Mord ist nichts für junge Damen - Robin Stevens - E-Book

Mord ist nichts für junge Damen E-Book

Robin Stevens

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Deepdean-Mädchenschule, 1934. Als Daisy Wells und Hazel Wong ihr eigenes, streng geheimes Detektivbüro gründen, gibt es zuerst gar kein wirklich aufregendes Verbrechen zum Ermitteln. Doch dann entdeckt Hazel die Lehrerin Miss Bell tot in der Turnhalle. Zuerst denkt sie, es sei ein schrecklicher Unfall gewesen. Aber als Daisy und sie fünf Minuten später zurückkommen, ist die Leiche verschwunden. Jetzt sind die Mädchen sicher: Hier ist ein Mord geschehen! Und nicht nur eine Person in Deepdean hätte ein Motiv gehabt ... Nun haben Daisy und Hazel nicht nur einen Mordfall aufzuklären – zuerst müssen sie beweisen, dass es überhaupt ein Mord war. Fest entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, bevor der Mörder wieder zuschlagen kann (und bevor die Polizei eingeschaltet wird, natürlich), müssen Hazel und Daisy nach Beweisen suchen, Verdächtige ausspionieren und all ihre Intuition einsetzen. Doch werden sie Erfolg haben? Und wird ihre Freundschaft diese Herausforderung bestehen? Ein spannender Mädchen-Krimi ganz im Stil Agatha Christies, mit viel Internatsflair und zwei Heldinnen, die jeder gern zur Freundin hätte!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 311

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Titel der Originalausgabe: Murder most unladylike

Erschienen bei Random House Children’s Publisher UK,a division of The Random House Group Limited.

Copyright Text © 2014 Robin Stevens

Published by Arrangement with Robin Stevens

Copyright Gestaltung © 2014 Nina Tara Design

Diese Ausgabe wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

9. Auflage 2021

Deutsche Erstausgabe

Copyright © 2016 von dem Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG,München

Ein Unternehmen der Média-Participations

Umschlagadaption: Leonore Höfer, Knesebeck Verlag

Übersetzung: Nadine Mannchen, Helmbrechts

Lektorat: Tatjana Kröll, Knesebeck Verlag

Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig

eISBN 978-3-95728-595-9

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.

www.knesebeck-verlag.de

Für all die Schulfreunde,die zu meiner zweiten Familie wurden,und für Miss Silk und Mrs Sanderson,die niemals jemanden ermordet hätten.

Mord ist nichts für junge Damen

Ein Bericht über

den »Mordfall Miss Bell«,im Rahmen der Ermittlungender Detektei Wells & Wong.

Aufgezeichnet von Hazel Wong(Schriftführerin der Detektei), 13 Jahre alt.

Begonnen am Dienstag, 30. Oktober 1934.

INTERNAT DEEPDEAN

ANGESTELLTE

Miss Griffin – Direktorin

Miss Lappet – Fräulein für Geschichte und Latein

Miss Bell – Fräulein für Naturkunde, außerdem das Opfer

Miss Parker – Fräulein für Mathematik

Mr MacLean – Pastor

Mr Reid, »Der Traummann« – Lehrer für Musik und Kunst

Miss Tennyson – Fräulein für Englisch

Miss Hopkins – Fräulein für Leibeserziehung

Mademoiselle Renauld, »Mamzelle« – Fräulein für Französisch

Mrs Minn, »Minny« – Krankenschwester

Mr Jones – Hausmeister

Hausmutter – Hausmutter

DIE MÄDCHEN

Daisy Wells – Neuntklässlerin und Vorsitzende des Wells & Wong Detektivclubs

Hazel Wong – Neuntklässlerin und Schriftführerin des Wells & Wong Detektivclubs

NEUNTKLÄSSLERINNEN

Kitty Freebody

Rebecca »Küken« Martineau

Lavinia Temple

Clementine Delacroix

Sophie Croke-Finchley

SIEBTKLÄSSLERIN

Betsy North

ACHTKLÄSSLERINNEN

Binny Freebody

Die Marys

ELFTKLÄSSLERIN

Alice Murgatroyd

DIE GROSSEN

Virginia Overton

Belinda Vance

SCHULSPRECHERIN

Henrietta Trilling, »König Henry«

Inhalt

• TEIL EINS • EINE LEICHE VERSCHWINDET

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

• TEIL ZWEI • WIR BEGINNEN UNSERE ERMITTLUNGEN

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

• TEIL DREI • WIR FINDEN EINIGE INTERESSANTE DINGE HERAUS

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

• TEIL VIER • WIR HABEN UNSERE VERMUTUNGEN UND EINEN STREIT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

• TEIL FÜNF • WIR WAGEN GEFÄHRLICHE ERMITTLUNGEN BEI NACHT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

• TEIL SECHS • DAISY LIEFERT SCHLAGENDE BEWEISE

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

• TEIL SIEBEN • WIR BEKOMMEN ÄRGER

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

• TEIL ACHT • DIE DETEKTEI LÖST DEN FALL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

DAISYS DEEPDEAN-FÜHRER

DANKSAGUNG

• TEIL EINS •

EINE LEICHE VERSCHWINDET

1

Folgender Bericht handelt vom ersten Mord, den die Detektei Wells & Wong je untersucht hat – wie günstig, dass Daisy mir ein neues Fallbuch gekauft hat. Das letzte war nämlich voll, nachdem wir den Fall »Das Geheimnis um Lavinias verschwundene Krawatte« aufgeklärt hatten. Wie sich herausstellte, bestand des Rätsels Lösung darin, dass Clementine sie gestohlen hatte, um sich dafür zu rächen, dass Lavinia sie beim Lacrosse in den Bauch geboxt hatte – was wiederum Lavinias Rache dafür gewesen war, dass Clementine überall herumerzählte, Lavinia stamme aus zerrütteten Familienverhältnissen. Die Lösung unseres neuen Falls könnte da schon verzwickter ausfallen.

