Mord in kleinen Dosen - Robin Stevens - E-Book

Mord in kleinen Dosen E-Book

Robin Stevens

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Beschreibung

Mit diesem Buch geht es weiter für alle Fans der Reihe Wells & Wong! In sechs spannenden, brandneuen Fällen folgen wir Hazel und Daisy erneut auf Spurensuche und sehen den beliebten Detektivinnen noch ein letztes Mal beim Ermitteln zu. Wir begleiten sie auf die Hochzeit von Onkel Felix, die Schauplatz einer unangenehmen Bedrohung wird, schleichen uns nachts mit ihnen ins Museum, knacken Geheimcodes und lernen Hazels kleine Schwester Mae von einer ganz neuen Seite kennen: Sie hat sich vorgenommen, Daisy und Hazel nachzueifern und die beste Spionin zu werden, die die Welt je gesehen hat... Diesen neuen Fällen gehen Wells & Wong in den Minikrimis nach: Der Fall des zweiten Schreis Der Fall des ungebetenen Gasts Der Jagdhund von Weston Der Fall der tödlichen Wohnung Der Fall des unauffindbaren Schatzes Der Fall der versunkenen Perle Die lang erwarteten Minikrimis rund um die Detektivinnen Hazel und Daisy versprechen einmal mehr fesselnde Spannung und clevere Protagonistinnen.

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Seitenzahl: 337

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Für alle, die wir verloren haben

Titel der Originalausgabe: Once upon a crime

Erschienen bei Random House Children’s Publisher UK, a division of The Random House Group Limited.

Copyright Text © 2021 Robin Stevens

Published by Arrangement with Robin Stevens

Copyright Gestaltung © 2021 Nina Tara Design

Diese Ausgabe wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Deutsche Erstausgabe

Copyright © 2022 von dem Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG, München

Ein Unternehmen der Média-Participations

Umschlagadaption: Leonore Höfer, Knesebeck Verlag

Übersetzung: Nadine Mannchen, Helmbrechts

Lektorat: Theresa Scholz, Knesebeck Verlag

MORD IN KLEINEN DOSEN

Eine Sammlung

von alten wie neuen Fällen der Detektei Wells & Wong, der Junior Pinkertons und May Wong.

September 1939

Inhaltsverzeichnis

Der Fall des ungeladenen Gastes

Januar 1936

Das Rätsel um die verschwundenen Schätze

Mai 1936

Der Fall der ertrunkenen Perle

Juli 1936

Der Hund von Weston

Dezember 1936

Das Geheimnis um den zweiten Schrei

April 1937

May Wong und die todbringende Wohnung

September 1939

DER FALL DES UNGELADENEN GASTES

Ein Bericht über

den »Vorfall auf der Hochzeit

von Onkel Felix und Tante Lucy«

im Rahmen der Ermittlungen der

Detektei Wells & Wong.

Aufgezeichnet von Hazel Wong

(Schriftführerin und Vizevorsitzende der Detektei), 14 Jahre alt.

Begonnen am 3. Januar 1936.

In dieser Geschichte geht es nicht um einen Mordfall. Obwohl nicht viel gefehlt hätte, was mir noch immer Unwohlsein bereitet, wenn ich daran denke, wie knapp wir der Katastrophe entgangen sind. Allerdings ist es die Geschichte eines Verbrechens, und zwar eines äußerst rätselhaften und dramatischen, das die Detektei während einer höchst wichtigen Hochzeit aufgedeckt hat.

Die Detektei, das sind natürlich Daisy Wells und ich, Hazel Wong. Wir gehen in die zehnte Klasse des Mädcheninternats Deepdean – obwohl wir uns in letzter Zeit nicht wie Schülerinnen, sondern viel mehr wie Detektivinnen vorgekommen sind, denn erst vor zwei Tagen waren wir noch in Cambridge, wo wir unseren fünften Mordfall aufgeklärt haben.

Die Hochzeit, von der die Rede ist, war die von Daisys Onkel Felix, und sie fand 1936 am Neujahrstag in London statt, auf dem Standesamt von St. Pancras. Es war die erste englische Hochzeit, die ich je miterlebt habe, und ich war ziemlich überrascht, wie sehr sie sich doch von den Hochzeiten unterschieden hat, von denen ich in Büchern gelesen habe. Typisch für die Hochzeiten in den Geschichten sind endlose Wolken aus Tüll und meterweise Satin, Brautjungfern mit Gänseblümchen und Kate-Greenaway-Kleidern und die Stimmen von engelsgleichen Chören, die durch hohe Kirchengewölbe hallen. Die Hochzeit von Onkel Felix und Miss Livedon war vollkommen anders.

Daisys Großtante, Tante Eustacia, war schockiert, als Onkel Felix und Miss Livedon uns im St.-Lucy-College in Cambridge besuchten, um uns von ihren Plänen zu unterrichten. »Was denken Sie sich?«, sagte sie zu Miss Livedon. »Eine Hochzeit ohne weißes Kleid! Nahezu ohne Gäste! An einem geradezu lächerlichen Tag im Jahr! Sollte mein Neffe Sie dazu zwingen –«

»Das tut er keinesfalls«, unterbrach Miss Livedon sie gut gelaunt. »Wir haben alles ausführlich besprochen. Keiner von uns hat ein Interesse daran, ein großes Brimborium zu veranstalten. Wir wollen einfach nur verheiratet sein und der Neujahrstag ist perfekt für eine ruhige Trauung. Und was das Kleid angeht, so trage ich andauernd die lächerlichsten Kostüme, daher ist es absolut verständlich, dass ich an meinem Hochzeitstag einfach nur vernünftig und wie ich selbst aussehen möchte. Ich werde mein blaues Rock-Ensemble tragen, dann können Daisy und Hazel blaue Bänder um Kleider binden, die sie bereits besitzen. Wie werden hübsch zusammenpassen.«

Tante Eustacia schnaubte wütend und stolzierte durch den kalten Collegeflur zurück in ihr Büro.

»Worüber regt sie sich eigentlich so auf?«, fragte Daisy. »Ist ja nicht so, als wäre sie je verheiratet gewesen! Normalerweise ist sie absolut sachlich und unkonventionell.«

Ich fragte mich, ob vielleicht genau das mit ein Grund sein konnte. Insgeheim freute ich mich darüber, dass man Daisy und mich nicht wie Püppchen herausputzen würde. Daisy sieht in Spitze hinreißend aus, aber ich wirke immer wie verkleidet.

