Der Verdacht - Evelyn Holst - E-Book
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Der Verdacht E-Book

Evelyn Holst

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Beschreibung

Was keiner wissen konnte … Der fesselnde Kriminalroman »Der Verdacht« von Evelyn Holst jetzt als eBook bei dotbooks. Als ein Notruf Kriminalkommissarin Alexa Martini in eine vornehme Hamburger Jugendstilvilla ruft, erkennt sie sofort, was sich hinter der perfekten Fassade verbirgt: ein gefühlskalter Mann, eine Frau, die Opfer von häuslicher Gewalt geworden ist, und Kinder, die etwas miterlebt haben, was sie nie hätten sehen sollen … Alexa handelt instinktiv – dieser Mann muss hinter Gitter gebracht werden! Doch damit setzt sie eine Kette von Ereignissen in Gang, die auch bald ihr eigenes Leben überschatten werden: Denn Alexas kleiner Sohn ist mit den Kindern der Familie befreundet – und noch immer scheint dort etwas Böses zu lauern … »Spannung pur!«, urteilt die Zeitschrift Freundin. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der psychologische Spannungsroman »Der Verdacht« von Evelyn Holst – auch bekannt unter dem Titel »Der Liebe Last« – ist der zweite Band ihrer Hamburg-Krimireihe um Alexa Martini, die Fans von Nicci French und Joy Fielding begeistern wird. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 359

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Über dieses Buch:

Als ein Notruf Kriminalkommissarin Alexa Martini in eine vornehme Hamburger Jugendstilvilla ruft, erkennt sie sofort, was sich hinter der perfekten Fassade verbirgt: ein gefühlskalter Mann, eine Frau, die Opfer von häuslicher Gewalt geworden ist, und Kinder, die etwas miterlebt haben, was sie nie hätten sehen sollen … Alexa handelt instinktiv – dieser Mann muss hinter Gitter gebracht werden! Doch damit setzt sie eine Kette von Ereignissen in Gang, die auch bald ihr eigenes Leben überschatten werden: Denn Alexas kleiner Sohn ist mit den Kindern der Familie befreundet – und noch immer scheint dort etwas Böses zu lauern …

Über die Autorin:

Evelyn Holst studierte Geschichte und Englisch auf Lehramt. Nach dem ersten Staatsexamen arbeitete sie dreizehn Jahre als Reporterin für den »Stern«, u. a. als Korrespondentin in New York. Für ihre Reportage »Es ist so still geworden bei uns« wurde sie mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Seitdem verfasste sie zahlreiche Romane, die auch verfilmt wurden, sowie Originaldrehbücher für Fernsehfilme. Evelyn Holst ist mit dem Filmemacher Raimund Kusserow verheiratet, mit dem sie gemeinsam zwei erwachsene Kinder hat.

Bei dotbooks erscheint ihre Hamburg-Krimireihe:

»Die Sünde – Alexa Martini ermittelt«

»Der Verdacht – Alexa Martini ermittelt«

»Das Verlangen – Alexa Martini ermittelt«

Bei dotbooks veröffentlichte Evelyn Holst außerdem ihre humorvollen Romane:

»Ein Mann für gewisse Sekunden«

»Aus Versehen Liebe«

»Ein Mann aus Samt und Seide«

»Du sagst Chaos, ich sag Familie«

»Ein König für gewisse Stunden«

»Gibt's den auch in liebenswert?«

»Der Mann auf der Bettkante«

***

Aktualisierte eBook-Neuausgabe April 2023

Dieses Buch erschien bereits 2000 unter dem Titel »Der Liebe Last« bei Knaur.

Copyright © der Originalausgabe 2000 by Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München.

Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: © HildenDesign unter Verwendung eines Motives von Shutterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-175-2

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

In diesem eBook begegnen Sie möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. Diese Fiktion spiegelt nicht unbedingt die Überzeugungen des Verlags wider.

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***

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Evelyn Holst

Der Verdacht

Kriminalroman – Alexa Martini ermittelt

dotbooks.

Was glücklich macht, macht süchtig.

Bruno Ganz

Was süchtig macht, macht unglücklich.

Sigmund Freud

Kapitel 1

»Nein, nur die Sesamstraße, das haben wir doch längst geklärt, also fang nicht immer wieder …«, sagte Alexa Martini und warf einen kurzen Blick auf den schlanken, etwa 45-jährigen Mann, der mit unsicherem Blick vor ihr saß. »Eine Sekunde … gleich geht’s weiter …«

Sie stand auf, griff in ihre Zigarettenschachtel, holte eine Zigarette heraus, zündete sie an, sah, wie der Mann erleichtert dasselbe tat, legte den Telefonhörer hart auf den Schreibtisch.

»Tut mir Leid, hier dürfen nur Frauen rauchen, Augenblick noch … also, mein Schatz, ich hab hier noch ein bisschen zu tun, aber in einer Stunde bin ich zu Hause … nein, kein MacDonald’s, ich koche selbst … keine Widerrede. Tschüss, bis gleich.«

Sie legte den Hörer auf, ihr mütterlicher Ton wurde streng: »Jetzt zu Ihnen, Herr Piorkowski. Meine Kollegen haben Sie mit heruntergelassener Hose im Vorgarten von Charlotte Gerberding …«

»Ich hab gepinkelt, Frau Kommissar« ‒ Piorkowskis Stimme hatte den Klang, den Alexa Martini bei Männern ganz besonders unangenehm fand, hoch, näselnd, voll schuldbewusster Aggression ‒, »wir sind schließlich ein freies La…« Bei »n« hatte ihn Alexa am Kragen gepackt und vom Stuhl gezogen, bei »d« mit Schwung wieder zurückgeworfen. Dabei sagte sie kein Wort, erst als Piorkowski wieder saß, stellte sie sich vor ihn, so dicht, dass sie direkt auf seinen schütteren Scheitel atmete: »Jetzt hör mir mal gut zu, du fetter, widerlicher Wichser. Wir beide wissen doch ganz genau, was für ein mieses kleines Spielchen du jede Nacht in den Vorgärten treibst, du dumme Sau. Du schleichst dich ins Gebüsch, du holst dein schlappes, armseliges Tei…«

Das Geräusch der sich öffnenden Tür ließ sie verstummen. Beide sahen hoch, als Kriminalhauptkommissar Peter König den Raum betrat. Ein Blick auf das hummerhaft gerötete Gesicht des Festgenommenen, und er wusste, dass er Kollegin Alexa bei der Ausübung ihrer speziellen Befragungsmethode gestört hatte. Er selbst war ein ruhiger, besonnener Mann, der selten die Fassung verlor, selbst bei exhibitionistischen Wiederholungstätern nicht, die, mit ihrem Genitale in der Hand vom Taschenlampenkegel der Polizei erwischt, noch immer behaupteten, sie hätten sich doch nur diskret erleichtert. »Ich sehe, du arbeitest noch«, sagte er deshalb und schloss die Tür wieder.

Piorkowski hatte die Gunst der Minute genutzt und war aufgestanden.

