Der totale Krieg - Heinrich von Stahl - E-Book

Der totale Krieg E-Book

Heinrich von Stahl

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Beschreibung

Mit dem Einsatz des Xirolax-Virus entfesseln die Vegalier den totalen Krieg. Milliarden Menschen werden infiziert und verwandeln sich in grausame Mutanten. Die in Nordamerika kämpfenden nordischen Armeen verlieren neunzig Prozent ihrer Soldaten. Die Fronten brechen zusammen, die Überlebenden stehen in einem grausamen Abwehrkampf gegen Invasoren und Mutanten. Es geht um das nackte Überleben. Die Erde scheint verloren. Die letzte Chance besteht darin, in die vegalische Basis einzudringen, um die Formel für das Antivirus zu stehlen. Der Kriegskaiser schickt seine besten Soldaten. Doch die Invasoren durchschauen die Absicht und locken das Kommandounternehmen in einen Hinterhalt. Nur ein einziger Mann könnte das Blatt vielleicht noch wenden: der Schwarze Krieger.

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Kaiserfront 1953

 

 

Band 5

Der totale Krieg

 

Heinrich von Stahl

Inhalt

Titelseite

Kapitel 1: Selbstzweifel eines Superkriegers

Kapitel 2: Der Wahnsinn wütet weiter

Kapitel 3: Was können wir tun?

Kapitel 4: Hoffnung inmitten von Hoffnungslosigkeit

Kapitel 5: Im Kampf mit den Cytanten

Kapitel 6: Kontakt mit den »Gottgleichen«

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Impressum

Kapitel 1:Selbstzweifel eines Superkriegers

Kann es eine psychische Krise geben, die von der Frage nach dem Selbstverständnis und den Grenzen der eigenen Identität ausgelöst wird? Irrsinn? Schizophrenie? Nein, das waren Geisteskrankheiten. Er fühlte sich in dieser Hinsicht jedoch vollkommen gesund. Genau genommen war sein seelischer Schmerz sogar eine direkte Folge seines tadellos funktionierenden Verstandes. Im Gegensatz zu einem geistig Kranken musste er die grausame Realität bei vollem Bewusstsein ertragen, ohne die barmherzige Betäubung durch Demenz, tumber Dummheit oder gar Wahnsinn. Oder war er vielleicht doch, ohne es zu merken, auf dem besten Wege wahnsinnig zu werden? Falls dem so war, befiel ihn zweifellos die quälende, unbarmherzige Variante eines seelischen Ungleichgewichts.

Er fragte sich, ob er überhaupt noch ein Mensch war: Eine dumpfe Übelkeit breitete sich in ihm aus bei dem Gedanken, dass er sich diese Frage nicht mehr eindeutig beantworten könnte … Mit welcher Berechtigung durfte er sich jetzt noch zur Spezies ›Homo Sapiens‹ zugehörig fühlen? Was definierte einen Menschen überhaupt? Vielleicht würde es ihm sogar gelingen, durch geschickte gedankliche Konstruktionen für dieses ›Etwas‹, das er nun einmal war, die Bezeichnung ›Mensch‹ abzuleiten. Doch wäre ein dergestalt zurechtgezimmertes Gedankengebäude nicht einfach nur ein geschickter, sorgfältig durchdachter Selbstbetrug? War er mehr als ein Ding, zusammengesetzt aus einem Haufen hochtechnologischer Bausteine? Durfte er diese Frage mit ›ja‹ beantworten, nur weil ihm sein menschliches Gehirn und Rückenmark geblieben waren? Seine von einem süßlichen Masochismus durchtränkten Gedanken führten ihn zu dem tiefe Qualen verursachenden Schluss, eine Mischform zwischen Mensch und Maschine zu sein.

Das Thema ›Mischform‹ brachte ihn gleich zur nächsten Frage: War er etwas Geschlechtsloses – weder Mann noch Frau? Er fühlte sich zwar als Mann und er konnte auch mit einer Frau Geschlechtsverkehr haben. Doch welche Frau wollte schon mit einem Stück ›Plastik‹ Sex haben? Einige Frauen möchten das schon, davon lebt schließlich die Sexspielzeugindustrie, dachte er mit beißendem Spott.

Natürlich bestanden seine primären Geschlechtsorgane nicht aus Plastik, wie er es selbst abfällig bezeichnet hatte. Sie waren praktisch nicht vom ›Original‹ zu unterscheiden. Nur sich fortzupflanzen, Vater zu werden, würde ihm wohl für immer verwehrt bleiben.

Tiefe Verzweiflung peinigte seinen Verstand: Wenn er kein Mann war – und eine Frau schon gar nicht –, so war er, rein logisch betrachtet, auch kein Mensch mehr. Schließlich pflegten letztere, von Zwittern einmal abgesehen, einem der beiden Geschlechter anzugehören.

Diese Physiker, Neurologen, Informatiker und Mediziner, die dieses Etwas hergestellt hatten, zu dem er geworden war, schienen keinen einzigen Gedanken an ihn, den Menschen Rohwedder verschwendet zu haben! Sein Körper war nahezu unzerstörbar – er verfügte über gigantische Kräfte. Sein Bewusstsein war auf vielfältige Art erweitert worden: Aber dachten die Wissenschaftler auch an die Ängste und Nöte eines Mannes, der sich nicht mehr als solchen bezeichnen konnte, der sich zu einem Ding degradiert fühlte?