Sorgen bereitete mir nur eines. »Aber was ist mit dem Kuchen?«, fragte ich Daisy an unserem letzten Abend in Cambridge, als wir unsere weißen Kleider aus den Koffern nahmen und sie für das Hausmädchen von St. Lucy’s zum Bügeln bereitlegten. Der Kuchen spielt bei englischen Bücher-Hochzeiten eine große Rolle, und sehnsüchtig wünschte ich mir, einen echten probieren zu können.

»Selbstverständlich wird es Kuchen geben«, antwortete Daisy. »Ohne Kuchen ist es schlicht keine Hochzeit, Hazel.«

Am Neujahrstag rollten wir also in Onkel Felix’ silbernem Raketenauto durch die Landschaft und fuhren nach London. Es war so kalt, dass die Luft beim Einatmen im Hals kitzelte und ich die Hände in meinem warmen Wintermantel vergraben musste. Als wir Cambridge verließen, wurde der Himmel am äußersten Horizont gerade erst von einem orange-blauen Schimmer erhellt, und so fuhren wir in den Sonnenaufgang, der den Schnee auf den sanften Hügeln ringsum zum Glitzern brachte.

Daisy saß eingekuschelt neben mir, die Nase im Fell ihres Mantels vergraben, und Tante Eustacia saß dicht gedrängt neben ihr. Miss Livedon hatte vorne Platz genommen, neben Daisys Bruder Bertie, und Onkel Felix fuhr. Als wir London erreichten, schien mir die Wintersonne ins Gesicht und ich hörte die Kirchenglocken läuten. Unwillkürlich musste ich lächeln.

Als der Wagen vor dem Standesamt anhielt, stiegen Tante Eustacia und Miss Livedon aus, um, gefolgt von Bertie, ins Gebäude zu laufen. Doch als wir aus dem Auto klettern wollten, drehte Onkel Felix sich zu uns um.

»Daisy, Hazel«, sagte er. »Auf ein Wort. Ich habe einen Auftrag für euch.«

»Wahrscheinlich einen Strauß Blumen abholen«, sagte Daisy voller Verachtung. »Dir ist hoffentlich aufgefallen, dass Miss Livedon keinen hat? Also ehrlich, Onkel Felix, ihr habt euch über diese Hochzeit so gar keine Gedanken gemacht.«

»Die Trauzeugin wird den Strauß mitbringen, Daisy«, sagte Onkel Felix. »Und sei nicht so frech, sonst werde ich euch diesen besonderen Auftrag nicht zuteilen.« Er hatte die Stimme gesenkt und beugte sich mit ernster Miene zu uns. Plötzlich begriff ich, dass es sich hierbei um Detektivangelegenheiten handeln könnte.

»Hör auf, uns so zu drohen!«, rief Daisy. »Hazel, sag ihm, dass wir durchaus fähig sind!«

»Bitte, wir hören ja zu«, sagte ich einigermaßen verlegen zu Onkel Felix. Er ist so ungeheuer blond und eindrucksvoll, dass ich immer ein wenig nervös werde, wenn ich vertraulich mit ihm spreche. »Äh, was sollen wir denn tun?«

»Ihr müsst für mich nach jemandem Ausschau halten«, antwortete Onkel Felix.

Ich spürte regelrecht, wie Daisy die Ohren spitzte.

»Oder besser gesagt: Ihr sollt dafür sorgen, dass eine gewisse Person dem Standesamt nicht zu nahe kommt. Am besten setzt sie keinen Fuß in das Gebäude, aber unter keinen Umständen darf sie das Zimmer betreten, in dem die Trauung vollzogen wird. Falls doch, wird es gravierende Konsequenzen haben.«

»Was für Konsequenzen?«, hauchte Daisy.

»Geht dich nichts an, naseweise Nichte«, antwortete Onkel Felix grinsend.

»Wie sieht diese Person denn aus?«, erkundigte ich mich. Ich stellte mir eine zwielichtige Gestalt vor, einen Mann mit rundem Filzhut und dunklem Anzug.

»Es ist eine Frau«, informierte Onkel Felix uns. Mein zwielichtiger Mann löste sich in Luft auf. »Um die fünfzig – also älter als ich, aber jünger als Tante E.«

»Jeder ist jünger als Tante E.«, warf Daisy ein.

»Ungezogen«, kommentierte Onkel Felix. »Lass sie das ja nicht hören. Jedenfalls ist besagte Frau groß, grauhaarig und hat eine große Nase. Höchstwahrscheinlich trägt sie eine große Handtasche bei sich. Solltet ihr sie sehen, müsst ihr mich umgehend informieren, verstanden?«

»Nein!«, antwortete Daisy wie aus der Pistole geschossen. »Ich verstehe rein gar nichts. Wer ist diese Frau? Warum willst du sie nicht dabei haben? Ist sie eine Spionin? Und was, wenn sie sich verkleidet hat?«

»Nichts davon musst du wissen, um deine Aufgabe zu erfüllen«, meinte Onkel Felix und schraubte sich das Monokel fester ins Auge, um sich das Lächeln zu verkneifen. »Und ich traue euch durchaus zu, jede Art von Verkleidung zu durchschauen. Nehmt ihr den Auftrag an?«

»Natürlich!«, rief Daisy.

Sie packte mich am Arm und zerrte mich aus dem Automobil, sodass der Ärmel meines Mantels ganz verdreht wurde. »Aua!«, rief ich.

»Hazel, sei still. Wir haben uns wie Detektivinnen zu benehmen!«, zischte Daisy.

Ich seufzte.

Das Standesamt war ein hübsches Gebäude aus gelben Ziegelsteinen mit einer Treppe, die zu einem breiten steinernen Torbogen führte. Die Stufen waren mit Schnee gezuckert und frisch mit weißen Blütenblättern bestreut.

»Das stammt noch von der letzten Trauung«, erklärte Daisy mir altklug. »In Standesämtern gibt es tagtäglich jede Menge davon. Oh, wer ist diese Frau?«

Sie blickte über meine Schulter zu jemandem, der gerade die Straße herunterging und auf uns zukam. Ich drehte mich um und schaute hin. Es war eine Frau – aber ich hatte nicht den Eindruck, dass es sich dabei um die Person handelte, vor der wir Onkel Felix warnen sollten. Sie war eindeutig jünger als fünfzig, etwa so alt wie Miss Livedon (auch wenn ich nie sicher bin, für wie alt ich Miss Livedon tatsächlich halte – je nachdem, wie sie sich kleidet, wirkt sie nämlich älter oder jünger), und sie war mittelgroß mit einem schmalen Gesicht und einer langen dünnen Nase, auf der eine schwarze Brille saß. Sie trug ein schickes rosa Ensemble aus Rock und Jacke und dazu einen kleinen Hut. In der Hand hielt sie ein Bouquet aus roten Rosen und gelben Lilien, außerdem winkte sie begeistert.

