»Die arme Königin«, sagte ich. »Die arme Prinzessin und die armen Prinzen!« Ich blickte auf mein schwarzes Kleid. Kurz spürte ich zusätzlich zu meinem eigenen Schmerz auch ihren.

Daisy legte nachdenklich den Kopf schief. »Ich frage mich … Es wird schon ein natürlicher Tod gewesen sein, oder? Ich meine … wir glauben nicht, dass hier jemand nachgeholfen hat, richtig? Immerhin war er der König. Was, wenn er ermordet wurde?«

»Du weißt, dass er krank war, Daisy«, sagte ich. Ich hatte bereits eine ungute Ahnung, wohin diese Unterhaltung führen würde. »Er war ein alter Mann. Und ich glaube auch nicht, dass es jemand auf ihn abgesehen hatte. Sein ältester Sohn will nicht einmal König werden!«

»Hmmm«, machte Daisy. »Vermutlich. Obwohl es mich schon irgendwie nachdenklich stimmt … Hazel, es ist völlig ausgeschlossen … also, ich meine … sind wir absolut sicher, dass dein Großvater …«

»Kein weiteres Wort!«, unterbrach ich sie. Plötzlich war mir vor Schmerz heiß bis in die Fingerspitzen. »Ah Yeh ist keiner unserer Fälle. Er wurde nicht umgebracht. Er ist einfach nur gestorben, Daisy. Manche Menschen sterben tatsächlich noch auf natürliche Weise. Und was willst du überhaupt sagen – dass sein Sohn ihn getötet haben könnte? Mein Vater?«

»Nein!« Ich war erleichtert, dass Daisy dabei die Röte in die Wangen schoss. »Ich wollte damit nur sagen … also … war dein Großvater nicht reich?«

»Kann schon sein«, sagte ich steif. »Aber, Daisy, du kannst nicht einfach so behaupten, dass er ermordet wurde. Und wehe, du erwähnst davon auch nur einen Ton gegenüber meiner Familie, wenn wir da sind, verstanden?! Großvater starb am Alter, genau wie unser armer König. Er war beinahe achtzig!«

»Ist ja gut«, grummelte Daisy. »Aber du kannst mir nicht vorwerfen, dass ich es erwähnt habe!«

»Doch, kann ich.«

Daisy schwieg nachdenklich, bevor sie entschuldigend meine Hand tätschelte. Zwischen uns war alles wieder in Ordnung, doch jedes Mal, wenn ich einen britischen Passagier mit einer Trauermanschette am Ärmel sah, kam es mir so vor, als würde sich das Stechen in meiner Brust verdoppeln.

Das andere, woran ich mich erinnere, ist Daisy in der Bibliothek.

Während das Schiff durch die Straße von Malakka dampfte, das Wasser um uns herum sich grünblau verfärbte und Nacht für Nacht dampfende, phosphoreszierende Schaumränder bildete, benahm Daisy sich auf einmal sehr seltsam.

Immer wieder stahl sie sich zu den merkwürdigsten Gelegenheiten davon, um Stunden später mit Tintenflecken an den Fingern wieder zu erscheinen. Ich nahm an, sie würde sich klammheimlich – ohne mich! – Notizen zu den Passagieren machen, weshalb ich ziemlich beleidigt war, bis wir in Singapur vor Anker lagen und ich in die Bibliothek ging, um Tess von den d’Urbervilles zurückzugeben. Prompt stieß ich dort auf Daisy, die mit einem Stapel Bücher auf dem Schoß und einem Stift in der Hand an einem Tisch saß.

Als sie erschrocken den Kopf hob und mich ansah, nahmen die Wangen unter ihrer Sonnenbräune einen rosaroten Hauch an.

»Was machst du hier?«, fragte ich.

»Recherchieren«, antwortete Daisy nach einer Pause. »Verrate es ja keinem! Es ist nur … na ja … Du hast mir nie viel von Hongkong erzählt. Was sich im Übrigen wirklich nicht gehört, Hazel. Bisher habe ich stets meine eigenen Rückschlüsse gezogen, aber das genügt nicht, wenn ich dort zu Besuch bin. Ich weiß, ich habe die richtige Kleidung eingepackt, dazu habe ich in Zeitschriften nachgeschlagen, allerdings bringt mich das nur ein gewisses Stück weit.«

Ich blinzelte sie an.