»Wenn ich kurz mal austreten dürfte«, sagte er.

Alexa musterte ihn widerwillig amüsiert. »Warum pinkelst du nicht einfach aus dem Fenster«, erwiderte sie, ging dabei zur Tür und riss sie auf, »dann hast du gleich ein bisschen was davon … dritte Tür links …«

Als er gegangen war, drückte sie ihre Zigarette aus und griff zum Mundspray in ihrer Schreibtischschublade. Gretha hasste Nikotingeruch, seit sie selbst sich das Rauchen abgewöhnt hatte. »Dich zu küssen ist wie einen Aschenbecher auslecken …«

Alexa seufzte und nahm ihren Rucksack vom Haken, ein Geschenk ihrer in allen Lebensbereichen manchmal anstrengend gesundheitsbewussten Freundin. »Du bist schon ganz krumm«, hatte diese gesagt und mit spitzen Fingern Alexas weich gewetzte Lieblingsaktentasche in den Mülleimer geworfen. »Und wenn dann in ein paar Jahren noch die Osteoporose dazukommt …«

»Halt die Klappe«, hatte Alexa erwidert und Gretha kurz und liebevoll in die Unterlippe gebissen.

Nach Hause. Zu Alex. Die Tür aufschließen und den kleinen, geölten Blitz in die Arme nehmen, der, das wusste sie, schon seit Stunden auf das Geräusch des sich umdrehenden Schlüssels wartete. Ihn auf den Kopf mit den zerzausten Haaren küssen, das Kinn drauflegen und …

»Kann ich jetzt gehen?« Piorkowski war zurückgekommen und stand abwartend vor ihr. »Wenn ich verspreche, dass ich es nie wieder mache …«

Sie sah ihn an, mit einer Mischung aus Widerwillen und Mitleid.

»Ins Gebüsch pinkeln …«, fuhr er hastig fort.

»Hau ab, du arme Kerze«, sagte sie nur, »und denk dran: du stehst jetzt auf meiner Liste, ganz oben auf Platz eins.«

In der Tür traf er auf Peter König, der Piorkowski grinsend nachsah, bevor er das Büro betrat. »Kein Haftbefehl? Du wirst weich im Alter, meine Gute.« Er setzte sich. »Hast du mal ’ne Minute?«

»Die Brut wartet.« Alexa schlüpfte in ihren Mantel, schnallte sich den Rucksack um. »Und deshalb hab ich jetzt auch keinen Nerv für die neueste Episode deines Scheidungsdramas. Ein andermal.«

Auf dem Weg zum Parkplatz verdrängte sie ein kleines Schuldgefühl. Sie wusste, dass es Kollege König nicht gut ging, seit seine Frau mit den beiden Kindern aus- und ausgerechnet bei seinem Bruder wieder eingezogen war. Sie selbst hatte Mareike König mit ihren zu blond gefärbten Haaren, ihren stets zu engen Pullovern und ihrer zu lauten Stimme immer schrecklich gefunden, aber er litt.

Und da er als Mann litt, trank und rauchte er zu viel und hatte deshalb, wenn er sich nach einem ausgiebigen Kneipenbummel in den Armen einer anderen Frau trösten wollte, »eine schlappe Nudel«, wie er Alexa erst gestern in der Polizeikantine, ausgerechnet vor einem Teller zerkochter Spaghetti, zugeflüstert hatte. »Das kenn ich sonst nicht, es ging immer, Mareike war es oft zu viel …«

»Erspar mir bitte die Details deines peinlichen Sexuallebens«, hatte sie ihm verboten und zum zweiten Schokoladenpudding gegriffen. »Mein eigenes ist peinlich genug.« Das stimmte leider. Seit sie Alex hatte, war ihre sonst so begeisterungsfähige Libido geschrumpft, auf Erbsengroße, auf Stecknadelkopfgröße. Das Schlimmste war ‒ sie vermisste sie nicht. Sie war ihr einfach abhanden gekommen. Der Abend fing gerade an, und da es regnete, während gleichzeitig die Sonne unterging, glitzerten Fenster und Pfützen wie eine goldene, märchenhafte Verheißung. Glanzäugig, erwartungsfroh, so, als würden noch an diesem Abend die sagenhaftesten Dinge passieren. Alexa konnte gut darauf verzichten.

Sie legte den Rückwärtsgang ein und stieß zurück auf die Straße. Lautes Hupen. Sie lachte. Ein kleiner Adrenalinkick, den sie sich zum Feierabend gönnte.

Kapitel 2

In dem Endhaus, dessen Kaufvertrag Alexa direkt nach der Genehmigung des Pflegschaftsantrages für Alex unterschrieben hatte ‒ freiwillig und unbesohnt wäre sie nie in eine Reihenhaussiedlung gezogen ‒, saß Gretha auf dem Badewannenrand und versuchte zu begreifen, warum Will Smith aus »Men in Black« der Coolste überhaupt war, obwohl er nicht der Böse war. Normalerweise fand der sechsjährige Alex ausnahmslos die Bösen interessant, obwohl es im richtigen Leben gerade die waren, die seiner Mutter das Leben so schwer machten, die dafür verantwortlich waren, dass sie meist spät und immer müde nach Hause kam und manchmal beim Vorlesen auf seiner Bettkante einschlief. Dass sie so traurig oder so wütend war und zu viel trank und rauchte.

Aber das waren andere Böse, richtig Böse, während in Alex’ Vorstellung seine Bösen zwar böse, aber trotzdem cool waren.

»Verstehst du das, Gretha?«, fragte er die Frau, die mit leicht glasigem Blick zuhörte, »oder kannst du das nicht, weil du eine Frau bist?«

Gretha lachte und tröpfelte ihm, wie zur Strafe, einen Klecks Shampoo auf die nassen Haare. Das hasste er, genau wie Fingernägelschneiden, Zähneputzen, sämtliche Arten von Hygiene.

»Frauen können alles«, sagte sie nur, direkt in sein feuchtes Muschelohr hinein, »hat Alexa dir das nicht erklärt?«

Alex antwortete nicht, weil er gerade heimlich und genussvoll ins Wasser pinkelte. Er wusste, dass »Gewachsene« dies eklig fanden, und teilte seinen Genuss deshalb mit niemandem. Nur mit seinem Freund Theo, dem Einzigen, mit dem er so gut kreuzpinkeln konnte, dass hinterher nicht das ganze Klo verpieselt war.

Als er fertig war, tauchte er einmal unter. Gretha stand vor dem Spiegel und zog die obere Hälfte ihres Gesichts hoch. Jetzt sah sie chinesisch aus.

»Warum machst du das?«, fragte Alex.