»Lucy!«, rief sie. »Hallo!«

Miss Livedon, die auf halber Höhe der Treppe stand und Staub von ihrem eigenen, wunderschön hellblauen Rock strich – zu dem sie unter der ebenfalls hellblauen Jacke eine rote Seidenbluse trug –, warf die Hände in die Höhe und stieß einen für Miss Livedon höchst untypischen Freudenschrei aus.

»Ethel!«, rief sie. »Ethel!« Damit sprang sie auf die Frau zu, wobei ihre modischen, hohen roten Absätze hörbar über die Steinstufen klackerten. Die beiden umarmten sich lachend. »Du hast dich kein Stück verändert!«, rief Miss Livedon.

»Natürlich hab ich das«, sagte die Frau namens Ethel. »Genau wie du. Aber – ach, ich würde dich trotzdem jederzeit erkennen!«

»Felix, ihr alle – das ist Ethel Baker«, verkündete Miss Livedon und drehte sich zu uns um, einen Arm um Ethels Taille gelegt. »Wir haben uns an der Schule kennengelernt, vor Jahren. Ach, das gute alte Headington Internat!«

»Schulfreundinnen!«, sagte Daisy.

»Ja, sei nicht so argwöhnisch, Daisy«, sagte Onkel Felix. »Ethel ist Lucys Erste Brautjungfer. Ich hätte angenommen, die Blumen hätten dir das bereits verraten.«

Daisy wurde rot. Sie hasst es, von irgendjemandem beim Ermitteln übertrumpft zu werden.

Ich beobachtete Ethel und Miss Livedon mit einem äußerst merkwürdigen Gefühl im Bauch. Schulfreundinnen sind Daisy und ich auch. Nun, da ich sie kenne, kann ich mir nicht vorstellen, je ohne sie zu sein – aber könnte es trotzdem passieren, sobald wir erst älter und erwachsen sind? Als ich in diesem Moment darüber nachdachte, wie es wohl wäre, später verheiratet zu sein, musste ich feststellen, dass ich mir eine verheiratete Daisy gar nicht ausmalen konnte.

Onkel Felix schaute auf seine Uhr. »Zeit, hineinzugehen«, sagte er. Er ging die Treppe hinauf und wies Tante Eustacia den Weg – doch vorher sah er mich und Daisy noch einmal vielsagend durch sein Monokel an, und ich wusste, er wollte, dass wir Wache hielten.

Die steinerne Eingangshalle mit den Säulen und dem weichen Teppich war verwirrenderweise voller Menschen. Eine Putzfrau kehrte Blütenblätter von der vorangegangenen Trauung auf, die auch hier herumlagen. Eine Frau in einem formellen grauen Rock eilte mit einigen Dokumenten vor der Brust an uns vorbei. Eine Art Büroangestellter pinnte Zettel an ein großes Schwarzes Brett und ein anderer, der in der Tür eines Büros stand, betrachtete uns beim Eintreten erwartungsvoll.

»Der Elf-Uhr-Termin?«, fragte er. »Mountfitchet und Livedon? Ich bin Mr Tempest, der Standesbeamte.«

Plötzlich löste sich eine Gestalt aus dem Schatten einer Säule und trat auf uns zu, was mir einen ziemlichen Schreck einjagte. Es war ein alter Mann, die Schultern rund und etwas gebeugt, die Haut leicht gräulich und der braune Anzug sehr ausgetragen. Wie hatte ich ihn übersehen können?

»Mountfitchet!«, sagte der Mann mit einer Stimme, die ebenso grau war wie er selbst. »Vergeben Sie mir, dass ich drinnen gewartet habe, doch ich war früh dran.«

»Sir!«, rief Onkel Felix, schritt zu ihm und klopfte ihm auf den Rücken. Es hätte mich nicht überrascht, wäre Staub von seinem Jackett aufgestiegen. »Danke, dass Sie gekommen sind! Darf ich Ihnen meine Verlobte vorstellen: Lucy, das ist der Alte Herr.«

Mit einem begeisterten Gesichtsausdruck stieß Daisy mich fest an. Bertie bedachte uns mit einem spöttisch-genervten Blick.

»Das ist der Alte Herr!«, zischte sie mir zu. »Er ist berühmt!«

»Nie von ihm gehört!«, flüsterte ich zurück.

»Ganz genau!«, meinte Daisy. »Nur die wichtigsten Leute haben von ihm gehört! Er arbeitet mit Onkel Felix zusammen, Hazel. Oder sollte ich sagen: Onkel Felix arbeitet für ihn.«

Über die Arbeit von Onkel Felix zu sprechen, ist schwierig. Er jedenfalls tut es nie. Und es kommt mir lächerlich vor, Schwarz auf Weiß aufzuschreiben, dass ich ihn für einen Spion halte. Aber vermutlich erscheinen unsere Abenteuer den meisten Menschen ebenfalls lächerlich, und ich weiß, dass die sehr real sind.

Allerdings war dies nicht die einzige Überraschung, die uns erwartete. Die Frau, die den Boden gefegt hatte, stellte ihren Besen unvermittelt an die Wand und nahm die Schürze ab. Ihr Kleid, das darunter zum Vorschein kam, saß zwar nicht allzu gut, war aber hübscher als ich zunächst angenommen hatte. Und obwohl sie recht rund und unscheinbar wirkte, hatte sie wachsame Augen und ein entschlossen vorgerecktes Kinn.

Ich spannte mich an. War das die Frau, nach der wir Ausschau halten sollten?

»Lucy«, sagte sie. »Ich fürchte, ich war ebenfalls ein wenig zu früh dran.«

»Oh!« Miss Livedon lachte. »Miss Sperry! Ausgezeichnet!«

»Ich gebe mein Bestes«, sagte die Frau, die sich energisch das Kleid glatt strich. »Der Alte Herr ist mir schon vor zehn Minuten aufgefallen, aber ich glaube, er hat mich nicht bemerkt.«

Der Standesbeamte, Mr Tempest, starrte Miss Sperry und den Alten Herrn mit offenem Mund an. Onkel Felix bedachte ihn mit der vollen Kraft seines charmantesten Lächelns und zwinkerte ihm mit seinen blauen Augen zu.

»Wie Sie sehen, sind wir vollzählig«, sagte er. »Sollen wir anfangen?«

»Ich …«, antwortete Mr Tempest kraftlos.

Ethel reichte den Blumenstrauß an Miss Livedon weiter, die sich neben Onkel Felix stellte und die Hand auf seinen Arm legte. Gemeinsam blickten sie den Standesbeamten durchdringend an, bis er einknickte.

