Mord unterm Mistelzweig - Robin Stevens - E-Book

Mord unterm Mistelzweig E-Book

Robin Stevens

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Beschreibung

Hazel und Daisy verbringen die Weihnachtsferien nicht im Internat, sondern im verschneiten Cambridge, wo Daisys Bruder Bertie studiert. Hazel freut sich auf die romantische Universitätsstadt, gemütliche Bibliotheken und einladende Teehäuser – und auf ein Wiedersehen mit Alexander, mit dem sie seit dem Mord im Orientexpress befreundet ist. Doch auf den dunklen Treppen des Maudlin College lauert die Gefahr … Drei Tage vor Weihnachten passiert ein schrecklicher Unfall. Jedenfalls scheint es ein Unfall zu sein – bis das Detektivduo etwas genauer hinschaut und herausfindet: Es war Mord! Eine Spurensuche beginnt, bei der Hazel und Daisy von Erwachsenen wieder einige Steine in den Weg gelegt werden, die Mädchen detektivische Unterstützung bekommen und beide schließlich sogar selbst ins Visier des Mörders geraten. Sie müssen all ihr Können einsetzen, um dem Täter auf die Spur zu kommen – rechtzeitig bis Weihnachten, versteht sich.

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Seitenzahl: 332

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Titel der Originalausgabe: Mistletoe and MurderErschienen bei Random House Children’s Publisher UK,a division of The Random House Group Limited.Copyright Text © 2016 Robin StevensPublished by Arrangement with Robin StevensCopyright Gestaltung © 2016 Nina Tara DesignDiese Ausgabe wurde vermittelt durch dieLiterarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

3. Auflage 2021

Deutsche Erstausgabe

Copyright © 2018 von dem Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG, München

Ein Unternehmen der La Martinière Groupe

Umschlagadaption: Leonore Höfer, Knesebeck VerlagÜbersetzung: Nadine Mannchen, Helmbrechts

Lektorat: Theresa Scholz, Knesebeck Verlag

Satz und Herstellung:

Arnold & Domnick, Leipzig

eISBN 978-3-95728-599-7

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.

www.knesebeck-verlag.de

Für meine Großmutter, Phyllis Booth,eine wirklich beeindruckende Frau.

Mord unterm Mistelzweig

Ein Bericht über

den »Fall der Weihnachtsverbrechen«im Rahmen der Ermittlungender Detektei Wells & Wong.

Aufgezeichnet von Hazel Wong(Vizevorsitzende und Schriftführerinder Detektei), 14 Jahre alt.

Begonnen am Montag, 23. Dezember 1935.

UNIVERSITÄT CAMBRIDGE

ST. LUCY’S COLLEGE

Daisy Wells – Gast im St. Lucy’s und Vorsitzende der Detektei Wells & WongHazel Wong – Gast im St. Lucy’s und Vizevorsitzende sowie Schriftführerin der Detektei Wells & WongEustacia Mountfitchet – Don für Mathematik und Großtante von Daisy und Bertie WellsAmanda Price – Geschichtsstudentin im ersten Jahr

MAUDLIN COLLEGE

Albert »Bertie« Wells – Bruder von Daisy Wells und Geschichtsstudent im ersten JahrDonald Melling – Geschichtsstudent im ersten Jahr und großer Zwillingsbruder von Chummy MellingCharles »Chummy« Melling – Geschichtsstudent im ersten Jahr und kleiner Zwillingsbruder von Donald MellingAlfred Cheng – Geschichtsstudent im ersten JahrMichael Butler – Don für GeschichteMoss – Bedder von Treppenhaus neun(so eine Art Butler für die Studenten)Mr Perkins – Pförtner

ST. JOHN’S COLLEGE

Alexander Arcady – Gast im St. John’s und Co-Vorsitzender der Junior PinkertonsGeorge Mukherjee – Gast im St. John’s, Co-Vorsitzender der Junior Pinkertons und kleiner Bruder von Harold MukherjeeHarold Mukherjee – Geschichtsstudent im ersten Jahr und großer Bruder von George Mukherjee

INHALT

VORWORT ZU DEN COLLEGES IN CAMBRIDGE

TEIL EINS: DIE DETEKTEI MACHT FERIEN

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

TEIL ZWEI: DETEKTEI WELLS & WONG NIMMT EINE WETTE AN

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

TEIL DREI: WEIHNACHTSPASTETE UND MORD

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

TEIL VIER: KAKAO UND KRIMINOLOGIE

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

TEIL FÜNF: SCHMÜCKT DIE SÄLE

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

TEIL SECHS: DER FALL VERDICHTET SICH UND SCHNEE FÄLLT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

TEIL SIEBEN: BEI TIEFSTER WINTERSONNENWENDE

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

TEIL ACHT: FRIEDE AUF ERDEN

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

DAISYS CAMBRIDGE-FÜHRER

ANMERKUNG DER AUTORIN UND DANKSAGUNG

VORWORT ZU DEN COLLEGES IN CAMBRIDGE

Das Maudlin College, Cambridge, gibt es nicht wirklich. Ich habe mich vom Klang des Namens des Magdalen College in Oxford inspirieren lassen – Magdalen wird »Maudlin« ausgesprochen, was ich schon immer sehr komisch fand. St. Lucy’s ist ebenfalls nicht real, obwohl es auf den Frauen-Colleges basiert, die es damals in Oxford und Cambridge gegeben hat. Das St. John’s College gibt es tatsächlich, genau wie die meisten anderen Orte, die in meinem Buch vorkommen. Nur die Morde sind von vorn bis hinten frei erfunden …

TEIL EINS

DIE DETEKTEI MACHT FERIEN

1

»Niemand ist tot – noch nicht«, sagte Daisy unheilvoll.

Es war zwei Tage vor Weihnachten und wir saßen in der Teestube Fitzbillies in Cambridge, nur Daisy, Alexander, George und ich. Und während wir da saßen, überlegte ich, ob wir den Erwachsenen rings um uns herum irgendwie auffielen. Auch wenn Daisy inzwischen fast fünfzehn ist, hochgewachsen und schlank, und an diesem Tag in einem höchst modischen, nagelneuen Mantel mit Pelzkragen steckte, ist mein Gesicht noch immer rund und ich bin noch immer enttäuschend klein. Die Gäste an den anderen Tischen hielten uns vermutlich für Kinder, die erwachsen spielten – sie wären nicht wenig überrascht gewesen, hätten sie gehört, worüber wir uns wirklich unterhielten.