»Daisy!«, sagte ich. »Macht dir der Besuch in Hongkong Sorgen?«

»Selbstverständlich nicht!« Daisys Röte nahm zu. »Ich will nur sichergehen, dass ich auf alles vorbereitet bin. Hazel, nun erzähl mir doch einmal von deiner Familie. Du hast zwei kleine Schwestern und die heißen …«

»Rose und May«, antwortete ich. »Sie sind jetzt … acht und fünf, glaube ich.«

»Und dann gibt es da noch deinen Vater, den ich natürlich bereits kenne. Und die zwei, äh, Ehefrauen deines Vaters.«

Jetzt wurde ich ebenfalls rot. Mein Vater hat tatsächlich zwei Frauen: meine Mutter, June, und seine zweite Ehefrau, die wir Jie Jie nennen. Jie Jie ist nicht ihr richtiger Name – es ist nur ein Kosename, der so viel wie Schwester bedeutet –, aber nachdem ich sie schon so viele Jahre so nenne, kann ich mir etwas anderes gar nicht vorstellen. Meinen englischen Freunden gegenüber habe ich Jie Jie höchstens am Rande erwähnt, weshalb es mich überraschte, dass Daisy es sich überhaupt gemerkt hatte. Jemandem aus England, wo jeder Mann eine einzige Ehefrau zu haben hat (und hat er doch mehrere, ist das Bigamie und ein Verbrechen), zu erklären, dass die zwei Ehefrauen meines Vaters sich kennen und sogar im selben Haus leben, ist nahezu unmöglich.

»Das macht dir doch nichts aus, oder?«, fragte ich besorgt.

»Hazel, das macht mir nicht im Geringsten etwas aus«, antwortete sie. Doch als ich sie genauer ansah, meinte ich, den Anflug eines nervösen Zuckens an ihrem Kinn zu erkennen. Sosehr wie noch nie spürte ich in diesem Moment die Kluft zwischen ihrer Vorstellung von Familie und meiner eigenen. Ich war davon ausgegangen, dass Daisy sich an Hongkong gewöhnen würde, wie sie sich an alle neuen Umgebungen gewöhnte, die wir bisher besucht hatten – nur hatte ich vergessen, dass sich all diese Orte in Europa befunden hatten. Diesmal ließen wir die Grenzen von Daisys Welt hinter uns und drangen in meine vor, was Daisy sehr wohl begriffen hatte – im Gegensatz zu mir.

Die folgenden Tage dachte ich immer öfter an meine Familie. In England vermeide ich das möglichst, weil es zu sehr wehtut, doch nun ließ ich es zu. Ich dachte an meinen Vater, wie er mich durch seine Brille betrachtet und mir ein Buch reicht. Ich dachte an Jie Jie, wie sie mich spontan umarmt und auf die Wange küsst. Ich dachte an Su Li, meine Mui tsai (in Hongkong ist das so eine Art junges Dienstmädchen), wie sie mir Kuchen gibt, wenn ich in der Schule eine Prüfung bestanden habe, und mich kitzelt, bis mir vor Lachen die Tränen kommen. Ich dachte an meine süßen, witzigen kleinen Schwestern, Rose und May. Und ich dachte an meine Mutter.

Dieser letzte Gedanke machte mich nervös. Ich hatte meine Mutter seit über zwei Jahren nicht gesehen und anders als von meinem Vater hatte ich fast nie von ihr gehört. Ich hatte nur Päckchen mit Kuchen von unserem Koch Ng bekommen, denen kurz angebundene Nachrichten von ihr beilagen, die sie nicht einmal selbst geschrieben, sondern unserem Chauffeur Wo On diktiert hatte. In Gegenwart meiner Mutter war ich schon immer ziemlich unruhig. Obwohl ich weiß, dass sie mich mag, ist sie so erhaben und so wunderschön, dass ich mir neben ihr klein und langweilig vorkomme. Wir hatten nie viel gemeinsam. Sie heißt es nicht gut, dass ich eine Schule in England besuche, und daraus macht sie kein Geheimnis. Meine Mutter ist nachtragend und bestraft Menschen, über die sie sich ärgert, gern. Und über mich – da war ich sicher – ärgerte sie sich bestimmt immer noch. Deshalb hatte ich meinem Vater diese merkwürdig anmutende Frage gestellt.

Was, wenn meine Mutter nicht wollte, dass ich nach Hause kam?