Der Oberst, der sein Leben lang von seiner mentalen Stärke überzeugt gewesen war, nahm sich vor, mit einem guten Freund über seine schmerzhaften Überlegungen zu sprechen. Zum ersten Mal seit seiner frühen Jugend spürte er, dass er geistigen Beistand brauchte. Sobald sein Trainingsprogramm beendet war, würde er Pio aufsuchen. Sein Freund, Kommandant einer Raumlandedivision der Kastrup, dachte in den gleichen Bahnen wie er selbst und würde seine psychischen Nöte noch am ehesten verstehen können.

Die grauen Betonwände der Gänge zogen an ihm vorbei, während der Oberst auf einem N-Tisch lag und seinen schwermütigen Gedanken nachhing. Die wissenschaftlichen Assistenten, die die einen Meter über dem Boden schwebende Platte mit eingebautem N-Materie-Generator schoben, unterhielten sich über belangloses Zeug; Beziehungsprobleme, technischer Kram, den der Oberst nicht verstand und eine Vielzahl von Dingen, die sie zu tun beabsichtigten, sobald sie Luma verlassen haben und zur Erde zurückgekehrt sein würden. Seltsamerweise war der Krieg, speziell die Landung der nordischen Armeen an der Ostküste Amerikas, kein Thema ihrer Gespräche. Die Verwunderung darüber lenkte Rohwedder ein wenig von seiner Identitätskrise ab.

Bevor er nach dem Verlauf der Kämpfe während seiner ›Abwesenheit‹ fragen konnte, öffnete einer der jungen Männer eine doppelflügelige Stahltüre, neben der ein Schild mit der Aufschrift ›Turnhalle‹ angebracht war. Rohwedder hob seinen Kopf leicht an und blickte in eine mit allen erdenklichen Geräten ausgestattete Anlage zur Leibesertüchtigung. Maschinen zur Kräftigung aller Muskelgruppen, Laufbänder, Trainingsfahrräder, Rudermaschinen und Treppensimulatoren bildeten den Kern der Anlage. Turnringe hingen an der Decke, mehrere Barren standen bereit und Böcke mit Sprungbrettern warteten darauf, die Geschicklichkeit der Sportler auf die Probe zu stellen. Zusätzlich hingen in der Mitte des rund einhundert mal fünfzig Meter messenden Raumes drei unterarmdicke Seile von der zehn Meter hohen Decke bis auf den Boden.

»So, dann wollen wir mal«, sagte einer der Assistenten nebulös, was Rohwedder veranlasste zu fragen:

»Was wollen wir dann mal?« Er erschrak selbst ein wenig, als er seine fremd und unnatürlich tief klingende Bassstimme hörte. Klingt immerhin männlich, dachte er in einem Anflug aufkommender Selbstironie.

»Sie müssen Ihren neuen Körper erst kennen lernen, bevor wir Sie auf unsere ungebetenen Gäste loslassen.« Damit waren wohl die Invasoren gemeint, folgerte Rohwedder. »Also richten Sie sich nun erst einmal auf. Seien Sie aber vorsichtig, Ihre Körperkräfte sind enorm …«

Die Warnung kam ein wenig zu spät: Rohwedders Oberkörper schnellte wie von einem Riesen an einer unsichtbaren Schnur gezogen hoch. Der Schwung katapultierte ihn vom N-Tisch und ließ ihn gegen eins der Sportgeräte krachen. Beim zweiten Versuch beachtete er die Warnung; mit äußerster Vorsicht erhob sich der Oberst. Schließlich stand er aufrecht da, den Blick auf den Eingang gerichtet. Zu beiden Seiten der Stahltüre standen die Assistenten. Sie beobachteten neugierig seine noch ungelenken Versuche, seine Körperkräfte angemessen zu dosieren.

Neben den immer noch geöffneten Flügeln der Stahltüre bemerkte der Oberst mehrere großflächig angebrachte Spiegel. Wahrscheinlich hatten sie den Sinn, den Sportlern zu ermöglichen, den Bewegungsablauf bei ihren Übungen zu kontrollieren. Rohwedder boten die Spiegel Gelegenheit, erstmalig seinen neuen Körper zu betrachten.

Hochkonzentriert, um nicht versehentlich zu viel Kraft einzusetzen, trat er ein paar Schritte zur Seite und musterte sein Spiegelbild. Er sah eine tiefschwarze Gestalt, deren Gesichtszüge unter dem haarlosen Schädel ganz offensichtlich denen seines ›alten‹ Körpers nachempfunden worden waren. Die schmale, lange Nase, die dünnen Lippen und besonders die blauen Augen standen in einem fremdartig anmutenden Gegensatz zur schwarzen ›Haut‹. Seine Muskulatur, die, wie Rohwedder wusste, aus M-Kontraktan hergestellt wurde, wirkte ziemlich übertrieben. Seine Oberarme waren mit rund sechzig Zentimeter Umfang nicht gerade unterdimensioniert. An seinem ganzen Körper zeichnete sich jede einzelne Muskelfaser unter der dünnen, künstlichen Haut ab. Rohwedder empfand sein eigenes Spiegelbild als animalisch, ja – beinahe abstoßend. Auch wenn andere in ihm vielleicht einen perfekt proportionierten schwarzen ›Herkules‹ sehen mochten. Nach seinem Empfinden wirkte er jedoch wie ein zwei Meter und zwanzig großer Kraftsportler, der sich Unmengen an Steroiden und Wachstumshormonen einverleibt hatte. Offenbar hatte man das Volumen seiner Muskulatur nur deshalb auf dieses nach ästhetischen Gesichtspunkten noch einigermaßen erträgliche Maß begrenzt, weil ein Mehr seine Bewegungsfreiheit eingeschränkt hätte.