»Ich gebe zu, dass dieser Fall bislang keine Leiche beinhaltet«, fuhr Daisy fort. »Aber das könnte sich ändern. Und wenn es zu einem Mord kommt, sind Hazel und ich sicherlich im Vorteil. Zu unseren bisherigen Ermittlungen gehören –«

»Vier Mordfälle – wissen wir«, unterbrach George sie. »Das macht euch aber nicht zur besseren Detektei.«

»Das werden wir ja sehen.« Daisy funkelte ihn an. »Also. Zurück zu dieser Wette.«

Es ist nämlich so, dass wir erwachsener sind, als es den Anschein hat, da wir vier alle Detektive sind, Mitglieder von zwei streng geheimen Detekteien: Wells & Wong und den Junior Pinkertons. Daisy und ich haben bisher tatsächlich bereits vier Morde aufgeklärt – und nun schienen wir womöglich auf unseren fünften zuzusteuern.

Es stimmt, dass wir bisher nur wenige Informationen haben, doch, wie Daisy immer sagt, ist es für gute Detektive wichtig, jede Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen. Seit Daisy und ich in Cambridge angekommen sind, haben wir Dinge gehört und gesehen, die im hohen Grad verdächtig sind. Der Umstand, dass Weihnachtsferien sind und wir in einem fremden College in einer fremden Stadt untergebracht sind, wird uns nicht vom Ermitteln abhalten. Immerhin sind wir daran gewöhnt, unter schwierigsten Umständen zu arbeiten – es wäre nicht das erste Mal. Im Ernst, das Ungewöhnlichste an diesem Fall ist, dass er nicht allein von unserer Detektei bearbeitet wird.

Wir haben nämlich beschlossen, unseren Verstand mit dem der Detektei von Alexander und George, den Junior Pinkertons, zu messen. Daisy fühlt sich überlegen, weil die beiden noch keinen Mordfall gelöst haben, aber ich weiß auch so, dass sie sehr gute Detektive sind. Alexander hat uns vergangenen Sommer bei dem Fall im Orientexpress geholfen und beide, Alexander und George, haben uns vor nur einem Monat beim Klären des Mords während der Guy-Fawkes-Feier unterstützt. Außerdem hat mir Alexander von einigen Fällen erzählt, die sie aufgeklärt haben: Allesamt waren sie recht haarsträubend und hätten Daisy und mich ernsthaft auf die Probe gestellt.

Selbstverständlich hatten wir es bei unseren Ermittlungen schon öfter mit Gegenspielern zu tun, aber die hatten nie gewusst, dass wir mit ihnen wetteiferten. Daisy und ich haben die feste Regel, Erwachsenen nichts von unserer Detektei zu verraten. Allerdings habe ich so eine Ahnung, gegen Alexander und George anzutreten, wird viel schwieriger, als etwa Dr. Sandwich auszutricksen, den albernen Amateurdetektiv, der ebenfalls versuchte (und versagte), den Fall im Orientexpress zu lösen. Erwachsene unterschätzen Kinder grundsätzlich. Kinder unterschätzen sich gegenseitig nie.

Wahrscheinlich sollte ich erklären, wie wir überhaupt an diesen Fall gekommen sind. Alles fing gestern an, als Daisy und ich in Cambridge ankamen und uns mit ihrem Bruder Bertie trafen.

2

Sonntagmorgen reisten wir von Deepdean aus mit dem Zug an. Wie ein Kindermädchen brachte uns unsere Hausmutter zum Bahnhof, wo sie uns zum Abschied winkte, nachdem sie uns in Wachspapier eingewickelte Sandwiches in die Hand gedrückt hatte (kaum war der Zug losgefahren, verputzten wir sie schon, was wir bitter bereuten, als es auf Mittag zuging). Als wir nach unserer Mahlzeit das Brotpapier entsorgten, räumten wir gleichzeitig auch irgendwie mit dem gesamten Schuljahr auf: dem Streit, den Rivalitäten und vor allem dem Rätsel, das wir nach der Guy-Fawkes-Nacht untersucht hatten. Beim Ausatmen spürte ich richtig, wie sich alle meine Schulsorgen in Luft auflösten.

Daisy nahm Aufruhr in Oxford aus ihrer Tasche und schlug es auf, sodass die linke Seite mein Knie berührte und die rechte ihres. Der Gedanke dahinter war, dass wir es gemeinsam lasen – in der Realität allerdings blätterte Daisy die ersten zwanzig Seiten so schnell um, dass ich kaum die Hälfte der Wörter entziffern konnte. Dann hielt sie inne und starrte aus dem Zugfenster auf die kargen, frostigen Hügel, die an uns vorbeirauschten. Natürlich hatte Daisy den Fensterplatz in Anspruch genommen.

Ich merkte ihr an, dass Aufruhr in Oxford so gar nicht dem entsprach, was sie sich von einem Krimi erwartete. Ich blätterte einige Seiten allein weiter – so gut es ging, denn sie nahm ihre Hand nicht vom Buch. Dann stieß ich sie an. Sie war auffällig still und ich fragte mich, ob sie über das Buch nachgrübelte.

»Bestimmt wird es noch besser!«, sagte ich.

Daisy drehte sich mit großen Augen zu mir um. »Ach, ich habe doch nicht darüber nachgedacht!«, meinte sie. »Cambridge beschäftigt mich. Stell dir nur vor, Hazel. Eine ganze Stadt allein für uns, ohne irgendwelche nervigen Erwachsenen, die uns vorschreiben, was wir zu tun und zu lassen haben!«

Ich lächelte sie an. Eine ganze Stadt für uns – eine Stadt (auch wenn ich es Daisy gegenüber niemals erwähnen würde) mit Alexander Arcady darin.

Daisy und ich haben Alexander im Sommer im Orientexpress kennengelernt. Seitdem sind Alexander und ich Brieffreunde und kennen uns inzwischen ziemlich gut. Seinen besten Freund, George, hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht persönlich getroffen, genauso wenig wie Daisy, doch wir wussten, dass er die zweite Hälfte der Junior Pinktertons bildete. Die Jungs hatten den Tatort unseres Guy-Fawkes-Falls nie betreten – sie waren an ihrer eigenen Schule gewesen, kilometerweit entfernt –, trotzdem hatten sie uns Vorschläge und Ideen geschickt, die in der Tat höchst sinnvoll gewesen waren.