4

Schließlich fuhr die SS Strathclyde am 15. Februar in Hongkong die Docks von Kowloon an, dreißig Tage nachdem wir England verlassen hatten. Als der weit geschwungene Kai des Victoria-Hafens in Sicht kam, machte mein Herz vor Aufregung einen Sprung. In saftigem Grün reckte sich der Victoria Peak in einen strahlend blauen Himmel hinauf. Hier war Frühling, für Hongkonger Verhältnisse also noch relativ kühl und trotzdem so viel wärmer und heller, als ein Frühling in England je sein könnte.

Während sich das Schiff dem Anleger näherte, stieg mir der Geruch der Stadt in die Nase, der uns entgegenwaberte und uns willkommen hieß.

»Oh!« Daisy rümpfte die Nase. »Ist das normal?«

Ich atmete die grüne Hitze, den Schmutz und den Duft nach gekochten Teigtaschen ein, was für mich Hongkong bedeutete. »Ja«, antwortete ich und ertappte mich bei einem Lächeln. »Es riecht nach Zuhause.«

»Nicht mein Zuhause!«, stellte Daisy fest, schnupperte jedoch tapfer und gab sich große Mühe, dabei auf ihr Taschentuch zu verzichten. »Aber … Nun ja, betrachten wir es als Abenteuer. Ich muss mich eben daran gewöhnen!«

»Macht es dir etwas aus, hier zu sein?« Plötzlich wurde mir klar, dass ich mir wünschte, Daisy würde Hongkong lieben lernen – mir sogar nichts sehnlicher wünschte.

»Hazel Wong, sei kein Kamel«, sagte Daisy. »Nirgends in der Welt wäre ich lieber als hier. Natürlich ist es ganz anders als in England, genau das macht es ja so faszinierend. Ein feiner Detektiv wäre ich, würde ich auf dem Absatz kehrt machen und mich nach Hause trollen, nur weil mir ein Geruch nicht gefällt! Alles wird großartig, Hazel. Das Einzige, was jetzt noch fehlt, ist …«

»Sag es nicht!«, unterbrach ich sie schnell. »Nicht hier. Wir sind wegen meines Großvaters in Hongkong, Daisy, das ist der einzige Grund.«

»Spielverderberin«, murrte sie und streckte mir die Zunge heraus. Ich bemühte mich, ein ernstes Gesicht zu machen.

Um uns herum wurde es geschäftig, als das Schiff anlegte. Seile flogen zwischen uns und dem Land hin und her, Kofferträger holten unser Gepäck und türmten es um uns herum auf. Ich dachte an meine letzte Überfahrt auf diesem Schiff, an den Moment, als wir vor zwei Jahren in England andockten. Seither war ich gewachsen, innerlich wie äußerlich – und doch schien all das schlagartig verschwunden zu sein. Es spielte keine Rolle, wo ich gewesen war oder was ich erlebt hatte. Ich war zu Hause.

Die Passagiere jubelten, als die Landungsbrücke scheppernd nach unten gelassen wurde. Am Ufer herrschte ein Durcheinander aus Rufen und Gedrängel. Männer in zerfetzten Hemden zogen ihre grünen und roten Rikschas, wartende Autos hupten, Kulis schwärmten mit schweren Lasten an ihren Stangen aus und Träger in Uniform warteten mit Sänften. Freudig zeigte ich Daisy alles. Ich kannte mich hier aus und ich kannte diese Menschen.

Die Passagiere der ersten Klasse machten sich an den Ausstieg, während ihr Gepäck bereits nach unten getragen wurde: Europäer in Leinenanzügen und Tropenhelmen, Chinesen in Cheongsams und langen Jacken, Inder in Roben und Saris. Ich hatte mein schwarzes europäisches Trauergewand abgelegt und ein weißes angezogen (in Hongkong ist die Farbe des Todes nämlich Weiß). Auf dem Kopf trug ich einen breiten weißen Hut und mein Haar war im Rücken zu einem Zopf geflochten. Auch Daisy war ganz in Weiß, ihr goldenes Haar leuchtete glänzend unter ihrem Hut hervor und ihre Wangen waren rosarot.