Immerhin hatte man seinen Unterleib in eine Art knapper, ebenfalls schwarzer Hose gekleidet, um die künstlichen primären Geschlechtsorgane zu verbergen – womit der Oberst wieder bei seiner Identitätskrise war. Doch bevor seine Gedanken in tiefen Trübsinn abdriften konnten, lenkte ihn seine erste Übungsaufgabe ab.

»Bitte gehen Sie vorsichtig zu den Seilen und klettern Sie daran hoch bis zur Decke«, sagte einer der Assistenten.

»Das ›Vorsichtig‹ können Sie sich schenken, ich bin ja nicht blöd!«, entgegnete Rohwedder ein wenig härter, als beabsichtigt. Erneut befremdete ihn seine eigene, unnatürlich tief klingende Stimme.

In der Mitte des Raumes angekommen, griff er nach einem der herabhängenden Seile. Ohne jede Mühe zog er sich daran hoch. Er brauchte noch nicht einmal seine Beine zur Unterstützung einzusetzen. Innerhalb von zwei Sekunden hatte er die zehn Meter bis zur Decke lediglich mithilfe der Kraft seiner Arme erklommen.

Hat auch Vorteile, dieser neue Körper, stellte der Oberst gedanklich fest. Wie bei einem Pflanzenspross, der auf dem Weg zum Licht das Erdreich vorsichtig durchstieß, stellte sich erstmalig ein zaghafter Anflug von Euphorie ein.

»Und nun lassen Sie das Seil einfach los. Der Sturz kann Ihnen nichts anhaben«, rief einer der angehenden Wissenschaftler zu ihm herauf.

Zunächst befürchtete der Oberst für einen kurzen Moment, er würde sich bei einem Fall aus zehn Metern Höhe auf den Boden der Turnhalle alle Knochen brechen. Doch dann gewann sein Verstand Oberhand über seinen Instinkt. Sein Griff öffnete sich – er fiel. Im Fallen machte sich ein Kribbeln in der Magengegend bemerkbar.

Ich habe doch keinen Magen. Was auch immer die Eierköpfe da konstruiert haben, es gibt mir ein realistisches Gefühl menschlicher Körperfunktionen.

Rohwedder landete auf den Füssen: Dumpf hallte der Aufprall durch die Sportanlage. Seine Knie knickten nicht einmal ein! Die Belastung fühlte sich an, als sei er von einer Bordsteinkante auf die Straße gesprungen …

»Ein Sturz aus welcher Höhe kann mir gefährlich werden?«

Einer der Assistenten trat vor; sein weißer Kittel hing schlaff über die schmalen Schultern. Der schmächtige Mann wirkte vor dem martialisch aussehenden, zwei Meter und zwanzig großen schwarzen Krieger wie ein hilfloses Kind. »Innerhalb einer Atmosphäre mit der Dichte der irdischen erreichen Sie bei einem Fall aus großer Höhe eine Geschwindigkeit von maximal zweihundert Kilometer in der Stunde, falls Sie Ihren Körper horizontal, also senkrecht zur Fallrichtung, ausrichten. Ein Aufprall mit diesem Tempo auf den Boden ist für Sie absolut ungefährlich.«

»Das heißt, ich könnte einfach so aus einem Flugzeug in, sagen wir, zehntausend Metern Höhe abspringen?« Der angehende Wissenschaftler zuckte beim tiefen Klang der Stimme Rohwedders leicht zusammen.

»Selbstverständlich. Und nun sollten wir die umgekehrte Richtung ausprobieren.«

»Wie meinen Sie das?«

»Springen Sie hinauf zur Decke der Halle und versuchen Sie das obere Ende eines der Seile zu ergreifen. Aber Vorsicht …«

Die Warnung kam wiederum zu spät: Der Oberst schoss wie eine Rakete empor und krachte gegen die Decke, wo sich mehrere Risse konzentrisch um den Aufschlagpunkt bildeten. Zusammen mit einigen Brocken Beton fiel Rohwedder zurück auf den Hallenboden. Er drehte sich beim Fallen und landete wieder auf den Füssen. Staub und Gestein rieselten auf ihn herab. Sein Gesichtsausdruck war der eines begossenen Pudels.

»Entschuldigung …, tut mir leid!«

»Ja, ja, ist schon klar, Sie können ihre Kräfte noch nicht richtig dosieren. Aber genau deshalb sind wir schließlich hier. Es wäre allerdings erfreulich, wenn bei Ihren nächsten Übungen nichts mehr zu Bruch gehen würde. Setzen Sie also künftig lieber etwas zu wenig als zu viel Kraft ein.«

»Ich werde mich bemühen.«

»Das will ich hoffen, sonst verpasse ich Ihnen eine Tracht Prügel!« Der Assistent grinste von einem Ohr zum anderen. »Probieren Sie es noch einmal.«

Der schwarze Gigant wischte sich mit indignierter Miene den Staub ab. Dann sprang er erneut. Diesmal flog er nur fünf Meter hoch, verfehlte das Seil und landete erneut mit einem lauten, dumpfen Geräusch auf den Füßen. Der nächste Versuch klappte besser: Unmittelbar unter der Decke ergriff er die Aufhängung des Seils und baumelte nun an einem Arm hängend ein paar Sekunden dort oben und blickte selbstzufrieden auf die vier Assistenten herab.

»Das Körpergefühl scheint sich so langsam zu entwickeln«, meinte einer der Kittelträger.