»Wenn ich Braut und Bräutigam in mein Büro bitten dürfte«, murmelte er, »können wir die Vorbereitungen abschließen. Ich vermute, Sie haben Ihre Ausweispapiere dabei? Und die beiden Trauzeugen? Sie werde ich nach der Braut und dem Bräutigam brauchen.«

Onkel Felix deutete auf den Alten Herrn und Miss Sperry.

»Dann sind Sie vermutlich der Brautführer des Bräutigams, Sir?«, wandte Mr Tempest sich an Bertie.

Bertie schluckte und nickte. Er war schon den ganzen Morgen über ungewöhnlich still gewesen, und nun merkte ich ihm deutlich an, dass er nervös war.

»Prächtig. Dann kann die Trauung wie veranschlagt um elf beginnen. Ihr letzter Gast wartet übrigens bereits im Collins-Zimmer.«

»Welcher Gast?«, fragte Onkel Felix schroff. »Die Hochzeitsgesellschaft sehen Sie vollständig hier versammelt. Zwei Brautjungfern, meine Tante, mein Brautführer, die Schulfreundin meiner Verlobten und ihre Kollegin, und mein eigener Kollege. Wir erwarten niemanden mehr.«

Mr Tempest war mit seiner Geduld offenkundig am Ende.

»Die Dame hat sehr deutlich gemacht, dass sie wegen der Trauung um elf Uhr hier ist«, sagte er steif. »Wir sind ein öffentliches Gebäude, kein Club nur für Mitglieder, Sir. Wir verweigern niemandem den Zutritt. Sie wartet im Collins-Zimmer, wo die Zeremonie stattfinden wird, wie ich schon sagte. Wenn Sie wollen, gehen Sie zu ihr.«

»Daisy«, sagte Onkel Felix. »Hazel.«

Wir hatten verstanden. Während Onkel Felix und Miss Livedon das Büro des Standesbeamten betraten, um zu tun, was auch immer für geheimnisvolle Dinge Bräute und Bräutigame vor einer Hochzeit zu tun hatten, unterhielten sich Tante Eustacia, Bertie, der Alte Herr, Ethel und Miss Sperry im Foyer über Erwachsenen-Belanglosigkeiten – Daisy und ich eilten solange ins Trauzimmer.

Dort, genau wie Mr Tempest gesagt hatte, saß auf einem der für die Gäste bereitgestellten Stühle eine Frau.

Wieder hatte ich diesen Moment der Panik: War dies die mysteriöse Frau, vor der wir uns im Auftrag von Onkel Felix in Acht nehmen sollten? Doch ein einziger ruhigerer Blick verriet mir, dass sie es nicht sein konnte. Sie war jünger als fünfzig, sogar jünger als Miss Livedon und Ethel – und obwohl man durch eine Verkleidung älter wirken kann, ist es nicht möglich, wesentlich jünger zu erscheinen, ohne sich irgendwie zu verraten. Noch dazu – und vor allem – hatte sie eine kleine Stupsnase, keine auffallend große. Und aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man die eigene Nase nicht deutlich kürzer wirken lassen kann, als sie nun einmal ist, egal, wie gut man darin ist, sich zu maskieren. Diese Frau war nicht die Person, die wir suchen sollten.

Doch wer war sie?

Ich betrachtete sie mit meinem Ermittlerinnenblick. Sie war hierher gelaufen: Ihre Schuhe waren vom geschmolzenen Schnee noch immer feucht. Ihr Kleid war gut geschnitten und teuer, allerdings etwas aus der Mode gekommen. Sie trug keine Ringe an den Fingern, hatte aber einen kleinen Pompadour bei sich, den sie fest an die Brust drückte.

Daisy und ich wechselten einen Blick. Sie nickte mir kaum merklich zu und ich wusste sofort, dass wir uns einig waren: Dies war nicht unsere geheimnisvolle Frau, jedoch war sie ein Rätsel, das wir schnellstmöglich lösen mussten.

Daisy trat auf die Fremde zu und ich folgte ihr.

Daisy bei der Arbeit zu erleben, ist seltsam. Wenn ihr niemand zusieht, bewegt sie sich wie ein Einbrecher. Doch wenn sie Menschen davon überzeugen will, dass sie keine Bedrohung darstellt, hopst sie durch die Gegend wie ein putziges kleines Mädchen, und genau so lief sie auch jetzt. Wie ein Bild aus Weiß und Blau stolperte sie über den Stuhl der Unbekannten und ließ sich mit einem glückseligen Seufzen auf den freien Platz neben ihr plumpsen. Ich setzte mich auf die andere Seite der Frau, sodass sie zwischen uns eingezwängt war.

Die Fremde erschrak und stieß einen leisen, überraschten Laut aus.

»Du meine Güte!«, sagte sie. »Hallo!«

»Hallo!«, sagte Daisy und schenkte ihr ein charmantes Lächeln und einen blauäugigen Blick, der dem von Onkel Felix vor wenigen Minuten nicht unähnlich war. »Wie heißen Sie?«

»Ich bin … ich bin Miss Foster«, antwortete die Frau und blinzelte nervös. »Und wer sind –?«

»Sind Sie auch wegen der Hochzeit hier?«

»Oh – ja …«, antwortete Miss Foster zögerlich. »Aber …«

»Gehören Sie zur Braut oder zum Bräutigam?«, fragte ich.

»Oh, zur Braut«, sagte Miss Foster nach einer kurzen Pause. »Wir kennen uns von der Schule, Sie wissen schon. In Latein waren wir Banknachbarinnen. Lily war immer so vernarrt in ihre Bücher. Das alles scheint inzwischen unendlich lange her!«

Nervös sah sie sich um und griff ihre Handtasche fester. Daisy beobachtete sie wie eine Katze.

»Wo sind denn alle?«, platzte Miss Foster heraus. »Ich war sicher, es würden noch andere hier sein – das ist wirklich seltsam!«

»Ach, die sind bestimmt bald da«, meinte Daisy beruhigend. »Sie warten wahrscheinlich auf – wie heißt er noch gleich? Sie wissen schon, der alte –«

»Oh, Onkel Mark!«, rief Miss Foster und lächelte zum ersten Mal. »Ja, ich erinnere mich. L fand es immer zum Verrücktwerden, wie langsam er ist!«

»Onkel Mark«, wiederholte Daisy. »Natürlich.«

Kurz war ich verunsichert. Die Namen Lily und Onkel Mark sagten mir nichts – doch was, wenn es sich bei dieser Dame wirklich um eine Freundin von Miss Livedon handelte, die sie unter einem ihrer vielen anderen Namen kannte? Was, wenn es für alles eine ganz plausible Erklärung gab? Andererseits …

»Denken Sie nur«, sagte Daisy. »In einer halben Stunde wird sie ein ganz neuer Mensch sein!«

»Mrs Harcourt«, seufzte Miss Foster. »Mrs Gerard Harcourt. Ach, es kommt mir wirklich wie eine Ewigkeit vor, dass wir gemeinsam auf der guten alten Deepdean waren!«

»Aber wir gehen auch auf die Deepdean!«, rief ich.