Als wir an der Reihe waren, gingen wir die Landungsbrücke hinunter. Ich schaute mich nach Su Li und dem Wagen um, der uns zur Insel Hong Kong Island bringen sollte. Als ich überlegte, ob auch mein Vater Teil des Begrüßungskomitees sein würde, schlug mein Herz umso schneller. Einen Moment lang vergaß ich sogar meine Trauer um Großvater, so aufgeregt war ich, wieder hier zu sein.

Doch was, wenn uns stattdessen meine Mutter in Empfang nahm? Dieser Gedanke brachte mein Herz aus einem völlig anderen Grund zum Pochen. War ich gewappnet für ihren Ärger?

Dann erkannte ich den langen schwarzen Daimler, meinen Wagen, und daneben Wo On, den Chauffeur. Als er mir zuwinkte, erkannte ich, dass Mutter nicht bei ihm war – Vater jedoch genauso wenig. Neben Wo On stand in der Bedienstetenuniform Hongkongs – schwarze Hose und seitlich geknöpfte lange weiße Jacke – lediglich ein Dienstmädchen, das sich nun tief verneigte. Su Li war es nicht. Es war eine der jüngeren Mui tsai, die kleine rundgesichtige Ping, die ebenso schnell errötete wie ich und nur wenige Jahre älter war. Sie war größer, als ich sie in Erinnerung hatte, aber noch genauso schüchtern und verlegen. Warum sie hier war, war mir ein Rätsel. Wo steckte Su Li? Wenn überhaupt eine Mui tsai hier sein sollte, um mich in Empfang zu nehmen, dann ja wohl sie. Ich war verwirrt und meine gute Laune bröckelte.

»Da«, sagte ich zu Daisy. »Das ist unser Auto. Damit fahren wir auf die Fähre.«

»Oh! Wo sind deine Eltern? Trägt das Mädchen da eine Hose? Ist sie … ein Dienstmädchen? Ist das deine Hetty?«

»Vater ist wahrscheinlich beschäftigt. Er wird zu Hause auf uns warten«, sagte ich zweifelnd. »Und hier tragen alle Hosen! Ja, sie ist ein Dienstmädchen, aber … nicht wie Hetty. Weißt du noch? Ich habe dir doch von Su Li erzählt. Vermutlich wartet auch sie zu Hause auf uns.«

»Das mit den Hosen wusste ich!«, sagte Daisy, während sie an ihrer Hutkrempe herumhantierte. Sie sah aus wie eine Katze, die Angst hat, sich die Pfoten nass zu machen. »Ich habe es in einem der Bücher gelesen.«

Eine Daisy, die angespannt genug war, um zu Lügen zu greifen, war ein Anblick, mit dem ich mein Lebtag nicht gerechnet hätte – und doch hatte ich sie nun vor mir.

Als wir Arm in Arm zu Ping und Wo On liefen, gruben Daisys Finger sich in meine.

»Alles in Ordnung!«, munterte ich sie auf. »Komm schon, Daisy, alles wird gut!«

»Es ist nur so schrecklich ungewohnt«, murmelte Daisy. »Und so heiß!«

»Bist du nervös?«, wisperte ich. »Daisy Wells!«

»Ich bin nicht nervös!«, zischte sie. »Ich brauche lediglich etwas Zeit, mich an mein Umfeld anzupassen. Das ist ja wohl nicht zu viel verlangt.«

Etliche Male hatte ich mir meine Heimkehr vorgestellt – doch irgendwie war die Realität ganz anders.

5

»Miss Hazel!«, empfing Ping mich, sobald wir nahe genug herangekommen waren. Sie redete schnell, auf Kantonesisch, und ich merkte ihr an, wie sehr sie zitterte und sich bemühte, das Richtige zu sagen. »Mein Beileid.«

»Danke«, sagte ich automatisch. »Aber wo ist Su Li?«

Ping zog den Kopf ein, als wäre sie verlegen. Was stimmt hier nicht?, überlegte ich. Konnte Su Li … unsere Familie verlassen haben?

»Es gab … also … nun, es hat sich einiges verändert. Su Li hat im Haushalt eine neue Position inne. Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, Miss Hazel. Ihr geschätzter Vater hat mich Ihnen und Miss Wells für die Dauer Ihres Aufenthalts zur Verfügung gestellt. Und Su Li … Sie werden sehen. Ihr Vater bittet um Verzeihung, dass er nicht selbst hier sein kann. Er erwartet Sie mit der übrigen Familie im Haupthaus.«

Wieder neigte sie den Kopf, hochrot im Gesicht. Ich kam mir vor, als hätte ich das Schiff nicht verlassen, als wankte der Boden unter meinen Füßen noch immer. Ich war verdutzt und zudem verärgert. Was verschwieg man mir?

