Mord erster Klasse - Robin Stevens - E-Book

Mord erster Klasse E-Book

Robin Stevens

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nach den schockierenden Morden im Internat und auf Fallingford nimmt Hazels Vater seine Tochter und ihre Freundin Daisy mit auf eine Reise im berühmten Orientexpress. Klar, dass jeder ihrer Mitreisenden in der ersten Klasse etwas zu verbergen hat. Angeblich soll sogar ein Spion im Zug sein! Als ein Passagier ermordet aufgefunden wird, nimmt die Detektei Wells & Wong die Ermittlungen auf. Doch sie scheinen es mit einem Mörder zu tun zu haben, der sich einfach in Luft aufgelöst hat – und mit einigen anderen Spürnasen, die den Fall genauso entschlossen aufklären wollen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 319

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Titel der Originalausgabe: First Class Murder

Erschienen bei Random House Children’s Publisher UK,a division of The Random House Group Limited.Copyright Text © 2015 Robin StevensPublished by Arrangement with Robin StevensCopyright Gestaltung © 2015 Nina Tara DesignDiese Ausgabe wurde vermittelt durch dieLiterarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

4. Auflage 2021

Deutsche Erstausgabe

Copyright © 2017 von dem Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG,München

Ein Unternehmen der Média-Participations

Umschlagadaption: Leonore Höfer, Knesebeck VerlagÜbersetzung: Nadine Mannchen, HelmbrechtsLektorat: Theresa Scholz, Knesebeck VerlagSatz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, HeimstettenHerstellung: Arnold & Domnick, Leipzig

eISBN 978-3-95728-597-3

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.

www.knesebeck-verlag.de

Für all die guten Menschen in meinem Leben.Dank euch fühle ich mich wie ein Glückspilz.

Inhalt

TEIL EINS: ALLES EINSTEIGEN – MORD VORAUS!

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

TEIL ZWEI: DER SPION, DAS MESSER UND DER SCHREI

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

TEIL DREI: MIT VOLLDAMPF AUSGEBREMST

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

TEIL VIER: DIE DETEKTEI BEREITET EINEN KLEINEN SCHWINDEL VOR

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

TEIL FÜNF: AUF DEM FALSCHEN GLEIS?

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

TEIL SECHS: DIE DETEKTEI WELLS & WONG LÖST DEN FALL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

DAISYS ORIENT-EXPRESS-FÜHRER

DANKSAGUNG

Mord erster Klasse

Ein Bericht über

den »Mord im Expresszug«,im Rahmen der Ermittlungender Detektei Wells & Wong.

Aufgezeichnet von Hazel Wong(Vizevorsitzende und Schriftführerinder Detektei), 13 Jahre alt.

Begonnen am Sonntag, 7. Juli 1935.

DER ORIENTEXPRESS

WAGEN ERSTER KLASSE CALAIS-SIMPLON-ISTANBUL:

Mr William Daunt – Eigentümer von Daunts Diätpillen

Mrs Georgiana Daunt – Gattin von Mr Daunt

Sarah Sweet – Dienstmädchen von Mrs Daunt

Mr Robert Strange – Schriftsteller, Bruder von Mrs Daunt

Madame Melinda Fox – Medium

Il Mysterioso – Magier

Gräfin Demidovskoy – Russische Aristokratin

Alexander Arcady – Enkel der Gräfin

Mrs Helen Vitellius – Gattin eines Kupfermagnaten

Mr Vincent Wong – Direktor des Bankinstituts Wong, Vater von Hazel Wong

Hazel Wong – Schriftführerin und Vizevorsitzende der Detektei Wells & Wong

Die Ehrenwerte Daisy Wells – Vorsitzende der Detektei Wells & Wong

Mr John Maxwell – Mr Wongs Assistent

Hetty Lessing – Dienstmädchen von Daisy Wells und Hazel Wong

WAGEN ERSTER KLASSE CALAIS-ATHEN:

Dr. Sandwich – Arzt

ZUGPERSONAL:

Jocelyn Buri – Schaffner des Waggons Calais-Simplon-Istanbul

• TEIL EINS •

ALLES EINSTEIGEN – MORD VORAUS!

1

So wie mein Vater sich benimmt, könnte man meinen, der Mord, der sich ereignet hat, sei unsere Schuld – oder vielmehr Daisys, um genau zu sein.

Selbstverständlich ist das alles andere als wahr. Zunächst einmal, war es seine Idee, in den Ferien eine Zugreise zu unternehmen – ebenso wie Daisy dazu einzuladen. Und was Daisy, mich und die Detektei betrifft – tja, so ist es nun einmal. Dieser Mord hätte so oder so stattgefunden, ob Daisy und ich nun hier gewesen wären und ihn bemerkt hätten oder nicht. Also wie kann man uns einen Vorwurf daraus machen, dass wir ihn untersuchen? Was für Detektive wären wir denn, würden wir es nicht tun?

Naturgemäß ist Mord immer recht grauenhaft, trotzdem ist dieser hier im Vergleich zum letzten (zu Hause bei Daisy in Fallingford während der Osterferien) fast schon eine Erleichterung. Damals war nämlich jeder Verdächtige entweder ein Freund, Verwandter oder Bekannter! Dieses Mal waren alle, die möglicherweise an dem Verbrechen beteiligt gewesen sein konnten – mit einer Ausnahme –, noch vor zwei Tagen völlig Fremde für Daisy und mich. Obwohl es uns natürlich leid tut, dass einer von ihnen tot ist (zumindest mir tut es leid, und ich hoffe, Daisy geht es ebenso), sind wir doch in erster Linie Detektivinnen, die ein Rätsel zu knacken und einen Mörder dingfest zu machen haben. Und wir werden es schaffen, egal, was mein Vater sich einfallen lässt, um uns aufzuhalten.