Miss Fosters Miene hellte sich auf. »Nein!«, keuchte sie. »Oh, hat es sich verändert? Unterrichtet Miss Lappet noch dort?«

Daisy stürzte sich in eine schnelle und entspannte Unterhaltung über Unterricht und die Fräulein, über das Wohnheim und die Süßen Pausen – und warf mir dabei einen bedeutungsschweren Blick zu. Endlich hatten wir einen Nachnamen, Harcourt, einen, den ich – offenbar genau wie Daisy – noch nie gehört hatte. Diese Frau war eindeutig nicht wegen Onkel Felix und Miss Livedons Trauung hier. Also was hatte sie hier zu suchen?

Miss Foster redete weiter (sie vermisste Deepdean schrecklich, und es klang ganz so, als hätte es das Leben mit ihr nicht sehr gut gemeint, seit sie die Schule abgeschlossen hatte: Mittlerweile war sie als Sekretärin bei einem grauenhaften Geschäftsmann angestellt, der sie selbst an Wochenenden und Feiertagen arbeiten ließ). »Die Clemences waren immer so gut zu mir!«, wiederholte sie häufig. »In den Ferien hatten wir immer so viel Spaß zusammen! L war ein richtiger Wildfang, ist von zu Hause weggelaufen und solche Sachen, aber Mr und Mrs Clemence haben ihr stets vergeben.«

Daisy räusperte sich vielsagend, woraufhin ich sagte: »Entschuldigen Sie mich. Ich muss mal zur …«

Ich eilte aus dem Collins-Zimmer und zurück in den Flur, der zur Eingangshalle des Standesamtes führte. Dort trat ich an das Schwarze Brett, an dem der Beamte zuvor einen Zettel angebracht hatte.

»Hallo, Hazel!«, sagte Bertie mit einem nervösen Zittern in der Stimme – vermutlich machte ihm der Gedanke daran zu schaffen, Onkel Felix’ Brautführer zu sein. »Wohin denn so eilig?«

»Ach«, antwortete ich und versuchte, gelassen und normal zu klingen. »Ich wollte nur zu der Anschlagtafel. Ich soll für Daisy etwas nachsehen.«

»Hmmm«, machte Bertie und ich war von Herzen dankbar, dass er in Gedanken viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt war, um zu bemerken, wie merkwürdig sich das anhörte.

Ich spähte zu dem Schwarzen Brett und fand unter dem Datum 1. Januar 1936 eine Liste von Namen.

10 Uhr: Roger Thomas Bowen und Annie Bradley

11 Uhr: Felix Henry Charles Seldom Mountfitchet und Lucy Felicity Livedon

12 Uhr: Gerard Harcourt und Lily Victoria Clemence

Seltsam. Meine Finger begannen zu kribbeln. Hatte Miss Foster sich einfach in der Uhrzeit vertan? Oder hatte jemand gelogen?

Ich flitzte zurück zum Collins-Saal. Als ich eintrat, sagte Daisy gerade: »Ach du meine Güte, sollten wir dann nicht schnell von hier verschwinden? Die Elf-Uhr-Trauung findet in zwanzig Minuten statt!«

Miss Foster schien vollkommen verdutzt. »Nein, natürlich bleibe ich«, sagte sie. »Die Elf-Uhr-Hochzeit ist doch die von Lily und Gerard!«

»Leider nein«, sagte ich. »Ich habe es gerade noch einmal überprüft. Ihre Trauung ist um zwölf. Um elf werden Felix Mountfitchet und Lucy Livedon verheiratet.«

»Aber …«, rief Miss Foster. »Aber – ach, was für ein Durcheinander! Ich habe mich schon gewundert – doch die Einladung kam mit der Post und darauf stand hundertprozentig elf Uhr. Vielleicht …«

Offenbar – so ging es mir durch den Kopf, als ich mich wieder zu Daisy und unserer neuen Bekanntschaft setzte – war Miss Foster die Sorte Mensch, die ihre Gedanken und Sätze nicht ordentlich zu Ende brachte. Höchst frustrierend. Oder war es vielleicht Absicht? War sie ebenso auf der Hut wie wir? Woher sollten wir wissen, dass sie die Wahrheit sagte? »Einladung?«, hakte Daisy nach.

»Oh ja, sehen Sie.« Miss Fosters Finger wanderten zu ihrem kleinen Pompadour, um ihn mit einem Klick zu öffnen. Wir beugten uns vor und ich erhaschte einen Blick auf den Inhalt der Tasche: Kompaktpuder und Lippenstift, jede Menge Stifte und Papier – und zwei weitere Dinge. Eines war eine winzige grüne Glasflasche und das andere funkelte im elektrischen Licht des Zimmers. Es war so lang wie meine Hand, silbern und scharf. Das konnte doch sicherlich kein … Messer sein?

Doch bevor ich näher hinsehen und mich versichern konnte, zog Miss Foster eine Karte hervor und ließ den Pompadour wieder zuschnappen.

»Sehen Sie!«, sagte sie. »Punkt elf Uhr im Standesamt St. Pancras.«

Wir sahen beide hin. Miss Foster hielt uns eine hübsche cremefarbene Einladung vor die Nase, handgeschrieben mit grüner Tinte. Darauf stand:

»Der Aushang an der Tafel ist falsch – das hat Lily mir in ihrem Brief extra noch geschrieben«, fuhr Miss Foster gedankenverloren fort. »Sie hat mir gesagt, dass es eine Verwechslung gegeben hat, aber elf Uhr sei die richtige Zeit … Oh, ich verstehe das alles nicht!«

»Ein falscher Aushang?«, hakte Daisy nach und warf ihr ihren freundlichsten Blick zu.

