Spionieren ist (k)ein Kinderspiel - Robin Stevens - E-Book

Spionieren ist (k)ein Kinderspiel E-Book

Robin Stevens

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Beschreibung

Der erste Fall für Nachwuchsspionin May Wong 1940. Großbritannien befindet sich im Krieg und ein geheimes Ministerium der britischen Regierung, die Abteilung für undamenhafte Aktivitäten unter der Leitung von Wells & Wong, bildet Spione aus. May Wong ist mutig, willensstark und will unbedingt dazu beitragen, den Zweiten Weltkrieg zu beenden, damit sie nach Hongkong zurückkehren, das kalte England verlassen und ihre Schule Deepdean für immer hinter sich lassen kann. May weiß, dass sie die perfekte Geheimagentin wäre. Doch das Ministerium nimmt keine Kinder auf und so wird sie zusammen mit ihrem Freund Eric abgewiesen. Aufgeben ist für May aber keine Option. Sie nimmt die Sache selbst in die Hand und stiehlt eine Notiz aus der Handtasche ihrer Schwester. May und Eric reisen undercover nach Elysium Hall, dem Haus der wohlhabenden Familie Verey. Sie haben den Verdacht, dass einer der Vereys Geheimnisse an die Nazis weitergibt. Wenn sie auf eigene Faust einen feindlichen Spion enttarnen, wird niemand mehr behaupten, sie wären zu jung. Aber Elysium Hall birgt mehr Geheimnisse, als May und Eric sich je hätten vorstellen können. Und dann wird auch noch jemand ermordet! Nach ihrer erfolgreichen Krimireihe Ein Fall für Wells & Wong schickt uns Robin Stevens mit neuen Charakteren in die geheimnisvolle Spionagewelt Englands. Das ideale Lesefutter für Jungs und Mädchen.

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Seitenzahl: 421

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ROBIN STEVENS

Aus dem Englischen vonUlli und Herbert Günther

Titel der Originalausgabe: The Ministry of Unladylike Activity2022 erschienen bei Random House Children’s Publisher UK, a division of The Random House Group Limited.

Copyright Text © 2022 Robin Stevens

Published by Arrangement with Robin Stevens

Copyright Coverillustration © 2023 Phine Wolff

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Deutsche Erstausgabe

Copyright © 2023 von dem Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG, München

Ein Unternehmen der Média-Participations

Projektleitung und Lektorat: Elisabeth Leuthardt, Knesebeck Verlag

Übersetzung: Ulli und Herbert Günther

Schriftgestaltung des Umschlags: Leonore Höfer, Knesebeck Verlag

Satz und Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig

eISBN 978-3-95728-834-9

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.

www.knesebeck-verlag.de

Inhalt

TEIL EINS: Unsere Mission beginnt

1 Aus dem Bericht von May Wong, WOE-Agentin, 18. Dezember 1940

2 Aus dem Bericht von May Wong

3 Aus dem Bericht von May Wong

4 Aus dem Bericht von May Wong

5 Aus dem Bericht von May Wong

TEIL ZWEI: Wir treffen auf unseren Feind

6 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, elf Jahre (und einen Monat!), Elysium Hall, Coventry, Warwickshire, in England, Europa und der Welt

7 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

8 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

9 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

10 Aus dem Bericht von May Wong

TEIL DREI: Es spukt

11 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley

12 Aus dem Bericht von May Wong

TEIL VIER: Wir entdecken einen Ermordeten

13 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley

14 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

15 Aus dem Bericht von May Wong

16 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

17 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

18 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

19 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

20 Aus dem Bericht von May Wong

21 Aus dem Bericht von May Wong

22 Aus dem Bericht von May Wong

TEIL FÜNF: Wir untersuchen den Fall

23 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

24 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

25 Aus dem Bericht von May Wong

26 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

27 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

TEIL SECHS: Wir decken Geheimnisse auf

28 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

29 Aus dem Bericht von May Wong

30 Aus dem Bericht von May Wong

31 Aus dem Bericht von May Wong

32 Aus dem Bericht von May Wong

33 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

34 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

35 Aus dem Bericht von May Wong

TEIL SIEBEN: Wir verlieren (manche) Verdächtige und finden (etliche) Papiere

36 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

37 Aus dem Bericht von May Wong

38 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

39 Aus dem Bericht von May Wong

40 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

TEIL ACHT: Wir stoßen auf unschöne Wahrheiten

41 Aus dem Bericht von May Wong

42 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

43 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

44 Aus dem Bericht von May Wong

45 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

46 Aus dem Bericht von May Wong

47 Aus dem Bericht von May Wong

48 Aus dem Bericht von May Wong

49 Aus dem Bericht von May Wong

50 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley

51 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

TEIL NEUN: Wir bekommen es mit einem weiteren Mord zu tun

52 Aus dem Bericht von May Wong

53 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley

54 Aus dem Bericht von May Wong

55 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

56 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

57 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

58 Aus dem Bericht von May Wong

59 Aus dem Bericht von May Wong

60 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley

61 Aus dem Bericht von May Wong

TEIL ZEHN: Wir lösen den Fall natürlich

62 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley

63 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

64 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

65 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

66 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, Fortsetzung

67 Aus dem Bericht von May Wong

68 Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley

Nualas Wörterbuch zum Elysium-Hall-Fall

Anmerkung der Autorin

Dank

TEIL EINS

Unsere Mission beginnt

1

Aus dem Bericht von May Wong, WOE-Agentin, 18. Dezember 1940

Mein Name ist May Wong. Ich bin fast elf Jahre alt, und ich bin Spionin geworden, weil ich die Welt retten will. Das ist keine Übertreibung, sondern die reine Wahrheit. In einem Krieg kann alles passieren, jeder und jede kann ein Held oder eine Heldin sein.

Aber auch böse kann jeder sein. Als der Krieg begann, dachte ich, Nazis würden aussehen wie die Eidechsen, die daheim in Hongkong oft auf den Stufen unseres Hauses in der Sonne lagen. Ich stellte sie mir mit schuppiger, schillernder Haut und mit gelben Augen vor. Ich dachte, dass Einer, der böse ist, auch böse aussehen muss.

Doch mittlerweile habe ich gelernt, dass das Böse ganz gewöhnlich aussehen kann. Es kann aussehen wie eine strenge Gouvernante, wie eine freundliche alte Dame oder wie der Mann, der auf seinem Kontrollgang vorbeikommt, um zu überprüfen, ob alle Fenster verdunkelt sind.

Dies ist die Geschichte, wie ich – oder wir – einen Nazispion in England enttarnten, einen Mord aufklärten und der Abteilung für undamenhafte Aktivitäten beitraten. Das war viel schwieriger als erwartet, wir mussten es sehr schlau angehen. Und wie gewöhnlich hörte keiner der Erwachsenen auf uns, bis es fast zu spät war. Erwachsene sind wirklich hoffnungslos! Inzwischen hören sie uns aber endlich zu und wollen genau wissen, was passiert ist. Deshalb schreibe ich das hier auf.

Es ist übrigens die offizielle Version meiner Notizen, die ich während unserer Mission gemacht habe. Ich soll mich dabei um eine »gepflegte Ausdrucksweise« bemühen, so wie wir sie in der Schule lernen. Aber da es mein Bericht ist, habe ich beschlossen, die Sache auch auf meine Art zu erzählen. Das bedeutet, dass ich zuerst einiges erklären muss.