Es ist nämlich so: Obwohl dieser Mord nicht den Anschein hat, als könnte er uns so zusetzen wie der an der armen Miss Bell oder dem scheußlichen Mr Curtis, könnte es sehr wohl unser kniffligster Fall sein. Erwachsene, die der Detektei Wells & Wong die Ermittlungen verbieten wollen, haben uns haufenweise Steine in den Weg gelegt, was zum Haareraufen ist. Angeblich dient das unserem eigenen Wohl – wie Gemüse und Spaziergänge im Januar –, aber selbstverständlich ist das reiner Blödsinn. Daisy meint, auf ihre typische Daisy-Art, dass sie nur neidisch auf unseren überlegenen Intellekt sind. Ich weiß, dass sie für unsere Sicherheit sorgen wollen, aber ich wünschte, sie würden es lassen. Ich bin inzwischen älter als damals im April – und viel älter als vergangenen November – und ich kann selbst entscheiden, ob ich einer Gefahr aus dem Weg gehen möchte oder nicht. Ich habe gar kein Problem damit, ein Weilchen Ängste auszustehen, wenn es bedeutet, dass wir einem Mörder das Handwerk legen können.

Es ist schon seltsam, wenn ich daran denke, dass ich noch vor wenigen Tagen fest entschlossen war, während der Ferien einmal kein Detektiv zu sein.

2

Ich muss zugeben, ich habe ein ziemlich schlechtes Gewissen, weil ich das Versprechen gebrochen habe, das ich meinem Vater geben musste. Als er von dem Mord an Ostern erfuhr, hat er nämlich angerufen und angekündigt, dass er in den Sommerferien nach England kommen würde, um persönlich dafür zu sorgen, dass ich in Zukunft nicht mehr in Schwierigkeiten gerate. Ich habe eigentlich nicht damit gerechnet, dass er das wirklich wahrmachen würde, doch ich sollte mich irren. Er hat wirklich den ganzen Weg von Hongkong auf sich genommen, per Flugzeug, Zug und Schiff. Ich hätte gleich wissen müssen, dass mein Vater sich grundsätzlich an sein Wort hält.

Am letzten Tag des Sommertrimesters an der Deepdean, wo Daisy und ich zur Schule gehen, haben wir mit Kitty, Küken und Lavinia (unsere Klassenkameradinnen, mit denen wir uns einen Schlafsaal teilen) auf dem Rasen hinter dem Wohnheim gefaulenzt. Das frisch geschnittene Gras kitzelte in unseren Kniekehlen. Mit geschlossenen Augen hörte ich Kitty und Daisy zu, während mir die Sonne warm auf den Scheitel brannte.

»Ist es zu fassen, dass Miss Barnard ausgerechnet Elizabeth zur Schulsprecherin gemacht hat?«, regte Kitty sich auf. Miss Barnard ist unsere neue Direktorin. Dafür, dass sie so eine wichtige Erwachsene ist, ist sie erstaunlich jung, und die meisten sind überrascht, wenn sie das Fräulein zum ersten Mal treffen. Hat man sie aber erst erlebt, wird alles klar. Sie verströmt Ruhe, wie eine kühle Woge – sie schafft es, dass Probleme sich in Luft auflösen und braucht dazu höchstens fünf Minuten. Miss Barnard ist von all den neuen Fräulein meine Lieblingslehrerin – ich glaube fast, sie kann zaubern.

»Und erst die neuen Aufsichtsschüler!«, beklagte sich Daisy. »Allesamt grässlich. Und die sollen ein volles Jahr lang über uns bestimmen!«

»Ganz meine Meinung!«, stimmte Kitty zu. »Man kann ihnen nicht über den Weg trauen …«

Der Lärm eines Wagens, der die Auffahrt hochtuckerte und vor dem großen Haupteingang des Wohnheims parkte, brachte sie zum Schweigen. Wir setzen uns auf – der Grund, warum wir hier draußen warteten, war, dass Kittys Vater jeden Moment eintreffen sollte. Kein Wunder also, dass mein Herz kurz aussetze, als ich eine große schwarze Limousine erblickte, hinter dessen Steuer Maxwell, der Sekretär meines Vaters, saß – und neben ihm: mein Vater.

Der Anblick war zu seltsam. Obwohl mein Vater derjenige war, der mir schon als kleines Mädchen ständig von England erzählt hatte, sodass ich ein klares Bild in meinem Kopf hatte, lange bevor ich tatsächlich ankam, und er der Grund ist, warum ich auf das Internat von Deepdean gehe, habe ich ihn mir nie in England vorstellen können. Irgendwie gehört er einfach zum Hongkong-Teil meines Lebens. Als ich zusah, wie er in seinem tadellosen dunklen Anzug und der Krawatte aus dem Automobil kletterte und vor der Tür zum Wohnheim stehen blieb, kam es mir vor, als würde mir jemand ein Stereoskop vor Augen halten, sodass die zwei Hälften meines Lebens mit einem Ruck zusammenkamen.

Mein Vater ist nicht groß, macht allerdings einen entschlossenen Eindruck durch seinen kantigen Kiefer und die kleine runde Brille, die seine Augen fast ganz verdeckt. Diese Augen waren nun übrigens zu einem missmutigen Blick verzogen, nachdem er mich in so undamenhafter Weise auf dem Gras hatte sitzen sehen. Beschämt sprang ich auf.

»Du meine Güte!«, rief Küken mit großen Augen. »Ist das dein Vater? Wie komisch – er sieht genauso aus wie du!«

»Küks.« Kitty rollte mit den Augen. »Wie soll er denn sonst aussehen?«

»Weiß nicht!«, sagte Küken. »Ich mein ja nur … Sehen in Hongkong denn alle aus wie du, Hazel?«

Beinahe wäre ich damit herausgeplatzt, dass die Engländer für mich auch alle gleich ausgesehen hatten, als ich das erste Mal im Land war – doch dann bemerkte ich, wie abwägend Kitty mich musterte. »Ungeheuer schickes Auto«, sagte sie.

Ich wurde rot. »Ach wirklich?«, fragte ich, obwohl es mir längst klar war. Wohin er auch geht, mein Vater hat von allem nur das Beste, etwas anderes kommt nicht infrage. Doch Kitty das zu erklären, würde bedeuten, über Geld zu sprechen, und ich bin inzwischen lang genug in England, um zu wissen, dass sich das nicht gehört – vor allem, wenn man recht viel davon hat.