Gretha zuckte zusammen. »Ich will nur mal sehen, wie ich aussehe, wenn ich keine Falten habe«, erwiderte sie, ließ die Hände sinken und griff zum Handtuch. »Komm, beeil dich«, mahnte sie, »gleich ist die Mami da, dann wollen wir essen.«

Das Wort »essen« war für Alex stressbesetzt, immer schon. Als er noch bei seiner leiblichen Mutter Angela lebte, einer drogensüchtigen Prostituierten, gab es meist nichts zu essen, und wenn, dann kalt und aus geklauten Dosen. Er war dünn wie ein Faden, als er Alexa kennen und sofort lieben lernte. Mit ihr kam er von der Traufe zumindest in den Regen, denn Alexa kochte leidenschaftlich gern. Aber leider sauschlecht. Sie verbrachte Stunden in der Küche, hatte diverse, offensichtlich oft gelesene Kochbücher aufgeschlagen auf einem Tisch, der während ihrer Bemühungen immer mehr zu einem Komposthaufen aus Kräutern, Gewürzen und Undefinierbarem mutierte, um dann mit einem forschen »Aber hoppla« schüsselweise Schreckliches auf den Tisch zu stellen. Da er sie so sehr liebte und panische Angst davor hatte, dass sie ihn zurückschicken würde ins Kinderheim oder zu seiner Mutter, hatte er alles, was sie ihm fröhlich auftischte, tapfer hinuntergewürgt und dann klammheimlich ins Klo gespuckt. Wochenlang hatte sie nichts gemerkt, bis er es einmal nicht bis zur Toilette schaffte. Die Kinderärztin hatte für seinen unerklärlichen Brechreiz keine Erklärung, und nach der dritten Untersuchung hatte er sich ein Herz gefasst.

»Mama, ich muss dir mal was sagen!« Diese Worte lagen wie Blei auf seiner kleinen Brust, aber Alexa stand gerade wieder am Herd und schmorte Auberginen, Broccoli und Nudeln zu einem graugrünen Brei zusammen, es musste sein. »Was denn, mein Schnuckischnuck?« Mit dem Löffel in der Hand drehte sie sich um, musterte ihn liebevoll. »Magst du es lieber mit Zimt oder mit Maggi?«

Er konnte einfach nicht mehr und fing an zu schluchzen. Es schüttelte ihn regelrecht, die Brust tat ihm weh, er konnte nicht aufhören zu schluchzen. Alexa hatte zu Tode erschrocken alles anbrennen lassen und war ausnahmsweise mit ihm zu MacDonald’s gegangen, ein Besuch, den sie sieh und ihm verboten hatte, seitdem sie, zu Beginn ihrer Pflegschaft, dreimal hintereinander von der Jugendamtsleiterin Charlotte Pipp, die für ihren Fall zuständig war, dort gesehen worden war. Ungünstigerweise lag das schottische Spezialitätenrestaurant direkt auf dem Heimweg der strengen Beamtin.

Bei Chicken-Nuggets mit Süßsauersoße war die traurige Wahrheit ans Licht gekommen.

»Du kochst einfach Scheiße, Mami«, hatte Alex hervorgedrückt und ihre Hand genommen, »aber ich hab dich trotzdem ganz doll lieb. Bitte sei nicht traurig.«

Alexa hatte in ihren Doppelwhopper gebissen und diesen gänzlich unerwarteten Schock verdaut.

»Aber ich geb mir doch die größte Mühe«, hatte sie schließlich gesagt, »und ich bin nun mal für deine gesunde Ernährung verantwortlich. Du weißt doch, was Frau Pipp immer sagt.«

Frau Pipp ‒ ihr gemeinsames Damoklesschwert. Sie allein würde entscheiden, ob der Pflegeantrag in einen Adoptionsantrag übergehen würde, ob Alex seinen Nachnamen in Martini ändern durfte, oder ob er ein Pfeiffer bleiben musste. Und sie ließ sich Zeit, schickte Alexa das Büchlein »Wie ernähre ich mein Kind gesund?«, schaute immer wieder überraschend vorbei, trat dann wie zufällig an den Fernsehapparat, um zu prüfen, ob die Bildröhre noch warm war. »Wieder ein bisschen geguckt, Alex?«, fragte sie dann unschuldig, und obwohl er natürlich gerade ferngesehen hatte, stritt er es immer solidarisch ab.

Charlotte Pipps Dilemma: Sie mochte Alexa Martini, sehr sogar, aber sie hielt sie für eine, wohlwollend ausgedrückt, sehr dehnungsfähige Mutter und für die Inkonsequenz in Person. Sie war sicher, dass Alex sich in dem vater- und auch sonst männerlosen Haushalt sehr wohl fühlte, denn dass der Haushalt männerlos war, hatte Frau Pipp bei einer Badezimmerkontrolle unter anderem an den zwei rosa Zahnbürsten gemerkt, die auf der Konsole in einem Glas standen. Ihre Männerkenntnis war begrenzt, leider, aber so viel wusste sie: kein Mann putzte sich freiwillig mit Rosa. Aber sie fürchtete um Alex’ gesundheitliche, hygienische und, nun ja, auch moralische Befindlichkeit. Nach einer drogensüchtigen Hure nun eine flamboyante Lesbenmutter. Eine Verbesserung? Sie konnte es nur hoffen.

»Was gibt’s zum Essen?«, fragte der feuchtheiße Alex ergeben und schlüpfte in seinen Schlafanzug.

»Alexa hat was vorgekocht.« Gretha hatte ihre Widerspruch-ist-zwecklos-Stimme, während sie ihm die Haare trocknete und kämmte.

»Isst du mit uns?«, fragte er hoffnungsvoll.

Gretha schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich mach mir selbst was«, log sie, »leider.« Er musste ja nicht wissen, dass ihr vor nichts mehr graute als vor Alexas Selbstgekochtem. »Selbstverständlich bleibst du da.« Sie hatten Alexa nicht kommen hören, die plötzlich mit einem Weinglas in der einen, einer Zigarette in der anderen Hand im Türrahmen stand. »Mein köstlicher, in der Volkshochschule gerade frisch gelernter Auberginen-Broccoli-Gratin mit Dinkeleinlage reicht für drei. Der Tisch ist bereits gedeckt.«

Also saßen und aßen sie, und Gretha, die Alex vorsichtshalber vor dem Essen mit Cini-Minis gesättigt hatte, schob seinen Tellerinhalt unauffällig auf ihren Teller. Kein Streit heute Abend.

»Wie war dein Tag, mein Schatz?«, fragte sie und schenkte Wein nach.

Nichts ging über den leichten Glimmer, den zwei Gläser Wein nach sechs Uhr abends machten. Außerdem verdaute sich so Alexas Dinkel besser.

»Be…«, ein Blick auf Alex, sie korrigierte sich »‒ bescheiden. Das Übliche. Zwei Spanner, ein Vergewaltiger, ein Stiefvater, der seine Tochter missbraucht hat. Und alle natürlich unschuldig.« Sie stand auf und unterdrückte den Impuls, sich eine dicke Käsestulle zu schmieren. Auch ihr schmeckte es nicht, aber eher hätte sie ihre eigene Zunge verschluckt als dies zugegeben. Kochen zählte für sie zu den Eigenschaften, die eine gute Mutter haben musste, und Geschichtenausdenken, aber das fiel ihr leicht. Eigentlich auch Basteln, aber das fand sie so schrecklich, dass sie es Gretha überließ.