»Ja, wissen Sie, der Aushang ist mir letzte Woche zufällig aufgefallen. Ich war nämlich hier, um für Mr Thompson etwas zu erledigen – sein Büro liegt nur zwanzig Minuten von hier entfernt. Und dieses Jahr habe ich selbst am ersten Weihnachtsfeiertag für ihn arbeiten müssen. Jedenfalls ist mir die Liste am Schwarzen Brett im Foyer aufgefallen. Lilys Name hat mich förmlich angesprungen. Ich habe mich erkundigt und ihre Adresse in London in Erfahrung gebracht – zum Glück! Sonst hätte ich ihr nach Schottland geschrieben, wissen Sie? Ich habe sie gefragt, ob ich auch kommen dürfte, und sie hat prompt geantwortet – so rücksichtsvoll. Immerhin habe ich sie seit Jahren nicht gesehen. Und sie hat mir diese Einladung beigelegt, darum bin ich nun hier. Ich verstehe das einfach nicht! Womöglich … Ach, ich verstehe es wirklich nicht!«

»Entschuldigen Sie uns einen Augenblick«, sagte Daisy geschickt. »Hazel und ich werden sehen, ob wir herausfinden können, was los ist. Bleiben Sie einfach sitzen.«

»Danke!«, sagte Miss Foster und klammerte sich an ihre Handtasche. Ihre Lippe bebte leicht, wie mir auffiel – sie war wirklich nervös. Doch erneut fragte ich mich: Konnten wir ihre Geschichte glauben? Oder steckte mehr dahinter als es den Anschein hatte?

Wir schlüpften aus dem Collins-Zimmer und steckten im Flur die Köpfe zusammen.

»Detektei-Notfall-Besprechung!«, zischte Daisy. »Uns bleiben weniger als zwanzig Minuten, um den Fall zu lösen. Also schnell: rede. Können wir ihr trauen?«

»Ich weiß nicht, Daisy. Ich habe etwas in ihrer Tasche gesehen – ich glaube sie hat ein Messer!«

»Es sah wirklich wie eins aus, nicht?«, gab Daisy mir recht. »Und diese Flasche – könnte es Gift sein … oder Tinte? Diese Einladung war interessant, findest du nicht? Handgeschrieben, was höchst verdächtig ist.«

»Warum?«, fragte ich. »Oh! Weil –«

»Weil man unmöglich wissen kann, wie viele Einladungen verschickt wurden – oder ob sie überhaupt echt ist«, führte Daisy meinen Gedanken zu Ende. »Man könnte hundert Leute einladen oder nur eine. Was vier Möglichkeiten nahelegt. Watson, liste sie auf.«

»Entweder hat sie aus Versehen eine Einladung mit der falschen Zeit erhalten«, sagte ich. »Oder man hat ihr absichtlich eine falsche Zeit genannt. Oder sie hat die Einladung selbst geschrieben und sich mit der Zeit vertan. Oder aber sie hat absichtlich eine falsche Zeit aufgeschrieben.«

Daisy nickte zustimmend. »Im ersten Fall müssen wir uns keine Gedanken machen. Im zweiten, dritten und vierten müssen wir uns definitiv den Kopf zerbrechen. Na schön. Nehmen wir an, Möglichkeit zwei trifft zu – was zugegeben wahrscheinlich ist. Immerhin sagte sie, Lily hätte behauptet, auf dem Brett im Standesamt – auf dem steht, die Trauung sei um zwölf – wäre ein Fehler unterlaufen, während wir wissen, dass es nicht so ist. Wer also könnte Miss Foster eine falsche Einladung schicken und warum?«

»Nun, die Braut natürlich – wie du gerade gesagt hast, hat sie Miss Foster in dem Brief geschrieben, die Hochzeit würde definitiv um elf stattfinden. Einmal kann man sich mit der Zeit vertun, wenn man nicht bei der Sache ist, aber gleich zweimal? Das deutet auf Absicht hin. Oder es war der Bräutigam – vielleicht auch ein anderer Gast –, der sich als seine Verlobte ausgegeben hat, weil er wollte, dass Miss Foster die Trauung versäumt!« Sobald ich das ausgesprochen hatte, war mir klar, dass das nicht stimmen konnte. »Aber das ergibt keinen Sinn. Sie ist ja schon hier, also muss sie nur bis zwölf warten. Warum sollte jemand wollen, dass sie zu früh zur Hochzeit kommt?«

»Da scheint es logischer, dass sie es selbst geschrieben hat«, sagte Daisy. »So hat sie einen Grund, vor dem Rest der Hochzeitsgesellschaft im Standesamt zu erscheinen. Und – na ja. Du hast doch selbst in ihre Tasche gesehen. Sobald wir alle im Collins-Zimmer sind, kann sie nach Lust und Laune ganz allein im Standesamt umherwandern, während Onkel Felix und Miss Livedon getraut werden. Was, wenn sie der Braut oder dem Bräutigam auflauern will, um sie mit dem Messer oder der Flasche anzugreifen?«

»Möglich«, sagte ich. »Wir wissen nicht, ob sie mit der Braut befreundet ist, richtig? Wir haben nur ihr Wort darauf. Eigentlich wissen wir gar nichts über sie!«

»Stimmt, tun wir nicht«, sagte Daisy. »Sie könnte alles Mögliche sein. Vielleicht ist sie eine – eine verschmähte Geliebte! Oder sogar die heimliche Ehefrau von diesem Gerard! Möglicherweise erpresst sie die beiden!«

Ich fand, dass Daisy die Wahrscheinlichkeit etwas überstrapazierte – aber ich gab ihr insoweit recht, als dass wir Miss Fosters Geschichte nicht einfach so glauben konnten.

»Wir müssen in Erfahrung bringen, was dieser Gerard und diese Lily für Leute sind«, entschied Daisy.

»Was macht ihr denn da?«, fragte eine Stimme. Wir drehten uns um. Es war Ethel, Miss Livedons Freundin. Sie hielt Miss Livedons Blumenstrauß in der Hand und blickte besorgt drein.

»Da drin ist eine Frau, die nicht dort hingehört«, sagte ich und nickte zur Tür des Collins-Zimmers. Daisy machte einen Schnalzlaut mit den Zähnen und ich wusste, was sie dachte: Ethel kannten wir eigentlich auch nicht. Miss Livedon kannte sie, und Miss Livedon war (aufgrund ihrer enormen Verschwiegenheit) eine Freundin der Detektei – aber genügte das? Immer wieder haben wir gelernt, manchmal auf recht grauenhafte Weise, dass jemanden zu kennen, nicht bedeutet, zu wissen, wozu er oder sie tatsächlich fähig ist.

Ethel schnappte nach Luft. »Um die fünfzig?«, fragte sie. »Hochgewachsen? Große Nase?«

»Nein!«, antwortete Daisy, die Ethel nun abwägend musterte. Dann wusste sie also auch von dieser Frau.

Ethel atmete erleichtert auf, was mich irgendwie überzeugte.