Alexander war bereits in Cambridge, wo er Weihnachten mit George und dessen älterem Bruder, Harold – der aufs St. John’s College geht –, verbringen wollte. Ihre Väter hatten sie dorthin geschickt, damit sie sich ansahen, wo sie später zur Universität gehen würden, und am Ende des vergangenen Schultrimesters hatte Alexander vorgeschlagen, dass auch wir dazustoßen könnten.

Die Einladung kam zum perfekten Zeitpunkt. Ich hatte mir schon den Kopf zerbrochen, wo Daisy und ich dieses Jahr Weihnachten verbringen könnten. Nach Hause kann ich während der Ferien nicht, da meine Familie in Hongkong lebt und es drei Wochen und mehrere Schiffe brauchen würde, um sie zu erreichen. Letztes Jahr an Weihnachten bin ich mit zu Daisy auf Haus Fallingford gegangen – doch nachdem, was sich an Ostern zugetragen hat, ist mein Vater nicht davon begeistert, mich noch einmal dort hinzulassen. Außerdem wird Daisy allein beim Gedanken an einen Besuch zu Hause ganz still und kühl. Fallingford hat sich verändert, und das zu erkennen, fällt ihr schwer.

Ob Daisy Weihnachten in Cambridge verbringen könnte, stand nie wirklich zur Debatte. Ihr großer Bruder Bertie studiert am Maudlin College. Am Maudlin selbst durfte Daisy natürlich nicht wohnen – es ist ein Männer-College, an dem Damen strikt verboten sind, was selbst für kleine Schwestern gilt. Unterkommen konnte sie dafür bei ihrer alten Großtante Eustacia – sie ist ein Don, eine Mathematikprofessorin an einem der Frauen-Colleges, dem St. Lucy’s. (Wie man schon sieht, ist Cambridge in viele verschiedene Colleges aufgeteilt, in denen die Studenten wohnen und lernen. Don ist so ein Universitätswort für die Lehrer, die sich an diesen Colleges um die Studenten kümmern – und Daisys Großtante scheint ein ziemlich wichtiger zu sein.)

Bei mir war die Sache weniger einfach. Mein Vater freut sich nicht gerade über die Anzahl von Morden, in die ich in letzter Zeit verwickelt war. Seiner Meinung nach hat daran vor allem Daisy schuld, weshalb ich schon befürchtet hatte, er würde mir verbieten, mit ihr in eine fremde Stadt voller männlicher Studenten zu reisen. Doch als ich den Mut aufbrachte, ihn zu fragen, stimmte er sofort zu. Mein Vater hat vor vielen Jahren nämlich selbst in Cambridge studiert, und in seiner Erinnerung geht es dort nur fröhlich und fleißig zu, kein bisschen gefährlich.

Schon am Telefon erzählte er mir alles darüber und dann wieder, in einem langen Brief, daher habe ich die Wochen vor unserer Zugreise damit verbracht, mir auszumalen, wie mein Leben wohl aussehen würde, sollte ich das Examen an der Deepdean bestehen und einen Studienplatz in Cambridge ergattern. Einen Abschluss könnte ich nicht machen, weil Cambridge das für Frauen nicht vorsieht (als ich das erfuhr, war ich ganz schön empört, aber wahrscheinlich ist es nur ein weiterer Punkt auf der langen Liste an Dingen, die Frauen nicht erlaubt sind), trotzdem könnte ich dieselben Kurse besuchen wie die Männer. Ich sah mich mit einer schwarzen Kappe und in einer schwarzen Robe über die begrasten Innenhöfe laufen, viel gelesene Bücher an mich drücken, an der Kapelle des King’s College vorbeiradeln und mit meinen schlauen Universitätsfreunden Tee in einer der Teestuben Cambridges schlürfen. Hier könnte ich, endlich, eine echte Engländerin werden.

Zunächst ging ich davon aus, dass Hetty, Daisys Hausmädchen aus Fallingford, die schon im Orientexpress auf uns aufgepasst hatte, uns als Anstandsdame begleiten würde. Doch in Absprache mit Bertie hatte Daisy sich auch darum gekümmert.

»Wie wäre es mit meiner guten Freundin Amanda Price?«, hatte Bertie uns am Telefon vorgeschlagen. »Sie geht aufs St. Lucy’s – ihr wisst schon, dem College von Tante E. Und sie bleibt in den Ferien hier. Wenn wir Tante E erzählen, dass sie auf euch aufpasst, lässt sie euch überall hin.«

»Aber wird sie auch auf uns aufpassen?«, fragte ich.

»Soll sie das denn?«, stellte Bertie am Telefon ironisch die Gegenfrage.

Ich begriff nicht, was er damit meinte, bis Daisy, die neben mir stand, mich anstieß und strahlte. »Oh!«, entfuhr es mir. »Dann werden wir ganz allein sein?«

»Du bist clever, Bertie«, sagte Daisy gut gelaunt. »Keiner, der uns am Rockzipfel hängt! So werden wir viel mehr Spaß haben!«

Der Gedanke an Hetty versetzte mir einen Stich – trotzdem fand ich die Vorstellung, ausnahmsweise einmal frei von Erwachsenen zu sein, natürlich famos. Selbst im Orientexpress hatte es sich angefühlt, als wären wir auf der Schule. Doch jetzt konnten wir tatsächlich fast fünfzehn sein – keiner, der uns ins Kinderzimmer verbannte. Es ist wirklich dämlich, wenn Erwachsene meinen, uns »Kinder« beschützen zu müssen – als wären wir nicht selbst so gut wie erwachsen. Wir müssen die Welt verstehen lernen, und wenn wir dazu heimlich vorgehen und sie anschwindeln müssen, sind sie selbst schuld.

Ich schaute an Daisys Schulter vorbei aus dem Zugfenster, und als die zarten Türmchen von Cambridge in Sicht kamen, die sich elegant vor dem blassen Himmel abzeichneten, als hätten Elfen sie erschaffen, spürte ich beinahe, wie ich älter wurde.