»Wenn du in zehn Minuten zähnegeputzt, ausgepieschert und händegewaschen im Bett bist, erzähle ich dir unsere Geschichte von der Hexe mit den grünen Pickeln weiter.« Sie strich ihm übers Haar. Müde war sie, so müde, und sah voll erschöpfter Erleichterung, dass er tatsächlich die Küche verließ. Normalerweise war dies der Auftakt endloser Diskussionen. Alex hasste sein Bett. Also schlief er bei ihr, und wenn Gretha bei ihr übernachtete, verzogen sie sich auf die ausklappbare Besuchercouch. Anfangs hatte Alexa versucht, ihn nachts umzubetten, aber da er dabei regelmäßig aufwachte, hatte sie es aufgegeben. Außerdem war er der einzige Mann, den sie in ihrem Bett haben wollte.

Die beiden Frauen saßen sich schweigend gegenüber und tranken Wein. Sie konnten gut zusammen schweigen. Früher konnten sie auch andere Dinge zusammen gut, aber seit Alexa Mutter war, gab es diese anderen Dinge immer seltener.

»Ich vermiss dich manchmal«, sagte Gretha und nahm Alexa ihre Zigarette aus der Hand, inhalierte, hustete, gab sie zurück. Es war eine fast intime Geste, die intimste seit langem. Alexa lächelte.

»Ich vermiss mich auch manchmal«, erwiderte sie und blies ihrer Freundin einen Kuss über die Tischplatte, »aber ich habe momentan einfach keine Kraft mehr für mich. Alles geht für den Beruf und Alex drauf.«

»Hast du dir mal überlegt, eine andere Pflegefamilie für ihn zu suchen? Ich glaube, du hast dir zu viel zugemutet.« Gretha sagte es leise und vorsichtig, trotzdem schob Alexa so heftig ihren Stuhl zurück, dass er zu Boden krachte.

»Sag mal, bist du von der Henne gehackt?« Ihre Augen funkelten. »Ich geh doch mein Kind nicht wieder her. Ich schaff das schon.«

Gretha seufzte und stand ebenfalls auf. Sie sehnte sich nach ihrem Bett, nach Ruhe und einem guten Buch und nach einer kinderfreien Zone. »Ich weiß«, sagte sie sanft, »hoffentlich schaffst du es, bevor es dich schafft.«

Alex lag in Alexas Bett. Sein Herz klopfte heftig. Andere Pflegefamilie! Sein Albtraum wurde wahr, sie schickten ihn wieder weg. Er spürte förmlich, wie sich sein Inneres zu einem harten Klumpen formte, einem Stein, der sich direkt aufs Zwerchfell legte und dort blieb und ihn verspottete. Es ging ihm so schlecht, dass er noch nicht einmal weinen konnte.

»Alex?« Das war Alexa, die er nur schlecht hören konnte, weil er sich die Bettdecke über den Kopf gezogen hatte und festhielt. »Schläfst du schon?«

Er sagte nichts. Besser so. Er hörte ihre Schritte, dann fühlte er den Plumps, mit dem sie sich aufs Bett fallen ließ. Sie lachte.

»Ich weiß genau, dass du noch nicht schläfst, du Racker …« Sie riss die Bettdecke weg und kitzelte ihn unter den Armen, wo er am kitzligsten war. Normalerweise fing er schon an zu kreischen, wenn ihre Kitzelfinger noch zehn Zentimeter von seinen Achselhöhlen entfernt waren, aber heute sagte er nichts. Kein Wörtchen. Blieb stumm. Sah sie nur mit riesengroßen Augen an.

»Was ist los, Alex?« Sie legte sich neben ihn, zog ihn auf ihren Bauch, verschränkte die Arme. »Komm, kitzel mich.«

»Keine Lust«, sagte er nur und drehte sich weg. Sie drehte ihn zurück. Nicht umsonst galt sie in dem Dezernat für Sexualdelikte, dem sie seit einem Jahr als Chefin Vorstand, als weiblicher Terrier, als Wadenbeißerin, die nie aufgab. Nie. »Spuck’s aus, mein Schatz, was für eine Laus ist dir über deine bislang unbeschädigte Leber gelaufen?«

Alex’ Augen waren riesig. »Liebst du mich?«, fragte er ernst, und diese schlichte Frage öffnete alle ihre Schleusen.

»Ich lieb dich total«, sagte sie ebenso ernst, »totaler geht’s überhaupt nicht.«

»Behältst du mich immer bei dir?« Seine tiefen, braunen Augen, genauso braun wie ihre, waren unergründlich. »Immer und immer? Bis wir beide tot sind?«

Sie fühlte die Liebe zu ihm wie einen warmen Strom, der ihr Herz umschloss. Sie wusste, dass sie noch nie einen Menschen so geliebt hatte wie diesen schmächtigen, verstrubbelten kleinen Jungen. Ihre Eltern nicht, keinen der wenigen Männer und keine der vielen Frauen, bei denen sie es sich einmal eingebildet hatte. Auch Gretha nicht. Nur ihn. Es war eine Liebe, die sie sehr schwach und sehr stark zugleich machte. Sie zog ihn an sich, am liebsten hätte sie ihn in sich hineingezogen, damit er ihr nie wieder abhanden kam.

»Ich lieb dich am allermeisten auf der ganzen Welt«, flüsterte sie ihm ins Ohr, »und du bleibst immer bei mir. Keiner kann uns trennen. Das versprech ich dir.«

»Indianerinnenehrenwort?« Er hob den Kopf und sah sie an, und seine Augen waren rund wie Untertassen und so voller Vertrauen und bedingungsloser Liebe, dass ihr die Brust eng wurde. »Indianerinnenehrenwort«, bestätigte sie, »gib mir dein Blut, Indianerherz.«

Sie pressten ihre Handgelenke gegeneinander, Alex seufzte tief und beruhigt. »Ich hab dich so lieb, Mami«, murmelte er und war eingeschlafen. Zwei Minuten später fing er leise an zu schnarchen.

Alexa schob ihn sanft auf die linke Bettseite, die rechte war ihre. Der einzige Teil des Reihenendhauses, den sie für sich reklamierte. Alles andere hatte Alex besetzt. Im Wohnzimmer lagen Millionen Legosteine und Action-Männer und Pokémons herum, überall, in jeder Ritze steckten sie. Die Badewanne war erst nach dem Wegräumen Dutzender Plastikkrieger zu besteigen, der Küchentisch war belegt mit einem Kinderkomposthaufen. Manchmal hatte Alexa das Gefühl, sie sei nur ein geduldeter Gast in ihrem eigenen Reihenendhaus.

Das Handy vibrierte in ihrer Jeanstasche, eine neue Errungenschaft, weil sie das ständige Klingeln verrückt machte. »Wer stört?«, sagte sie nur und hustete, ihr akustisches Erkennungszeichen.