Ich machte vor meinem Vater, der uns noch immer beobachtete, einen Knicks. Dann ging die Tür auf und das Hausmädchen geleitete ihn ins Haus. Während er sich mit der Hausmutter unterhielt (davor graute es mir, weil ich befürchtete, sie würde ihm erzählen, wie unordentlich ich geworden war – in Hongkong bin ich die Ordnung in Person. Aber wenn man hier dazugehören will, darf man nicht zu pingelig sein und muss jeden Tag wenigstens eine Sache auf dem Boden herumliegen lassen), brachte man unser Gepäck ins Freie. Da stand er, mein Koffer, mit all den Dellen von der Schiffsüberfahrt und den ausbleichenden Zollaufklebern – und daneben: Daisys.

Dadurch wurde es echt. Daisy verbrachte die Ferien wirklich mit uns! Es war, als würde mir ein tonnenschwerer Stein vom Herzen plumpsen.

Es ist nämlich so: Was an Ostern passiert ist – der Mord an Mr Curtis und das ganze Drumherum –, bedeutet, dass Daisy den Sommer über nicht nach Fallingford zurückkann. Ihr Zuhause ist abgesperrt und ihre ganze Familie ist wegen des Prozesses in London. Daisy hätte sie zu gern begleitet, aber Inspektor Priestley hatte uns beiden quasi strenges Hausverbot erteilt. Insgeheim war ich froh darüber. Ich wollte nicht zur Verhandlung. Ich wollte nicht einmal daran denken – nicht, dass es uns gelungen wäre, die Sache einfach so hinter uns zu lassen.

Mr Curtis’ Geschichte hatte sich auf der Deepdean schnell herumgesprochen, noch ehe der erste Tag des Sommertrimesters vorbei war. In sämtlichen Fluren wurde getuschelt und während der Andacht glotzten die anderen uns unverhohlen an. Daisy hasste es. Ich merkte es daran, wie hoch sie ihr Kinn hielt und die Lippen schmal aufeinanderpresste. Sie mag es nicht, bemitleidet zu werden – es passt nicht zum Mythos der anbetungswürdigen, perfekten Daisy Wells. Natürlich verhielt sie sich meisterhaft und bedankte sich brav für die Anteilnahme, wenn man sich nach ihrem Befinden erkundigte, trotzdem spürte ich, wie es in ihr insgeheim vor Wut brodelte. Die Marys, ihre ergebenen Anhängerinnen, kauften Daisy die größte Schachtel Schokoladenpralinen, die ich je gesehen habe, und legten sie auf ihr Bett. Als Daisy sie fand (zum Glück war außer mir keiner dabei), hat sie sie durch den ganzen Schlafsaal geschleudert. Später hat sie sie aufgehoben und mit dem Rest von uns geteilt.

Um alle auf andere Gedanken zu bringen, war Daisy auf einmal mehr sie selbst als je zuvor, stürzte sich in alles und bewies sich als echter Pfundskerl (wie es in England so schön heißt), um jedem zu zeigen, wie gut es ihr ging. Doch hinter der Fassade ging es ihr gar nicht gut, genauso wenig wie mir.

Allein an Fallingford zu denken, an das, was dort geschehen ist, und an den Prozess, finde ich scheußlich. Trotzdem wollte es mir nicht aus dem Kopf, vor allem nicht, als das Trimester sich dem Ende zuneigte und damit der Tag des Prozessauftakts näher rückte. Wie eine Endlosschleife ratterte es in meinem Hirn: der Prozess, der Prozess, der Prozess. Im Unterricht schweiften meine Gedanken ständig ab. Wie von allein kritzelte meine Hand rastlos auf die Ränder meiner Schulhefte und mein Herz pochte stets eine Spur zu schnell. Daisy alberte herum, wie sie es immer tat, trieb die Lehrerinnen an den Rand der Verzweiflung, unterhielt die Shrimps und schoss im Hockeyspiel gegen St. Simmonds fünf Tore, aber innerlich war sie genauso nervös und unglücklich wie ich. Darum war ich auch so froh, dass mein Vater uns beide von all dem fortholen wollte.

Eine Woche vorher hatte er mir einen Brief geschickt:

Liebe Hazel,

ich hoffe, es geht dir gut und du lernst fleißig. Wie verabredet, werde ich dich und Miss Wells am Samstagvormittag, dem 6. Juli, abholen. Ich wüsste es zu schätzen, wenn ihr beide für eine rasche Abreise bereitstündet – es gilt, einen Zug zu erwischen.

Ich weiß, dass dieses Trimester schwer für dich und deine Freundin war, und ich hoffe, dass dieser Tapetenwechsel euch gut tut. Ich habe mich mit Miss Wells’ Eltern abgesprochen. Sie teilen meine Meinung. Mir scheint, Miss Wells hat die Angewohnheit, dich in unerwünschte Situationen zu manövrieren, und dass du dir angewöhnt hast, ihre Spielchen mitzuspielen. Ich möchte, dass du versuchst, in diesen Ferien auf sie einzuwirken – du musst dich von deiner besten Seite zeigen. Ich dulde kein Gerede über Verbrechen. Davon hattet ihr bereits viel zu viel. Ihr werdet Europa erkunden und Spaß haben – ich will, dass du mir versprichst, dass du ein braves, vernünftiges Mädchen sein wirst und Daisy Wells zeigen wirst, wie das geht.

Dein dich liebender

Vater

Dass er quasi behauptete, ich würde Daisy zuliebe alles mitmachen, regte mich ein bisschen auf. Es stimmt nicht – zumindest nicht immer. Abgesehen davon hatte ich meine Zweifel, dass Daisy Freude daran hätte, ein braves, vernünftiges Mädchen zu sein – doch um meinem Vater einen Gefallen zu tun, entschied ich, dass ich es wenigstens versuchen musste. Außerdem fand ich, er hatte recht, was uns und Verbrechen anging. Davon hatten wir wirklich genug gehabt. Von Tod und Mord wollte ich nichts mehr hören.