Das Wichtigste, das man über mich wissen muss – außer dem Umstand, dass ich jetzt Spionin bin – ist, dass ich eigentlich gar nicht in England sein sollte. Eigentlich sollte ich bei meiner Mutter, meinem Vater und meinem kleinen Bruder Teddy in Hongkong sein, wo ich geboren bin. Aber letztes Jahr bin ich mit Vater und meiner zweiten Schwester Rose nach England gekommen, weil ich auf die Deepdean-Mädchenschule gehen sollte, dieses blöde englische Internat, das Vater für uns ausgesucht hat. Und dann ist in der Zeit, während wir hier waren, der Krieg ausgebrochen.

Vater reiste so schnell er konnte nach Hause, um bei Ma Ma und Teddy zu sein, Rose und mich aber ließ er bei unserer ältesten Schwester Hazel in England sitzen. Nach Hongkong kann ich erst zurück, wenn der Krieg endet, und so bleibt mir natürlich nichts anderes übrig als mitzuhelfen, dass er so schnell wie möglich vorbei ist. Ich vermisse Ma Ma und ich vermisse Teddy, auch wenn er noch zu klein ist, um viel mit ihm anfangen zu können. Ich glaube, ich vermisse sogar Vater, obwohl er ja der Grund ist, weshalb ich in England festsitze und auf diese Schule gehen muss, die ich nicht ausstehen kann.

Ich sollte vielmehr sagen, ich musste auf diese Schule gehen, bis ich weggelaufen bin, um Spionin zu werden.

Und weggelaufen bin ich, weil ich keine Wahl hatte. Eine andere Möglichkeit gab es wirklich nicht, denn alle in meiner Familie, auch meine große Schwester Hazel, halten mich immer noch für ein kleines Kind. Das bin ich aber nicht mehr: Ich kann mich fließend in zwei Sprachen ausdrücken, ich kann zehn Minuten ohne Pause durchrennen und immerhin so gut schwindeln, dass Vater und die Lehrerinnen von Deepdean darauf reingefallen sind. Ich kann mit Füßen und Fäusten kämpfen, sogar mit einem Schwert – das heißt, ich könnte es, wenn mir jemand ein echtes Schwert schenken würde. Trainiert habe ich bisher nur mit einem Stock.

Ich war also fest überzeugt, dass ich eine ausgezeichnete Spionin wäre, wenn mir nur endlich jemand eine Gelegenheit zum Spionieren gäbe.

Eine Spionin kannte ich nämlich schon: Hazel.

Und das denke ich mir wirklich nicht aus, es ist die Wahrheit.

Es ist nicht einfach, wenn die eigene Schwester schon all das getan hat, was man selbst tun will. Hazel war früher auch in Deepdean, sie ist da sogar richtig bekannt, sogar jetzt noch, wo sie doch schon ziemlich alt ist (neunzehn). Sie ist gern zur Schule gegangen. Und Rose, die zwölf ist, gefällt es auch da. Deshalb dachte ich, als mir die Idee mit der Spionagekarriere gekommen war, ich müsste die Schule auch gut finden. Ich brütete minutenlang über meinen Aufsätzen, gab mir Mühe, keins der anderen Mädchen im Sportunterricht zu übertreffen und schenkte Mariella Semple sogar meinen Marmeladenstrudel, den es zum Mittag gab. (Das habe ich später bereut, denn sie hat ihn nicht mal aufgegessen. Was für eine Verschwendung!) Bei all meinen Bemühungen merkte ich aber nur, wie unerträglich ich das Internat fand.

Ich beschloss also, auf eine andere Art Spionin zu werden.

Ich fragte Hazel, wie ich es anstellen könnte, aber sie antwortete nie auf solche Fragen. Sie gab nicht einmal zu, dass sie eine Spionin ist, obwohl es ganz klar auf der Hand lag.

Und dann fand ich in ihrer Handtasche diese Notiz.

Natürlich war sie nicht für mich bestimmt, ich bin ja nicht blöd, und ich hätte auch gar nicht erst in Hazels Handtasche schauen sollen. Aber mir war langweilig, ich war sauer, und dann tu ich eben manchmal Dinge, ohne groß darüber nachzudenken. Ein schlechtes Gewissen habe ich meistens erst später.

Und so ist alles gekommen:

Im September 1940 tobte der Krieg schon ein Jahr, aber davon war in Deepdean kaum etwas zu spüren. Im Park der Schule lagen Sandsäcke, ins Kino war eine Bombe eingeschlagen (keine Verletzten), in den Räumen der Willow-Teestuben gab es keine Sahne auf dem Kuchen und in unserem Internat kein Seifenpulver zum Waschen. Die fehlende Seife machte mir nicht viel aus, die Sahne schon. Aber das war auch wirklich alles. Es war kein bisschen so, wie Krieg in Geschichten ist. Die Bilder in den Wochenschauen der Kinos von zerstörten Städten in Europa und marschierenden, schießenden deutschen Soldaten waren aufregend und verstörend, schienen aber fast genauso erfunden wie der folgende Hauptfilm. Es hört sich merkwürdig und unsensibel an, jetzt, wo ich es besser weiß, aber ich war … beinahe … enttäuscht.

Dann hörten wir allmählich Berichte, dass die Nazis den Kanal überqueren und uns plattmachen wollten wie Käfer, die von einem Stiefel zertreten werden. Jede Nacht brummten Flugzeuge über uns und jeden Tag schien eine Invasion näher zu rücken. Da beschloss ich an einem Wochenende Anfang Oktober, als Hazel nach Deepdean kam, um Rose und mich zum Tee einzuladen, dass ich nicht länger warten konnte.

Immer wieder fragte ich Hazel über das Spionieren aus. Ich wollte wissen, wie es bei einem echten Bombenangriff war, wie viele Menschen in London schon umgekommen waren und ob es stimmte, dass die Deutschen kurz vor der Invasion standen, und wenn ja, was wir dagegen tun würden. Ich fragte so lange, bis Rose schlottrige Knie bekam, anfing zu weinen und Hazel mir sagte, ich solle aufhören. Rose musste sich auf eine Bank an der Hauptstraße von Deepdean setzen, steckte den Kopf zwischen die Knie und umarmte ihre Gasmaskentasche, während Hazel ihr den Rücken streichelte und ihr ein Bonbon gab. Hazel hat immer Süßigkeiten in der Tasche, sogar jetzt, wo sie rationiert sind. Spioninnen kommen an die besten Sachen heran, und das war ein weiterer Grund, weshalb ich eine werden wollte.

»Alles wird gut«, sagte Hazel, als ein Mann in der Uniform der Bürgerwehr vorbeiging. »Keiner wird dir was tun, Rose, versprochen. Wir sind vorbereitet. Wir lassen sie nicht herkommen.«

Ich begriff nicht, wie sie so etwas versprechen konnte. Es klang nach einer Erwachsenenlüge. Ich nahm ihre Handtasche, um nachzusehen, ob es noch mehr Süßigkeiten darin gab. Stattdessen fand ich einen Zettel.

Er war mit durchgestrichenen Wörtern vollgekritzelt, ganz unten aber stand, umrandet und unterstrichen, eine einfache Botschaft:

Ihre Anwesenheit ist füräußerst wichtige Schulungendringend erforderlich.Abteilung,13 Great Russell Street, London16.00 Uhr, Samstag, 26. Oktober 1940

Das sah wichtig aus. Ich steckte den Zettel ein, und ausgerechnet in dem Moment drehte sich Hazel zu mir um.

»Gib her«, sagte sie und nahm ihre Handtasche wieder an sich. Sie hatte also doch nicht bemerkt, was ich rausgenommen hatte. »Nun kommt, wer will süße Brötchen haben?«

Selbstverständlich wollte ich welche. Aber noch lieber wollte ich herausfinden, was diese Nachricht bedeutete. Es war eine Angelegenheit für Spioninnen, davon war ich überzeugt. Und es war meine Chance herauszufinden, was Hazel eigentlich genau machte – und meine Chance, ihr dabei zu helfen.