»Steigen Sie in den Wagen, Miss«, sagte Ping versöhnlich. »Alles kommt in Ordnung.«

»Hazel!«, raunte Daisy hinter mir. »Hazel! Sprichst du Chinesisch? Was habt ihr gesagt?«

Mit einem ganz schönen Schock wurde mir bewusst, dass Daisy mich niemals etwas anderes als Englisch und ein bisschen Französisch hatte reden hören. »Eigentlich … nur Hallo«, antwortete ich errötend. »Nichts Interessantes.«

»Das war viel mehr als nur Hallo!«, protestierte Daisy mit großen Augen. »Hazel, ich wusste gar nicht, dass du so gewieft sein kannst!«

Ich lächelte sie an und kurz hob sich meine Stimmung. Daisy verteilt Komplimente nicht leichtfertig.

Doch dann kletterte ich auf die Rückbank und atmete den Duft von Leder und Orangen ein, die ich hier so oft gegessen hatte. Trauer schnürte mir die Kehle zu. Orangen bedeuteten Ah Yeh. Ich konnte nicht länger ignorieren, weshalb ich hier war. Als ich aufblickte, sah ich, dass Wo On mich im Rückspiegel teilnahmsvoll musterte.

»Mein herzliches Beileid, Miss Hazel«, sagte er, während er das ganze breite, sonnenverbrannte Gesicht vor Mitgefühl verzog. »Es ist schwer, ich weiß.«

»Danke«, sagte ich und hoffte, dass Daisy schlicht annahm, ich würde mir den Schweiß aus dem Gesicht wischen, als ich mir mit dem Taschentuch darüberfuhr.

Dröhnend erwachte das Automobil zum Leben. Ping saß vorne neben Wo On und Daisy hatte neben mir Platz genommen, ihren Rock um sich herum drapiert. Durchs Fenster musterte sie das Getümmel und die gleißende Helligkeit der Docks. Als ich nach ihrer Hand griff, erwiderte sie meinen Druck tröstend.

Mit sieben anderen schicken schwarzen Automobilen und deren Chauffeuren fuhren wir auf die Fähre und tuckerten vom Victoria Harbour zum Queen’s Pier. Während der Überfahrt schaute ich aus dem Wagenfenster, atmete durch die Nase und verkniff mir mit aller Mühe die Übelkeit.

Um uns herum dümpelten Dschunken und Sampans im aufgewühlten Wasser, deren rote Segel wie Flügel aussahen, und hinter ihnen konnte ich beim Näherkommen Reihen um Reihen weißer und brauner Gebäude ausmachen. Ich blinzelte. Es gab einige neue Bauwerke, die ich nicht kannte. Hinter dem Queen’s Pier stand eines, das man mit gutem Recht gigantisch nennen konnte. Dunkle Fensterreihen zierten die Front und die beiden Seitenflügel erinnerten an die Pfoten eines Löwen.

»Was ist das?«, fragte ich.

»Die neue Hongkong und Shanghai Bank«, antwortete Wo und drehte sich zu uns um. »Sehr eindrucksvoll.«

Es war, als wolle sie den Horizont verschlingen. Und nicht nur den. All die Orte, die ich kannte, einschließlich der Post und dem fünfgeschossigen Hauptsitz des Bankinstituts Wong, wirkten daneben wie geschrumpft. Nicht nur ich war während meiner Abwesenheit gewachsen, auch Hongkong selbst.

Wir tauchten in den Schatten der Hongkong und Shanghai Bank, hinein in das wilde Getümmel von Hong Kong Central, dem Finanz- und Geschäftsviertel der Stadt. Während das Automobil durch die Straßen holperte, beugte ich mich dicht ans Fenster. Ja, ich trauerte, trotzdem war rings um mich herum Hongkong, und das war spannend. Noch hingen überall die Dekorationen der chinesischen Neujahrsfeier, wodurch die Stadt herrlich festlich wirkte. Ich zeigte Daisy all die Sehenswürdigkeiten, die ich kannte, und Wo half mir aus, wenn ich einmal nicht weiter wusste. Dazwischen brüllte er die anderen Wagen und die Menschen auf der Straße dermaßen an, dass Daisy merklich schockiert war. Als er ruckartig zur Seite schwenkte, um einer Straßenbahn auszuweichen, keuchte Daisy erschrocken auf, und als wir abermals nach rechts auswichen, um ein Bündel Bambusstöcke zu umfahren, das von einem Karren abgeladen wurde, wirkte sie mehr als angespannt. Ich lachte laut auf. Beinahe hatte ich vergessen, wie der Verkehr in Hongkong war – jetzt begriff ich, warum mir das Fahren in England immer so langweilig vorkam.