Ich kam mir sehr tugendhaft vor, als ich diese Entscheidung traf.

Mein Vater tauchte wieder aus dem Haus auf und winkte uns zu sich. Ich beeilte mich und Daisy folgte mir.

»Guten Morgen, ihr beiden«, sagte er lächelnd, die Hände hinter dem Rücken. Durch seine Schulzeit (in Eton) spricht mein Vater perfektes Englisch.

Ich merkte Daisy an, dass sie damit nicht gerechnet hatte, obwohl sie es gut überspielte. Sie knickste schwungvoll und sagte: »Guten Morgen, Mr Wong. Vielen Dank, dass ich Hazel begleiten darf.«

»Ich konnte dich ja nicht den ganzen Sommer bei eurer Hausmutter verbringen lassen«, sagte mein Vater, der strikte Vorstellungen von Gerechtigkeit hatte. »Außerdem sollte jedes Kind wenigstens einmal im Leben durch Europa reisen. Das erweitert den Horizont.«

Den anderen Grund – den Prozess – erwähnte er mit keiner Silbe, wofür ich dankbar war.

»Ich habe eine Reisebegleitung für euch organisiert«, fuhr er fort.

Ich erstarrte. Ich musste an die Gouvernante aus den Osterferien denken, die Daisys Eltern eingestellt hatten, und daran, was wir mit ihr erlebt hatten. Bitte nicht schon wieder …

»Keine Gouvernante«, sagte mein Vater, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Obwohl ich natürlich erwarte, dass ihr auch in den Ferien etwas lernt, sehe ich nicht ein, warum ihr das nicht allein zustande bringen solltet. Dennoch habe ich die Dienste einer gewissen Person in Anspruch genommen, die euch bekannt sein dürfte.«

Er winkte ungeduldig in Richtung Auto, woraufhin sich Hettys strubbeliger Rotschopf unter einem neuen Strohhut zur Hintertür herausschob. Sie strahlte übers ganze Gesicht, während sie höflich knickste. Daisy, die sich bewusst war, wo wir uns befanden, lächelte nur herrschaftlich zurück, doch ich glaube, innerlich hat sie vor Freude Luftsprünge gemacht. Auch mein Herz führte einen Freudentanz auf. Wenn Hetty auf uns aufpasste, war das kein bisschen schlecht. Hetty ist das Hausmädchen, das für Daisys Familie auf Fallingford arbeitet, und ein wahrer Pfundskerl – wäre sie keine Erwachsene, würde sie sicherlich ein ausgezeichnetes Mitglied für unsere Detektei abgeben.

»Nun gut«, sagte mein Vater und warf Daisy einen etwas strengen Blick zu. »Ich will, dass ihr beide euch benehmt. So viel Freiheit zu bekommen, ist eine sehr große Ehre für euch, und ich erwarte, dass ihr sie euch verdient. Miss Lessing«, er meinte Hetty, »wird euer Kindermädchen sein, und ich erwarte, dass ihr gehorsam und höflich zu ihr seid. Haben wir uns verstanden?«

»Ja, Vater«, sagte ich.

»Dann ab ins Auto.« Nun lächelte er wieder. »Züge warten nicht und wir wollen den um zwölf Uhr fünfundfünfzig nach Dover nehmen. Zieh nicht so ein Gesicht, Hazel. Die Überfahrt dauert nicht lange.«

Ich wurde rot. Mein Vater ist wirklich gut darin, meine Gedanken zu erraten, und die Fährüberfahrt nach Frankreich lag mir schon lange im Magen. Wenn ich nur an das große Schiff denke, in dem ich aus Hongkong angereist bin, wird mir übel.

»Bevor du dich versiehst, sind wir in Frankreich«, fügte er aufbauend hinzu. »Und dann beginnt das wahre Abenteuer!«

Nun erst verriet Vater uns genau, wie unsere Ferien aussehen würden. Daisy strahlte und sogar ich musste lächeln. Es stimmt. Mein Vater macht keine halben Sachen, und deshalb konnten Ferien in Europa für ihn nichts weniger bedeuten als eine Reise mit dem Orientexpress.

3

Sobald wir im Zug nach Dover saßen, gaben Hetty und Daisy es auf, sich zu verstellen. Hetty schlang die Arme um Daisy und drückte ihr lachend einen Kuss auf die Wange. »Oh, ich habe Sie vermisst! Es ist so seltsam, keinen von Ihnen im Haus zu haben. Mrs Doherty lässt Ihnen ausrichten, dass es ihr gut geht und dass Sie nicht vergessen dürfen, bei Kräften zu bleiben und viele Milchbrötchen zu essen – ich habe eine ganze Dose voll Karamellbonbons für die Reise, die ich Ihnen geben soll.« Mrs Doherty ist die Haushälterin der Wells’, eine rundliche und liebenswerte Person, die die herrlichsten Leckereien zaubert.

»Ich weiß nicht viel über … Sie wissen schon.«

Hetty rümpfte die Nase, sodass ihre Sommersprossen geknautscht wirkten. »Es tut mir leid, man hat mich von allem ausgeschlossen. Angeblich braucht man mich vor nächstem Monat nicht mehr, daher kann ich die Zeit mit Ihnen verbringen. Ihr Bruder hat vor einigen Wochen geschrieben, aber … Es geht ihm nicht gut, dem armen Bertie, auch wenn er versucht, es zu überspielen.«

Es versetzte mir einen Stich, wie immer, wenn ich an den Gerichtssaal dachte und an die Anklagebank und an alle, die ich aus Fallingford kannte und die bei dem Prozess aussagen mussten. Daisy, die vergnügt Bonbons gefuttert hatte, schluckte den Rest in einem einzigen Klumpen hinunter und wirkte auf einmal recht grün um die Nase.

»Reden wir nicht davon«, sagte sie. »In Ordnung?«

»Es tut mir leid, Daisy«, sagte Hetty und nahm Daisys Hand.