»Langsam?«, gab Rohwedder, immer noch an der Decke hängend, mit gespielter Empörung zurück.

»Kommen wir jetzt zu den etwas feinmotorischeren Übungen«, sagte der Assistent, ohne auf Rohwedders Bemerkung weiter einzugehen. »Barren, Reck, Turnringe, Bodenübungen …«

»Und wie sieht’s mit Kraftübungen aus?« der schwarze Krieger ließ sich zu Boden fallen und deutete auf die Langhantelbank.

»Es gibt in dieser Halle zur körperlichen Ertüchtigung keine Gewichte, die eine Herausforderung für Sie wären. Ein Trainingseffekt würde sich ebenfalls nicht einstellen – schließlich sind Ihre Muskeln künstlicher Natur.«

Zwei Stunden später beherrschte Rohwedder sämtliche Übungen mit einer spielerisch anmutenden Leichtigkeit, die jeden Olympiasieger hätte erblassen lassen.

*

Die vier Assistenten führten ihn zur Waffentestsektion. Diesmal mussten sie ihn nicht auf einem N-Tisch befördern. Der Oberst verstand es nun ausgezeichnet, seine Kräfte zu dosieren, selbst beim gewöhnlichen Gehen. Er wunderte sich darüber, dass ihm die Gänge, Abzweigungen und Fahrstühle seltsam vertraut vorkamen, obwohl er noch niemals dort gewesen war.

Den Tests der neuesten militärischen Entwicklungen stand der größte Raum zur Verfügung, der in das Gestein des Asteroiden Luma getrieben worden war. Man hatte sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, den rauen Fels mit Beton zu verkleiden.

Der Bereich für die Waffentests bestand im Wesentlichen aus einem drei Kilometer langen Schlauch, der rund einhundert Meter durchmaß. Es herrschte, wie überall innerhalb des Asteroiden, eine künstliche Schwerkraft, die dem Gravitationsfeld an der Erdoberfläche entsprach. Lediglich für Versuche, die Aufschluss über das Verhalten einer Waffe in der Schwerelosigkeit des Weltraums geben sollten, wurden die rotierenden Supraleiter unterhalb der Waffensektion abgeschaltet, die das Feld erzeugten.

Rohwedder wurde am Eingang des ›Schlauches‹ von einigen Wissenschaftlern empfangen, darunter Turing, Pauli und Heisenberg.

»Ah, wie ich sehe haben Sie sich schon ein wenig an Ihren neuen Körper gewöhnt«, sagte Pauli, wobei sich sein rundes Gesicht zu einem breiten Lächeln verzog.

»Der Körper ist die eine Sache, aber wie sieht es mit Ihrem Verstand aus?«, fügte Heisenberg hinzu.

»Was soll mit meinem Verstand sein? Er funktioniert!« Rohwedder wusste mit der Frage des Physikers nicht viel anzufangen. Meinte der Nobelpreisträger etwa seine Identitätskrise? Wohl nicht, wie die nächste Frage offenbarte.

Werner Heisenberg räusperte sich. »Wann wurde Heinrich I. geboren und zu welchem Adelsgeschlecht gehörte er?«

»Geboren 876, aus dem Geschlecht der Liudolfinger«, antwortete Rohwedder wie aus der Pistole geschossen. Dann wurde sich der Oberst der Tatsache bewusst, dass er diese Frage vor seiner ›kleinen Operation‹ niemals hätte beantworten können. Er beugte sich zu dem Quantentheoretiker herab und fragte: »Woher weiß ich das? Könnt ihr neuerdings Wissen in menschliche Gehirne implementieren?«

»Nein, ganz soweit sind wir noch nicht«, sagte Heisenberg, wobei seine Betonung auf dem Wort ›noch‹ lag. Wir haben Ihr Gehirn mit einem elektronischen Rechner verbunden, der Ihnen den Zugriff auf einige hundert Teraoktett1 Informationen erlaubt. Darunter befinden sich natürlich neben den üblichen Lexikoneinträgen auch die Baupläne aller möglichen Waffensysteme, detaillierte Landkarten, die Grundrisse unserer Stützpunkte und jede Menge Informationen aus dem Bereich der Naturwissenschaften. Das alles dürfte Ihnen künftig sehr von Nutzen sein.«

»Dann wird mir nun auch klar, warum ich auf dem Weg hierher bereits vor jeder Biegung wusste, was mich dahinter erwartet und warum ich das Gefühl hatte, auch ohne Ihre Assistenten den kürzesten Weg in die Waffensektion finden zu können.«

»Experimentieren Sie später ruhig ein wenig mit dem Wissensschatz Ihres Elektronengehirns.«, sagte Heisenberg. »Dann werden Sie auf diese vielfältigen Informationen immer bewusster zugreifen können.«

Pauli mischte sich ein. »Wie Professor Heisenberg bereits andeutete, können Sie das später tun. Jetzt ist es Zeit, Ihre Rüstung auszuprobieren.«

»Meine Rüstung?«

»Ja, das ist das schwarze Ding, das auf dem Ständer im Operationssaal hing. Während wir Ihr Hirn und Ihr Rückenmark in den neuen Körper transplantierten, wurden die letzten Anpassungsarbeiten an der Rüstung vorgenommen. Ich hatte Ihnen vor der Operation bereits angedeutet, dass das elektromagnetisch verstärkte Material praktisch unzerstörbar ist.« Heisenberg deutete auf ein Gestell, an dem ein Helm mit Gesichtsteil, Arm- und Beinprotektoren, Handschuhen, Stiefel sowie ein an der Vorderseite vertikal aufgeklappter Rumpf mit Rückentornister hingen. »Der schwierigste Teil war die elektromagnetische Verstärkung der nanotechnologischen Verbindungen zwischen den Teilen der Rüstung. Ohne die Algorithmen der Atlanter zur Steuerung des EMV-Generators hätten wir das nie geschafft. Aber von den technischen Schwierigkeiten einmal abgesehen: Sieht schick aus, die Rüstung, nicht wahr?«