3

In Cambridge stiegen wir aus dem Zug. Der Schaffner half uns aus unserem Erste-Klasse-Wagen und organisierte Gepäckträger, die unsere Koffer ins St. Lucy’s brachten. Es fühlte sich an wie der Beginn von etwas Wichtigem. Ich betrachtete Daisy, die in dem Mantel mit Pelzkragen anmutig neben ihrem Stapel Gepäck mit den goldenen Monogrammen darauf stand und begriff nach einem Moment, dass sie ihre Erwachsenen-Pose übte.

Auf dem Bahnhof herrschte hektischer Betrieb. Während wir uns zum Ausgang begaben, drängten sich die Menschen an uns vorbei, die Arme voller Päckchen und dicker Bücher. Ich freute mich, weil in Cambridge wirklich jeder schrecklich klug wirkte.

Dann schob sich Bertie durch die Menge. Sein blondes Haar war länger als bei unserem letzten Treffen und er trug eine neue Fliege. Davon abgesehen sah er Daisy noch immer so ähnlich, dass ich mich sofort wohlfühlte. Als er seine Schwester entdeckte, wedelte er mit den Armen und strahlte. Dabei sah er genauso aus wie sie, wenn sie sich über etwas besonders freute. Kurz vergaß Daisy sogar die Pose, die sie am Bahnsteig einstudiert hatte. Mit einem Sprung warf sie kreischend die Arme um Berties Hals, bevor sie sich wieder von ihm löste und die Haare unter dem Hut zurechtsteckte.

»Hallo, Schielauge. Wie ich sehe, hast du immer noch diese hässliche grüne Hose«, sagte sie liebevoll.

»Hallöchen, Kürbiskopf – Hazel«, begrüßte uns Bertie, zwinkerte Daisy zu und verbeugte sich höflich vor mir (ich errötete, weil es sich so schrecklich erwachsen anfühlte). »Na schön, dann kommt mal mit, ihr zwei!« Er führte uns aus dem Bahnhof, bis wir im schwachen Wintersonnenlicht standen und ganz schön bibberten. »Amanda hat sich verspätet – wir waren hier vor zehn Minuten verabredet, aber sie ist noch nicht aufgetaucht«, berichtete Bertie. »In letzter Zeit ist sie furchtbar zerstreut, also kann ich nur hoffen, dass sie es nicht vergessen hat!«

»Wie gefällt es dir in Cambridge?«, fragte ich, weil ich etwas Höfliches sagen wollte. Daisy musterte derweilen die vielen Radfahrer, die an uns vorbeidüsten, und riss die Augen immer weiter auf, um ja nichts zu versäumen. Es gab eine Menge Fahrräder, was mich richtig nervös machte – ihre Klingeln waren so schrecklich laut, außerdem kamen sie mir sehr gefährlich vor. Plötzlich überlegte ich, ob meine Vorstellung, durch Cambridge zu radeln, bloßes Wunschdenken war. Immerhin fällt es mir manchmal schon schwer genug, mich auf zwei Beinen zu halten. Auf zwei schmalen Rädern herumzuwackeln, kam mir im Vergleich grauenhaft fortgeschritten vor.

»Oh, es ist ein vortrefflicher Spaß!«, antwortete Bertie. »Grandioses Essen – fast jeden Nachmittag gibt es bei irgendjemandem Baiser und Schampus – und vergangene Woche hat jemand im Innenhof ein Schaf freigelassen.«

»Oh«, sagte ich. Die Süßen Pausen entsprachen absolut meiner Idee von Cambridge, das Schaf dagegen weniger. »Und wie ist der Geschichtsunterricht?«

»Ach, wen kümmert’s?« Bertie zuckte mit den Schultern. »Ich war seit der ersten Woche in keiner Vorlesung mehr.«

Daisy riss sich von den Fahrrädern los. »Du gehst nicht in die Kurse?!«, fragte sie scharf.

»Wozu? Amanda geht für uns hin«, meinte Bertie. »Außerdem schert sich sowieso keiner um das erste Jahr.«

»Das stimmt nicht.« Daisy rollte mit den Augen.

»Das kannst du doch gar nicht wissen, Kürbiskopf!«, sagte Bertie schnell. »Ehrlich, es ist völlig normal. Alle Studenten machen es so. Sogar Chummy, und der ist einer von den Guten. Du brauchst dir keine Sorgen machen. Ich bin älter als du und ich weiß, was ich tue.«

»Hmmm.« Daisy sah noch immer skeptisch aus. »Wer ist Chummy?«

»Mein Freund!«, sagte Bertie. »Hör zu, wenn es sein muss, dann lerne ich. Aber ich wüsste nicht, warum ich im Moment nicht ein bisschen Spaß haben sollte, nachdem … was im Frühjahr passiert ist.«

Immer wenn er an Fallingford denkt, entstehen in Berties Sätzen Pausen. Der Mord, zu dem es in seinem eigenen Zuhause gekommen war, und der darauffolgende Prozess haben ihn schwer getroffen.

Ich drückte Daisys Arm. Ich merkte ihr an, dass sie die Einstellung ihres Bruders nicht gut fand, wollte aber nicht, dass sie und Bertie stritten. Ich wollte, dass es ein fröhliches Weihnachten wurde. »Na gut, was soll’s«, sagte Daisy schließlich, atmete aus und entspannte sich an meiner Seite. »Du kannst tun, was dir passt. Na los, erzähl mir mehr von Chummy. Wer will denn bitte mit dir befreundet sein?«

»Vom Hörensagen kennst du ihn!«, sagte Bertie. »Er ist einer der Melling-Zwillinge Charles und Donald. Ihre Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als sie noch klein waren, erinnerst du dich?«

»Ach!«, sagte Daisy. »Die Shropshire-Mellings.«

Nach fast zwei Jahren Freundschaft mit Daisy begriff ich sofort, dass sie in englischen Kurzformen sprach. Was sie meinte, war, dass die Mellings einen Landsitz besaßen, unfassbar reich und außerdem in jeder Hinsicht absolut englisch waren. Es verblüfft mich jedes Mal aufs Neue, dass sämtliche Engländer sämtliche ihrer Mitbürger kennen, ohne je auch nur nachschlagen zu müssen.