»Schon gut.« Daisy klang sehr entschlossen. »Nur … Wir müssen die Sache ja nicht erwähnen, das ist alles.«

Vielleicht lag es an diesem Gespräch, dass die Überfahrt über den Kanal sogar schlimmer ausfiel, als ich befürchtet hatte. Kreischend zogen Möwen ihre Kreise um das Schiff und wenn ich schluckte, schmeckte ich das Meer. Maxwell und mein Vater blieben in ihrer Kabine, um einige Briefe zu schreiben, doch uns drei hatte man an Deck geschickt, um die frische Seeluft zu genießen. Daisy und Hetty standen an der Reling, hielten ihre Hüte fest, damit der Wind sie nicht wegriss, und aßen Milchbrötchen, während ich schlaff neben ihnen hing und mir alle Mühe gab, nicht nach unten ins tosende Wasser oder nach oben in den wirbelnden Himmel zu schauen.

Als wir in Calais von Bord gingen, fühlte ich mich innen wie außen durchgespült, und die ganze Welt wirkte grau und aufgewühlt. Keine Ahnung, wie wir den Zoll hinter uns gelassen hatten, ohne dass ich es bemerkte, aber so war es – und plötzlich standen wir in einem Bahnhof, umgeben vom Lärm knirschender Steine, scheppernden Metalls und vorbeieilender Menschen, die mich anrempelten. Die Bahnhofsbeleuchtung strahlte durch die Dampfwolken der Loks hindurch und ließ sie dadurch golden wirken. Die Tauben, die hier lebten, schossen wie flatternde schwarze Schatten durch die dichten Schwaden und an der Wand hing eine riesige Uhr aus Stahl.

»Arme Hazel«, hörte ich Hetty und Daisy ergänzte: »Wenn sie sich noch einmal übergibt, ist es das fünfte Mal und ich habe die Wette gewonnen.« Obwohl Daisy genau wie ich im Zug und auf dem Schiff und in der Zollabfertigung gewesen war, hatte ihre Frisur kaum gelitten, ihr Kleid war ordentlich und auf ihren Wangen leuchtete ein sanftes Rosa. Ich finde es unfair, wie sie das immer schafft. Außerdem habe ich mich nur drei Mal übergeben, egal, was sie behauptet.

»Zum Glück hat Hazel für Züge mehr übrig als für Schiffe«, sagte mein Vater, die Hand auf meiner Schulter.

Spontan wollte mir nichts einfallen, wofür ich weniger übrig hatte. Noch während ich mit meinem Schicksal haderte, wurde ich auf etwas Langes, Gewaltiges, das eingehüllt von Rauch war, zugeschoben. Ich blinzelte und der Rauch lichtete sich – schlagartig war jeder Gedanke an Übelkeit vergessen. Plötzlich war die Welt wieder voller Farben und hörte auf, sich wie wild zu drehen.

Vor mir stand eine große dicke schwarze Lokomotive mit goldener Verzierung, die Dampf auspuffte. Dahinter befand sich eine Reihe von Anhängern in Beige, Gold und Blau, und auf allen prangte das Wappen der Compagnie Internationale des Wagons-Lits. Kisten voll mit leuchtendem Obst, Blöcken aus Butter und pralle Päckchen mit Fleisch wurden von Trägern in Livree aufgeladen. Ausgeklappte goldene Stufen führten in die Waggons und Passagiere mit prächtigen Reiseanzügen und Hüten, die viel zu groß schienen, um durch die Türen zu passen, stiegen plaudernd und winkend ein. Einen Augenblick lang meinte ich, sämtliche reiche Leute aus ganz Europa müssten hier versammelt sein – und bald wären wir mitten unter ihnen. Diese Ferien waren wie aus einem Märchen.

Der Zug sollte in nur einer halben Stunde abfahren und dann würden all die unschönen Gefühle, die mich das ganze Trimester lang eingeengt hatten – als würde ich in einem Kleid stecken, das zwei Nummern zu klein war –, für immer verschwinden. Wir waren kurz davor, uns in eine Drei-Tages-Reise quer durch Europa zu stürzen – Paris, Lausanne, Simplon, Milano, Ljubljana, Zagreb, Belgrad, Sofia –, und bei der Endhaltestelle wären wir in Istanbul, einem Ort, der mir so fremd war, dass ich ihn mir nicht einmal ausmalen konnte. Mir wurde richtig schwindelig vor Vorfreude – oder es waren die Nachwirkungen der unruhigen Fährüberfahrt, wer weiß. Jedenfalls würden wir England und den Prozess weit hinter uns lassen, und alles würde gut sein. Ich war ein vollkommen gewöhnliches, wenn auch nicht vollkommen englisches Mädchen, das mit seinem Vater und seiner gewöhnlichen englischen Freundin Ferien machte. Ich lächelte. Ferien machen bekam ich hin. Das war leicht.

Unser nobler Erste-Klasse-Schlafwagen war nach der Lok der erste Wagen am Zug. Er war schick und frisch in Beige gestrichen. Auf einer Plakette an der Seite des Waggons stand: CALAIS-SIMPLON-ISTANBUL. Fast kam mir alles wie ein Traum vor, aber natürlich war es real.

Mein Vater führte uns über den Bahnsteig, die Hand noch immer auf meine Schulter gelegt. Maxwell schritt neben ihm her, bewaffnet mit seiner Aktentasche. Hetty folgte hinter uns, balancierte zwei Schachteln auf den Armen und kommandierte einen Träger herum – offenbar hatten wir uns einen Träger zugelegt, als ich gerade nicht aufgepasst hatte. Vor uns lagen die goldenen Stufen, die in den Zug führten. Gleich würden wir in den Orientexpress steigen!