Dem neuen Fallbuch zu Ehren sollte ich am besten mit ein paar Erklärungen beginnen: Daisy Wells ist Vorsitzende der Detektei und ich, Hazel Wong, bin die Schriftführerin. Daisy findet, das macht sie zu Sherlock Holmes und mich zu Watson. Das geht wohl auch in Ordnung. Schließlich bin ich viel zu klein, um in dieser Geschichte die Heldin zu spielen, und überhaupt: Wer hat je von einem chinesischen Sherlock Holmes gehört?

Umso komischer ist es, dass ausgerechnet ich Miss Bells Leiche gefunden habe. Ich glaube sogar, Daisy ist deswegen noch immer eingeschnappt, obwohl sie natürlich so tut, als wäre das nicht so. Im Gegensatz zu mir ist Daisy nämlich die geborene Heldin, also sollte sie es sein, der solche Dinge passieren.

Bei Daisy meint man, auf den ersten Blick zu wissen, mit welcher Sorte Mensch man es zu tun hat, nämlich mit einem dieser zierlichen, durch und durch englischen Mädchen mit blauen Augen und goldenem Haar; die Sorte, die mit einem Hockeyschläger im Anschlag durch den Regen über schlammige Spielfelder stürmt, bevor sie zum Tee zehn glasierte Milchbrötchen verschlingt.

Ich hingegen sehe eher aus wie das Michelin-Männchen. Ich habe ein Mondgesicht mit runden Wangen und meine Haare und Augen sind hartnäckig dunkelbraun.

Ich kam damals mitten im Schuljahr als die Neue aus Hongkong dazu – das war in der Achten, als wir alle noch Shrimps waren (Shrimps, um das für dieses neue Fallbuch festzuhalten, nennt man die kleinen Unterstufler). Und schon damals war Daisy bereits im ganzen Internat eine Berühmtheit. Sie ritt, war Teil der Lacrossemannschaft und Mitglied im Theaterclub. Sie war sogar den Großen ein Begriff, und bis Mai wusste ganz Deepdean, dass die Schulsprecherin persönlich Daisy »einen feinen Kumpel« genannt hatte.

Doch das alles ist nur Daisys Fassade, die Rolle des immer gut gelaunten, prima Kerls, die sie jedem vorspielt. In ihrem Innern sieht es ganz anders aus.

Allerdings dauerte es eine Weile, bis ich das begriff.

2

Daisy will, dass ich erkläre, was dieses Schuljahr so alles passiert war, bevor ich die Leiche fand. Sie meint, ordentliche Detektive machen das so – fassen zuerst die Sachlage zusammen –, also werde ich genau das tun. Sie meint außerdem, dass eine gute Schriftführerin ihr Fallbuch stets bei sich tragen sollte, um wichtige Ereignisse noch an Ort und Stelle notieren zu können. Sie darauf hinzuweisen, dass ich das sowieso tue, war zwecklos.

Das wichtigste Ereignis der ersten paar Wochen des Herbsttrimesters war gewissermaßen der Detektivclub selbst, und es war Daisy, die damit anfing. Daisy ruft mit Begeisterung ständig Clubs für alles Mögliche ins Leben. Letztes Jahr hatten wir den Pazifistenclub (öde) und dann den Spiritistenclub (weniger öde, aber dann zerbrach Lavinia während einer Séance ihre Tasse, weshalb Küken in Ohnmacht fiel und die Hausmutter Spiritismus jeder Art verbot).

Doch das war letztes Jahr, als wir alle noch Shrimps waren. Jetzt, da wir erwachsene Neuntklässler sind, können wir uns mit so albernen Dingen wie Geistern nicht mehr abgeben – Daisys Worte, als sie zu Beginn des Trimesters zurückkam und Verbrechen für sich entdeckt hatte.

Ich war einigermaßen erleichtert. Nicht, dass ich jemals Angst vor Geistern gehabt hätte, nicht wirklich. Jeder weiß, dass es sie nicht gibt. Trotzdem machen an unserer Schule genug Spukgeschichten die Runde, um jedem einen Schauer über den Rücken zu jagen. Unser berühmtestes Gespenst ist Verity Abraham, das Mädchen, das sich im Schuljahr vor meiner Ankunft in Deepdean vom Turnhallenbalkon gestürzt hat. Es gibt aber auch die Geister eines früheren Fräuleins, das sich in einem der Musiksäle eingesperrt und zu Tode gehungert hat, und eines kleinen Siebtklässlershrimps, der im Teich ertrunken ist.

Wie gesagt, Daisy beschloss also, dass wir ab sofort Detektive wären. Bei ihrer Ankunft im Wohnheim hatte sie, verstaut in ihrer Knabbertruhe, Bücher mit zwielichtigen, düsteren Einbänden und Titeln wie Das Haus an der Düne und Gefährliches Landleben im Gepäck. Zwar konfiszierte die Hausmutter eins nach dem anderen, aber Daisy schaffte es immer wieder, Nachschub zu besorgen.

Wir gründeten den Detektivclub, die Detektei Wells & Wong, in der ersten Trimesterwoche. Daisy und ich schlossen den streng geheimen Pakt, dass niemand sonst davon erfahren dürfe, nicht einmal unsere Zimmergefährtinnen Kitty, Küken und Lavinia. Und es hat furchtbar viel Spaß gemacht, hinter dem Rücken der anderen umherzuschleichen und so zu tun, als wären wir völlig normal, während wir natürlich die ganze Zeit über wussten, dass wir Detektive in geheimer Mission waren, die Informationen sammelten.

Unsere ersten Fälle hat Daisy noch selbst festgelegt. In der ersten Woche schlichen wir uns in den zweiten Schlafsaal der Neunten und lasen in Clementines geheimem Tagebuch. Danach suchte Daisy eine Siebtklässlerin aus, über die wir so viel wie möglich herausfinden mussten. Das, so versicherte Daisy mir, war zur Übung – ebenso wie sich die Kennzeichen sämtlicher Automobile, die wir sahen, zu merken.