»Donald ist der ältere Zwilling, nicht?«, fuhr Daisy fort. »Junge! Eins habe ich mich schon immer gefragt: Ist Chummy sauer deswegen? Nur fünf Minuten zu spät, um das ganze Geld zu erben!«

»Du Scheusal«, sagte Bertie, sehr liebevoll. »Aber … naja, wahrscheinlich schon. Ist auch ein Jammer. Irgendwie sollte Chummy der Ältere sein. Er sieht besser aus und er verhält sich wie ein Erbe, weißt du, was ich meine? Er ist derjenige, der den Mund aufmacht und alle Entscheidungen trifft. Donald ist nur ein Mitläufer. Er hängt sich bloß an den Rest von uns ran.«

»Chummy klingt wie ich«, sagte Daisy grinsend. »Hat das gute Aussehen und den Verstand abgekriegt, während sein Bruder leer ausging. Armer alter Donald – armes, altes Schielauge.«

»Ich hab dich gar nicht gehört«, konterte Bertie. »Jedenfalls. Sie haben am ersten Weihnachtsfeiertag Geburtstag und feiern im Speisesaal eine Party – ich habe mit Chummy darüber geredet. Es spielen Jazzbands und Chummy hat sogar einen Schampusbrunnen geordert. Ich glaube, Donald ist verärgert, weil Chummy alles in die Hand nimmt, obwohl er versucht, es zu überspielen. Er zahlt für alle von Chummys Freunden. Aber mal unter uns: Wer will schon mit Donald befreundet sein, wenn es Chummy gibt? Donald gibt sich ja Mühe, aber er ist wie … eine schlechte Kopie. Mit ihm macht es nicht mal halb so viel Spaß. Obendrein ist er ein wahrer Pechvogel! Dauernd hat er die seltsamsten Unfälle.«

4

»Was meinst du damit, Unfälle?«, wollte Daisy wissen und kniff die Augen zusammen.

»Ach, da kommt Amanda ja endlich!«, rief Bertie und winkte. »Hey, Amanda!«

Ich hatte jemanden erwartet, der so modevernarrt war wie Bertie mit seiner grünen Hose und dem zurückgekämmten Haar mit der Pomade darin. Doch das Mädchen, das sich von einem rostgrünen Fahrrad schwang und auf uns zueilte, war alles andere als gut gekleidet. Sie war kräftig, hatte hochrote Wangen und fliegende krause braune Haare, die unter einer ausgeblichenen blauen Baskenmütze hervorwehten. Ein krasseres Gegenteil zu Bertie konnte man sich gar nicht vorstellen.

»Bertie!«, keuchte sie mit glühend rotem Gesicht. »Tut mir leid, dass ich zu spät komme. Ich war noch im St. Lucy’s und habe an einem Aufsatz gearbeitet, und dabei habe ich ganz die Zeit vergessen. Und dann hat das Pferd auch noch Öl gebraucht.«

Ich schaute mich nach einem Pferd um, konnte aber nichts dergleichen sehen.

»Sie meint ihr Rad«, erklärte Bertie und grinste mich an. »Manda, das hier sind meine kleine Schwester Daisy und ihre Freundin Hazel. Beide sind viel schlauer, als gut für sie ist.«

»So ein Blödsinn!«, rief Daisy affektiert. Sie hasst es, anderen zu verraten, wie klug sie ist, solange sie nicht sicher ist, dass man ihnen vertrauen kann.

»Hallo«, sagte Amanda, die inzwischen wieder bei Atem war und uns beide musterte.

»Daisy, Hazel, das ist Amanda«, fuhr Bertie fort. »Sie ist eine brillante Historikerin. Ohne sie wären wir alle verloren.«

Er schenkte ihr ein durch und durch Daisy-mäßiges Lächeln, das Amanda sichtlich zum Schmelzen brachte – derselbe Einfluss, den Daisy auf die Shrimps hat. Mir wurde klar, warum sie Bertie ihre Vorlesungsnotizen nur zu gern gab.

»Na gut«, sagte Amanda. »Hast du ihnen schon erklärt, wie die Sache laufen wird?«

»Wollte ich gerade machen«, antwortete Bertie. »Aber wenn du möchtest, kannst du gerne übernehmen.«

Als Amanda sich uns zuwandte, sah ich, dass die Augen unter dem weichen, krausen Haar entschlossen und durchdringend blickten, wenn auch müde. »In Ordnung«, sagte sie. »Hört zu. Miss Mountfitchet hat mich gebeten, auf euch aufzupassen, solange ihr in Cambridge seid. Ich soll euch auf Schritt und Tritt begleiten, aber ich habe viel zu viel zu tun. Also schließen wir einen Pakt: Ich bringe euch ins St. Lucy’s und geleite euch nach draußen, danach könnt ihr hin, wohin ihr wollt, solange ihr jedem, der fragt, sagt, dass ich bei euch war. Einverstanden?«

»Einverstanden«, sagte Daisy schnell. Ich hatte ja gewusst, dass es so laufen würde, doch nachdem ich Amanda nun gesehen hatte, wurde ich neugierig.

»Was tust du, solange wir unterwegs sind?«, fragte ich.

»Aufsätze schreiben«, antwortete Amanda. »Ich muss bis zum Ende der Ferien noch einen ganzen Stapel abarbeiten.«

»Manda ist ein Arbeitstier«, erklärte Bertie grinsend. Es hätte aufbauend klingen sollen, doch etwas an der Art, wie Bertie es sagte, gefiel mir nicht.

»Bertie wird euch jetzt eine Stadtführung geben, damit ich ein bisschen büffeln kann«, sagte Amanda. Sie schob sich schon wieder das Haar aus dem Gesicht – es schien wie eine Wolke um ihre Wangen und ihre Stirn zu wabern und immer wieder zurückzukommen, egal, wie sie es hochsteckte oder unter ihre Mütze klemmte. »Er zeigt euch Cambridge und das Maudlin. Falls jemand fragt: Ich war dabei. In einer Stunde treffen wir uns vor dem St. Lucy’s – wir sollen alle mit Miss Mountfitchet Tee trinken, bevor ihr im Maudlin zu Abend esst.«

»Ihr?«, wiederholte Daisy. »Dann kommst du nicht mit uns ins Maudlin?«

»Nein«, antwortete Amanda knapp.

»Warum -?«, fing Daisy an, doch Bertie stieß sie mit dem Ellbogen an.

»Lass es gut sein«, sagte er. »Wir sehen dich um vier, Manda, kurz vor der Brücke zum Lucy’s.«

»Bis dann.« Amanda nickte erst Bertie zu, dann uns und schwang sich anschließend auf ihr Pferd, um davonzuradeln. Sie fuhr sehr schnell und schwenkte mal hierhin, mal dahin, um andere Radfahrer zu überholen. Während ich ihr so nachsah, machte sie mich immer neugieriger.