Ich musste nur erst aus der Schule weglaufen.

2

Aus dem Bericht von May Wong

Die Sache mit dem Weglaufen war am Ende ziemlich einfach.

Alle in Deepdean erzählen Geschichten darüber, wie schwierig es angeblich sei, hier wegzukommen, und was für eine schlechte Idee das sei. (Alle Geschichten enden damit, dass das betreffende Mädchen entweder für den Rest ihres Lebens Hausarrest bekommt oder beim Sturz in einen Graben den Tod findet. In Wirklichkeit war es viel einfacher, zumindest für mich: Ich musste weiter nichts tun, als mit den anderen Mädchen das Internat in Zweierreihen zum üblichen Samstagsspaziergang zu verlassen und abzuwarten, bis wir den Park fast erreicht hatten. Dann tat ich so, als wäre mir plötzlich schlecht geworden, und behauptete, ich müsse mich auf den nächsten Sandsack setzen. Eloise Barnes wollte bei mir bleiben, aber als ich ihr sagte, dass ich mich wahrscheinlich gleich übergeben müsse, kreischte sie und machte sich schleunigst davon. Kaum war sie weg, rannte ich so schnell ich konnte zum Bahnhof.

Ich hatte alles, was ich brauchte, in meine Gasmaskentasche gesteckt: ein paar Süßigkeiten, ein Blatt mit Verhaltensregeln bei Luftangriffen, Schnürbänder für den Fall, dass ich jemanden würde fesseln müssen, ein Straßenverzeichnis von London, eine kleine Taschenlampe und eine zusätzliche Unterhose. Für meine Gasmaske war danach kein Platz mehr, deshalb hatte ich sie unter meinem Bett im Schlafsaal versteckt. Ich hatte auch alles Geld, das ich auftreiben konnte, mitgenommen. Das meiste musste ich aus Roses Dose klauen, weil ich mein eigenes Geld schon ausgegeben hatte. Ich hatte ein schlechtes Gewissen deshalb: Rose ist eine freundliche Person, die es mir gegeben hätte, wenn ich sie darum gebeten hätte. Aber sie ist eben auch sehr ehrlich, wenn es heißt, Regeln einzuhalten. Hätte ich sie um das Geld gebeten, hätte sie der Internatsleiterin sicher von meinem Plan erzählt. Ich kaufte eine ermäßigte Fahrkarte nach London, nur die Hinfahrt (weil ich nicht vorhatte, nach Deepdean zurückzukehren). Anschließend verdrückte ich mich in die Bahnhofstoilette und tauschte meine Schuluniform gegen meine Wochenendsachen: Kleid, Strickjacke und Hut. Als der Zug kam, tat ich so, als gehörte ich zu einer alten Frau mit einer Schar Kinder. Ich stieg ein und setzte mich in dem bläulichen Halbdunkel neben eine andere Frau, die einen sogenannten siren suit anhatte (Das sind komische Overalls, die man bei einem Fliegerangriff über die eigenen Kleider ziehen soll und in denen man aussieht, als hätten man vor, ein Auto zu reparieren.) Während der Zug durch die Landschaft kroch, linste ich durch den Schlitz am Rand des herabgezogenen Fensterrollos. Es ging nur langsam voran, weil auf der Strecke Bomben hätten liegen können. Um potenzielle Spione der Deutschen zu verwirren, waren alle Schilder übermalt worden, und es gab keine Durchsagen. Jeder Halt war ein Rätsel. Ich hatte schon während der Zugfahrt das Gefühl, Teil einer spannenden Geschichte zu sein.

Endlich fuhren wir in die große Kuppel des Bahnhofs Paddington ein. Ich wich Zeitungsverkäufern und Erwachsenen in Uniform aus und kam in eine Straße, in der eine Menge roter Londoner Busse standen. Ihre Seitenwände waren voller Werbeanzeigen für OXO-Brühwürfel und Eipulver. Ich stieg in einen Bus, der mich, wie ich aus meinem Londoner Straßenverzeichnis wusste, zur Great Russell Street bringen würde. Wieder tat ich, als gehörte ich zu einem der Erwachsenen – Kleinsein ist manchmal nützlich, weil niemand auf die Idee kommt, dass man etwas allein planen könnte. Während der Bus durch London rumpelte, musste ich mir alle Mühe geben, nicht zu schockiert auszusehen über das, was ich durch das Fenster sah.

Was über den Blitzkrieg erzählt wurde, hatte ich gehört. Dass die ganze Stadt jede Nacht von Feuern erhellt wurde, dass die Deutschen riesige Bomben hatten, die ganze Häuser zu Staub zermalmten und den Menschen, die darin gewohnt hatten, die Kleider vom Leib schälten. Aber ich hatte das alles für übertrieben gehalten, hatte einfach nicht geglaubt, dass es wahr sein könnte. Erst als ich selbst in London war, merkte ich, dass die Geschichten wahrscheinlich nicht mal schrecklich genug gewesen waren.

Die Gebäude, an denen wir vorbeifuhren, sahen aus, als hätte ein Riese mit Bauklötzen gespielt und sich dabei gelangweilt: Manche Häuser waren zertrümmert und seitwärts gekippt, andere in sich zusammengesackt und wieder andere wie in der Mitte durchgeschnitten – die eine Hälfte verschwunden, die andere eine baumelnde Ansammlung gebrochener Balken, herabhängender Fußböden und Türen, die ins Leere führten. Überall waren Leute in Uniform, die Scherben zu Haufen fegten. Ihre Gesichter waren bleich vor Staub, auch die Luft war staubig, die Kleider der anderen Leute im Bus ebenso. Ich schob meine Füße hin und her – sie machten Muster in der Staubschicht auf dem Boden.

Der Bus hielt auf halber Strecke der Oxford Street, und wir mussten alle aussteigen, weil ein Blindgänger auf der Straße lag: eine Bombe, die nicht explodiert war. Ich verstand erst nicht und wollte zu Fuß weitergehen, an Läden mit zerbrochenen Fensterscheiben vorbei und an Schildern, auf denen stand: Geänderte Öffnungszeiten. Aber da schrie ein Mann, der einen Schnauzbart hatte wie ein Walross: »Weg da, kleines Mädchen, sonst wirst du in die Luft geblasen!«

Da begriff ich, dass das alles weder ein Scherz noch die Erfindung eines Erwachsenen war. Da lag eine echte Bombe, und sie könnte wirklich explodieren. Ich spürte, dass mein Gesicht rot anlief. Ich hatte keine Ahnung, ob ich aufgeregt oder erschrocken war, ob ich lieber eine Meile weit rennen oder mich an Ort und Stelle auf den Bürgersteig setzen wollte.

Stattdessen bog ich in eine Seitenstraße ein und ging in Richtung Great Russell Street weiter. Es war warm geworden in der Nachmittagssonne, meine Strickjacke juckte – englische Klamotten sind immer kratzig – und die Umhängetasche meiner Gasmaske schlug gegen meine Hüfte. Sperrballone glitzerten in der Sonne wie dicke Silbermonde. Ich stieg über Trümmerteile und rief mir dabei in Erinnerung, dass ich hergekommen war, um eine Spionin zu werden und dem allen ein Ende zu setzen.

Als ich in die Great Russel Street kam, war es fünf vor vier. Ich war pünktlich. Ich ging an der Häuserreihe entlang bis zur Nummer 13. Das Gebäude hatte eine rote Tür mit einem Messingklopfer, der aussah wie ein Fuchs. Ein Junge stand davor. Er war pummelig, hatte schwarze Haut, ein rundes, freundliches Gesicht und von Staub bedecktes Kraushaar. Er trug kurze Hosen und einen Strickpullover, und auf seinem Arm saß eine schmutzige, mürrisch dreinblickende Katze, die unter dem Staub wahrscheinlich rötlich braun war und eine weiße Pfote hatte.