»Es ist eine jüngere Frau«, erzählte ich ihr. »Sie will auf die Hochzeit, die nach unserer stattfindet, aber sie hat sich in der Zeit geirrt. Sie denkt, um elf werden Gerard Harcourt und Lily Clemence getraut.«

»Die Ehrenwerte Lily Clemence«, berichtigte Daisy. »Haben Sie von einem der beiden schon einmal gehört?«

Ethel wirkte nachdenklich. »Clemence«, sagte sie. »Warum sagt mir der Name etwas …? Ach, aber natürlich! John Clemence, Parlamentsabgeordneter für East Lothian. Ja, ich glaube, er hat Töchter.«

»Ich kenne Harcourt«, sagte eine tiefe, rauchige Stimme im Flur. Alle drei zuckten wir zusammen und ich rückte näher an Daisy heran. Irgendwie, obwohl es eigentlich hätte unmöglich sein sollen, lehnte der Alte Herr an der Tür links von uns, wo sein Anzug perfekt mit dem beschatteten Holz verschmolz. »Mit dem hatten wir bereits das Vergnügen.«

»Wer –?«, setzte Daisy an.

»Gerard Harcourt ist ein Lump«, fuhr der Alte Herr fort, bevor er entschuldigend hüstelte. »Verzeihen Sie meine Ausdrucksweise. Stammt aus einer durchaus respektablen Familie, was vermutlich das Problem ist – hat die Welt auf dem Tablett serviert bekommen, was meiner Erfahrung nach oft zu Langeweile führt. Manchmal ist es gutartige Langeweile …«, er betrachtete uns forschend und ich wurde zappelig, »… und manchmal ist es die bösartige Sorte. Gerard Harcourt ist der bösartigen verfallen. Hat das Geld seines Vaters nach dessen Tod in Windeseile durchgebracht und sich dann als Betrüger versucht, allerdings ohne großen Erfolg. Doch die Banken haben Wind von ihm bekommen – mit ein wenig Nachhilfe von unserer Organisation. Heutzutage nehmen sie keinerlei Zahlungsanweisungen mehr an, die auf seinen Namen ausgestellt sind. Zuletzt kam mir zu Ohren, dass er nun versucht, Geld auf die altmodische Art zu verdienen.«

»Mit Arbeit?«, fragte Ethel, die nun ebenso neugierig war wie wir.

»Durch Heirat«, antwortete der Alte Herr. »Aber natürlich würden keine anständigen Eltern ihn in ihr Heim einlassen. Tatsächlich habe ich gehört, dass er versucht hat, um das ältere Clemence-Mädchen zu werben – sobald sie heiratet, wird sie ein stattliches Vermögen erben –, doch ihr Vater hat seine Einwilligung verweigert. Wie ich sehe, hatte diese Missbilligung den üblichen Effekt. Schade, ich hätte gedacht, dass Mädchen hätte mehr Verstand. Sie schien immer so gewissenhaft, ein recht belesenes Geschöpf, ganz anders als – nun ja. Die Menschen ändern sich, und nichts ist romantischer als gesagt zu bekommen, man könnte jemanden nicht haben.«

Ich schaute auf meine Armbanduhr. Es war fünf vor elf. Ich bekam ein ganz ungutes Gefühl. Wir hatten einen bösartigen Mann, der eine Frau heiratete, die man ihm eigentlich verboten hatte. Wir hatten einen Gast, der zu dieser Heirat zur falschen Zeit aufgekreuzt war. Beides schien mir irgendwie miteinander in Verbindung zu stehen, außerdem wichtig und … bedrohlich. Ich drehte mich zu Daisy um, die ihr nachdenklichstes Gesicht machte.

»Lucy und Mr Mountfitchet werden jeden Moment bereit sein«, sagte Ethel zu uns. »Würdet ihr diese Dame aus dem Zimmer holen? Sie sollte nicht bei der Zeremonie anwesend sein. Ich weiß, es wäre Lucy nicht recht.« Wir blickten zum Foyer, wo Bertie unruhig auf und ab ging, während Tante Eustacia versuchte, ihn zu beruhigen.

»Wir sollten uns jetzt um Braut und Bräutigam kümmern«, sagte der Alte Herr. »Ich kann mich darauf verlassen, dass Sie beide mit diesem kleinen Problem fertigwerden?«

»Mir gefällt das nicht«, sagte Daisy, sobald Ethel und der Alte Herr gegangen waren.

»Etwas stimmt nicht!«, platzte ich heraus. »Ich fühle es!«

»Die Frage ist, was können wir dagegen unternehmen? Wir haben kaum noch Zeit«, sagte Daisy.

»Etwas Schlimmes wird passieren«, sagte ich. Ich spürte es mit all meinen Detektivsinnen. »Wir müssen dafür sorgen, dass sie geht.«

»Mir ist da gerade etwas eingefallen«, sagte Daisy. »Der Alte Herr meinte, dass Mr Harcourt schon eine Weile versucht hat, zu heiraten. Was, wenn Miss Foster eine seiner Verflossenen ist? Was, wenn sie in ihn verliebt ist, er sie aber fallen lassen hat, als er erfuhr, dass sie nicht genug Geld hat – und jetzt ist sie wütend, weil er stattdessen ihre Schulfreundin heiratet? Was, wenn sie hier ist, weil sie Rache will?«

Ich dachte an die Flasche und das Messer.

»Oder – warte! Was, wenn er sie geheiratet hat, um sie dann sitzen zu lassen?! Du hast ihr Kleid gesehen, Hazel: teuer, aber mindestens aus der vorvorletzten Saison. Vielleicht ist sie deshalb arm und muss als Sekretärin arbeiten. Was, wenn Mr Harcourt Bigamie begehen will und sie hier ist, um es zu verhindern?«

»Kann sein, Daisy«, sagte ich. »Aber das erklärt nicht die Einladung, oder?«

»Hmmm.« Daisy runzelte die Stirn. »Ach, reden wir einfach noch ein letztes Mal mit ihr. Womöglich finden wir etwas Entscheidendes heraus!«

Wir stürmten zurück ins Collins-Zimmer. Miss Foster, die noch immer allein auf ihrem Stuhl saß, zuckte zusammen.

»Kommen die anderen jetzt?«, rief sie.

»Miss Foster«, sagte Daisy, »es hat wirklich eine Verwechslung gegeben. Lilys Hochzeit ist ganz sicher um zwölf, nicht um elf.«

Miss Foster verzog das Gesicht. »Ich verstehe nicht, warum ich mich so auf diese Einladung versteift habe!«, sagte sie. »Ich hätte es wissen sollen – auf der Tafel stand zwölf!«

In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich Miss Fosters Geschichte glaubte. Sie hatte wirklich nichts mit der fehlerhaften Einladung zu tun. Jemand hatte sie ihr geschickt.