»Was ist los mit ihr?«, fragte Daisy.

»Unwichtig«, antwortete Bertie. »Sie hält sich in diesen Ferien vom Maudlin fern. Mehr müsst ihr nicht wissen.«

Daisy drehte sich zu mir um und schnitt eine Grimasse. Ich begriff sofort. Etwas Merkwürdiges ging hier vor – etwas, dem ich ebenso dringend auf den Grund gehen wollte wie Daisy.

»Kommt schon, ihr beiden«, sagte Bertie. »Ich will euch alles gründlich zeigen, bevor es Tee und Abendessen gibt.«

»Kommen Chummy und Donald auch zum Abendessen?«, wollte Daisy wissen. »Verbringen sie die Ferien im Maudlin?«

Bertie nickte. »Ja. Habe doch vorhin gesagt, dass sie am ersten Weihnachtsfeiertag Geburtstag feiern. Sie werden einundzwanzig – sie sind schon ein bisschen älter als der Rest von uns – und Donald bekommt endlich sein Erbe. Sie werden beim Abendessen da sein, genau wie Alexander und George – Georges Bruder, mein Freund Harold vom St. John’s College, bringt sie mit. Übrigens, Kürbiskopf, ich wusste, dass Harold einen kleinen Bruder namens George hat, aber mir war nicht klar, dass es dein George ist!«

»Es ist nicht mein George! Ich habe ihn noch nie getroffen«, erklärte Daisy. »Genauso wenig wie Hazel. Befreundet ist sie mit Alexander.«

»Dem Amerikaner?«, fragte Bertie.

»Dem Lästigen«, meinte Daisy.

Ich verzog das Gesicht. Vergangenes Trimester war Alexander tatsächlich der Grund für eine Menge lästigem Ärger zwischen Daisy und mir gewesen und hatte unseren beinahe schlimmsten Streit überhaupt ausgelöst, aber ich hatte gehofft, das alles würde der Vergangenheit angehören. Plötzlich war ich wie elektrisiert beim Gedanken, Alexander schon so bald zu sehen. Heute! Ich war nicht sicher, ob ich dafür bereit war.

5

Wir liefen durch eine lange Straße, die vom Bahnhof wegführte. Links und rechts standen weiße Häuser mit breiten Fenstern, die von wunderschönen, kahlen Bäumen eingerahmt wurden. Im Laufen deutete Bertie auf verschiedene Sehenswürdigkeiten.

»Schaut mal, da drüben: Der Park dort heißt Parker’s Piece! Dort wird im Sommer Kricket gespielt. Es ist schrecklich schön da.«

Ich schaute und schaute – und wurde den Drang nicht los, vor Entzücken aufzuschreien. Vor uns lag ganz Cambridge, überall steinerne Mauern, Gras und Statuen. Alles war alt und so wunderschön, dass ich ganz überwältigt war. Immer wieder kamen wir an Rundbögen vorbei, die aussahen wie Tore in eine geheime andere Welt – ich erhaschte Blicke auf herrliche Rasenflächen mit Brunnen und Wegen, auf denen Männer mit schwarzen Hauben und Roben spazierten.

Es hatte den Anschein, als hätte Bertie uns zu jedem Fleck, an dem wir vorbeikamen, eine Geschichte zu erzählen: Eine alte Eichentür hatte einem Studenten im zweiten Semester als Versteck vor einem Polizisten gedient; eine hohe Mauer war der Ort, an dem Harold seine Kappe verloren hatte, weshalb er darüber klettern und sie wiederholen musste, während die übrigen Schmiere standen; eine gewundene Pflastersteinstraße, in die sich tief die Äste der Bäume neigten, war die Abkürzung zu einem famosen Wirtshaus. Wir mussten uns fast zehn Minuten gedulden, bis wir vor einem irrsinnig hohen Steingebäude standen, das mit Gittern umzäunt war, um schlagartig zurück zum Thema Unfälle zu kommen.

»Mist!«, schimpfte Bertie, als er nach oben spähte. »Purer Leichtsinn! Jemand hat einen Schuh auf dem Senatshaus verloren.«

Ich dachte schon, er hätte den Verstand verloren, sollte mich aber täuschen. Auf einem Vorsprung knapp sieben Meter über uns lag tatsächlich etwas, das verdächtig nach einem Turnschuh aussah.

»Wie kommt der da hin?«, fragte ich.

Bertie wirkte verlegen. »Kürbiskopf, Hazel, versprecht ihr, keinem zu verraten, was ich euch jetzt sage?«

»Natürlich«, versicherte Daisy und rollte mit den Augen. »Wir halten immer dicht!«

»Bestimmt? Es ist nämlich wichtig«, bekräftigte Bertie. »Schwört, dass ihr nichts ausplaudert! Wenn doch, sorge ich dafür, dass ihr auf direktem Weg zurück ins Internat wandert!«

Die Drohung war ganz schön schlimm – Daisy wurde blassrot und weiß. Sie verzog die Nase. »Ja, ja, ist gut«, sagte sie. »Ich bin keine Petze. Ist keine von uns.«

»Ich sage keinem was«, versprach ich. »Ehrenwort.«

»In Ordnung«, meinte Bertie und sprach leiser. »Also. Ein paar von uns … klettern.«

»Weiß ich doch!«, sagte Daisy. »Das hast du mir längst erzählt.«

»Psst! Ich habe doch gesagt, es ist ein Geheimnis!«, zischte Bertie und fuhr noch leiser fort. »Na schön. Ich bin ein Nachtkletterer. Wir sind eine Gruppe – eine streng geheime Gruppe – von Studenten, die nachts auf Gebäude klettert.«

Ich betrachtete staunend die Türmchen, Wasserspeier und hohen Steintürme von Cambridge. Sie befanden sich so hoch über uns. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie jemand so weit hinauf gelangen konnte, ohne sich den Hals zu brechen.