Zu allen Seiten erhoben sich hohe Gebäude, die Hälfte davon noch nicht fertiggestellt – Bauarbeiter balancierten auf schmalen Gerüsten, während sie schuftend Staub aufwirbelten. Wir passierten Juweliere und Teehäuser, Gehsteige voller Menschen in Jacken, Roben und Cheongsams, alle in Eile, wie es typisch für Hongkong war. Auf der Rückbank des Wagens heizte es sich immer mehr auf. Ich pustete Luft in die Höhe, um mein Gesicht abzukühlen. Alles war so vertraut und gleichzeitig so fremd. Ich schaute und schaute, versuchte, dieses neue Hongkong noch einmal ganz frisch kennenzulernen.

Dort war die Art von chinesischem Medizinladen, die meine Mutter so liebt, ganz in Rot und Gold gehalten, mit großen Glasflaschen voller getrockneter und zu Pulver verarbeiteter Dinge: Häute, getrocknete Schalen und Knochen. Ich roch Ginseng, selbst durch die Scheibe hindurch, und den heißen, drückenden Gestank des Mülls in den Gossen, an dem zwei gestromte Pi-dogs, die Straßenstreuner Hongkongs, schnupperten. Eine Gruppe Tagelöhner kauerte auf der Straße, aß Reis aus einem Topf, während eine vorbeisausende Rikscha den Hunden auswich.

Dann entfernten wir uns vom geschäftigen Zentrum der Stadt und bogen schließlich rechts in die Garden Road ein. Jetzt bewegten wir uns bergauf die Flanke des Victoria Peak hinauf, umgeben von saftigen grünen Bäumen, an denen schwere Ranken wuchsen. Schwarz-weiß getigerte Schmetterlinge schossen vorbei, wichen der Schnauze des Autos aus. Ich schnupperte Azaleen, deren lachsfarbene Blüten wie Farbkleckse in all dem Grün wirkten. Ein letztes Mal bogen wir rechts ab, in unsere Straße, die Robinson Road. Wir rollten an einem breiten Tor vorüber, dann am nächsten, und staunend betrachtete Daisy die Häuser, die dahinter lagen.

Als wir auf unser Anwesen fuhren, winkte uns Thomas Baboo, einer der Wärter unserer Familie, in seiner rotgoldenen Uniform zu. Sein Seidenturban strahlte weiß in der Sonne und sein Schnurrbart glänzte. Während das Automobil unsere lange weiße Auffahrt hinaufrollte, entfalteten sich zu allen Seiten mehrere Terrassen von leuchtenden Schmuckgärten. Endlich hielten wir vor den drei Stockwerken unseres Hauses, dessen weiße Fassade die Sonne reflektierte. Das Haupthaus hat breite Fenster und wunderschöne Säulen. Zu einer offenen Veranda führen schwere Granitstufen, von denen jede einzelne so hoch ist, dass ich als kleines Kind kaum hinaufkam. Ich weiß noch, dass Su Li mich immer hinaufheben musste und zu mir herablächelte, während mein Gesicht vor Anstrengung ganz rot wurde.

Die großen Flügeltüren des Eingangs waren, wie immer bei Tag, komplett geöffnet und links und rechts gegen die Hauswand gefaltet, sodass ich ein Stück weit in die kühle dunkle Empfangshalle sehen konnte mit all ihren Säulen und Sofas und großen bauchigen Vasen, die die Gärtner jeden Morgen mit frischen Blumen füllten.

Daisy saß noch halb im Wagen und war mit den Füßen schon fast draußen, den Mund auf höchst undamenhafte Weise aufgerissen.