»Ich«, erwiderte die Stimme, männlich. »Ich hab hier einen alten Bekannten im Büro und ich dachte mir …«

Peter Königs Stimme klang vorsichtig.

»Und wenn’s Gwyneth Paltrow persönlich wäre«, raunzte sie, »ich will heute keinen mehr sehen.«

»Er heißt Marlon Stephan«, meinte König und ließ den Satz in der Luft hängen.

Marlon Stephan. Sie schwieg und verdaute diese Neuigkeit. Dieser Name. Dieser Mann.

Die Reaktion kam verspätet, aber dann umso heftiger. Rasende Wut. »Ich bin in zehn Minuten da.«

Als sie bei Rot über die Kreuzung jagte, war sofort ein Streifenwagen neben ihr. Der junge Polizist ließ die Scheibe herunter, sein Kollege winkte mit der Kelle. Alexa winkte fröhlich zurück und raste weiter. Vor dem Polizeipräsidium stoppte sie ihr Auto so abrupt, dass der Streifenwagen, der ihr gefolgt war, nur durch einen gewagten Schwenk ausweichen konnte. Auf der jungen, glatten Stirn des Polizisten pulsierte eine Zornesader, als er ausstieg und auf Alexa zuging, die ihm gelassen entgegensah.

»Sie sind neu hier?«, fragte sie statt einer Begrüßung und reichte ihm die Hand. »Ich bin alt hier. Alexa Martini, Dezernat für Sexualdelikte.«

Der junge Polizist hatte den Blick, den alle Männer hatten, wenn sie Alexa Martini zum ersten Mal sahen. Sie war siebenunddreißig Jahre alt und hatte immer genauso alt ausgesehen, wie sie war, und das immer so umwerfend und auf eine so lässige Weise attraktiv, dass Frauen und schüchterne Männer es schwer hatten, sich ihr unbefangen zu nähern. Sie war so groß wie schlank, mit den langen, sehnigen Muskeln einer Tänzerin. Ihre Haut schimmerte in dem leichten Olivton begünstigter Mittelmeerbewohner, ihr Vater war Italiener, ihre Mutter Deutsche. Sie war im Sommer tiefbraun, im Winter milchkaffeemild, ihre Augen immer schokoladenbraun. Die Natur war ungerecht. Auch bei den Haaren war sie bevorzugt worden: dick, leicht lockig, mahagoni. So überreich mit optischen Reizen ausgestattet, waren sie Alexa völlig egal, was sie selbst noch attraktiver und die anderen noch unsicherer machte. Auch das war ihr egal.

»Wenn Sie jetzt vielleicht mal meine Hand loslassen würden?«

Der Polizist errötete bis in die Spitzen seiner frisch gegelten, mausblonden Haare. »Freut mich«, brachte er heraus, aber da war sie schon im Präsidium verschwunden.

Er sah ihr nach wie einer Fata Morgana. Mar-lon-ste-phan-mar-lon-ste-phan. Ihre Hacken klickten im Rhythmus seines Namens über den Flur. Mar ‒ Sie hatte ihn erfolgreich verdrängt, auch mit Anna, seiner geschiedenen Frau, ihrer besten Freundin, redete sie kaum noch über ihn. Das letzte Mal vor einem Monat, als sie auf dem Spielplatz mit Anna die dreijährige Johanna in der Sandkiste beaufsichtigten ‒ inmitten von Muttertieren mit Tupperware-Döschen, aus denen diese schlapprig gewandeten Wesen delikate Vollkornkekse und Apfelschnitze fingerten, laut und schrill: »Jonas-Uwe, die Mami hat was Schönes für dich« riefen ‒ und sie einander ansahen und beide dasselbe dachten: Was machen wir hier? Wir sind wild, wir sind leidenschaftlich, wir gehören nicht auf einen Spielplatz!

»Ich finde, dass Johanna mit Abstand die Niedlichste ist«, hatte Alexa bemerkt, wie um Anna zu trösten, die gerade schuldbewusst eine Tüte Kartoffelchips in die Tasche zurücksteckte, gefolgt von einem vorwurfsvollen Muttertierblick auf der Nachbarbank.

»Findest du, dass sie ihm ähnlich sieht?« Annas Blick war ängstlich. »Ich sehe so viel von Marlon und ertappe mich dabei, dass ich seinen Anteil an ihr nicht wahrhaben will. Aber er ist nun mal der biologische Vater.«

Alexa betrachtete Johanna sorgfältig und musste zugeben, dass Anna Recht hatte. Was sie aus tiefstem Herzen bedauerte. Johanna hatte das gleiche, hellbraun geringelte Haar, die gleichen graugrünblauen Augen, die gleichen Semikolongrübchen rechts und links von einem Mund, der geformt war wie ein Schwalbenflügel. Sie war genauso schnuckelig, wie er attraktiv gewesen war.

Marlon Stephan. Annas große Liebe. Ein Vergewaltiger, der sich nachts maskiert in die Wohnungen und Häuser von allein lebenden Frauen schlich, sie dort betäubte und vergewaltigte. Tagsüber war er Annas Ehemann, liebevoller Stiefvater von Lucy und Leander, und beliebter Gewerbeschullehrer. Kurz vor seiner Verhaftung zeugte er Johanna. Als er aus Mangel an Beweisen frei gesprochen wurde, bat Alexa den Zuhälter Fjodor, einen Mann, mit dem sie gut zusammenarbeitete, dafür zu sorgen, dass sich Marlon nie wieder in ihrer Stadt blicken ließ. Sie hatte damit gerechnet, dass Fjodor seine Argumente überzeugend Vorbringen würde. Und tatsächlich hatten sie nie wieder etwas von Marlon Stephan gehört.

Jetzt war er wieder da. Aber Anna war glücklich mit ihrem Nachbarn Gerd Hoffmann, und die Kinder erinnerten sich kaum noch an ihn. Was wollte dieses Arschloch noch? Alexas Schritte wurden schneller, von Wut und vager Sorge beflügelt. Sie lief den langen Gang zu den Dezernatsräumen entlang, klack, klack, klack machten ihre Stiefeletten auf den Betonfußboden … als aus einem halb geöffneten Büro die Worte: »Könnte es sein, dass Ihre Beamten über eine berufsbedingte erhitzte Fantasie verfügen?« sie im Schritt verhalten ließen. Seine Stimme. Das Beste an ihm. Tief, mit rauchigem Unterton. Sehr erotisch. Ein Mann, der so eine schöne Stimme hat, warum macht der so was?, das hatte eines seiner Opfer vor Gericht gefragt.

Sie stand da und lauschte. Die andere Stimme gehörte Peter König, der gerade das Büro gewechselt hatte. »Erhitzt?«, fragte er kühl und unaufgeregt. »Fantasie? Sie haben in Ihrem alten Kiez herumgelungert, standen eine Stunde lang vor dem erleuchteten Schlafzimmerfenster einer jungen Frau, bei der vor einer Woche ein unbekannter Mann eingestiegen ist …«

»Ja und?« Die Stimme klang unendlich gelangweilt. »Was hab ich damit zu tun?«

»Weil es in Anbetracht Ihrer Vorgeschichte mehr als verdächtig wirkt, wenn Sie während des Wartens Ihr Glied …«

Alexa hielt es nicht mehr aus. Sie drückte die angelehnte Tür auf. »Long time no see«, sagte sie, während sie auf den Mann mit dunkler Sonnenbrille zuging, der sich jetzt mit spöttisch verzogenen Mundwinkeln von seinem Stuhl erhob.