4

Doch als wir uns der kleinen Treppe näherten, drängelte sich jemand vor meinen Vater, sodass wir alle mitten im Schritt anhalten mussten. »Ich darf doch bitten«, sagte mein Vater, woraufhin der Drängler sich so schnell umwandte, dass er uns beinahe auch noch gerammt hätte. Er war sehr groß, genauso breit wie hoch, hatte einen Schnurrbart und einen breiten Nacken wie ein Stier. Hochrot und verärgert sah er uns durch zusammengekniffene Augen an, als hätten wir ihn allein durch unsere Anwesenheit gestört.

»Ich darf doch bitten«, knurrte er an Maxwell gewandt zurück. »Schaffen Sie ihre Dienstboten aus dem Weg!«

Mir schoss das Blut in die Wangen. Der Fremde hatte uns gemeint, meinen Vater und mich, obwohl mein Vater seinen besten Nadelstreifenanzug trug und ich meinen neuen Reisemantel mit der schönen schwarzen Brustschnürung und den Perlmuttknöpfen.

Mein Vater straffte die Schultern. Dann schob er sich die Brille zurecht und sagte: »Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle. Ich bin Mr Vincent Wong, Direktor des Bankinstituts Wong, und dies hier ist mein Assistent, Maxwell. Diese Kinder sind meine Tochter, Hazel Wong, und ihre Schulfreundin, die Ehrenwerte Daisy Wells. Und Sie sind …?«

»William Daunt«, antwortete der andere, der sich weder entschuldigte noch verlegen wirkte. »Daunts Diätpillen. Meine reizende Gattin und ich sind Fahrgäste in diesem Zug.« Er deutete auf eine Frau neben sich, die ich bisher gar nicht bemerkt hatte, nun aber vortrat und seine Hand nahm.

Ich stieß laut die Luft aus. Ich konnte nicht anders. Nicht wegen der Frau an sich – sie war wirklich durchschnittlich, klein und hübsch auf diese typisch englische unscheinbare Art, mit mausbraunen Haaren, einem sanften, aber dämlichen Gesichtsausdruck und einem schicken taubenblauen Reiseanzug mit dazu passendem Hut. Doch um den Hals trug sie die prächtigste Kette, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe. Bisher hatte ich es nie verstehen können, wenn sich die Figuren in Büchern für irgendwelche Juwelen begeisterten. Sie funkeln, das schon, aber man kann nicht viel damit anfangen. Man kann Edelsteine weder lesen noch essen (wenn man es könnte, würden sie bestimmt lecker schmecken, wie reife prickelnde Südfrüchte). Aber als ich diese Kette sah, dämmerte mir, warum Erwachsene so ein Tamtam darum machen. Wie ein Ring aus gleißendem Feuer lagen aufgefädelte Diamanten in dem Dekolleté der Dame – ein Kreis aus grünen, roten und blauen Funken, die ich zu gerne berührt hätte, um zu sehen, ob sie heiß oder kalt waren. Und genau in der kleinen Mulde zwischen Hals und Brustbein ruhte ein wirklich gigantischer tiefroter Rubin, der so hell leuchtete, dass mir die Zähne davon wehtaten. Hetty, die hinter mir stand, keuchte ebenfalls, und Daisy sagte: »Das ist ja …!« Sie musste den Satz gar nicht beenden.

Die freie Hand der Frau huschte zu ihrem Collier. »Es freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte sie mit einem einfältigen kleinen Stimmchen. »Ist mein William nicht ein Schatz? Er hat sie mir zu unserem ersten Hochzeitstag gekauft, damit ich sie auf dieser Reise tragen kann. Sie ist ein Traum.« Ihre Finger vergruben sich im Ärmel ihres Gatten, während sie Wimpern klimpernd zu ihm hochsah.

»Für meine Frau nur das Beste«, sagte Mr Daunt, während er ihre Hand tätschelte und liebevoll zu ihr hinunterlächelte. »Sie bedeutet mir sehr viel. Wenn Sie uns nun entschuldigen würden …« Wieder drängte er voran und führte Mrs Daunt wie ein kleines Kind die Stufen hinauf in den Zug.

»Wisst ihr, wer das war?«, wisperte Daisy. »Georgiana Strange!«

Mir war die Verwirrung wohl ins Gesicht geschrieben, jedenfalls seufzte Daisy und erklärte: »Sie war die absolut reichste Erbin weit und breit, nachdem ihre Mutter letztes Jahr gestorben war. Es war ein ordentlicher Skandal: Ihre Mutter hat ihr ohne Ausnahme alles hinterlassen und ihr Bruder wurde glatt aus dem Testament gestrichen. Absolut jeder Junggeselle Englands war hinter ihr her, aber sie hat sich für diesen Mr Daunt entschieden. Ihm gehört eine Fabrik – Daunts Diätpillen, kennt ihr die? Ich habe gehört, dass sein Geschäft nicht besonders gut läuft, aber das hat sich wohl geändert, wenn er sich inzwischen Sachen wie diese Kette leisten kann! Himmel, was für ein Ekel er ist!«

»So schlimm kann er nicht sein«, meinte Hetty und zwinkerte uns zu, »wenn er solchen Schmuck verschenkt!«

»Hmmm«, machte Daisy. »Kann sein.«

»Daunts Diätpillen!«, rief mein Vater, der zuvor mit dem Träger gesprochen hatte. »Ich muss schon sagen, wenn man nach dem Eigentümer gehen darf, schaden sie offenbar dem Charakter. Ich selbst glaube nicht an Diätpillen. Hazel, dass du mir ja nie welche nimmst! Wollen wir nun einsteigen?«

Er reichte mir die Hand und half mir die Stufen hinauf. So kletterte ich aus der normalen Welt in den breiten cremefarbenen Anhänger des großen, prächtigen Orientexpress’. Schlagartig schienen sämtliche Außengeräusche zu verstummen – als wäre man in eine wunderschöne, kuschlige Decke gewickelt worden, die herrlichste und üppigste, die man sich vorstellen kann.