»Es sind alles Nacht-und-Nebel-Aktionen«, erzählte Bertie weiter. »Wenn man erwischt wird, fliegt man. Das heißt, man wird rausgeworfen, Hazel. Man erfährt niemals mehr als, wer in der eigenen Gruppe des Clubs ist – so kann man nicht zu viele andere mit reinreißen, wenn sie einen ertappen. In unserem Verband sind wir zu fünft: Chummy, Donald, noch ein Kerl namens Alfred und ich, alle aus demselben Haus am Maudlin, und dann noch Harold aus dem John’s. Wir haben alle Geschichte belegt, so haben wir uns kennengelernt. Wir treffen uns nach Mitternacht auf dem Dach vom Maudlin und planen unsere Routen. Es ist schrecklich aufregend – spannender als Bergsteigen. Man benutzt nur Hände und Füße, nur manchmal, wenn es gar nicht anders geht, auch Draht und Seil. Was mich glatt an Donalds letzten Unfall erinnert – sein bisher schlimmster, wenn ich so darüber nachdenke.«

»Ach ja?«, hakte Daisy nach. »Erzähl!«

»Tja, wir alle klettern, aber irgendwie ist es immer Donald, der dabei was abkriegt. Immer ist es sein Seil, das reißt, oder seine Mauer, die abbröckelt. Inzwischen machen wir schon Witze darüber. Letzte Woche sind wir alle hier aufs Senatsgebäude geklettert – eine ziemlich knifflige Strecke, aber gut bekannt. Jeder hat sie schon Dutzende Male mitgemacht. Es gibt da eine Stelle, an der man an einem Regenrohr hochklettert und sich nach einem Vorsprung ausstrecken muss. Chummy war vorne und Donald unter ihm – und plötzlich, einfach so, ist ein ganzer Teil aus dem Steinvorsprung rausgebrochen und auf Donald gestürzt.

Zum Glück hatte er gerade die Arme nach oben ausgestreckt, sodass sie den Großteil der Wucht abgeschmettert haben, aber es hat ihn mehrere Meter bis zum nächsten Sims mitgerissen. Wir sind sofort zu ihm – sein Mantel war zerrissen und seine Arme völlig zerkratzt. Auch sein Kopf hatte einiges abbekommen – er hat sein ganzes Hemd vollgeblutet. Als er es Moss zum Waschen gab, musste er so tun, als wäre er mit dem Rad gegen eine Mauer gefahren. Moss ist unser Bedder – so eine Art Butler. Er betreut das ganze Haus neun, räumt unsere Zimmer auf und so. Ihr lernt ihn später noch kennen. Aber wie gesagt, das war der bisher schlimmste Unfall, den Donald hatte.«

»Und ist Chummy immer dabei, wenn so was passiert?«, wollte Daisy wissen. Worauf sie hinaus wollte, war klar. Donald war der Erbe eines enormen Vermögens, während sein Bruder Chummy vollkommen leer ausgehen würde. Sollte Donald etwas zustoßen, würde an seiner Stelle Chummy der Melling-Besitz zustehen. Es schien höchst interessant, dass Donald immer wieder in Gefahr geriet, so kurz vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag.

»Wie?« Bertie runzelte die Stirn. »Tja … schätze schon. Aber ihr habt das falsch verstanden. Das ist nicht Chummys Schuld. Er spielt Donald ganz andere Streiche.«

Daisy und ich wechselten einen ungläubigen Blick.

»Er spielt Streiche?«, wiederholte Daisy.

»Und ob«, bestätigte Bertie. »Habe ich noch nicht erwähnt, dass Chummy gerne Streiche ausheckt? Er ist ein echter Scherzbold – nimmt uns ständig aufs Korn, vor allem Donald. Bestimmt steckt er hinter dem Schaf, das im Innenhof frei herumlief, auch wenn er es noch nicht zugegeben hat. Er vertauscht unsere Kappen, sodass keine mehr passt, und klebt den Dons irgendwelche Frechheiten auf den Rücken. Aber Donald kriegt am meisten ab. Chummy klettert über die Dächer vom Maudlin und versteckt zum Beispiel Donalds Sachen da. Oder er näht die Säume seiner Ärmel zusammen oder legt ihm Frösche ins Bett. Junge, vor ein paar Tagen hat er Donald einen Eimer Eiswasser auf die Tür gestellt. Am Ende ist Donald allerdings der ganze Eimer auf den Kopf gefallen, nicht nur das Wasser, und Moss musste ihn schon wieder verbinden! Chummy hat es abgestritten, aber wir wissen natürlich alle, dass es auf sein Konto geht. Donald hat ganz schön belämmert aus der Wäsche geguckt!«

In meinem Nacken begann es zu prickeln. Etwas an all dem klang wesentlich ernster als dumme Streiche es für gewöhnlich tun.

»Jetzt seht euch zwei an, Kürbiskopf!« Bertie lachte. »Kommt schon, es ist Weihnachten! In dieser Woche dreht sich alles um Nüsse, Orangen, Marzipan und Geschenke. Sucht ja nicht nach Ärger, wo es keinen gibt!«

»Tue ich nie!«, verteidigte Daisy sich. »Ich kann doch nichts dafür, wenn der Ärger nach mir sucht. Und überhaupt, warum tadelt nie jemand Hazel? Sie hat schon genauso viel mitgemacht wie ich.«

»Nicht absichtlich!«, sagte ich. Es stimmt, dass der Ärger uns auf Schritt und Tritt folgt, aber nicht, weil wir ihn einladen – glaube ich zumindest. Hatten die Schwierigkeiten aufs Neue begonnen, hier in Cambridge?

»Jetzt zieht nicht so ein Gesicht!«, sagte Bertie. »Schaut mal hinter euch – seht euch den Ausblick an!«

Wir drehten uns um. Rechts von uns erhob sich die massige Kapelle des King’s College. Umgeben von Türmen wuchs sie aus dem Gras; das Mauerwerk wirkte so fein wie Spitze. Es fühlte sich irgendwie unecht an, dass ich auf einmal so dicht davor stand, nachdem ich so viele Bilder davon gesehen hatte. Als wäre ich unverhofft über einen Drachen gestolpert oder die Pyramiden. Ich war hingerissen.

»Nicht schlecht, was?«, meinte Bertie. »Ihr solltet sie mal bei Nacht sehen, vom Dach des Senatsgebäudes aus! Man kann über ganz Cambridge blicken und die King’s Chapel von Nahem sehen. Von so weit oben ist sie wirklich prächtig. Mit den Wolken dahinter, wisst ihr? Und den ganzen Türmchen.«

Er klang so entspannt, als hätte ihm allein das Reden übers Klettern gut getan. Ich glaube, ich weiß, warum. So hoch oben zu sein, muss einem eine völlig neue Sicht auf die Dinge ermöglichen. Während Bertie die Kapelle betrachtete, erinnerte er sich an seinen eigenen geheimen Ausblick darauf – ein Geheimnis, das er auch noch lange nach dem gefährlichen Klettern bewahren konnte.