In der zweiten Woche ergab sich ein neuer Fall, als wir der Frage nachgingen, warum König Henry (so nennen wir unsere diesjährige Schulsprecherin, Henrietta Trilling, weil sie so unnahbar und majestätisch ist und außerdem so wunderschöne kastanienbraune Locken hat) eines Tages nicht zur Morgenandacht erschienen war. Es dauerte jedoch nur ein paar Stunden, bis alle – nicht nur wir – erfuhren, dass der Grund ein Telegramm war, weil ihre Tante in aller Frühe überraschend verstorben war.

»Die Arme«, sagte Kitty, als wir es herausfanden. Kitty gehört das Bett neben Daisy in unserem Schlafsaal, und Daisy hat sie zu einer »Freundin der Detektei« bestimmt, auch wenn sie davon noch immer nichts wissen darf. Sie hat glattes, hellbraunes Haar und Unmengen an Sommersprossen, außerdem versteckt sie ganz unten in ihrer Knabbertruhe etwas, das ich zuerst für ein Folterinstrument gehalten habe, sich aber als Wimpernzange herausstellte. Sie ist genau so versessen auf Klatsch und Tratsch wie Daisy, wenn auch aus weniger wissenschaftlichen Gründen. »Armer alter König Henry. Sie hatte wirklich schon eine Menge Pech. Immerhin war sie die beste Freundin von Verity Abraham, und ihr wisst ja, was mit Verity passiert ist. Seitdem ist sie nicht mehr dieselbe.«

»Ich nicht«, meldete Küken sich zu Wort, die neben mir schläft. Ihr richtiger Name ist Rebecca, aber wir nennen sie Küken, weil sie so klein ist und vor allem Angst hat. Am meisten fürchtet sie sich vor dem Unterricht. Sie sagt, wenn sie auf ein Blatt Papier guckt, fangen die Buchstaben und Zahlen an, vor ihren Augen zu tanzen, bis sie nicht mehr geradeaus denken kann. »Was ist denn mit Verity passiert?«

»Sie hat sich umgebracht«, zischte Kitty fassungslos. »Ist letztes Jahr vom Turnhallenbalkon gesprungen …? Alles was recht ist, Küks!«

»Oh!«, meinte Küken. »Natürlich. Ich dachte nur immer, sie sei gestolpert.«

Manchmal dauert es bei Küken etwas länger.

Zu Beginn des Schuljahrs ist noch etwas anderes geschehen, das sich als durchaus wichtig herausstellte: Der Traummann kam an.

Ihr müsst wissen, zum Ende des vorigen Jahrs ist Miss Nelson, die stellvertretende Direktorin und unsere langweilige Lehrerin für Musik und Kunst, in Ruhestand gegangen. Wir hatten erwartet, dass sie durch jemanden genauso Uninteressanten ersetzt werden würde – aber der neue Musik- und Kunstlehrer, Mr Reid, stellte sich als das genaue Gegenteil heraus. Und alt war er auch nicht.

Mr Reid hatte kräftige Wangenknochen und einen hinreißenden Schnurrbart, außerdem ölte er sein Haar mit Brillantine. Er sah wie ein echter Filmstar aus, auch wenn wir uns nicht einigen konnten, welcher genau. Kitty fand, er habe Ähnlichkeit mit Douglas Fairbanks Jr., während Clementine auf Clark Gable beharrte, aber das liegt nur daran, dass Clementine von Clark Gable vollkommen besessen ist. Unterm Strich spielte es sowieso keine Rolle. Mr Reid war ein Mann, und er war nicht Mr MacLean (unser kauziger, ungewaschener alter Pastor, den Kitty Mr MacDreck nennt) – das genügte, damit die gesamte Schule sich auf der Stelle in ihn verliebte.

Kitty gründete sogar einen völlig ernst gemeinten pseudogeheimen Club, der sich der Huldigung von Mr Reid verschrieb. Auf dem ersten Treffen wurde er umgetauft in »Der Traummann«. Wir alle mussten ab sofort das geheime Zeichen machen (Zeigefinger anheben und mit dem rechten Auge zwinkern), wenn wir uns in seiner Gegenwart befanden.

Der Traummann war noch keine volle Woche auf der Deepdean, als er den schockierendsten Vorfall seit Verity im letzten Jahr verursachte.

Es ist nämlich so, dass vor diesem Schuljahr die ganze Schule wusste, dass Miss Bell (unser Fräulein für Naturkunde) und Miss Parker (unser Fräulein für Mathematik) ein Geheimnis hatten. Gemeinsam bewohnten sie die kleine Stadtwohnung von Miss Parker, in der es ein Gästezimmer gab. Dieses Gästezimmer war das Geheimnis. Als Daisy mir zum ersten Mal davon erzählte, begriff ich noch nichts – doch jetzt, wo wir in der Neunten sind, verstehe ich natürlich ganz genau, was es bedeuten muss. Es hat etwas mit Miss Parkers Frisur zu tun, die viel zu kurz ist, selbst für die aktuelle Mode, und mit der Art und Weise, wie sie und Miss Bell letztes Schuljahr während der »Süßen Pause« (die Süße Pause und andere Deepdean-Eigenheiten hat Daisy im Anhang erklärt) immer Zigaretten teilten.

In diesem Trimester jedoch wurden keine Zigaretten weitergereicht, denn sobald Miss Bell am ersten Tag einen Blick auf den Traummann geworfen hatte, war sie ihm mit Haut und Haaren verfallen, genau wie Kitty. Ganz Deepdean geriet außer Fassung. Miss Bell galt nicht als Schönheit. Sie wirkte sehr verschlossen, zugeknöpft und streng in ihrem weißen Laborkittel. Außerdem war sie arm. Miss Bell trug abwechselnd immer dieselben drei abgewetzten Blusen, schnitt sich ihre Haare selbst und erledigte nach dem Unterricht für Miss Griffin Sekretariatsarbeit, um sich etwas dazuzuverdienen. So ziemlich jeder hatte Mitleid mit ihr, und wir nahmen an, dass der Traummann sie ebenfalls bemitleiden würde. Als es anders kam, waren wir wie vor den Kopf gestoßen.