Rohwedder nickte beipflichtend. Das schwarz glänzende Material schien perfekt seinen Körperformen angepasst zu sein. Deutlich zeichnete sich sogar die Teilung einzelner Muskeln ab. Dann kam wieder der Sarkasmus des Obersten durch: »Soll ich damit einen Schönheitspreis gewinnen?«

Heisenberg lachte herzhaft, Pauli und Turing stimmten ein, während sich die anderen Wissenschaftler offenbar in Gegenwart dieser Männer nicht trauten, ihrer Belustigung Ausdruck zu verleihen.

Der Quantenphysiker erläuterte die Formgebung der Rüstung: »Die Übertragung von Impulsen könnte Ihren Körper beschädigen, falls die Rüstung nicht hundertprozentig passt. Deshalb wurde sie exakt Ihrem Körperbau angepasst.«

»Impulsübertragung? Ich verstehe nicht.« Das schwarze Gesicht Rohwedders nahm einen fragenden Ausdruck an. Es waren sogar ein paar Falten auf der Stirn zu sehen. Offensichtlich funktionierte die Nachahmung menschlicher Mimik perfekt.

»Die Antwort auf Ihre Frage würden Sie im elektronischen Teil Ihres Gehirns finden. Aber das müssen Sie offensichtlich noch ein wenig üben.« Heisenbergs Stimmmelodie dokumentierte eindeutig seinen Unwillen, Trivialitäten erklären zu müssen. »Also – nehmen wir an, Sie – beziehungsweise Ihre Rüstung – werden von einer Granate größeren Kalibers getroffen. Selbstverständlich wird das hochenergetische Geschoss Ihre Rüstung nicht durchschlagen, aber es wird seinen Impuls auf Sie übertragen. Letzterer ist gleich der Wurzel aus der kinetischen Energie multipliziert mit zweimal der Masse der Granate. Hohe Energie bedeutet also einen hohen Impuls. Falls Ihr Körper eine Bewegungsfreiheit innerhalb der Rüstung hätte, würde folgende Kettenreaktion stattfinden: Das Geschoss trifft auf die Rüstung, diese prallt gegen Ihren Körper, der dann wiederum gegen die Rückseite katapultiert wird, abprallt, dann wieder gegen die Vorderseite geschleudert wird, und so weiter. Ihr Körper gerät also in einen gedämpften Schwingungsmodus, wobei die Schwingungsenergie durch die unelastischen Komponenten Ihres Körpers in Wärmeenergie umgewandelt werden würde. Die resultierende Überhitzung …«

»Können Sie das vielleicht ein wenig verständlicher ausdrücken?«

»Na gut! Die hypothetische Hochgeschwindigkeitsgranate trifft auf Ihre Rüstung, die durch besagte Impulsübertragung mitsamt Inhalt – das sind Sie, mein lieber Oberst –, fortgeschleudert wird.

Wenn die Rüstung nicht perfekt sitzt, werden Sie darin durchgewalkt wie ein platter Autoreifen bei einer Hochgeschwindigkeitsfahrt, der dann heiß wird und mit ein bisschen Pech abfackelt.«

»Und das wollen wir natürlich vermeiden!« Rohwedder setzte ein jungenhaftes Grinsen auf.

»Besser wäre es«, sagte Heisenberg gefolgt von einem Seufzer. »So – und nun legen Sie das Ding an.« Er deutete auf das Gestell. »Meine Assistenten werden Ihnen dabei behilflich sein.«

»Wofür ist der Rückentornister?«, fragte der Oberst.

»Er enthält den Generator zur Erzeugung des elektromagnetischen Wechselfeldes zur Verstärkung der atomaren Struktur der Rüstung. Zusätzlich haben wir einen Mikro-Fusionsreaktor eingebaut, der den Generator mit Strom versorgt.«

Rohwedder stellte keine weiteren Fragen. Er zwängte sich in die Teile der Rüstung, die sich sofort miteinander verbanden und ihn so hermetisch von der Außenwelt abschlossen.

»Aktivieren Sie jetzt den Generator, indem Sie einfach daran denken. Schließlich verfügt Ihr Gehirn über eine Funkschnittstelle.«

»Sagen Sie, Professor – haben Sie aus mir so was wie einen Cytanten gemacht?«

»Nein, Oberst. Besser. Viel besser! Wenn alles wie geplant funktioniert, verspeisen Sie eine ganze Xerate zum Frühstück.« Nun war es Heisenberg, der ein jungenhaftes Lächeln aufsetzte.

*

Nach den letzten Worten des Quantenphysikers war Rohwedder nicht ganz wohl in seiner ›Haut‹. Wenn alles wie geplant funktioniert, hat er gesagt. Und wenn nicht?

Der Oberst stand wie eine schwarze Statue ungefähr in der Mitte des Schlauches. In eineinhalb Kilometern Entfernung war eine 8,8-cm-Flak aufgebaut worden. Selbstverständlich handelte es sich um die magnetfeldstabilisierte Version. Der auf einem Sitz seitlich der Kanone positionierte Schütze richtete die Waffe soeben auf den Oberst aus. Rohwedder hätte seine immensen Körperkräfte nur allzu gerne genutzt, um sich mit einem Satz aus dem Gefahrenbereich zu entfernen.