Das Innere des Orientexpress’ war wie ein Miniaturpalast oder das prächtigste Prachthotel in klein. Die Wände waren aus solidem glattem und goldbraunem Holz, in das hübsche Blumenmuster eingelegt waren. Ein Hauch von Gold hüllte Lampen, Bilderrahmen und Türen ein. Wir standen auf einem weichen dunkelblauen Teppich, der sich durch den ganzen von Kronleuchtern erhellten Korridor erstreckte. Und da wurde mir klar, dass ich keine Probleme damit haben würde, kein Detektiv zu sein. Dieser Ort gehörte irgendwie nicht zum Rest der Welt und war so voller Wunder, dass selbst Daisy sich hier nicht langweilen konnte.

Ich schaute in den Gang und atmete seinen süßen, kräftigen Duft ein. Auf der linken Seite befand sich eine Reihe von hübschen verschlossenen Kabinentüren. Ich fragte mich, welche unsere sein mochte.

Ein blonder Mann mit einem freundlichen, gut gelaunten Gesichtsausdruck und schönen Goldknöpfen auf der blauen Samtjacke kam auf uns zu und verbeugte sich.

»Mr Wong, nehme ich an?«, sagte er mit einem rollenden, fröhlichen Akzent. »Und das hier müssen Miss Wong und die Ehrenwerte Miss Wells sein. Willkommen an Bord des Simplon Orientexpress! Ich bin Jocelyn Buri, der zuständige Schaffner für diesen Waggon, und stehe während der Reise zu Ihren Diensten. Sollten Sie irgendetwas benötigen – was es auch sei – sprechen Sie mich einfach an, dann werde ich mich mit Freude darum kümmern. Es liegt mir am Herzen, dass Sie glücklich und zufrieden sind. Dann lassen Sie mich Ihnen nun Ihre Unterkunft zeigen.«

»Sind Sie Franzose?«, fragte Daisy, während er uns durch den Gang führte.

»Nein, Mademoiselle, ich stamme aus Österreich«, antwortete Jocelyn lächelnd. »Das schönste Land der Welt.«

»Oh«, sagte Daisy und runzelte die Stirn, weil sich jemand erdreistete, England derart abzuwerten.

Wir hatten wirklich großes Glück. Der erste Wagen, der von Calais nach Istanbul fuhr, hatte zwölf Abteile. In acht davon, den hübschesten, stand jeweils ein Bett. In den anderen vier, die wohl das Zweitbeste darstellten, gab es je zwei Kajütenbetten, eins über dem anderen. Eigentlich hätten Daisy und ich beide ein Einzelabteil bekommen sollen, doch da der Zug ziemlich voll war, hatte man uns gemeinsam in eine Zwei-Pritschen-Kabine gesteckt, und zwar in Nummer zehn, ziemlich weit vorne, nahe der Lok. Hetty war direkt nebenan in Abteil elf, gemeinsam mit dem Mädchen der Daunts, während mein Vater am anderen Ende des Gangs untergebracht war, in Abteil Nummer drei, das eine Verbindungstür zu Maxwell in Abteil zwei hatte. So mag es mein Vater – die besten Geschäftsideen hat er gern um zwei Uhr morgens. Dann platzt er einfach in Maxwells Zimmer, damit der sie notieren kann. Als ich noch kleiner war, tappte ich immer zu ihnen, wenn ich nicht schlafen konnte, und rollte mich auf dem Schoß meines Vaters ein, eingelullt vom Grollen seiner Stimme und dem Heben und Senken seiner Brust unter meiner Wange. Manchmal bin ich dabei eingenickt, um später mit mehreren Blättern auf mir aufzuwachen – als wäre ich ein Schreibtisch.

»Meine Güte«, sagte Daisy, als man sämtliche Hutschachteln und Koffer in unser Abteil gebracht und Hetty unsere Sachen ordentlich in den vielen kleinen Schubladen verstaut hatte, »ist das nicht großartig? Der beste Schlafsaal, den man sich wünschen kann. Wenn wir wollen, können wir jede Nacht ein Mitternachtsgelage veranstalten!«

»Wir könnten uns das Essen ins Abteil bringen lassen«, stimmte ich zu.

»Nein!«, meinte Daisy. »Das würde alles verderben. Ein Mitternachtsgelage, das erlaubt ist, hat keinen Sinn. Aber jetzt zu den wichtigen Angelegenheiten. Wusstest du, dass dieser Zug berüchtigt dafür ist, voller Schmuggler und Juwelendiebe zu sein? Ich habe von einer Lady gelesen, die man im Schlaf betäubt hat, und am Morgen war all ihr Schmuck weg. Glaubst du, mit Mrs Daunts Collier passiert dasselbe?«

»Nein!«, rief ich unbeabsichtigt heftig. »Lass das, Daisy – nur weil es auf Fallingford einen Dieb gegeben hat, heißt das nicht, dass sie überall lauern.«

Daisy erstarrte, so wie immer, wenn ich den Prozess ansprach, und ich erschrak über mich selbst. Ich erinnere sie – und mich – nicht gern daran, nur wollen mir in letzter Zeit bestimmte Dinge nicht aus dem Kopf und platzen aus meinem Mund, bevor ich sie aufhalten kann.

»Ich … ich meine ja nur«, stammelte ich. »Es ist nicht sehr wahrscheinlich …«

»Ehrlich, Hazel, es gibt in der Welt mehr als einen einzigen Dieb. Ganze Banden existieren, wie du sehr wohl selbst weißt. Und überhaupt, dabei ging es um mehr als nur Schmuck.«

Mir kam es so vor, als würde dieses dabei wie eine Schlucht zwischen uns klaffen.

»Es tut mir leid«, sagte ich, bevor wir beide an die Tür unseres Abteils traten, um nachzusehen, wer sonst noch zustieg.

5

Die erste Person, die wir entdeckten, war eine kleine blonde Frau in einer Bedienstetenuniform, hübsch und mit rosigen Wangen. Als sie an uns vorbeihastete, funkelte sie uns mächtig verärgert an. Wir hörten Mrs Daunts einfältiges Fiepsstimmchen: »Sarah! Sarah! Ich brauche dich!«

Dann ist das wohl das Mädchen von Mrs Daunt, dachte ich, das sich ein Zimmer mit Hetty teilt. Besonders freundlich wirkte sie nicht. Die Tür zu Mrs Daunts Abteil schloss sich, trotzdem hörten wir Sarah durch das Holz plärren: »Und? Was wollen Sie jetzt schon wieder?«

»William, sie ist wieder gemein zu mir!«, jammerte Mrs Daunt ebenso laut.