»Zwischen den beiden läuft eindeutig was«, berichtete Clementine unserer Klasse am Ende der ersten Schulwoche. »Ich war in der Süßen Pause im Labor und habe Miss Bell und den Traummann beim Knutschen erwischt. Das war vielleicht ein Schreck!«

»Ich wette, du hast dich getäuscht«, meinte Lavinia verächtlich. Lavinia gehört auch zu unserem Schlafsaal – sie ist ein großes, schweres Mädchen mit störrischem dunklen Haar, und die meiste Zeit über schlecht gelaunt.

»Nein!«, beharrte Clementine. »Ich weiß, wie das aussieht. Letzten Monat habe ich meinen Bruder dabei überrascht.«

Ohne es zu wollen, wurde ich rot. Die Vorstellung der steifen Miss Bell in ihrer penibel gestärkten Bluse beim Knutschen (was immer das genau war) war außerordentlich peinlich.

Als Nächstes hat Miss Parker Wind davon gekriegt. Miss Parker mit ihrer schwarzen Kurzhaarfrisur und ihrer wütenden Stimme, die wie ein Nebelhorn aus ihrem kleinen Körper dröhnt, ist im wahrsten Sinne des Wortes Furcht einflößend. Der Streit zwischen ihr und Miss Bell war gigantisch. Fast die ganze Schule konnte mithören, und das Ende vom Lied war, dass Miss Bell aus der kleinen Wohnung ausziehen musste.

Zu Beginn der zweiten Schulwoche änderte sich dann alles aufs Neue. Wir konnten kaum mehr Schritt halten! Plötzlich schien der Traummann nicht mehr daran interessiert, seine Zeit mit Miss Bell zu verbringen. Stattdessen fing er etwas mit Miss Hopkins an.

Miss Hopkins ist unser Fräulein für Leibeserziehung. Sie ist rund um die Uhr unerbittlich fröhlich (es sei denn, man ist in Sport eine Niete) und bei ihrem Marsch durch die Schulflure meistens mit einem Hockeyschläger bewaffnet, in einem Tempo, bei dem ihr athletisches braunes Haar immer aus den modisch zurückgesteckten Wellen rutscht. Sie ist hübsch und (glaube ich zumindest) ziemlich jung, daher war es keine große Überraschung, dass der Traummann Notiz von ihr nahm – es war nur schockierend, dass er Miss Bell deswegen abservierte.

Jedenfalls konnte man den Traummann nun also mit Miss Hopkins in den Klassenzimmern beim Knutschen ertappen, während Miss Bell nichts anderes übrig blieb, als mit schmalem Mund und eisigem Blick an den beiden vorüberzustürmen, wenn sie auf sie traf.

Im Allgemeinen wendete sich die Stimmung auf der Deepdean gegen Miss Bell. Miss Hopkins war hübsch, Miss Bell nicht, und Miss Hopkins Vater war ein äußerst einflussreicher Richter in Gloucestershire, während der von Miss Bell nirgends den Ton angab. Trotzdem konnte ich nicht anders, als mich auf die Seite von Miss Bell zu schlagen. Immerhin war es nicht ihre Schuld, dass der Traummann sie sitzen gelassen hatte, und dafür, dass sie arm war, konnte sie genauso wenig. Jetzt, da sie Miss Parkers Wohnung verlassen musste, war sie natürlich ärmer als je zuvor, und das machte mir Sorgen.

Der einzige Lichtblick für Miss Bell war die Aussicht auf die Stelle als stellvertretende Direktorin, und selbst die hatte einen bitteren Beigeschmack. Dazu muss man wissen, Miss Griffin war dabei, eine neue Stellvertreterin auszusuchen, und nach einigen Wochen machte das Gerücht die Runde, dass die Wahl auf Miss Bell fallen würde. Eigentlich hätte das ein Glück sein sollen – wäre sie erst einmal offiziell ernannt, hätten Miss Bells Geldsorgen für immer ein Ende. Allerdings hatte es den Nachteil, dass die Lehrerinnen, die nicht befördert wurden, sie mit Verachtung bestraften. Außer Miss Bell wären theoretisch noch zwei weitere infrage gekommen: zum einen Miss Tennyson, unser Fräulein für Englisch – das ist wirklich ihr Name, obwohl sie nicht mit dem berühmten Dichter verwandt ist. Falls ihr einmal das Gemälde der Lady of Shalott gesehen habt, die matt in ihrem Boot treibt, dann wisst ihr, wie Miss Tennyson aussieht. Sie trägt die Haare immer offen und sie ist so tranig wie Kuchenteig. Die andere Bewerberin war Miss Lappet, unsere Lehrerin für Geschichte und Latein – eine unfähige graue Maus mit einer Figur wie ein zu prall gestopftes Kissen, die sich einbildet, Miss Griffins engste Vertraute zu sein. Beide schäumten vor Wut, weil angeblich Miss Bell den Posten der Konrektorin bekommen sollte, und schnitten die Arme, wann immer sie ihr auf dem Gang über den Weg liefen.

Und dann geschah der Mord.

3

Ich sagte ja schon, dass ich es war, die Miss Bells Leiche fand, und das stimmt auch, aber ohne Daisys Kriminalromane wäre es nie dazu gekommen. Da unsere Hausmutter so leidenschaftlich gerne Sachen in Beschlag nimmt, hätte es erst gar keinen Sinn gehabt, die Bücher im Wohnheim lesen zu wollen. Also ging Daisy dazu über, abends länger in der Schule zu bleiben. Sie trat dem Literaturclub bei, schmuggelte Der Tote in der Badewanne zwischen die Seiten von Shakespeares Sonette und schmökerte in aller Ruhe, während die übrigen diskutierten. Ich trat ebenfalls bei und verzog mich ans hintere Ende des Zimmers, wo ich meine Fallnotizen für die Detektei festhielt, während alle anderen meinten, ich würde Gedichte verfassen.