»Nicht long genug«, fuhr sie fort, während sie seine ausgestreckte Hand ignorierte und auf dem Schreibtisch Platz nahm. Ihr kurzer, enger Rock schob sich über ihre Oberschenkel hoch.

»Warum bist du hier? Und warum trägst du diese bescheuerte Sonnenbrille? Bist du Rockstar geworden?« Sie war kurz angebunden und unverblümt, weil sie große Mühe hatte, bei seinem Anblick ihren intensiven Ärger unter Kontrolle zu halten.

»Meine Bewährung ist abgelaufen, ich bin wieder ein freier Mann«, sagte er, ihre letzten beiden Fragen ignorierend, und ihr entging nicht, dass ihm ihr hochgerutschter Rock nicht entgangen war. Sie schob ihn hinunter, erhob sich.

»Ich möchte mein Kind gern wieder sehen.« Er stand jetzt vor ihr, furchtlos, weil er nichts mehr zu verlieren hatte. Als Beamter war er suspendiert worden, seit seiner Freilassung lebte er von Sozialhilfe.

»Seit wann suchst du dein Kind mit deinem Ding in der Hand vor anderer Frauen Schlafzimmerfenstern?« Alexa ging zum Fenster, da der Anblick der tiefdunklen Nacht, durchzogen von den Lichtstreifen der vorüberbrausenden Autos, sie beruhigte. Sie überlegte kurz. Sollte sie? Oder würde Peter König ihr in die Parade fahren? Sie musste es riskieren. Sie drehte sich um. Er hatte sich eine Zigarette angesteckt, ein Anblick eleganter Sorglosigkeit.

»Übrigens, die Frau, die vorige Woche vergewaltigt worden ist… es spricht viel dafür, dass du es warst.«

Der überraschte Blick ihres Kollegen sollte andeuten, dass sie jetzt endgültig zu weit gegangen war. Sie hatten den Mann, der es getan hatte, längst vernommen und leider wieder auf freien Fuß setzen müssen. Die junge Frau hatte zugegeben, dass es sich bei dem Täter um ihren Lebensgefährten handelte, den sie nach einem Streit ausgesperrt hatte … Von Vergewaltigung konnte also gar keine Rede sein, von Marlon Stephans Täterschaft noch weniger.

»Das ist doch absoluter Quatsch.« Marlons Stimme klang unsicher. Wer weiß, dachte König plötzlich argwöhnisch, wo er sich in den letzten Jahren und Nächten überall herumgetrieben hatte. Die meisten Menschen, das war eine alte Polizistenweisheit, hatten irgendeinen Dreck am Stecken, man musste nur lange genug danach suchen.

»Vielleicht sollten wir dich einfach ein paar Tage hier behalten«, schnurrte Alexa, als es in ihrer Rocktasche vibrierte. Das verdammte Handy. »Hallo?«

»Wo stecken Sie?« Eine Stimme, die keinen Spaß verstand. Die Stimme von Charlotte Pipp. »Ich bin zufällig an Ihrem Haus vorbeigegangen …«

Zufällig, dachte Alexa, dass ich nicht ganz böse kichere … aber sie schwieg wohlweislich.

»Und da noch Licht an war, hab ich geklingelt. Und da kam zu meinem Befremden Alex an die Tür …«

Alexa spürte eine Welle von Stress und schlechtem Gewissen ihren gesamten Körper durchfluten. Vom Kopf bis zu den Zehenspitzen. Sie hatte Alex allein gelassen, dafür gab es bei Müttern und Sozialarbeiterinnen einfach keine Entschuldigung. Was hätte sie auch sagen können? Ich musste kurz mal mit einem Vergewaltiger sprechen! Klang irgendwie gar nicht gut.

»Ich bin sofort da«, sagte sie stattdessen und klappte das Handy wieder zusammen. Sobald sie das Gespräch mit Charlotte Pipp überstanden hatte, würde sie Fjodor anrufen. Der Gedanke tröstete sie.

Sie ging auf Marlon zu, griff nach seiner Hand und quetschte seine dünnen Fingerknöchel schmerzhaft zusammen. »Diesmal werde ich noch Gnade vor Recht ergehen lassen«, sagte sie, und Peter König konnte ein kleines Grinsen nur mit Mühe unterdrücken. »Ich werde dich gehen lassen. Ein kleiner Tipp« ‒ ihre Stimme wurde lauter ‒ »hau ab« ‒ jetzt schrie sie ‒ »und lass dich hier nie wieder blicken, du perverse Sau.« Sekunden später hatte sie der Fahrstuhl verschluckt.

Die Männer sahen sich an.

»Ich hab wirklich nur …« Auf einmal klang Marlons Stimme klein und müde.

»Alle haben immer nur.« Peter Königs Stimme klang noch müder. »Und genau das macht unseren Beruf so schwierig. Sie haben übrigens die Frage noch nicht beantwortet, warum Sie diese alberne Sonnenbrille tragen.«

Marlon schob die Brille ein kleines Stück die Stirn hoch ‒ seine Augen war seltsam wässrig und ohne Ausdruck. »Weil ich langsam erblinde«, sagte er und ging zur Tür, »und in ungefähr einem Jahr kann ich nichts mehr sehen.«

Der junge Polizist schien vor dem Präsidium auf Alexa gewartet zu haben, auf jeden Fall stand er vor ihrem Auto, als sie mit schnellen Schritten darauf zuging. »Oh, hallo«, sagte sie eilig, während sie nach ihren Schlüsseln tastete.

»Ich wollte nur mal fragen … ob …«

»Ob was?«, fragte sie ungeduldig und schloss auf.

Er druckste. »Sie vielleicht mit mir ein Bier …«

Sie lachte und kniff ihn spielerisch in die Wange. »Ein andermal.« Sie öffnete die Wagentür, setzte sich hinters Steuer. Er stand da und sah sie an.

»Wenn’s dich nicht stört, dass ich lesbisch bin.« Mit diesen Worten zog sie die Tür zu und fuhr sofort los. Sein entgeistertes Gesicht konnte sie sich auch so vorstellen.

Frau Pipp saß mit Alex auf dem Sofa und las ihm vor. Es war eine Minute nach Mitternacht, Alex war putzmunter, ihr fielen fast die Augen zu. »›O wie schrecklich‹, klagte die unglückliche Häsin und wischte sich mit dem Zipfel ihrer Schürze …«, gähnte Charlotte Pipp, als sie den Schlüssel in der Haustür hörte und das Buch zuklappte. Ihr war nach einer energischen Standpauke zu Mute, aber erst mal musste der Junge schlafen.