»Hazel«, sagte sie schließlich auffällig kleinlaut. »Ich stelle fest, dass ich euren Reichtum unterschätzt habe.«

Eine gewisse Seite an mir kann ich auf der Deepdean oder sonstwo in England tatsächlich nie zeigen. Anders als Daisys Vater ist meiner nämlich nicht zunehmend weniger reich, auch nicht mittelreich wie die Väter von Kitty und Lavinia, nicht einmal Reißzweckfabrik-neureich wie der Vater von Küken.

Nein, mein Vater ist so reich, dass wir nicht nur einen Wagen haben, sondern einen für jedes einzelne Familienmitglied. Mein Vater ist Jacht-reich, acht-Hausmädchenreich, Villa-reich. Selbst für Hongkong-Verhältnisse ist er sehr reich; in einer Stadt, in der sich nun wirklich alles ums Geschäftemachen dreht. Doch hätte ich das meinen englischen Freunden je erklärt, hätten sie mich für eine Angeberin gehalten und noch eigenartiger gefunden als ohnehin schon. Das hätte ich nie riskiert.

»Ich … ich … es sieht schlimmer aus, als es ist«, stammelte ich.

»Schlimmer?« Nun musterte Daisy mich mit zutiefst abwägendem Blick. »Himmel, Hazel – wenn es eines ganz bestimmt nicht ist, dann schlimm. Aber in all den Jahren, in denen wir nun befreundet sind, hättest du ja vielleicht einmal erwähnen können, dass du so eine Art … Prinzessin bist.«

»Ich bin keine Prinzessin!«, zischte ich ihr zu, weil Wo On an die Wagentür trat, um uns herauszuhelfen. »Ich bin nur – ach, ich erkläre es dir später. Hier in Hongkong ist alles anders.«

»Das sehe ich«, meinte Daisy, und nun war ihr nachdenklicher Blick nach innen gerichtet. Gerne hätte ich sie gefragt, was sie dachte, doch in diesem Moment kam jemand aus dem Haus und stellte sich auf die Stufen der Veranda.

Es war mein Vater, das Gesicht geprägt von feierlichem Ernst, was mich daran erinnerte, dass wir hier waren, um zu trauern.

6

Wo On war mit geneigtem Kopf auf die Knie gefallen und auch Ping verbeugte sich tief.

»Hazel«, zischte Daisy mir ins Ohr. »Ihr seid adelig! Dein Vater ist ein König! Das hättest du mir sagen sollen!«

»Nein! Das … Sie verbeugen sich wegen Großvater. Es gehört zum Trauern dazu. Wir müssen ihm unseren Respekt erweisen. Äh, also jetzt müssen wir die Treppe bis zur Tür hochkrabbeln. Auf den Knien. Tut mir leid.«

Daisy blinzelte. »Krabbeln?«, wiederholte sie. »Im Ernst? Wie famos!«

»Nein! Das ist wirklich ernst. Du darfst dich nicht so freuen!«, sagte ich schnell. Ich kannte Daisy und mir war klar, dass dies für sie den größten Spaß bedeutete, doch ich wollte, dass sie, dieses eine Mal wenigstens, begriff, dass es kein Spiel war.

Also ließen Daisy und ich uns auf Hände und Knie sinken und krochen zur Haustür meines Vaters. Die Granitfliesen zerkratzten mir die Hände und ich begann, an Schläfen und Kniebeugen zu schwitzen. Ich hätte mir albern vorkommen sollen. Der Teil von mir, der ein englisches Schulmädchen war, sagte mir durchaus, dass es albern war. Nur irgendwie war es das eben nicht. Kriechen war angemessen, genau so schwer und grässlich wie der Gedanke, dass Großvater tot war und nicht wiederkommen würde.

Mit schmerzenden Händen erklomm ich die steinerne Treppe und verharrte am oberen Ende.

»Meine Hazel«, empfing mich mein Vater.

Ich sah seine Füße in den Schuhen, die er Zuhause immer trägt. Mein Vater kleidet sich wie ein Europäer, selbst in Hongkong, doch solange wir keinen Besuch empfangen, trägt er gerne chinesische Schlupfschuhe. Mein Großvater trug nie europäische Kleidung – allein dieser Gedanke trieb mir erneut die Tränen in die Augen, die ich jedoch rasch hinunterschluckte. Schnell stand ich auf und verbeugte mich vor meinem Vater, der seine Arme um mich legte und meinen Kopf küsste.