Es geschah nach dem Literaturclub, am Montag, dem 29. Oktober. Sämtliche Arbeitsgruppen, die nach dem Unterricht stattfinden, enden um 17 Uhr 20, aber Daisy und ich blieben etwas länger in dem leeren Klassenzimmer, damit sie Warten auf den Tod zu Ende bringen konnte. Während Daisy völlig in ihre Geschichte vertieft war, machte ich mir die schlimmsten Sorgen, weil ich befürchtete, zu spät zum Abendessen zu kommen und den schrecklichen Zorn der Hausmutter auf mich zu ziehen. Hektisch hielt ich nach meinem Pullover Ausschau, als mir zu meinem Ärger einfiel, wo ich ihn liegen lassen hatte.

»Mist!«, fluchte ich. »Daisy, mein Pullover ist noch in der Turnhalle. Warte kurz auf mich, ich bin gleich wieder da.«

Daisy, die ihre Nase tief in ihrem Buch vergraben hatte, zuckte nur vage mit den Schultern, um zu zeigen, dass sie mich gehört hatte, während sie ungerührt weiterlas. Ein erneuter Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass es 17 Uhr 40 war. Wenn ich die Beine in die Hand nahm, würde ich es gerade noch schaffen – vom Eingang des Altbaus bis zum Wohnheim braucht man sieben Minuten und das Abendessen steht immer um Punkt sechs auf dem Tisch.

Schwer schnaufend raste ich durch den leeren Korridor des Altbaus, der nach Kreide roch, und bog mit laut hallenden Schritten nach rechts in die Stille des Bibliotheksflurs mit der hohen Decke und den schwarz-weißen Fliesen. Obwohl ich nun schon über ein Jahr lang an der Deepdean bin, gerate ich beim Rennen noch immer völlig außer Puste, und zwar »höchst undamenhaft«, wie es die gemeine Miss Hopkins nennt.

Ich lief am Aufenthaltsraum der Fräulein, an der Bibliothek, dem Büro von Mr MacLean, dem Kabuff des Traummanns und der Aula vorbei, bis ich noch einmal rechts abbog, und zwar in den Korridor, der zur Turnhalle führt. In der Schule kursiert die Geschichte, dass in der Turnhalle der Geist von Verity Abraham spukt. Als ich zum ersten Mal davon hörte, war ich noch jünger und habe es prompt für bare Münze genommen. In meiner Vorstellung erschien mir Verity Abraham in Schürzenkleid und Krawatte, blutüberströmt, das lange Haar wie ein Vorhang vor dem Gesicht und einen Lacrosseschläger in der Hand.

Sogar jetzt, wo ich älter und kein Shrimp mehr bin, läuft es mir schon allein auf dem Weg zur Turnhalle kalt den Rücken hinunter. Dass der Flur so grauenhaft ist, ist natürlich auch keine große Hilfe. Alles ist vollgestopft mit staubigen und kaputten alten Schulmöbeln, die im Zwielicht wie lauernde Gestalten aussehen. An jenem Abend waren sämtliche Lichter bereits gelöscht und alles war in trübe Grau- und Brauntöne getaucht. Ich rannte im Schweinsgalopp den Gang entlang, stieß die Türen zur Turnhalle auf und walzte keuchend hinein.

Und dort, auf dem Boden, lag Miss Bell.

Unsere Turnhalle, falls ihr sie noch nicht mit eigenen Augen gesehen habt, ist sehr groß, voller Barren und Schwebebalken, die allesamt ordentlich an den Wänden aufgereiht sind, und großen Glasfenstern. Auf der Seite, die dem Haupteingang am nächsten ist, gibt es einen furchtbar hohen Balkon (allein dürfen wir nicht hinauf, damit wir nicht abstürzen, doch seitdem Verity von dort gesprungen ist, zieht es sowieso niemanden mehr dorthin) und darunter einen kleinen Raum, den wir die Besenkammer nennen, in dem wir uns umziehen und unsere Sachen verstauen können.

Vor dem Balkon lag mit angezogenen Beinen – auffällig reglos – Miss Bell, einen Arm hinter dem Kopf ausgestreckt. In der ersten Schrecksekunde kam mir nicht einmal in den Sinn, dass sie tot sein könnte. Vielmehr machte ich mich auf eine grässliche Standpauke gefasst, weil ich mich an Orten herumtrieb, an denen ich nichts verloren hatte, und wollte schon klammheimlich umkehren, damit sie mich nicht entdeckte. Doch dann geriet ich ins Grübeln: Weshalb lag Miss Bell in einer so merkwürdigen Pose am Boden der Turnhalle?

Ich rannte zu ihr und ging in die Knie. Kurz zögerte ich, weil ich noch nie zuvor eins der Fräulein berührt hatte. Aber zumindest in dieser Situation war es auch nur wie bei jedem anderen Menschen.

Ich klopfte ihr auf die Schulter des weißen Laborkittels und hoffte inständig, dass sie die Augen aufschlagen und sich aufsetzen würde, um mich dafür zu schelten, nach dem Unterricht die Turnhalle betreten zu haben. Doch stattdessen rollte Miss Bells Kopf durch mein Rütteln von mir weg. Die Brille rutschte von ihrer Nase und ich sah, dass das, was ich für einen Schatten unter ihrem Kopf gehalten hatte, tatsächlich ein dunkler Fleck war, so groß wie mein Taschentuch. Ein Teil davon hatte sich bis an den Kragen ihres Kittels ausgebreitet und ihn rot verfärbt. Ich streckte den Finger nach der Stelle aus – und zog ihn mit Blut bedeckt wieder zurück.