Nur – warum?

»Ich hoffe wirklich, John, Emmeline und Isabelle werden da sein«, sagte Miss Foster nun. »Auch wenn alles nur in ganz kleinem Rahmen abgehalten wird. Herrje, ich habe sie nicht mehr gesehen seit …«

Ethel steckte den Kopf zur Tür herein.

»Drei Minuten!«, zischte sie. »Beeilung! Daisy, Hazel, Lucy braucht euch!«

»Sie müssen gehen, Miss Foster!«, sagte Daisy.

»Bitte«, sagte ich, »würden Sie bitte gehen? Können Sie nicht nach Hause?«

Miss Foster starrte mich an.

»Auf keinen Fall!«, antwortete sie. »Ich bin doch extra hergekommen. Lily will mich dabei haben!«

»Wirklich?«, fragte Daisy. »Denn … was wenn Sie Ihnen absichtlich eine falsche Zeit genannt hat, um Sie in Verlegenheit zu bringen?«

»Lily ist meine Freundin!« Miss Foster errötete. »Niemals würde sie etwas so Grausames tun. Ich kenne sie schon seit Jahren, seit wir kleine Mädchen waren. Ihr seid widerliche Kinder!« Sie sprang auf und eilte aus dem Zimmer, wobei sie ihren Pompadour wie einen Schild an sich drückte.

»Wir sind keine Kinder!«, murrte Daisy.

Ich wollte schreien wie Miss Foster. Es war schrecklich frustrierend – eigentlich hätte ich mich auf die Trauung freuen sollen, doch jetzt konnte ich an nichts anderes denken als an dieses Rätsel.

»Warum muss einem das echte Leben beim Ermitteln eigentlich immer in die Quere kommen?«, zischte Daisy mir zu, als wir zur Tür eilten und links und rechts davon Stellung bezogen.

Tante Eustacia, Miss Sperry und der Alte Herr gingen an uns vorbei, um auf zwei der bereitstehenden Stühle Platz zu nehmen. Ethel reichte mir und Daisy gelbe Lilien, die wir halten sollten. (Was mich direkt erschreckte – heute schien es vor den Lilien in ihren vielen Formen kein Entkommen zu geben.) Daisy richtete das blaue Band an meinem Kleid. Mein Herz klopfte.

Und dann kam Bertie mit einer weiteren Lilie im Knopfloch an. Er zitterte in seinem festlichen Anzug und hielt etwas fest umklammert.

»Immer mit der Ruhe, alter Junge«, sagte Onkel Felix und klopfte ihm beschwichtigend auf den Rücken. »Nicht die Ringe zerquetschen, bevor du sie übergeben kannst.«

Onkel Felix wirkte so gelassen wie immer, fand ich – doch dann sah ich, dass auch seine Hand, die auf Berties Schulter lag, zitterte. Außerdem schraubte er sich wie ein Automat immer wieder das Monokel zurecht und wischte sich über die Augen.

Sie gingen an uns vorbei, dann drehte Onkel Felix sich noch einmal um und warf Daisy ein so nervöses Lächeln zu, dass mein Magen krampfte. Sein Gesicht hatte sich merkwürdig rot verfärbt. Nach ihnen folgte Mr Tempest mit dem schwarzen Trauregister unterm Arm und einem Blatt Papier in der Hand.

Schließlich öffnete sich im Flur hinter uns eine Seitentür, aus der Miss Livedon und Ethel heraustraten.

Ich habe immer geglaubt, dass die Geschichten über Bräute an ihrem Hochzeitstag frei erfundener Unfug seien – von wegen die Liebe ließe sie erstrahlen und schöner aussehen als je zuvor. Doch als ich Miss Livedon in diesem Moment erblickte, habe ich es plötzlich verstanden. Genau wie Onkel Felix sah Miss Livedon aus wie immer, mit kantigem Kinn und braunem Haar, und obwohl ihr blaues Kostüm einen schönen Schnitt hatte, war es eigentlich recht gewöhnlich. Doch irgendwie leuchtete ihr ganzes Gesicht, ihre Augen glänzten, ohne zu weinen, und als Ethel seufzte: »Lucy! Du siehst so wunderschön aus!«, konnte ich ihr nur recht geben.

»Ich wünschte, meine Hände würden aufhören zu zittern«, sagte Miss Livedon. »Was, wenn etwas schiefgeht?«

»Dafür ist der Strauß da, glaube ich«, meine Ethel. »Und nichts wird schiefgehen, meine Liebe. Alles ist in bester Ordnung.«

»Brautjungfern, seid ihr bereit?«, fragte Miss Livedon.

Daisy machte einen hübschen Knicks und ich nickte – dann schritt Miss Livedon ins Collins-Zimmer, dicht gefolgt von Ethel, der Daisy und ich uns anschlossen. Doch kurz bevor die Tür hinter uns ins Schloss fiel, blickte ich noch einmal zurück und sah, wie Miss Foster in Begleitung einer grau gekleideten Frau, die mir bekannt vorkam, in ein Nebenzimmer verschwand. Diese Frau hatte ich heute schon einmal gesehen – nur wo?

Ich konnte nicht klar denken – und dann war es zu spät. Wir liefen den Gang entlang, ein Grammofon spielte den Hochzeitsmarsch und Miss Livedon ging lachend und schluchzend auf einen strahlenden Onkel Felix zu, in einem solchen Tempo, dass Daisy und ich kaum mithalten konnten.

Schon standen beide vor Mr Tempest, dem Standesbeamten, hielten sich an den Händen und blickten sich so tief in die Augen, dass sie ganz zu vergessen schienen, dass der Rest von uns auch noch da war.

»So was!«, flüsterte Daisy mir zu. »Ich glaube, sie sind wirklich verliebt!«

Die Trauung begann und sowohl Ethel als auch Miss Sperry zückten ihre Taschentücher. Der Alte Herr schniefte in seinen Ärmel. Mr Tempest sprach einige letzte feierliche Worte über Liebe und Pflicht, die Miss Livedon und Onkel Felix meiner Meinung nach überhaupt nicht wahrnahmen, weil sie so damit beschäftigt waren, sich anzulächeln. Auch meine Gedanken schweiften ab, zu dem Rätsel. Ich verstand noch immer nicht, warum jemand einen Gast bitten sollte, zu früh zu einer Hochzeit zu erscheinen. Es ergab keinen Sinn!

»Felix Henry Charles Seldom Mountfitchet«, sagte Mr Tempest, woraufhin Daisy neben mir kicherte. »Nehmen Sie Lucy Felicity Livedon …?«