Beide, der Junge und die Katze, starrten mich an.

»Was guckst du so?«, fragte ich. »Und was machst du hier?«

»Ich habe das Kreuzworträtsel gelöst«, sagte der Junge, als wäre damit alles erklärt. »Ich nehme an, du hast es auch rausgekriegt?«

Ich machte meine Augen schmal, denn ich wollte mir natürlich nicht anmerken lassen, dass ich keine Ahnung hatte, wovon er sprach.

»Das in der Zeitung«, fuhr er fort. »Das Rätsel für Junior Champions. Die Lösung war ein Hinweis auf eine Schulung und diese Adresse hier.«

Wenn man eine neue Information erhält, ist es immer das Beste, so zu tun, als habe man es längst gewusst – diese Erfahrung habe ich immer wieder gemacht, seit ich in England bin.

»Ja«, sagte ich. »Das Rätsel. Ich habe es auch geknackt, deshalb bin ich hier. Ich fand es wirklich einfach.«

Die Augen des Jungen leuchteten auf vor Respekt, und ich merkte, dass ich vielleicht noch ein wenig mehr rauskriegen könnte.

»Ist das deine Katze?«

»Ich hab sie gefunden«, sagte der Junge und tätschelte ihr behutsam den Kopf. »In den Trümmern. Wahrscheinlich stammt sie aus einem der Häuser, die letzte Nacht getroffen worden sind.«

Ich mag keine Katzen. Ich finde sie so undurchschaubar. Aber mir gefiel, wie sorgsam der Junge mit ihr umging. Das machte ihn mir sympathisch.

»Ich bin May Lee«, sagte ich. »Und wie heißt du?«

»Ich bin Eric. Äh … Eric Jones.« Wie er das sagte, mit diesem Stocken, daran merkte ich, dass auch er schwindelte. Ich respektierte das. »Meinst du, es macht was, dass ich noch nicht dreizehn bin?«, fragte er stirnrunzelnd. »Ich werde nächsten Monat elf.«

»Ich bin auch bald elf«, sagte ich, was genau genommen keine Lüge war, denn ich würde ja bald elf sein. In einem halben Jahr. »Ich glaube nicht, dass das was ausmacht.«

Ich hatte immer noch keine Ahnung, worüber wir sprachen. Wie konnte sich die Notiz aus Hazels Handtasche am Ende als Lösung eines Kreuzworträtsels aus der Zeitung entpuppen? Was war mir da entgangen?

»Ich wäre beinah zu spät gekommen«, erzählte ich Eric. »Eine Bombe war auf der Straße.«

Weil ich deshalb immer noch ein bisschen aufgeregt war, wollte ich, dass sich jemand mit mir zusammen darüber aufregte. Aber Eric stand nur da, die Katze im Arm, und starrte mich an, als hätte ich etwas Sonderbares gesagt.

»Woher kommst du?«, fragte er. »Du bist nicht aus London, stimmt’s?«

Da stellten sich all meine Stacheln auf, denn normalerweise sind Engländer, die mich das fragen, sehr unhöflich. Doch als ich Erics merkwürdigen Blick sah, fiel mir noch etwas auf. Sein Englisch hatte einen leichten Akzent. Auch mein Englisch ist noch nicht ganz frei davon, höchstens wenn ich mich sehr bemühe. Deshalb fällt es mir auf, wenn andere sich genauso bemühen müssen.

»Ich komme aus Hongkong, gehe aber in Deepdean zur Schule«, sagte ich. »Das ist auf dem Land, dort in der Richtung. Du bist aber auch nicht aus London, oder? Du bist …«

Ich überlegte fieberhaft, wonach Erics Aussprache klang. Erst konnte ich ihn nirgendwo zuordnen, aber dann hatte ich es. Die Wochenschauen.

»Du bist Deutscher!«

Mein Herz klopfte plötzlich so stark wie vorhin, als ich das mit der Bombe begriffen hatte.

Eric, der ganz dunkelrot geworden war, sah sich nach allen Seiten um, als könnte jeden Moment jemand vorbeikommen und ihn verhaften.

»SAG das nicht!«, zischte er. »Bitte!«

»Aber du bist einer!«

»Ich bin Engländer!«, rief Eric heftig. »Jetzt jedenfalls. Meine Familie … wir sind vor vier Jahren hergekommen. Mama und Papa waren in Deutschland Musiker. Berühmte Musiker. Aber meine Mama ist schwarz wie ich und meine Schwester, und die Nazis hassen Leute, die aussehen wie wir. Sie halten uns nicht mal für richtige Menschen. Also mussten wir nach England fliehen. Es hieß, hier wären wir sicher. Aber dann, ungefähr vor einem Monat, sind Leute von der britischen Regierung gekommen und haben Papa abgeholt, weil er Deutscher ist. Sie glauben, er könnte ein Nazispion sein. Wenn ich beweisen kann, dass wir zuverlässig sind, nicht gefährlich, und wenn ich mithelfe, dass der Krieg aufhört, dann würde Papa … dann lassen sie ihn vielleicht wieder nach Hause.«

Er war außer Atem, durcheinander, schwitzte. Fast automatisch tastete er nach einer schweren Erwachsenenuhr an seinem rechten Handgelenk. Sie war ihm zu groß. Ich wollte gern mehr erfahren über Eric und seine Familie, aber besonders interessierte mich, dass er helfen wollte, den Krieg zu beenden. Als er das gesagt hatte, war mir fast die Luft weggeblieben.

»Ich glaube, das hier hat auch was mit dem Krieg zu tun!«, sagte ich. »Deshalb bin ich weggelaufen …«

Ich unterbrach mich. Das hatte ich eigentlich gar nicht sagen wollen, erst recht nicht zu jemandem, den ich gerade erst kennengelernt hatte. Dauernd wurde uns eingeschärft, dass sorgloses Gerede Leben kosten konnte – und Eric war immerhin Deutscher, auch wenn er sagte, er sei England treu ergeben. Aber er wirkte nervös.

»Ich bin auch weggelaufen!«, sagte er. »So was hab ich noch nie getan. Meine Zwillingsschwester Lottie ist die Mutige, nicht ich. Ich bin dafür gut im Rätsellösen. Ich kann sogar das Morsealphabet! Als ich die Lösung des Kreuzworträtsels hatte, wurde mir klar, dass ich mich mit Mama und Lottie nicht einfach aus London evakuieren lassen kann. Nicht, solange Papa verhaftet ist. Unser Zug sollte heute Morgen fahren, auf dem Bahnsteig habe ich Lottie eine Notiz mit einer Erklärung in die Tasche gesteckt und einen Brief für Mama, damit sie mich nicht suchen, jedenfalls nicht in den nächsten Wochen.«

Ich war sehr beeindruckt.

»Wird Lottie dich nicht verpetzen?«

»Wir sind Zwillinge!«, sagte Eric. »Das würde sie nie tun. Außerdem bin gewöhnlich ich es, die sie nicht verpetzt.«

Während er erzählte, schlugen die Londoner Uhren vier Uhr. Und dann öffnete jemand die rote Tür, vor der wir standen.

3

Aus dem Bericht von May Wong

Die Person, die in der Tür erschien, war eine große, dünne Frau mit blasser Haut, sehr blauen Augen und welligem blonden Haar. Als sie mich und Eric sah, blieb sie abrupt stehen und starrte uns an. Ich starrte zurück, aber mein Herz wummerte. Ich kannte sie – sie war die zweitschlimmste Person, der ich in dem Moment hätte begegnen können.

Es war die beste Freundin meiner großen Schwester Hazel: Daisy Wells.