Hastig schob ich mich von Miss Bell fort und wischte mir entsetzt die Hand am Kleid ab, wo sie eine lange dunkle Spur hinterließ. Ich blickte darauf, dann auf meine Lehrerin, die sich noch immer nicht gerührt hatte, und auf einmal wurde mir schrecklich übel. Ich hatte noch nie eine Leiche aus der Nähe gesehen, trotzdem war ich inzwischen ziemlich sicher, dass Miss Bell tot war.

Unter diesen Umständen, dachte ich, sollte ich wohl schreien, nur war um mich herum alles so dunkel und still, dass ich es nicht über mich brachte. Was ich wirklich wollte, war, mir das Kleid vom Leib zu reißen, um das Blut loszuwerden, doch da gewann die Deepdean-Erziehung in mir die Überhand und ließ den Gedanken daran, halb nackt durch die Schule zu stürmen, irgendwie wesentlich schlimmer erscheinen, als allein bei einer Leiche zu hocken …

In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass Miss Bell tatsächlich tot war und ich mit ihrer Leiche allein. Plötzlich fiel mir der Geist von Verity Abraham ein, und ich überlegte, ob es womöglich sie gewesen war, die Miss Bell ermordet hatte, indem sie sie von exakt derselben Stelle gestoßen hatte, von der sie ein Jahr zuvor gesprungen war … Am Ende wartete sie nun darauf, mir dasselbe anzutun! Es war dumm und kindisch, aber sämtliche Härchen in meinem Nacken stellten sich auf und, Deepdeans Erziehung hin oder her, ich sprang auf und rannte, so schnell ich konnte, aus der Halle – als ob Miss Bell sich doch noch erheben und sich auf mich stürzen könnte.

4

Ich war so schrecklich in Eile, dass ich auf dem Rückweg durch den Korridor gegen mehrere eingemottete Stühle stieß und mir das Knie recht böse aufschrammte. Allerdings bemerkte ich das erst später. Rings um mich herum hallte das Echo meiner Schritte und aus den Augenwinkeln glaubte ich, merkwürdige Schatten zu sehen, die mir den Atem stocken ließen. Den gesamten Weg vom Bibliotheksflur bis zum Altbau rannte ich, bis ich – endlich – Daisy fand, die eben aus dem Klassenzimmer trat, in dem ich sie zurückgelassen hatte.

Ich muss einen schauderhaften Anblick abgegeben haben, ganz errötet, verschwitzt und gehetzt.

Daisy stutzte und sah mich neugierig an. »Was, um alles in der Welt, ist denn in dich gefahren? Du blutest. Wir kommen zu spät zum Abendessen. VO ist schon ganz außer sich.«

Überrascht blickte ich an mir hinab. Erst da fiel mir das Blut auf, das aus einem langen Schnitt am Knie über mein Bein lief. Ich spürte rein gar nichts davon. Es war, als gehörte es zu einer völlig Fremden.

»Daisy«, keuchte ich. »Miss Bell ist tot.«

Daisy lachte. »Oh, sehr lustig, Hazel«, meinte sie. »Man stelle sich das nur vor!«

»Daisy«, sagte ich. »Im Ernst. Sie ist tot. Sie liegt in der Turnhalle, einfach so am Boden …«

Daisy starrte mich mit hochgezogener Augenbraue an. In exakt diesem Moment kam Virginia Overton hinter ihr aus dem Zimmer gestürmt und ertappte uns, untätig Löcher in die Luft starrend.

Als Daisy von »VO« sprach, meinte sie Virginia Overton. Jeden Montagabend ist sie als Oberstuflerin an der Reihe, die Aufsicht zu übernehmen und sicherzustellen, dass wir alle nach den Clubtreffen brav ins Wohnheim marschieren. VO nimmt diese Aufgabe äußerst ernst. Wie ein Feldwebel trampelt sie auf ihren dicken Plattfüßen durch die Schule und drückt dabei ihr Klemmbrett an sich wie ein Wachtmeister sein Notizbuch.

»Wells!«, keifte sie und baute sich bedrohlich auf der Türschwelle auf. »Wong! Was soll das werden? In genau acht Minuten versäumt ihr zwei offiziell das Abendessen!«

»In der Turnhalle … Miss … sie …«, stammelte ich.

»Hazel glaubt, dass sich in der Turnhalle jemand verletzt hat«, half Daisy mir gekonnt aus. »Sie ist den ganzen Weg gerannt, um Hilfe zu holen.«

Virginia verdrehte genervt die Augen. »Ach, ich bitte euch!«, stöhnte sie. »Ihr denkt euch wirklich die tollsten Flunkereien aus!«

»Du musst mitkommen und nachsehen!«, keuchte ich. »Bitte!«

Virginia blickte von mir zu Daisy und wieder zurück. »Wenn das eins von euren Spielchen ist …«, warnte sie uns.

Ich zerrte sie zur Turnhalle, während Daisy uns folgte. Das Englischfräulein, Miss Tennyson, stand am Ende des Gangs vor Mr MacLeans Büro und plauderte mit der rothaarigen Mamzelle, unserer Lehrerin für Französisch (mir will nicht eingehen, wie Miss Tennyson sie verstehen kann – Mamzelle hat einen grauenhaften französischen Akzent, ihr Unterricht ist der reinste Kampf) und dem schmuddeligen Mr MacLean selbst. Alle drei drehten sich neugierig zu uns um, als wir vorbeieilten. Wir machten so viel Lärm, dass sogar der Traummann den Kopf aus seinem kleinen Kabuff steckte, um nachzusehen, was der Aufruhr zu bedeuten hatte. (Der Traummann hat sein eigenes kleines Arbeitszimmer am Ende des Bibliothekskorridors, direkt neben dem Büro von Mr MacLean – den Aufenthaltsraum der Fräulein am anderen Ende kann er selbstverständlich nicht nutzen, weil er ja ein Mann ist.)