»Sarah, ich habe es dir schon einmal gesagt, ich dulde dieses Benehmen nicht!«, keifte Mr Daunt. Er klang, als sei er absolut außer sich. »Noch ein einziges Mal und ich werde –« Dann sprach er leiser, sodass wir nichts verstehen konnten.

Daisy sah mich mit hochgezogener Braue an. »Himmel!«, sagte sie. »Was für ein unverschämtes Hausmädchen!«

»Ist bestimmt nichts weiter«, sagte ich leichthin, machte mir aber Sorgen. Ich kannte diesen Blick. Daisy kam auf Gedanken, und Gedanken führten für gewöhnlich zu neuen Fällen für unsere Detektei. Ich wusste, dass Daisy sich von dem Prozess ablenken wollte – und ein neuer Fall wäre für sie der einfachste Weg.

Ich blickte in die herrliche Ruhe des langen Gangs, blau, golden und schimmernd, während der Zug unter meinen Füßen plötzlich erwachte, zitterte und rumorte wie ein lebendiges Wesen, das sich zum Sprung bereit machte. Ich verlor das Gleichgewicht und klammerte mich an Daisys Arm, die mich angrinste.

Dann herrschte Tumult an der Tür unseres Waggons. Draußen auf dem Bahnsteig brüllte eine durchdringende Stimme: »Komm schon! Schneller, Alexander! Öffnen Sie die Tür, mein Bester!«

Jocelyn beeilte sich, die Tür aufzustoßen, und verbeugte sich tief. »Gräfin Demidovskoy!«, hörten wir ihn sagen. »Master Arcady!« Schrecklich aufgeregt, reckten wir die Hälse, als die Dame, die er angesprochen hatte, den Zug betrat, gefolgt von einer weiteren Person. Taschen und Koffer – noch dazu verblüffend viele – wurden hinter ihnen aufgeschichtet, bevor die Tür mit einem Knall geschlossen und der Lärm vom Bahnsteig so abrupt abgeschnitten wurde, als hätte jemand ein Beil auf einen Hackblock sausen lassen.

Die Frau, die gerufen hatte, war eine alte Dame – die kleine zierliche Sorte, die eher verschrumpelt, statt wie ein Hefekloß aufzugehen, mit weißen Haaren und makellosen, maßgeschneiderten grauen Reiseklamotten. In der Hand, die in einem grauen Handschuh steckte, hielt sie einen dünnen silbernen Gehstock und ihre Augen blickten sich zornig und hektisch im Raum um. Sie war sehr schön – und sehr unheimlich.

Mit einem Fingerzeig ordnete Jocelyn einige Träger an, sich um das Gepäck zu kümmern – doch die alte Dame stolzierte bereits durch den Flur auf uns zu. Offensichtlich gehörte sie nicht zu der Sorte Mensch, die gern wartete.

»Gnädige Frau!«, sagte Jocelyn. »Wenn ich mich vorstellen darf –?«

»Ich wüsste nicht, wozu Sie mir Ihren Namen nennen müssten«, schnappte die Lady – die Gräfin.

Gräfin klang wirklich sehr nach Europa – nach dem undurchsichtigen, meuchlerischen Europa der Bösewichte aus Daisys Krimis. (Übrigens hat Daisy in diesem Sommer eine Menge Kriminalromane gelesen. Am besten gefällt ihr John Buchan, deswegen hat sie sich auch in den Kopf gesetzt, dass unsere Detektei eine eigene Abteilung für Verkleidungen bekommen muss. Ich finde ja, Daisy mit Bart und Knickerbockerhosen wäre etwas zu viel des Guten, aber Daisy besteht darauf, dass davon nicht die Rede sein könne und ich mich mal wieder begriffsstutzig anstelle. Ich wünschte, Daisy würde nicht so lange Wörter verwenden. Immerhin sind lange Wörter meine Spezialität.) Doch aus welchem Teil von Europa stammte diese Gräfin? Ihr Akzent war komisch – ein bisschen wie bei den Mädchen im Internat, wenn sie so taten, als wären sie russische Spione. War sie Russin? Ich hatte von den schrecklichen Dingen gehört, die die Russen ihrem Adel angetan hatten, vor allem dem Zaren und seiner Familie (vergangenes Trimester hat Küken alles über die armen kleinen Prinzessinnen erfahren und einen ganzen Tag lang geweint) – aber in echt gesehen hatte ich noch keinen. Fasziniert starrte ich sie an.

»Und Sie sind unser Zugführer, nehme ich an?«, fuhr die alte Dame fort.

»Sehr wohl, Gnädigste«, antwortete Jocelyn und verbeugte sich noch einmal. Seine rosa Wangen waren einen Hauch dunkler geworden. »Wir haben Sie in Abteil acht untergebracht und ihren Enkel gleich daneben, in Nummer neun. Seines ist ein Doppelabteil, doch das zweite Bett steht leer – wir hoffen, Sie beide werden sich bei uns durchaus wohlfühlen.«

Enkel?, dachte ich. Ich löste den Blick von der Gräfin und schaute mir endlich denjenigen an, der hinter ihr ging. Es war ein Junge, der genauso alt schien wie Daisy und ich. Seine Haut war hell, sein Gesicht schmal und er hatte auffallend dickes und gut gepflegtes blondes Haar und hübsche Augenbrauen. Außerdem wuchs er eindeutig noch, denn seine Hand- und Fußknöchel schauten unelegant unter seiner Kleidung hervor. Seine Wangenknochen waren ziemlich spitz. Er sah aus wie eine Ausgabe des halb erwachsenen Kleinen Lords. Als er unerwartet zu mir sah, wandte ich schnell den Blick ab.