»Was machst du hier, May?«, fuhr sie mich an. Sie schloss die Tür hinter sich und kam heraus. »Warum bist du nicht in der Schule?«

»Hallo, Daisy«, sagte ich munter, denn ich würde mich auf keinen Fall abwimmeln lassen, nachdem ich unter so schwierigen Umständen hergekommen war. »Ich habe das Kreuzworträtsel gelöst, und die Lösung bedeutet, dass ich hierherkommen soll.«

Daisys Augen wurden schmal, Falten erschienen auf ihrer Nase. »Was meinst du?«, fragte sie. »Hat Hazel dich dafür vorgeschlagen? Du kannst nicht hier sein, du bist zu jung.«

»Hazel weiß nichts davon«, sagte ich und straffte die Schultern. »Ich habe das Rätsel allein gelöst!«

Daisy stöhnte. »Hätte ich mir denken können, dass du mal wieder deine Nase in Dinge steckst, die dich nichts angehen. Genug jetzt, du musst wieder in die Schule. Du bist ein Kind, und Hazel würde es mir nie verzeihen, wenn du in diese Sache reingezogen wirst. Und du!« Sie wandte sich an Eric. »Du hast hier ebenso wenig zu suchen. Nur Mädchen, so stand es im Kreuzworträtsel.«

»Stimmt nicht«, sagte Eric und angelte einen zerfledderten Zeitungsausschnitt aus seiner Tasche. »Da stand überhaupt nichts von Mädchen.«

»Wirklich?«, fragte Daisy. »Verflixte Hazel! Ich hab ihr gesagt, sie soll das einfügen! Was für ein Albtraum! Na, egal. Ihr beide müsst sofort verschwinden. May ist zu jung, wie ich schon sagte, und du bist ein Junge und … bist du etwa Deutscher?«

»Und wenn?«, fragte Eric. Sein rundes Gesicht glühte schon wieder. »Ich bin hier, um zu helfen. Und außerdem bin ich jetzt Engländer. Ich hab einen Pass, da steht es drin.«

»Wir gehen nicht weg!«, rief ich. »Wir haben das Kreuzworträtsel gelöst!« (Ich beschloss, am besten bei dieser Rätselgeschichte zu bleiben. Es war ohnehin nicht wichtig.) »Wir haben den ganzen Weg hierher gemacht. Und wir sind hier, um ausgebildet zu werden, so, wie es da stand.«

Daisy atmete hörbar aus. Die Falten auf ihrer Nase vertieften sich. »Ihr macht mich noch fertig!«, sagte sie. »Ihr eignet euch nicht für den Job, keiner von euch beiden. Wir suchen ältere Mädchen, die bereit für so was sind.«

»Wir sind bereit«, erklärte ich. »Wir sind perfekt. Und wir sind eure einzigen Anwärter. Sonst ist ja niemand gekommen, stimmt’s? Los, lass uns doch rein, damit wir lernen können, wie man spioniert. Darum geht es doch hier, oder?«

Daisys Blick huschte von mir zu Eric und zur leeren Straße hinter uns. Für einen Augenblick dachte ich, sie wäre kurz davor nachzugeben. Aber dann verhärtete sich ihre Miene.

»Ganz sicher nicht«, sagte sie. »Verschwindet! Und vergesst den ganzen Quatsch über Spionage. Ihr wisst nicht, worüber ihr da redet.«

Das war zweifellos eine weitere Erwachsenenlüge.

»Bitte, lass uns rein!«, bat Eric plötzlich. »Ich muss etwas tun. Jeder tut etwas!«

Genau darum ging es. Es war nicht fair, dass die Erwachsenen was machen konnten, während wir tatenlos herumsitzen sollten, weil wir Kinder waren. Ich fand, dass Eric schwer in Ordnung und sehr vernünftig war. Er wurde mir immer sympathischer.

»Das ist doch lächerlich«, blaffte Daisy. »Und du May, wie bist du eigentlich hergekommen?«

»Geht dich nichts an«, erwiderte ich patzig.

Die Hitze brannte sich durch den Hut in meinen Kopf. Eric wischte sich Schweiß aus den Augen. Sein Strickpullover sah sehr unbequem aus. Daisy starrte uns mit verschränkten Armen an.

»Ach, du grüne Neune, seid ihr etwa weggelaufen? Ich hab wirklich keine Zeit für so was, aber … trotzdem werde ich euch zurückbringen müssen. Hazel wird wütend sein …«

Mir wurde fast schlecht. Mein Abenteuer stand vor dem Aus, ehe es richtig angefangen hatte.

Aber da ging die Haustür noch einmal auf, und eine Frau mit rotem Haar steckte den Kopf heraus. Sie wirkte nervös. »Daisy, du wirst gebraucht«, sagte sie. »Es ist dringend! Schnell.«

Daisy antwortete mit einem äußerst unhöflichen Ausdruck. »Ihr zwei wartet hier!«, sagte sie zu uns. »Rührt euch nicht vom Fleck! Ich komme wieder.«

Damit schlug sie die Tür hinter sich zu und verschwand in der Tiefe des Hauses.

Eric sah mich an. »Äh … sollen wir warten?«, fragte er.

»Auf keinen Fall!«

Mein Herz raste. Wenn ich hier wartete, würde mich Daisy zweifellos zurück nach Deepdean bringen. Die Lehrerinnen und die Internatsleiterin würden mich nicht mehr aus den Augen lassen. Hazel wäre böse auf mich. Vielleicht würde sie sogar Vater in Hongkong verraten, was ich getan hatte.

Wenn wir aber weggingen, würde uns Daisy nicht finden, und wir hätten vielleicht immer noch die Gelegenheit, auf eigene Faust zu spionieren.

Was, wenn es eine Möglichkeit gäbe zu beweisen, was in uns steckt? Ich stellte mir vor, wie wir hier zur Nummer 13 Great Russell Street zurückkommen würden, nachdem wir eine gefährliche Mission zu Ende gebracht hatten. Daisy und Hazel würden sagen, wie hervorragend wir gearbeitet hätten. Dann würden sie uns auf jeden Fall erlauben, richtige Spione zu werden.

Aber was könnten wir tun, um ihnen das zu beweisen?

»Das war’s wohl«, sagte Eric niedergeschlagen und setzte die Katze auf den Boden. Sie trottete davon und ließ sich erwartungsvoll vor der roten Tür nieder. »Ich muss los und Lottie finden.«

»NEIN!«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Wir können nicht einfach aufgeben.«

»Aber du hast doch die Frau gehört. Sie sagt, wir sind ungeeignet. Woher kennst du sie überhaupt? Und wer ist Hazel?«

»Tut jetzt nichts zur Sache!«, sagte ich. »Und geeignet sind wir sehr wohl. Wir sind genau richtig. Wir müssen es ihnen nur klarmachen!«

»Wie?«, fragte Eric.

»Wir … also, wir …«

Ich vergrub die Hände in den Taschen meiner Wolljacke, knetete sie verzweifelt und versuchte nachzudenken. Da berührten meine Finger ein knisterndes Stück Papier. Ich kramte es heraus und erkannte den Zettel aus Hazels Handtasche, die Notiz, die mich hierhergeführt hatte. Ich drehte ihn um, enttäuscht – bis mein Blick auf etwas fiel, das ich vorher übersehen hatte.

Auf der Rückseite waren Ortsnamen aufgelistet, manche davon durchgestrichen:

Foxton Manor, Berkshire

119 Parrish Gardens, Berkwick-upon-Tweed

The Cedars, Glasgow

29 Mote Street, Hull

Elysium Hall, Coventry

Darunter stand in Hazels Schrift:

Die kürzlich aus Berlin eingegangenen

Informationen müssen von einer dieser Adressen kommen.