»Willkommen zu Hause, Hazel«, sagte er. Dann streckte er Daisy die Hand hin. »Willkommen im Haupthaus, Miss Wells. Danke, dass Sie Hazel begleiten.«

»Es ist mir eine Freude, Mr Wong«, sagte Daisy. Und obwohl ihre Beine vollkommen verschmutzt waren und ihr weißes Kleid reichlich ruiniert aussah, schaffte sie es, vollendet zu knicksen. »Danke für die Einladung.«

»Hazel«, wandte sich mein Vater an mich. Als ich zu ihm aufsah, standen auch seine Augen voller Tränen, doch er lächelte. »Mein herzliches Beileid. Ah Yeh war ein wundervoller Mensch.«

»Es tut mir leid, Vater«, sagte ich. »Es tut mir so leid.«

»Es ist schön, dich hier zu haben«, sagte mein Vater. »Ich bedaure, dass ich dich nicht im Hafen abholen konnte, doch nun sind wir alle versammelt und wollen euch begrüßen.«

Ich lächelte. Dann war also alles halb so wild. Mein Vater hätte mich abgeholt, hätte er die Zeit gehabt. Eigentlich spielte es keine Rolle.

Dann entdeckte ich meine Schwestern, Rose und May. Sie standen auf den glatten weißen Fliesen der Halle und traten verlegen von einem Bein aufs andere. Rose, die in einer neuen weißen Jacke steckte, lächelte schüchtern, die Hände hinter dem Rücken versteckt. Sie war so groß geworden – und noch immer die Hübscheste von uns dreien, mit ihren langen Wimpern und dem kleinen Mund, den sie zu einem Grinsen verzog. May dagegen stürzte sich quietschend auf mich, als sie merkte, dass ich sie ansah, genau wie ein kleines Äffchen – passend zu ihrem Spitznamen. Als ich sie zuletzt gesehen hatte, war sie drei gewesen, und nun war sie fünf. Insgeheim hatte ich befürchtet, ich könnte sie nicht wiedererkennen, aber ihr Gesicht war mit dem kräftigen Kinn und den kleinen Knopfaugen so vertraut wie eh und je. Ich schlang die Arme um sie und vergrub das Gesicht in ihrem weichen Haar, das roch, als könne es Wasser und Seife vertragen.

»Du hast zugenommen!«, sagte May. »Gefällt mir. Du siehst hübsch aus.«

»Ich mag deinen Hut, große Schwester«, sagte Rose schüchtern.

»Danke, Ling Ling«, nannte ich sie bei ihrem Kosenamen, während ich sie in die Arme schloss. »Und du sei nicht so frech, Äffchen.« May schnitt mir eine Grimasse.

»MEI LI!«, schalt mein Vater sie. »Erweise deiner großen Schwester Respekt! Miss Wells, dies sind meine anderen Töchter, Rose und May. Meistens sind sie brave Mädchen, hmm?«

May kicherte.

»Und dies ist meine erste Frau, June.«

Meine Mutter trat vor, trippelte mit den kleinen Tanzschrittchen, die sie wegen ihrer abgebundenen Füße machen muss, auf uns zu und verneigte sich vor Daisy. Sie hatte eine neue Frisur, einen modischen gewellten Bobschnitt. Ihr Gesicht war sorgfältig geschminkt und ihre geschwungenen Lippen glänzten rot. In ihrem weißen Cheongsam sah sie wunderschön aus – und sehr unnahbar. Mein Herz klopfte.

»Guten Tag, Miss Wells«, sagte meine Mutter zu Daisy. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.«

»Mich freut es auch sehr, Sie kennenzulernen, Mrs Wong«, erwiderte Daisy mit tadelloser Höflichkeit und schaute überallhin, nur nicht auf die winzigen Schuhe meiner Mutter.

Dann wandte meine Mutter sich mir zu. »Hallo, Ying Ying. Meine Güte, bist du dick geworden«, sagte sie auf Kantonesisch und warf mir aus den Winkeln ihrer mit Kohlstift umrahmten Augen einen scharfen Blick zu. »Zu viel englischer Kuchen, hmm? Und, was hast du an dieser Schule alles gelernt?«

»Geschichte«, antwortete ich, auf Englisch, damit Daisy es verstehen konnte. Auch meine Mutter beherrscht es bestens, selbst wenn sie es verabscheut. »Ich weiß nun alles über den englischen Bürgerkrieg. Und in Mathematik lernen wir Algebra.«