»Alles klar?«, hörte er die Stimme Heisenbergs, die ohne Umwege direkt über seine Funkschnittstelle in sein Gehirn drang. »Ich fühle mich, als sollte ich exekutiert werden.«

»Nun stellen Sie sich mal nicht wie ein Mädchen an. Es ist doch nur eine Achtacht, weil wir auf die Schnelle kein Schlachtschiffgeschütz auftreiben konnten.« Offensichtlich machte es dem Physiker Spaß, den schwarzen Übersoldaten ein wenig zu ärgern.

»Wir können gerne tauschen.«

»Ach, lassen Sie mal. Meine Rüstung ist gerade in der Reinigung.« Heisenberg fand seine Bemerkung wohl äußerst witzig, denn sein Lachen hallte unangenehm durch Rohwedders Kopf. »Und nun stecken Sie sich die Finger in die Ohren, denn gleich scheppert’s ein wenig.«

Kaum hatte der Nobelpreisträger seinen unrealisierbaren Vorschlag gemacht, sah der Oberst das Mündungsfeuer der Flak. Gleichzeitig traf ihn ein Schlag mit elementarer Gewalt. Die Wände des Schlauches schossen als ein Gemisch aus schwarzen und braunen Streifen an ihm vorbei. Die Rüstung warf Funken bei der Berührung mit dem Betonboden. Er rutschte ein paar hundert Meter, bevor er zur Ruhe kam. Von seinen visuellen Wahrnehmungen einmal abgesehen, hatte er nichts weiter als einen leichten, über seinen ganzen Körper verteilten Druck gespürt.

Kaum war seine Rutschpartie beendet, war der Oberst auch schon wieder auf den Beinen.

»Sehr schön! Die elektromagnetische Verstärkung funktioniert fehlerfrei.«

»Wie schön, dass ich als Versuchskaninchen herhalten durfte!« »Wir haben die EMV natürlich schon mehrfach an der leeren Rüstung getestet. Beim soeben erfolgten Versuch ging es eher darum zu eruieren, ob Ihr Körper bei einem solchen Aufprall unbeschädigt bleibt. Aber keine Sorge, ich habe Ihre Vitalfunktionen vor mir auf dem Monitor. Sieht alles gut aus.«

»Noch so ein ›Versuch‹ und Sie sollten sich Sorgen um Ihre eigenen ›Vitalfunktionen‹ machen. Dann werde ich nämlich einen Versuch durchführen: Die Wirkung meines Trittes in Ihr Hinterteil. Mal sehen, ob Sie dann genauso weit fliegen wie ich soeben.«

»Ich dürfte die von Ihnen aufgestellte Marke wohl übertreffen«, entgegnete Heisenberg trocken.

*

Auf seinem Rückweg zu den zwei Kilometern entfernten Wissenschaftlern testete Rohwedder erneut seine Körperkräfte. Er legte die Strecke in fünfundzwanzig Sekunden zurück, was einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von rund dreihundert Kilometern pro Stunde entsprach. Unmittelbar vor Heisenberg bremste er ab. Die gezackten Sohlen seiner Stiefel rissen dabei kleine Stücke aus dem Betonboden.

Heisenberg und Pauli verzogen ihre Gesichter, um ihrer Verachtung über diese Zurschaustellung physischer Stärke Ausdruck zu verleihen. Turing und die Assistenten hingegen grinsten breit.

»Mäßigen Sie sich. Reparaturen kosten schließlich Geld.« Heisenberg hob tadelnd den Zeigefinger.

»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, kostete die Herstellung meines Körpers und meiner Rüstung so viel wie ein Kreuzergeschwader. Dann kommt es wohl auf ein wenig Betonfußboden auch nicht mehr an.« Rohwedder bedauerte, dass der Physiker seinen gespielt überheblichen Gesichtsausdruck hinter dem Gesichtsteil der Rüstung nicht sehen konnte.

»Die Welt ist ungerecht«, sagte Heisenberg. »Sie benehmen sich wie ein Hunne und ich muss Sie dafür auch noch belohnen. Frentzen, reichen Sie dem Oberst das Schwert.«

Ein hochgewachsener, hellblonder Assistent trat vor. Er hielt ein spiegelglattes Schwert auf beiden nach oben weisenden Handflächen bei vorgestreckten Unterarmen. Die Szene wirkte, als würde er einem Samurai-Krieger voller Ehrfurcht die Waffe für die letzte, alles entscheidende Schlacht reichen.

»Und was ist daran besonders?«, fragte Rohwedder.

»Wir haben in den Griff einen EMV-Generator eingebaut; Sie halten das schärfste, jemals geschaffene Schwert in Ihren Händen! Die Klinge ist an der Unterkante nur eine Atomlage dick. Durch die elektromagnetische Verstärkung ist dieses Schwert praktisch unzerstörbar. Es kann sogar EMV-Rüstungen durchdringen, falls es entsprechend kraftvoll geführt wird. Durch Drehen des Knaufs am Griffende im Uhrzeigersinn aktivieren Sie den Generator. Probieren Sie’s aus!« Heisenberg wandte sich von Rohwedder ab und deutete auf einen Betonklotz.

Der Oberst nahm das Schwert entgegen, aktivierte den Generator und führte einen horizontalen Streich gegen den Quader. Das Schwert ging einfach hindurch, ohne eine sichtbare Beschädigung zu hinterlassen. Heisenberg verpasste dem Klotz einen Tritt. Polternd fiel der obere Teil zu Boden. Die Schnittfläche sah aus, wie sauber geschliffener Beton.