Identifiziert die Mittelsmänner, die dahinterstecken!

Ich hielt Eric die Liste unter die Nase. »Hier! Sieh dir das an!«, rief ich. »Das ist unsere Mission!«

»Was ist das? Woher hast du das?«

»Hazel ist meine Schwester«, gestand ich. »Und sie ist eine Spionin. Den Zettel hab ich aus ihrer Handtasche, aber ich hab bis jetzt nicht begriffen, wie wichtig er ist. Wenn jemand Informationen nach Berlin schickt, bedeutet das doch, dass dieser Jemand mit den Nazis zusammenarbeitet! Wir müssen zu einem dieser Orte und herausfinden, wer die Mittelmänner sind und wie wir ihnen das Handwerk legen können. Danach kommen wir wieder hierher, und Daisy, Hazel und die Leute, für die sie arbeiten, werden mächtig beeindruckt sein. Dann müssen sie uns aufnehmen! Verstehst du?«

Eric sah mich mit großen Augen an und nickte.

Das war der Augenblick, in dem unsere erste Mission begann.

4

Aus dem Bericht von May Wong

Aus London wieder rauszukommen, war einfach. Wir mussten nur so tun, als wären wir Evakuierte.

Nachdem wir die Great Russell Street hinter uns gelassen hatten, führte mich Eric zu einem Haus, in dem eine Art »Sortierstelle« für Menschen war.

»Es nennt sich Rest Center«, erklärte er mir. »Hier kommen Menschen her, wenn sie durch Bombeneinschläge ihr Zuhause verloren haben. Man teilt ihnen eine Unterkunft außerhalb von London zu. Theoretisch müssen wir nur behaupten, dass wir an einem dieser Orte auf deinem Zettel wohnen sollen. Mit etwas Glück werden sie nicht weiter nachfragen. Sie haben viel zu viel zu tun.«

Das stimmte. Das Rest Center war proppenvoll mit Menschen. Es wimmelte von Kindern und Erwachsenen, alle staubig und verzweifelt. Manche hatten die merkwürdigsten Dinge bei sich. Ich sah eine Frau mit einem Kinderwagen voller Essteller und einen Mann, der einen Käfig mit einem Papagei in der Hand hielt.

Die müde wirkende Frau, an die wir uns wandten, sah uns nicht mal richtig an, als Eric ihr erklärte, wir seien May Lee und Eric Jones, Nachbarn, deren Häuser von einer Bombe zerstört worden seien.

»Irgendwelche Verwandte?«, fragte die Frau.

»Mein Onkel wohnt in Coventry«, sagte Eric hoffnungsvoll. »In der Nähe von … Elysium Hall.«

Er erwies sich in dieser Situation als äußerst brauchbar. Ich freute mich immer mehr, mit ihm zusammenzuarbeiten.

Die Frau nickte, schrieb rasch etwas auf ein Blatt Papier und schickte uns in einen anderen Raum, wo eine zweite Frau eine Notiz auf einen zweites Blatt Papier schrieb und uns in einen weiteren Raum schickte.

Das ging stundenlang so. Am Ende hatten wir jeweils eine zusätzliche Garnitur kratziger Anziehsachen, (warum sind englische Klamotten nur immer so rau?), einen hässlichen Koffer und ein großes Schild, auf dem unsere erfundenen Namen und die Evakuierungsadresse standen. Die Koffer und Kleidungsstücke waren schon von anderen benutzt worden – und so rochen sie auch. Außerdem bekamen wir für den nächsten Morgen Fahrkarten nach Coventry. Erics Bericht musste eine Reihe von seltsamen Missverständnissen in Gang gesetzt haben, denn die Frau, die uns die Fahrkarten gab, ging davon aus, dass wir direkt in Elysium Hall erwartet wurden. Dagegen hatten wir nichts einzuwenden, Eric und ich.

Eine andere Frau nahm uns zusammen mit fünf weiteren unglücklich dreinschauenden Kindern in Empfang und passte für den Rest des Tages auf uns auf – wie unsere Internatsleiterin. Ich musste mir immer wieder vor Augen halten, dass ich nicht hilflos, sondern auf einer geheimen Mission unterwegs war.

Für die Nacht suchten wir Schutz in der U-Bahn-Station Leicester Square. Ich fand es unerträglich. Bald stellte sich heraus, dass Luftangriffe doch nicht so spannend waren, wie ich mal gedacht hatte. Sie waren fürchterlich!

Der Bahnsteig, die Treppen und die Fahrkartenhalle waren überfüllt von Menschen, sie drängten sich wie die Sardinen. Es war heiß und roch nach verbrauchter Luft. Nach einer Weile hörten wir von Weitem das Grollen von Explosionen und dann den Einschlag von etwas Großem in der Nähe. Staub fiel von den Tunnelwölbungen, und ich fragte mich, ob so ein Schutzraum schon mal eingestürzt war. Unsere Aufpasserin forderte uns auf, uns in einen Kreis zu setzen und Lieder zu singen, was schrecklich war, aber ich biss die Zähne zusammen. Eric legte den Arm um mich, und wir zählten die Minuten auf seiner großen Armbanduhr.

»Sie gehört deinem Vater, oder?«, fragte ich. Es war eine Vermutung, aber genau die richtige, denn Eric seufzte traurig.

»Papa hat sie mir gegeben, bevor er abgeführt wurde. Sie erinnert mich an ihn. Vermisst du deinen Vater auch?«

»Nein«, sagte ich verbittert, weil mein Vater schuld war, dass ich hier festsaß. Und dann, nach einer Pause, als ich mir seine tiefe Stimme und seine große warme Hand mit den kantigen Fingern auf meiner Schulter vorstellte, schob ich nach: »Doch.«

Eric nickte. Ich spürte, dass er verstanden hatte.

Mitten in der Nacht fuhr ein komischer kleiner Wagen auf den Bahnsteig. Leute kamen heraus und verteilten Essen und Getränke. Ich schlich mich an unserer Leiterin vorbei und kaufte heiße Schokolade und Brötchen für uns, und während wir aßen und tranken, merkte ich, dass keine Bomben mehr einschlugen.

»Der Jerry ist abgehauen«, sagte jemand, und da hatte ich plötzlich das Gefühl, als könnte ich Bäume ausreißen. Eric und ich hatten den Luftangriff überstanden, allein und ohne Hilfe. Jetzt konnten wir selbstbewusst allem entgegensehen, was der nächste Tag bringen würde.

Am folgenden Morgen wurden wir durch die Trümmerlandschaft von London zum Bahnhof Euston geführt, wo unser Zug abfahren sollte.

Manche in unserer Gruppe waren aufgeregt, andere fingen an zu weinen, was ich schlapp fand (ein Ausdruck, den ich hier gelernt habe). Als ich das Eric sagte, machte er ein nachdenkliches Gesicht.

»Ist doch in Ordnung, wenn man Angst hat, einen Ort, den man kennt, zu verlassen, um irgendwo hinzugehen, wo einem alles fremd ist.«

Da schämte ich mich ein bisschen, denn mir war es ja genauso gegangen, als ich Hongkong verlassen musste. Aber auf dem Bahnhof hatte ich keine Angst. Ich fühlte mich stark wie selten zuvor. Ich war weg von Deepdean, weg von meiner Familie und kurz davor, mich ein für alle Mal zu bewähren. Sobald wir herausgefunden hatten, wer von diesem Elysium Hall aus den Deutschen Informationen sandte – was ich mir nicht besonders schwierig vorstellte –, musste ich nur meine große Schwester Hazel anrufen. Die Nummer hatte sie Rose und mir schon vor einer Ewigkeit gegeben. Dann konnte sie uns abholen kommen und in einer Ruhmeswolke zur Great Russell Street bringen.