»Es tut mir schrecklich leid.« Widerwillig musste sich Charlotte Pipp eingestehen, dass Alexa selbst um diese späte Nachtstunde noch frisch wie eine Rose aussah. Im Gegensatz zu ihr. Vorhin hatte sie in den Flurspiegel geschaut ‒ ein deprimierender Anblick. Das Licht war allerdings auch wenig schmeichelhaft, wie sie fand. Ab Vierzig durfte es einfach nicht mehr von oben kommen. Und selbst das war sie ja schon ein paar Tage lang nicht mehr.

Alex war mit einem Jubellaut hoch- und Alexa an den Hals gesprungen. »Mami, Mami.«

Frau Pipp musste zugeben, dass der Junge glücklich wirkte. Aber Glück war nicht alles im Leben, auch Disziplin, Ordnung, Zuverlässigkeit zählten, alles Faktoren, die nicht vernachlässigt werden durften. Sie räusperte sich. Alexa verstand dieses Räuspern.

»Ab in die Kiste«, sagte sie zu Alex, »ich bin in fünf Minuten bei Ihnen, Frau Pipp.«

Alex ließ sich widerstandslos in ihr Bett bringen. »Ist Tante Pipp jetzt sauer auf uns?«, flüsterte er ängstlich, »nimmt sie mich dir wieder weg?«

Dieser Gedanke war so dicht an ihrer eigenen Furcht, dass Alexa auf einmal ihr Herz fast schmerzhaft pochen fühlte. »Quark mit Soße«, sagte sie energisch, »ich trink nur schnell ein Glas Wein mit ihr, dann komm ich auch.« Sie küsste ihn, er kuschelte sich in die Decken, und nichts hätte sie lieber getan, als zu ihm ins Bett zu schlüpfen, sich an ihn zu kuscheln und selig wegzudämmern. Aber es war einer dieser verdammten Tage, mit Widrigkeiten gespickt wie eine Käsekugel mit Weintrauben, ein Tag, der kein Ende nahm.

Sie seufzte, löschte die Lichter bis auf die Nachttischlampe, weil Alex Angst im Dunkeln hatte, auch wenn er schlief, strich sich die Bluse glatt und ging ins Wohnzimmer, wo Scharfrichterin Pipp auf sie wartete.

Die schwankte zwischen Müdigkeit, Verständnis und berufsnötiger Härte. Als Alexa mit einer Flasche Wein sowie zwei Gläsern und den Worten: »Südafrikanischer Merlot, stimmt’s?« vor ihr stand, da schwankte sie noch mehr. Aber sie nickte.

»Gutes Gedächtnis«, lobte sie, um gleich nachzusetzen: »Sie wissen, dass Sie unverantwortlich gehandelt haben, Frau Martini. Mein Glas nur halb voll bitte.«

Alexa schwieg. Dieses Schweigen war ein stilles Eingeständnis, das Frau Pipp richtig deutete. »Der Junge ist erst sechs, er hat Schlimmes hinter sich. Er darf nachts nicht allein sein.«

»Sie haben ja völlig recht.« Alexa schenkte nach, »aber wissen Sie, wer im Präsidium auf mich gewartet hat? Marlon Stephan. Er ist wieder aufgetaucht. Sie verstehen, dass ich da …«

Frau Pipp zog scharf die Luft ein.

Der Name Marlon Stephan war ihr sehr unangenehm bekannt. Als sein Fall durch die Presse geisterte, hatte sie seinetwegen ihre gemütliche Eigentumswohnung, leider im Parterre, panikartig und deshalb weit unter Wert verkauft und war in eine Neubauwohnung am Stadtrand gezogen. Was sie jeden Tag bedauerte und ihn deshalb verfluchte.

»Ist er wieder aktiv?« Ihre Augen blitzten zornig. »Man sollte solchen Männern …«

»Die Eier abschneiden«, vollendete Alexa Martini den Satz. »Nun, ich hätte es nicht so drastisch formuliert.«

»Aber Sie haben es drastisch gedacht.« Jetzt schwieg Frau Pipp.

»Sie wissen, dass ich eine Beurteilung über Sie schreiben muss«, sagte sie schnell, wie um die Balance zwischen ihnen wieder herzustellen.

»Und Sie wissen, dass ich notfalls auswandern würde, wenn ich Alex nicht behalten kann«, sagte Alexa und ärgerte sich maßlos, dass sie es trotz ihres Alters noch immer nicht schaffte, in emotionalen Situationen zwischen Gefühlsansturm und Satz eine kleine Pause einzulegen. Die Sätze kamen oft heraus, bevor ein Gedanke zu Ende gedacht war, und oft zu ihrem Nachteil.

»Und Sie wissen, dass Sie sich dadurch strafbar machen.« Frau Pipps Stimme hatte jetzt einen metallischen Klang, jede Verbindlichkeit war verschwunden.

»Und Sie wissen, dass ich natürlich nur gescherzt habe.« Mit diesen Worten stand Alexa auf und reckte sich. Alle Knochen knackten, ein sicheres Zeichen für völlige Verspanntheit. »Ich muss ins Bett«, sagte sie, »und ich werde mich bessern.«

Auch Frau Pipp erhob sich. »Der Bericht ist in drei Monaten fällig.« Sie musterte die große, unverschämt schöne Frau, der immer das letzte Wort einfiel und bei der sie sich so oft unterlegen fühlte, optisch, verbal, intellektuell, und der Gedanke, dass diese Frau jetzt von ihr abhing, von ihr ganz allein, wärmte ihr das Herz. Es war nur eine kleine, weil irgendwie auch schamerfüllte Wärme, aber immerhin.

An der Haustür drehte sie sich noch einmal um. »Ich behalte Sie im Auge«, sagte sie und ging schnell die Treppe hinunter. Nur ein Mal das letzte Wort behalten.

Alexa lauschte den Worten nach und beschloss, sie sofort und erfolgreich zu verdrängen. Alles wird gut, flüsterte sie, alles muss gut werden, wiederholte sie, diesmal lauter.

Sie ging ins Bett, mit ungeputzten Zähnen und Aschenbecherfeeling im Mund.

Im Wegdämmern fiel ihr noch etwas ein. Sie versuchte, es wegzuschieben, aber es war hartnäckig. Scheiße, dachte sie und fummelte nach ihrem Handy. »Fjodor? Ich bin’s. Alexa. Ich hab ein kleines Problem. Ein alter Freund ist wieder da. Marlon Stephan. Wenn du vielleicht… keine Ahnung, wo er wohnt… nein, im Augenblick ist keine Razzia geplant, klar sag ich Bescheid … Ciao.«

Und endlich schlief sie ein.

Kapitel 3

»Schschsch … mein Engelchen, gleich hört das Aua auf, es tut nur noch einmal ganz kurz ein ganz klitzekleines bisschen weh …« Die Stimme war seidenwarm und voller Zärtlichkeit. Das kleine Kind im hellblau gestrichenen Himmelbett hörte auf zu schreien und schluckte, als sich ein dunkler Schatten über es senkte. Kurz blitzte eine Nadel auf. Ein hoher Schrei, der verstummte. »Siehst du, das war’s schon … und morgen gehen wir wieder zu Tante Doktor, da kriegst du ein Gummibärchen. Und Mami ist immer dabei, du musst keine Angst haben …«

Der Schatten war verschwunden.