»Ich habe kaum einen Widerstand gespürt«, sagte Rohwedder verblüfft. »Das Schwert ging durch Beton, wie ein glühend heißes Messer durch Butter.«

»An der linken Seite Ihres Rückentornisters befindet sich eine Scheide zur Unterbringung des Schwertes. Es ist die perfekte Nahkampfwaffe.« Deutlich klang der Stolz in den Worten Heisenbergs mit. »Das Tselato-Metall von Cytantenrüstungen wird einem Hieb mit dieser Waffe ebenfalls keinen nennenswerten Widerstand entgegenbringen.«

Die Bemerkungen des Physikers wurden von einem Poltern und Klirren begleitet. Ein Assistent näherte sich mit einem Betonsockel auf Rädern, in den vertikal eine rot glänzende, fünf Zentimeter dicke Metallplatte eingelassen worden war.

»Das ist Tselato-Metall, das wir aufgrund der reichhaltigen Platin-Vorkommen im Asteroidengürtel unseres Sonnensystems relativ günstig herstellen können. Die ersten Kreuzer mit einer Tselato-Hülle sind übrigens bereits in Arbeit. Aber ich schweife ab. Testen Sie, wie das Schwert auf das Material wirkt.«

Rohwedder kramte kurz in seinen implementierten Erinnerungen. So erfuhr er Details über dieses außergewöhnliche Metall. Es hatte die Eigenschaft, mechanische Energie, die darauf einwirkt, in Schwingungsenergie zu verwandeln. Auf diese Weise wurde auftreffenden Geschossen die Wirkung genommen – allerdings nur bis zur Energieaufnahmekapazität des Materials.

Rohwedder ließ das Schwert horizontal durch die Metallplatte sausen. Diesmal flog der abgetrennte Teil in hohem Bogen davon. Die aufgetretenen Schwingungen im Metall hatten das Material fortkatapultiert.

»Da möchte ich nicht in der ›Haut‹ eines Cytanten stecken«, bemerkte Pauli trocken.

*

Nach einigen weiteren Tests erfolgte eine Abschlussbesprechung in einem spartanisch eingerichteten Konferenzraum. Rohwedder mutete dem unbehandelten Fichtenholz der Stühle sein Körpergewicht nicht zu. Er blieb als Einziger stehen, während Pauli, Heisenberg, Turing und zehn weitere Wissenschaftler sämtlicher beteiligter Fachbereiche Platz nahmen.

Es folgte ein leidenschaftlicher Austausch über die Ergebnisse der Versuche, die allesamt zufriedenstellend für die Gelehrten verlaufen waren. Nachdem alle Aspekte der Festigkeit der Rüstung, der Widerstandskraft des darin perfekt eingebetteten Körpers Rohwedders, seiner mentalen Fähigkeiten und so weiter eingehend diskutiert worden waren, erhob sich ein grauhaariger Mann mit Schnauzer und runder Nickelbrille. Sein Gesicht drückte sowohl Entschlossenheit, Willenskraft als auch Weisheit aus. Er war im Vergleich zu den anderen Wissenschaftlern ungewöhnlich groß und breitschultrig.

»Wie fühlen Sie sich?«, fragte der gealterte Hüne.

»Wie meinen Sie das?«, lautete Rohwedders Gegenfrage. Eine gewisse Unsicherheit schwang in seiner Stimme mit.

»So, wie ich es sagte.«

Pauli erhob sich ebenfalls. »Darf ich vorstellen«, sagte er und schwenkte seinen rechten Unterarm in die Richtung des stattlichen Mannes, der in einen dunkelgrauen Anzug mit Weste gekleidet war. »Professor Carl Gustav Jung. Ein guter Freund. Er ist neben Siegmund Freud einer der Begründer der Psychoanalyse. Er hat mich hier besucht, weil wir regelmäßig sehr befruchtende Diskussionen über den Zusammenhang von Physik und der Psychologie des Unterbewussten führen. Als er hörte, dass wir ein menschliches Gehirn in einen künstlichen Körper verpflanzten, war er natürlich brennend daran interessiert, die Auswirkungen dieses Vorgangs auf die Psyche des Betroffenen zu studieren.«

»Ich habe kein Interesse, nach all diesen Versuchen jetzt auch noch als psychologisches Anschauungsobjekt zu dienen«, sagte Rohwedder, wobei seine tiefe Bassstimme brüchig klang.

»Das kann ich sehr gut verstehen«, sagte Jung. »Falls es nur darum ginge, wie Wolfgang meinte, meinerseits Studien an Ihnen durchzuführen, wäre das natürlich ziemlich einseitig. Falls Sie jedoch Schwierigkeiten haben, sich mit Ihrem neuen Körper zu identifizieren, so könnte ich Ihnen durchaus helfen.«

Erneut machte sich bei Rohwedder ein flaues Gefühl dort breit, wo sich bei einem Menschen der Magen befand. Seine Gedanken fokussierten sich nach den Worten des Psychologen sofort wieder auf die Frage, was er eigentlich war: Mensch oder Maschine? Mann oder etwas Geschlechtsloses?

Jung machte auf ihn den Eindruck eines sehr intelligenten Mannes, dem man vertrauen konnte. Er wollte seine Selbstzweifel allerdings nicht in diesem Konferenzraum vor versammelter Mannschaft diskutieren. Deshalb sagte er: »Also gut, Professor.