Egal, was Daisy sagte, ich wusste, dass wir es schaffen würden. Eric hatte schon bewiesen, wie raffiniert er war, und ich war mutig. Was ganz gut war, denn ich merkte, dass Eric nun, wo wir tatsächlich drauf und dran waren, London zu verlassen, nervös wurde. Er war blass geworden und drückte krampfhaft seine Gasmaskentasche an die Brust.

»Kopf hoch!«, sagte ich zu ihm. »Manchen Stürmen im Leben muss man mutig trotzen.«

»Du weißt schon, dass du manchmal ganz schön affektiert klingst?«, sagte Eric. »Wie eine Buchfigur.«

»Ich rede nicht affektiert!«

Wahrscheinlich tue ich es aber doch. Wahrscheinlich ist das ganze Internat in Deepdean arrogant, und die Schülerinnen dort sind es erst recht. Das ist mir nach meiner Begegnung mit Eric klar geworden, der ist nämlich ganz und gar nicht arrogant.

Der Zug fuhr kreischend und schnaufend im Bahnhof ein und zog eine Dampfwolke hinter sich her.

»Das ist er!«, sagte ich und nahm meinen Koffer auf. »Bist du so weit?«

»Nein«, sagte Eric, blasser denn je. »Ja. Du bist sicher, dass das eine gute Idee ist?«

»Aber ja!«

Die anderen aus unserer Gruppe drängelten, als sich die Zugtüren öffneten. Ich griff nach Erics freier Hand und zog ihn nach vorn. Wir kletterten in den Zug, die Erwachsenen auf dem Bahnsteig winkten, dann waren sie hinter Schwaden aus Dampf verschwunden und der Lärm der anfahrenden Lokomotive setzte wieder ein.

Wir waren auf dem Weg.

5

Aus dem Bericht von May Wong

Der Zug hielt in Coventry, und unsere Leiterin drängte uns zum Aussteigen. Die echten Evakuierten (die keine heimlichen Spione waren wie Eric und ich) drängten sich ängstlich auf dem Bahnsteig zusammen und klammerten sich an ihre Koffer. Sie taten mir ein bisschen leid, weil sie nicht mal eine wichtige Mission hatten, die sie von der Sehnsucht nach ihren Familien ablenken könnte.

Eine Gruppe Erwachsener kam auf uns zu, und die Evakuierungsleiterin zückte ein Klemmbrett. Der Ausdruck in den Gesichtern der Erwachsenen erinnerte mich an den meines Vaters, wenn er kurz davor ist, ein Geschäft abzuschließen. Oder an die Gesichter der Internatsmädchen, wenn sie sich in der Pause für Brötchen anstellen.

Eine alte Dame nahm zwei große starke Jungen mit, eine andere holte sich eins der hübscheren Mädchen. Als die beiden Frauen Eric und mich angesehen hatten, kräuselten sie die Lippen und schüttelten die Köpfe, was mich wütend machte. Wenn sie wüssten, dass wir die schlausten unter den Evakuierten waren!

Unsere Leiterin winkte einen großen Mann heran. Er hatte ein zerfurchtes Gesicht, nur ein Auge und trug die abgenutzte, alte Livree eines Chauffeurs. Sein Bart war wie vergilbt, und er starrte uns alle finster an.

Die anderen Kinder erschraken und drückten sich entsetzt zusammen.

»Kinder, das ist Mr Scott aus Elysium Hall«, sagte unsere Begleiterin. »Ich habe die Nachricht bekommen, dass zwei von euch dort erwartet werden?«

Meine Hand schnellte hoch.

»Welche Begeisterung!«, sagte sie. »Hier, Mr Scott, Ihre Evakuierten.«

Eric drückte meine freie Hand so fest, dass es wehtat.

»Hm«, machte Mr Scott und runzelte die Stirn. »Ruth hat Ihnen doch am Telefon erklärt, dass wir niemanden erwarten. Ich weiß nicht, warum die Kinder denken, dass sie zu uns kommen.«

Die Evakuierungsleiterin sah müde aus. »Nun … sind Sie bereit, sie trotzdem aufzunehmen? Mr Verey leistet immer seinen Beitrag. Ich bin sicher, dass er nichts dagegen hat.«

Während Mr Scott uns mit seinem einen Auge böse musterte, hielt ich die Luft an, bis ich beinah platzte. Schließlich schnaubte er: »Er wird sie aufnehmen. Weil es Gesetz ist. Los, kommt, ihr zwei, beeilt euch. Hoffentlich habt ihr keine Läuse. Die letzten hatten welche.«

Damit marschierte er davon, ohne sich mit einem Blick zu vergewissern, ob wir nachkämen. So schnell wir konnten, nahmen Eric und ich unsere Koffer und rannten hinter ihm her.

»Ich hab dir gleich gesagt, wir schaffen das!«, flüsterte ich. »Siehst du?«

»Scht!«, machte Eric.

Seine Miene wechselte zwischen Angst und Verblüffung. Ich ahnte, wie ihm zumute war. Unser Plan funktionierte. Ich versuchte, nicht an Rose zu denken, die in Deepdean auf mich wartete, sich wahrscheinlich fragte, wo ich war, und Alarm schlug. Und was würde Hazel sagen, wenn Daisy ihr erzählte, dass sie mich gesehen hatte? Aber ich musste mich auf unsere Mission konzentrieren.

Wir kletterten auf den Rücksitz von Mr Scotts Wagen, einem alten schwarzen Rolls-Royce, und gaben uns Mühe, uns wie echte Evakuierte zu benehmen. Ärgerlicherweise schenkte Mr Scott keinem von uns Beachtung. Eigentlich sprach er die ganze Zeit kein Wort, während er durch die flache goldene, grüne und braune (hauptsächlich braune) Landschaft fuhr: weite, bestellte Felder, feucht und dunkel unter einem weißlichen Himmel. Nur einmal rührte Mr Scott einen Finger, nämlich als wir durch ein Tor fuhren. Er deutete auf das Gebäude, das in Sicht kam – es musste Elysium Hall sein.

Es war nicht sehr groß, längst nicht so wie unser Haus in Hongkong, und wurde überschattet von zwei gewaltigen, dunklen Bäumen. Insgesamt wirkte es klein, bescheiden und gewöhnlich. Nur ein grauer Steinkasten mit ein paar komischen, spitzen Schornsteinen und drei Reihen glatter dunkler Fenster an der Vorderseite.

»Ist ja ziemlich klein!«, sagte ich.

Gleichzeitig flüsterte Eric: »Ist ja riesig!«

Wir sahen uns einen Augenblick irritiert an. Der Wagen fuhr knirschend über die Zufahrt und kam vor der Haustür zum Stehen.

»Wir sind da«, sagte Mr Scott, und Eric und ich fuhren zusammen.

»Danke«, sagte Eric höflich.

Mr Scott schnaubte, dabei zuckte sein gelber Bart. Er hatte eine große Nase, ein breites Gesicht und einen gehässigen Blick in seinem einen Auge. Es war klein und sah irgendwie verloren aus auf seiner Wange.

»Ich mach nur meine Arbeit«, sagte er. »Bevor ihr jetzt reingeht, ein paar Regeln: Ihr habt euch an Ruth, die Hausangestellte, zu wenden. Achtet auf eure Manieren und verärgert sie nicht. Sie ist ein gutes Mädchen, aber sie hat’s schwer gehabt im Leben, ist ganz allein hergekommen – macht’s ihr also nicht noch schwerer. Seid höflich zu den Vereys und denkt dran: Der alte Mr Verey mag vielleicht offiziell die Hauptperson sein, aber in Wirklichkeit ist es Mrs Verey, die die Fäden in der Hand hat. Also bestes Benehmen in ihrer Nähe, sonst fliegt ihr raus. Das heißt, keine Ellbogen auf dem Tisch, kein Rennen auf den Fluren und am wichtigsten: kein Wort über den Krieg.«

Ich starrte ihn an, unsicher, ob ich richtig verstanden hatte. Wir waren als Evakuierte hergekommen! Wie sollten wir kein Wort verlieren über den Krieg, vor dem wir evakuiert worden waren?