Das Kind konnte nicht einschlafen, denn der Schatten blieb.

Kapitel 4

Auf dem Küchentisch im Hause Blumenberg sah es aus wie bei einer Massenkarambolage, aber Alexa fand sich trotzdem zurecht. Zielsicher griff sie unter eine umgekippte Cornflakes-Tüte und fischte ein Brötchen heraus, suchte, fand ein Stück kinderfreundlichen Gouda, denn Anna hatte sich, genau wie sie, käsemäßig auf Kinder eingestellt, und alle Kinder hassten Stinkekäse. Wo war die Butter? Ah, hinter ihr, auf der nicht abgeschalteten Herdplatte, schon ein bisschen flüssig …

»Du findest, was du brauchst?« Gerd Hoffmann, Annas Lebensgefährte, sauste mit seinem Rollstuhl zum Kühlschrank und holte einen Wurstteller heraus, den er missbilligend auf den Tisch stellte. »Schon wieder nicht abgedeckt, alle Ränder braun, wenn man nicht alles selber macht«, murmelte er, sah Alexas amüsierten Blick, musste lachen. »Bin ich wieder die schwule Hausfrau?«

Sie kicherte und griff nach einer Wurstscheibe, die sie, Rand hin oder her, aufrollte und in den Mund stopfte.

»Klar ist das schwul«, nuschelte sie mit wurstvollem Mund, »aber süß schwul.«

»Und was wäre lesbisch?« Er schenkte sich Kaffee nach, seine vierte Tasse, obwohl er als Rollstuhlfahrer seinen Blaseninhalt genau kontrollieren musste. Aber es war ihm lästig, ständig an seine Blase zu denken.

»Lesben essen keine Würste«, grinste Alexa und schob eine Wurstscheibe nach, »zu phallisch …«

»Womit wir wieder beim Thema wären.« Anna hatte Johanna auf der Hüfte sitzen, beugte sich zu Alexa hinunter und küsste sie. »Außerdem isst du doch gerade Wurst.«

Alexa lachte. »Aber nur in Scheiben.«

Mit den Worten: »Ich halt das nicht mehr aus« rollte Gerd aus der Küche. Anna setzte sich. »Und?«, fragte sie.

»Darf ich?«, fragte Alexa. Sie kannten sich seit tausend Jahren und verstanden ihre Kürzel.

»Wenn Gerdie in seiner Wohnung ist«, flüsterte Anna, »er hasst rauchende Weiber.«

Also schwiegen sie und lauschten. Als sie das schnalzende Geräusch der sich schließenden Wohnungstür hörten, griff Alexa zur Zigarettenschachtel, fragte: »Du auch?« Anna nickte.

»Mein Leben läuft aus dem Ruder.« Alexa blies den Rauch aus und lauschte dem Klang ihrer, wie sie selbst fand, etwas theatralischen Worte.

»Das tut es doch meistens«, meinte Anna, deren eigenes im Augenblick so war, wie sie es liebte ‒ ein ruhiges, friedliches Gleichmaß der Tage. Gerd wohnte eine Etage tiefer, wo er neben einer Schlafmöglichkeit, falls er allein sein wollte, auch sein Atelier als Portraitmaler hatte. Sie konnte ihn also theoretisch aus dem Bett schmeißen, aber ‒ erstens ‒ schnarchte er nicht, und ‒ zweitens ‒ hatte sie ihn nachts gern neben sich. Du liebst mich ja nur, weil ich nachts nicht joggen gehe wie mein Vorgänger, scherzte Gerd manchmal, aber obwohl Anna viel Sinn für Humor hatte, konnte sie über diesen Scherz einfach nicht lachen. Zu tief saß die Verletzung, die ihr Marlon zugefügt hatte. »Also, aus dem Ruder, weshalb?«, fragte Anna und wischte alle Gedanken an die Vergangenheit beiseite. »Du hast doch keinen Stress mit Gretha?«

»Womit du mich fragst, ob ich meine braunen Ladykilleraugen auf ein anderes Mädel geworfen habe?« Alexas Rauchkringel verfingen sich im Kronleuchter von Ikea, der etwas schief über dem Küchentisch hing. »Für so was hab ich gar keine Zeit mehr. Ich zermalme mich zwischen Serientätern, Kindergarten, Kinderschändern, Jugendamt. Gretha kommt auch zu kurz, die Arme.«

»Ich komm nicht zu kurz.« Anna sagte es versonnen.

Alexa lächelte sie an. Anna lächelte zurück.

»Schön für dich«, sagte Alexa.

»Ja, sehr schön«, entgegnete Anna.

»Vermisst du eigentlich nichts?«, fragte Alexa.

»Wie meinen?«

»Naja, immerhin ist Gerd ja im Rollstuhl.«

»Erfüllte Sexualität ist ja nicht nur mit einem Schwanz möglich.« Anna sagte es ganz ernst, dann grinste sie doch. »Das solltest du doch am besten wissen.«

»Touche.« Alexa drückte ihre Zigarette auf dem Teebeutel aus, der auf einer Untertasse lag. Aschenbecher gab es nicht mehr im Hause Blumenberg, seit sich Anna das Rauchen, zumindest offiziell, abgewöhnt hatte.

»Anna?« Sie musste es loswerden, musste ihre Freundin damit belasten, obwohl sie es ihr gern erspart hätte.

Anna hatte schuldbewusst das Balkonfenster geöffnet. Das Licht fiel auf ihre weiße, leicht durchsichtige Bluse, durch die ihr sehr gerader Rücken schimmerte. Du hast ein Kreuz aus Stahl, hatte Gerd mal zu ihr gesagt, dich haut nichts um. »Marlon ist in der Stadt.«

Anna stand ganz still, drehte sich nicht um. Sie schwankte leicht. Alexa glaubte, den Schock über ihre Rückenwirbel laufen zu sehen wie eine leise, böse Welle.

»Woher weißt du das?«

»Ich hab ihn gesehen. Im Präsidium. Ein Kollege hat ihn festgenommen. Vor dem Haus einer …«

Anna drehte sich um. Ihr Gesicht war blass, ihr Rücken gerade.

»Er hat wieder angefangen«, sagte Alexa. »Ich bin sicher, er meldet sich bei dir. Er will seine Tochter sehen, sagt er.« Anna sank auf einen Stuhl, starrte blicklos auf den Tisch. »Ich hab gedacht, ich hab irgendwie gehofft, dass dein Freund damals …«

Alexa wusste, was Anna gehofft hatte. Sie hatte es selbst gehofft.

»Ich hab gestern mit Fjodor gesprochen«, sagte sie und ließ diesen Satz im Raum hängen, »er wird noch mal mit Marlon reden. Von Mann zu Mann.«