Ich bin gerne bereit, ein persönliches Gespräch unter vier Augen mit Ihnen zu führen.«

»Darf ich auch dabei sein?«, warf Pauli ein.

»Meinetwegen«, entgegnete Rohwedder mit hörbar geringer Begeisterung.

*

Man hatte Jung eine der kleinen Wohnungen zur Verfügung gestellt, die für Gäste des Forschungsinstituts reserviert worden waren.

Rohwedder klopfte an die grau gestrichene Stahltüre mit der Aufschrift ›137‹. Seinem implementierten Wissen entnahm er, dass dies der Wert der dimensionslosen Feinstrukturkonstanten war, der im Zusammenhang mit der Aufspaltung von atomaren Spektrallinien auftrat. Er wusste ebenfalls, dass Pauli und Jung gemeinsam nach der tieferen Bedeutung dieser universell gültigen Zahl suchten. Offensichtlich hatte sich der für die Vergabe der Wohnungen Verantwortliche einen tiefgründigen Scherz erlaubt, Jung ausgerechnet die Wohnung mit dieser Nummer zuzuweisen.

Der Psychologe öffnete. Er trug immer noch die dunkelgraue Anzughose mit weißem Hemd, hatte sich jedoch seiner Weste und seines Jacketts entledigt.

Eine Sitzgruppe aus braunem, an den Lehnen vernietetem Leder und ein runder Tisch aus dunklem Buchenholz bildeten das Zentrum des Wohnzimmers. Pauli war bereits anwesend, mit übereinander geschlagenen Beinen in einem der schweren Sessel sitzend.

Rohwedder trug eine graue Kombination in Übergröße, die extra für ihn angefertigt worden war. Er kam zu dem Schluss, dass die Sessel seine zweihundert Kilogramm Körpergewicht durchaus tragen konnten. Folglich nahm er nach der Aufforderung Jungs ebenfalls Platz.

»Und? Wie fühlen Sie sich?«, wiederholte der Psychologe seine bereits im Konferenzraum gestellte Frage.

»Zwiespältig …«, antwortete der Oberst. »Einerseits bin ich von den geistigen und körperlichen Fähigkeiten meines neuen Körpers begeistert. Andererseits frage ich mich, ob ich überhaupt noch ein Mensch bin – und wenn ja, bin ich dann noch ein Mann?«

»Fangen wir mit der Frage des Menschseins an«, sagte Jung. Seine Stimme klang tief und beruhigend. »Wenn wir über den Begriff ›Mensch‹ sprechen, sollten wir zunächst einmal zwischen uns Einigkeit darüber herstellen, was unter diesem Begriff zu verstehen ist. Was macht also einen Menschen aus? Sein aufrechter Gang, seine Intelligenz? Seine Fähigkeit zur Fortpflanzung? Seine Gefühle? Sein Genom?«

»Ich denke, es sind alle die von Ihnen genannten Eigenschaften«, entgegnete Rohwedder, ohne lange überlegt zu haben.

»Vorsicht! Wenn Sie die Fähigkeit zur Fortpflanzung hinzurechnen, so wäre nach dieser Definition kein Kind, kein impotenter Mann und keine unfruchtbare Frau ein Mensch.«

»Na gut«, sagte Rohwedder gedehnt, »Fortpflanzung ist vielleicht nicht wirklich ein Kriterium; aber was Sie bei Ihrer Aufzählung vergessen haben: Ein Mensch hat einen Körper aus Fleisch und Blut.«

Jung lächelte geradezu väterlich, als er entgegnete: »Das bedeutet also, Personen mit einer Arm- oder Beinprothese sind Ihrer Ansicht nach keine Menschen?«

»Doch, natürlich sind sie das. Es wurde schließlich nur ein kleiner Teil des Körpers durch etwas Künstliches ersetzt.«

Der Psychologe behielt sein Lächeln unverändert bei. »Es kommt also Ihrer Ansicht nach darauf an, wie viel von einem Körper durch künstliche Teile ersetzt wurde. Wo ist die Grenze? Zwei Beinprothesen? Zusätzlich noch Armprothesen? Ein künstliches Herz? Eine künstliche Niere? Bei welchem Substitutionsgrad endet das ›Menschsein‹?«

»Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Also sage ich es anders: Der Bauplan des menschlichen Körpers ist in seinen Genen codiert, die in jeder seiner Zellen enthalten sind.«

»Das ist bei Ihnen auch der Fall. In jeder Ihrer Zellen, bei Ihnen also die des Gehirns und des Rückenmarks, befinden sich Ihre Gene. Der Rest Ihres Körpers ist künstlich geschaffen worden. Der Bauplan für diesen Teil ist im Wissen unserer Spezies codiert, wenn Sie so wollen2. So gesehen sind Sie mehr Mensch als alle anderen: Sie sind zu einem Großteil das Produkt des menschlichen Geistes und nicht bloß das Ergebnis einer blind experimentierenden Evolution.«

Rohwedder lächelte verträumt … Die Ausführungen des Psychologen halfen ihm schlagartig zu erkennen, was er eigentlich war. Er fühlte sich wieder als Mensch, genauer: als eine Art neue Evolutionsstufe des Menschen, geboren aus den Ideen und Vorstellungen seiner Spezies. Diese im Geiste codierten Informationseinheiten unterlagen in ähnlicher Weise den Mechanismen der natürlichen Selektion, wie die Gene. Gute Ideen wurden kopiert, schlechte aussortiert. Ganz schön anspruchsvolle Gedankengänge für einen Soldaten,