Cambridge war wirklich schön, unfassbar schön. Beinahe zu schön, um es zu begreifen. Ich versuchte, mich von dem schwindelerregenden Bild der King’s Chapel bei Mondschein loszureißen und auf die Dinge vor meiner Nase zu konzentrieren: die Fahrräder, die vorbeisausten, die warm erleuchteten kleinen Läden im Schein der Laternen, die Süßigkeiten, Kuchen und Studentenroben verkauften. Und die Gruppe Weihnachtssänger, die Wir drei Könige aus dem Morgenland anstimmten.

Bertie trat vor, um dem Chor einige Münzen in den umgestülpten Zylinder zu werfen, und während er abgelenkt war, griff Daisy mich am Arm. »Da ist was faul!«, zischte sie. »Glaubst du nicht auch, Hazel? Etwas zwischen Chummy und Donald!«

»Du meinst … die Unfälle?«, fragte ich.

Daisy nickte. »Ich habe das schreckliche Gefühl, dass Donald schon bald etwas wirklich Furchtbares zustoßen könnte«, sagte sie unheilvoll.

6

Sobald wir an der Kapelle vorüber waren, wurde die Straße schmaler. Von beiden Seiten umschlossen uns hohe Mauern. Die Gebäude bestanden alle aus Ziegeln und Steinen, waren wunderschön und alt.

Ich war so damit beschäftigt, sie zu bestaunen, dass ich nicht darauf achtete, wohin ich trat. Ich rutschte auf einem losen Pflasterstein aus und stolperte auf die Straße. »Hey!«, brüllte jemand. Daisy konnte mich gerade noch rechtzeitig zurück auf den Gehsteig reißen, als rechts von mir auch schon ein Mann auf einem Fahrrad vorbeischoss, genau dort, wo ich eben noch gestanden hatte. Er war tief über den Lenker gebeugt, trug eine Kappe, unter der braune Haare hervorlugten, und eine Robe, die hinter ihm herwehte, und während ich mit offenem Mund keuchend dastand, drehte er sich mit wütender Miene zu mir um. Sein Gesicht war ziemlich rund und er hatte eine Stupsnase – an sich nette Züge, doch seine Art machte ihn irgendwie unfreundlich.

»Pass auf, Wells!«, rief er, hielt an und stellte einen Fuß auf den Boden. Dann erst begriff ich, dass er mit Bertie redete. »Sorg dafür, dass deine Gäste sich benehmen, sonst lasse ich dich aufschreiben! Ich hab sie fast überfahren!« Dann stieß er sich ab und verschwand, wild in die Pedale tretend, in einer Gasse zu unserer Rechten.

»Was für ein Ekel! Kennst du ihn?«, fragte Daisy ihren Bruder, nachdem der Mann weg war.

»Das ist Michael Butler«, erklärte Bertie. »Ein Geschichts-Don, noch ziemlich jung. Er kann sich keine vernünftige Unterkunft leisten, also wohnt er unten im Treppenhaus und verdient sich was dazu, indem er uns herumkommandiert. Er kann ganz in Ordnung sein, bis ihm einfällt, dass er eigentlich die Verantwortung für uns hat. Dann wird er schlagartig schrecklich langweilig und regt sich wegen der kleinsten Kleinigkeiten auf. Er ist nicht ganz unschuldig daran, dass wir alle klettern – das Regenrohr ist einfach der einzige Weg, nach Anbruch der Dunkelheit noch rauszukommen, solange Butler den unteren Ausgang bewacht. Jeden Abend sperrt er die Haustür um Punkt elf zu, und wehe dem, der zu spät kommt!« Bertie wechselte das Thema.

»Also da vor uns liegt das Museum.« Er zeigte darauf. »Sieht ein bisschen aus wie ein griechischer Tempel. Ich war noch nicht drin – dafür war ich einmal obendrauf. Und da drüben links, das ist das Fitzbillies. Dort gibt es die absolut besten Chelseaschnecken in ganz Cambridge. Ihr müsst da unbedingt mal hin.«

Im Vorbeigehen blickte ich staunend in das leuchtende Schaufenster des kleinen Ziegelgebäudes. Es war voll von den herrlichsten Köstlichkeiten: ganze Berge von rosa-weißen Leckerbissen, Küchlein mit Sahnehauben und besprenkelt mit Nüssen und ein Gebirge aus gedrehten goldbraunen Gebäckteilchen. Sie strotzten vor Rosinen und trieften vor Sirup. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Seit den Sandwiches im Zug mit dem zerlaufenen Käse und dem klebrigen Chutney waren inzwischen Stunden vergangen. Hinter dem Gebäck sah ich Tische mit Gästen, die ausgezeichnete Teegedecke genossen. Mein Magen knurrte.

Doch wir wandten uns ab und der schmalen Gasse mit dem Kopfsteinpflaster zu, in der Michael Butler verschwunden war. Womöglich lag es nur an den hohen Mauern ringsum, doch der Tag schien schlagartig düsterer zu werden, die Schatten uns einzuhüllen. Die Luft war eisig und unser Atem hing als weißer Dampf vor uns.

»Gleich kommen wir am Maudlin vorbei, aber da bringe ich euch erst später hin. Wir müssen zum St. Lucy’s. Hier entlang.«

Ich schaute nach links auf hohe Ziegelmauern und eine schwere Holztür, eingelassen in den Fuß eines schmalen Turms. Dann hatten wir die Pflasterstraße auf einmal hinter uns gelassen und standen im Freien. Vor uns lag eine gewölbte steinerne Brücke, unter der ein glänzender dunkler Fluss hindurchfloss. Dies waren die berühmten Backs, die ich aus den Geschichten meines Vaters kannte. Hier schwammen im Sommer die Flussboote, faulenzten die Studenten, machten Picknick oder lernten für ihre Examen. Ich staunte. Alles war wie im Bilderbuch und so englisch. Auf unserer Uferseite erhoben sich die Steingebäude der Colleges, geschmückt von hellen Fenstern, Schnörkeln und Säulen. Es fühlte sich an, als würden ihre Lichter mich willkommen heißen.