Mr Scott redete weiter. »Aber wenn ihr draußen seid, seid ihr in meinem Bereich. Ich bin hier der Gärtner, und ihr tut gut daran, die Anlage mit Respekt zu behandeln. Kein wildes Toben, kein Blumenpflücken, kein Äpfelklauen. Habt ihr verstanden?«

Wir nickten beide, denn er starrte uns wütend an.

»Schön. Ich kenne euch Evakuierten: Überall die Nasen reinstecken,Unruhe stiften. Ich hab euch im Auge – denkt dran. Und jetzt steigt aus, bevor ihr noch mehr Stadtdreck auf die Ledersitze schmiert.«

Ich war gekränkt. Ich war absolut sauber (abgesehen vom Londoner Staub) und Eric ebenso. Wenn hier jemand schmutzig war, dann Mr Scott! Als er seine Fahrerhandschuhe auszog, sah ich schwarze Ränder unter seinen Fingernägeln und dunkle Linien in den Falten seiner Handflächen. Auch sein Bart war schmuddelig.

Wir stiegen aus (ich besonders langsam, um ihn zu nerven, und tatsächlich grummelte Mr Scott böse hinter mir her). Dann standen wir nebeneinander auf den Kieselsteinen der Einfahrt. Eric griff nach meiner Hand, gleichzeitig tastete ich nach seiner – in diesem Moment musste ich nicht einmal so tun, als wäre ich nervös.

Die Haustür ging auf. Ich rechnete mit einer erwachsenen Person, mit dieser Hausangestellten nämlich, von der Mr Scott gesprochen hatte. Aber das Mädchen, das herauskam, sah nicht älter aus als Eric. Sie war etwas größer als wir, eine Flut dichter rotbrauner Haare umrahmte ihr Gesicht. Sie trug eine große Brille und – ich musste zweimal hinsehen – ein wallendes rosa Kleid und darüber eine Weste aus kariertem Wollstoff. Ihre Füße waren nackt.

Als sie uns sah, blieb sie überrascht stehen, dann blickte sie uns kalt an. Ich richtete mich auf, so hoch ich konnte. Mag sein, dass ich klein bin, aber ich werde schnell wütend, und Leute, die auf mich herabschauen und mich abschätzig mustern, kann ich nicht ausstehen.

»Ihr seid keine Evakuierten«, sagte das Mädchen schließlich. Ihr Englisch klang wie aus dem BBC-Programm im Radio, aber ihr Ton war so unverschämt und verächtlich, dass ich spürte, wie mein Gesicht rot anlief.

»Natürlich sind wir das!«

Das Mädchen sah noch kühler und hochnäsiger drein und plötzlich meinte ich, den Grund zu kennen. Eric und ich sehen anders aus als die meisten Leute in England. Wir fallen auf, und das mögen Engländer nicht. Es hing mir so zum Hals raus. In Wahrheit sehe ich genau richtig aus. Man muss nur einen einzigen Tag in Hongkong verbringen, um das bestätigen zu können.

»Jetzt hast du uns jedenfalls an der Backe«, fuhr ich sie an. »Und übrigens haben wir nicht darum gebeten, hierher in dieses mickrige …« Mir fiel gerade noch rechtzeitig ein, dass ich nicht May Wong war, die in der weitläufigen Villa in der Robinson Road in Hongkong wohnte, sondern die gewöhnliche May Lee, die aus ihrem kleinen zerbombten Haus in London evakuiert worden war. »… in dieses große, hässliche Haus mitten im Nirgendwo geschickt zu werden.«

»Was gibt es daran auszusetzen?«, fragte das Mädchen, und ihr Gesicht lief ebenfalls rot an.

»Gar nichts«, mischte sich Eric ein, während er meine Hand fest drückte. »May hat das nicht so gemeint. Nett, dich kennenzulernen, und danke, dass ihr uns aufnehmt.«

Ich war aber noch nicht fertig. »Mit dem Haus ist ja vielleicht alles in Ordnung. Aber seine Bewohner sind richtig unhöflich.«

Eric presste meine Hand noch fester, aber manchmal sprudeln mir eben die Worte aus dem Mund, ohne dass ich sie zurückhalten kann. Und manchmal brauche ich Menschen bloß zu sehen, um zu wissen, dass ich sie nicht ausstehen kann! Und dieses Mädchen war so ein Mensch.

»Entschuldigt mich«, sagte sie und schaute uns nacheinander an, als wollte sie uns mit ihrem Blick zu Eis erstarren lassen, »aber hier möchte ich mich nicht länger aufhalten.«

Und damit machte sie kehrt, stolzierte in Richtung der Bäume davon und ließ ihre großen, etwas schmutzigen nackten Füße laut aufklatschen, während sie über die Einfahrt ging.

Mir blieb die Luft weg vor Abscheu. Ich fand dieses Mädchen unerträglich.

»Ich hasse sie!«, stieß ich hervor, kaum dass sie außer Hörweite war. »So was von unverschämt! Die glaubt, sie ist was Besseres als wir!«

»May!«, sagte Eric. »Sie war nicht sehr nett zu uns, aber du kannst nicht einfach … wir müssen vorsichtig sein. Wir dürfen keine Aufmerksamkeit auf uns ziehen, bevor wir herausgefunden haben, was hier los ist. Wir dürften doch gar nicht hier sein. Hast du das vergessen? Was, wenn sie im Kriegsministerium dahinterkommen, dass wir sie getäuscht haben? Was, wenn man uns findet, bevor wir unsere Mission zu Ende gebracht haben?«

Ich atmete so heftig aus, dass es sich anhörte, als würde die Luft aus einem Ballon gepresst. Mir war klar, dass wir es nur hierhergeschafft hatten, weil ein paar Erwachsene total überarbeitet waren. Und mir war ebenfalls klar, dass wir jeden Moment von Hazel entdeckt werden konnten – aber dieses Mädchen hatte mich so fuchsteufelswild gemacht, dass ich das alles vergessen hatte.

Eric erinnert mich manchmal an Rose. Er ist so freundlich und vernünftig, und er hat gewöhnlich recht, auch wenn ich es nicht gern zugebe. Ich wusste auch, dass er in jenem Moment recht hatte. Bis auf …

»Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich mich mit ihr anfreunde«, sagte ich und blickte finster hinter dem Mädchen her. »Ich werde nie ihre Freundin! Niemals!«

TEIL ZWEI

Wir treffen auf unseren Feind

6

Aus dem Tagebuch von Fionnuala O’Malley, elf Jahre (und einen Monat!), Elysium Hall, Coventry, Warwickshire, in England, Europa und der Welt

Mittwoch, 30. Oktober 1940

Liebes Tagebuch,

ich bin wieder zurück. Ich weiß, dass ich dich in letzter Zeit vernachlässigt habe, das tut mir sehr leid. Seit ich das letzte Mal etwas geschrieben habe, sind Jahre vergangen. Damals war ich noch ein Kind, erst neun Jahre alt, der Krieg war ganz neu, und ich dachte, wir würden jeden Tag sterben. Angst vor dem Sterben habe ich wahrscheinlich immer noch, aber der Krieg dauert nun schon so lange, dass ich meistens nur irgendwie müde bin.

Aber stell dir mal vor, in England zu sterben, in diesem kalten Haus mitten im Nirgendwo!