»Gibt’s ein Problem, Virginia?«, rief Mr MacLean, woraufhin Virginia zischte: »Das bezweifle ich, Sir.«

Als Virginia und Daisy durch die Tür der Turnhalle liefen, hielt ich an und legte triumphierend den Hauptlichtschalter um. »Da ist sie«, sagte ich und zeigte mit dem Finger auf die Stelle. »Ich hab’s euch ja gesag–«

Doch als ich an meinem ausgestreckten Arm entlang auf den Boden blickte, wo – nur Minuten zuvor – Miss Bell gelegen hatte, fehlte von ihr jede Spur. Die Turnhalle war vollkommen leer und ruhig. Nur ein kleiner dunkler Fleck auf den polierten Dielen zeigte, wo sich ihr Kopf befunden hatte.

Ich hatte mich von dem Schock noch nicht erholt, als Virginia das Wort ergriff.

»Gute Güte!«, meinte sie. »Was für eine Überraschung. Hier ist niemand. Das heißt dann wohl, heute kein Abendessen für euch beide – für dich, weil du gelogen hast, und für dich, weil du sie ermutigt hast.«

»Aber sie war hier!«, rief ich. »Ehrlich! Schau doch!« Ich deutete auf den dunklen Schmierfleck. »Das ist Blut! Jemand muss zurückgekommen sein und es aufgewischt haben und –«

Virginia schnaubte verächtlich. »Und ich bin die Kaiserin von China«, sagte sie blasiert. »Niemand hat irgendwas getan, weil nie jemand hier war – wie du sehr wohl weißt. Und was das Blut angeht, nun, dein Knie blutet. Hast du geglaubt, ich würde das nicht bemerken? Dein Kleid ist auch besudelt. Das ist mit Abstand der ausgemachteste Blödsinn, der mir je untergekommen ist! Du solltest dich was schämen – aber ich schätze, wo du herkommst, bringt man euch nicht bei, dass man nicht lügen darf, was?«

Ich biss mir auf die Lippe und wünschte mit aller Macht, ich hätte Virginia Overton auf dem Boden der Turnhalle liegend gefunden.

»Jetzt auf ins Wohnheim mit euch, alle beide! Ich hoffe, die Hausmutter liest euch später ordentlich die Leviten für das hier, mehr kann ich dazu nicht sagen.«

Damit packte sie uns am Arm und führte uns ab, während sie grummelnd über Neuntklässler schimpfte. Vor Wut und Scham war ich puterrot angelaufen. Ich hatte Miss Bell dort liegen sehen, ich wusste es – doch es gab keinen Beweis dafür, dass ich nicht alles nur erfunden hatte.

Virginia schleppte uns an Mamzelle, Miss Tennyson und Mr MacLean vorbei. Mamzelle meinte kichernd: »Falscher Alarm?«

»Und ob«, antwortete Virginia, während sie entschlossen weitermarschierte.

Kurz überlegte ich, ob ich doch den Verstand verloren haben könnte. Außerhalb von Daisys Büchern geschah so etwas einfach nicht. Es war lächerlich.

Doch dann, während Virginia uns durch den hell erleuchteten, mit Holz verkleideten Ausgang des Altbaus scheuchte, blickte ich zufällig auf mein Kleid hinab und sah den dunklen Streifen darauf. Ich öffnete die Hand und stellte fest, dass man an der Spitze meines Zeigefingers noch immer einen roten Rand erahnen konnte. Fest ballte ich die Finger zur Faust – ich war kein bisschen verrückt, das war mir jetzt klar.

5

Trotz des geladenen Tempos, in dem Virginia uns den Hügel hinaufschleifte, hatten wir das Haus noch nicht erreicht, als der Gong zum Essen läutete. Auch diesmal hatte ich es meiner Deepdean-Erziehung zu verdanken, dass ich bei dem entfernten Klang unweigerlich zusammenzuckte. Eins der ersten Dinge, die man an unserem Internat lernt, ist, dass Läuten heilig ist. Unser Leben ist fein säuberlich auf die Abstände dazwischen verteilt, und den Ruf zu ignorieren, gilt schlicht als Verbrechen. Das wichtigste Läuten von allen ist der Essensgong des Wohnheims. Wenn man ihn hört und nicht folgt – oder schlimmer: ihn gar nicht erst hört, weil man nicht da ist … Oha! Dann wandert man ohne Abendessen ist Bett.

Natürlich war mir klar, dass wir in viel größeren Schwierigkeiten steckten, als das Abendessen zu verpassen, trotzdem konnte ich nicht anders, als auf den Gong zu reagieren.

Noch strömten die Mädchen in den Speisesaal, als wir die Eingangshalle im Haus mit der abblätternden Farbe betraten, doch ein gekeiftes »Ihr wartet hier!« von Virginia zwang uns dazu, uns nervös unter der großen Uhr in der Halle – die uns darüber informierte, dass wir ganze vier Minuten zu spät waren – herumzudrücken, während VO nach oben stürmte, um unsere Hausmutter zu holen.

Die Heimleiterin wirkte nicht gerade erfreut über das, was Virginia zu berichten hatte. Ihre gemeinen Schweinsäuglein unter der großen Haube stierten uns vorwurfsvoll an, während sie schwer durch die Nase schnaufte. Als Virginia fertig war, herrschte eine Weile Stille. Durch die geschlossene Flügeltür konnte ich das Gemurmel aus dem Speisesaal hören. Dann kam die Hausmutter wutschnaubend zu uns, versetzte uns beiden eine Backpfeife (mir kräftiger als Daisy, denn immerhin hatte sie meine Lügen nur ermutigt) und schickte uns ohne Abendessen in unseren Schlafsaal, wo wir darüber nachdenken sollten, was wir verbrochen hatten. Während wir über den abgewetzten blauen Läufer der Vordertreppe in den ersten Stock schlurften, sah ich, wie die Hausmutter mit Virginia an ihrer Seite den Speisesaal betrat. Sie steckten die Köpfe zusammen und warfen uns finstere Blicke zu, um uns auch ja zu zeigen, wie sehr wir es uns mit ihnen verscherzt hatten.

Ich war furchtbar niedergeschlagen, weil mir keiner glaubte. Obendrein bekam ich einen ganz üblen Geschmack im Mund, sobald ich an das Bild in der Turnhalle dachte – als müsste ich mich jeden Moment übergeben. Daisy dagegen war bester Laune. Sobald wir die Zimmertür hinter uns geschlossen hatten und unter uns waren, ließ sie sich knarrend (unsere Betten sind nicht auf Komfort ausgerichtet) auf ihre Matratze fallen und sagte: »Dann erklär mal.«

»Da gibt es nichts zu erklären.« Ich setzte mich neben sie und fühlte mich elender als je zuvor. »Ich habe Miss Bell auf dem Boden der Turnhalle gefunden. Sie muss vom Balkon gestürzt sein. Sie war vollkommen mausetot. Ich habe mir das nicht ausgedacht!«

»So viel ist mir klar«, meinte Daisy, als wäre auf der Welt nichts normaler, als in verlassenen Turnhallen auf die Leichen von Naturkundelehrerinnen zu stoßen. »Nie im Leben würdest du dir so eine Lüge ausdenken. Lavinia vielleicht, aber nicht du. Bist du dir denn sicher, dass sie wirklich tot war?«

Empört richtete ich mich auf, doch dann fiel mir ein, wie Miss Bells Kopf zur Seite gerollt war, und prompt stellte sich die Übelkeit wieder ein. »Ich habe sie angefasst und sie war noch warm, aber tot wie ein Sargnagel«, beteuerte ich. »Sie war ganz schlaff. Ich hab’s dir doch gesagt, sie muss vom Balkon gefallen sein.«

Daisy zog die Nase kraus. »Gefallen?«

»Was meinst du?«, wollte ich wissen. Ich bekam eine Gänsehaut. Ich war so damit beschäftigt gewesen, mich wegen Miss Bells Tod zu gruseln, dass ich noch gar keinen Gedanken daran verschwendet hatte, wie es überhaupt dazu gekommen war.

»Es ist doch offensichtlich«, meinte Daisy. »Niemand stürzt sich zu Tode, steht dann auf und lässt sich selbst verschwinden, oder? Als du die Leiche gefunden hast, hätte es noch ein Unfall sein können. Aber als wir keine fünf Minuten später zurückkamen und die Tote sich in Luft aufgelöst hatte … Nun, jemand muss sie gestoßen und dann die Beweise entsorgt haben.«

Ich schluckte. »Du meinst, sie wurde ermordet?«

»Selbstverständlich! Sag nicht, daran hast du noch nicht gedacht? Oh, Hazel, wie aufregend! Ein echter Mord, in Deepdean! Natürlich besteht die Möglichkeit, dass ich vollkommen danebenliege. Vielleicht bist du einfach nur im falschen Moment dazugekommen und hast die Lage falsch verstanden …«

»Habe ich nicht!«, protestierte ich, nun doch wieder etwas beleidigt.

»Oder wir haben irgendwie das Rettungskommando verpasst. Wie auch immer. Wenn es so ist – und wie sehr ich doch hoffe, dass es nicht so ist –, werden wir morgen früh Bescheid wissen. Es wird sich in der Schule verbreiten wie Mumps.«

»Und wenn nicht?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte.

»Wenn nicht«, sagte Daisy, hopste noch einmal auf ihrem Bett und strahlte mich an, »dann hat unsere Detektei soeben ihren besten Fall aufgetan.«

6

Wir hörten, wie unten die Türen des Speisesaals aufgestoßen wurden. Ein stetig ansteigendes Getöse und das Trampeln von Füßen auf den blanken Stufen wurden hörbar, und dreißig Sekunden später warf Kitty die Tür zum Schlafsaal auf und eilte, dicht gefolgt von Küken und Lavinia, herein.

»Was war denn los? Warum wart ihr nicht beim Abendessen?«, schnappte Küken atemlos. »Ich hab euch meinen Nachtisch aufgehoben, falls ihr noch nichts gegessen habt – es ist Mandelpastete, daher konnte ich sie leicht verstauen. Und ihr wisst ja, dass ich die nicht ausstehen kann.«

Ich wusste, dass das eine glatte Lüge war, und bekam ein ganz schlechtes Gewissen, doch noch bevor ich ablehnen konnte, hatte Daisy Küken das krümelnde Stück Kuchen gnädigerweise bereits abgenommen und brach es in zwei Hälften. Küken hatte es in ihr Taschentuch eingewickelt gehabt, daher war es nicht mehr ganz sauber, aber mein Magen knurrte. Es schmeckte himmlisch.

»Was ist passiert?«, wollte Kitty wissen, während wir aßen. »Was habt ihr ausgefressen? Ich muss schon sagen, die Hausmutter und VO sahen beide aus, als hätten sie sich über irgendetwas furchtbar aufgeregt.«

»Also wie immer«, meinte Daisy, den Mund voller Pastete. »Eigentlich war nichts weiter. Hazel ist zurück in die Turnhalle, um ihren Pullover zu holen, und VO hat sie dort erwischt und beschlossen, dass sie Sperrgebiet betreten hatte. Sie hat uns ordentlich zur Schnecke gemacht.«

Alle nickten wissend. Virginia Overtons Wutanfälle waren legendär.

Um das Gespräch von der Turnhalle abzubringen, und um sich für Kükens Opfer erkenntlich zu zeigen, kramte Daisy in ihrer Knabbertruhe, bis sie eine Tafel Fry’s Schokolade hervorzauberte. Gemeinsam saßen wir alle noch auf unseren Betten und mampften genüsslich, als laut der Gong zur Hausaufgabenstunde – wir nennen das »Silentium« – ertönte.