Kein Mann fürs Leben - Evelyn Holst - E-Book

Kein Mann fürs Leben E-Book

Evelyn Holst

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Beschreibung

Wer liebt wen und wie lange noch?

Verheiratet, zwei Kinder, über 40 – kein Problem für Angela, denn Jochen und sie sind auch nach 22 Jahren immer noch glücklich. Glaubt sie, aber weiß sie es auch? Erst als Jochens hübsche Praktikantin ihr verkündet: »Ich will Ihren Mann«, bricht Angelas heile Welt zusammen. Doch als ihre Tränen getrocknet sind, zeigt sie allen, was in ihr steckt.

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Inhaltsverzeichnis
 
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
 
Copyright
KAPITEL 1
Angie Winter fluchte leise vor sich hin, als sie aus dem Auto stieg und die Straße entlangging. Warum um alles in der Welt hatte sie sich auch ausgerechnet heute Abend in das enge, schwarze Strickkleid gezwängt? Sich mit der vagen Erinnerung zufriedengegeben, dass es ihr einmal perfekt gepasst hatte? Weshalb war ihr nur in den Sinn gekommen, wie jung und sehr sexy sie sich einst darin gefühlt hatte? So jung und sexy, wie sie sich auch heute Abend fühlen wollte. Doch nun sah sie aus wie eine Birne im Wäschesack.
Stichwort Klassentreffen! Das erste seit fünfundzwanzig Jahren. Organisiert von Volker Pippmann, dem Oberstreber von damals, der nie bei sich abschreiben ließ. Immer seine Hand mit den abgekauten Nägeln wie zufällig auf der Klassenarbeit, die fetten Finger weit auseinandergespreizt. Und immer dieses hämische Grinsen dabei. Gehasst hatten sie ihn alle. Sie am meisten. Schließlich hatte er mit seinen Wurstfingern dafür gesorgt, dass sie im Abi nur eine Vier minus in Latein gehabt und es deshalb für den Numerus clausus in Medizin nicht gereicht hatte.
»Tja, errare humanum est«, hatte er gesagt und sie frech angegrinst, als sie sich damals mit einem Abidurchschnitt von 3,5 sehr deprimiert auf den Heimweg gemacht hatte. »Mein Tipp für dich – heirate schnell, solange du noch saftig bist und dein erotischer Marktwert hoch ist«, hatte er ihr noch hinterhergerufen. »Dann bist du gut versorgt und musst dir um Studium und Karriere keine Sorgen machen!«
Sie hatte damals nichts erwidert, seinen gebrauchten, aber blitzblank polierten BMW, ein Geschenk seiner Eltern zum achtzehnten Geburtstag, fest im Blick, ihren Hausschlüssel genauso fest in der Hand. In einem unbeobachteten Moment hatte sie den Wagen umkreist und mit dem Schlüssel ein dickes Herz auf die Kühlerhaube geritzt. Danach hatte sie sich besser gefühlt.
Ob er sich noch daran erinnert?, überlegte Angie, während sie sich bemühte, so flach zu atmen, dass sie ihr schwarzes Strickkleid möglichst wenig spürte. Sie blickte an sich herunter, was ein Fehler war, denn aus dieser Perspektive sah sie plötzlich schwanger aus. Nur ein bisschen, höchstens vierter Monat, aber es reichte, ihre ohnehin in jeder Pore spürbare Unsicherheit bis in die Haarwurzeln hochzutreiben. Mist!
Nichts war ja geeigneter als ein Klassentreffen, um sich panisch alte Fotos anzusehen und deprimiert festzustellen, wie jung und schlank man einmal ausgesehen hatte. Wobei es kein Trost war, dass es ja allen anderen genauso ging.
Als Angie nun die Straße zum hell erleuchteten Restaurant hin überquerte, hoffte sie inständig, dass Volker inzwischen fett, glatzköpfig und arbeitslos war. Sie zog das Kleid, in dem sie sich inzwischen wie eine Bratwurst fühlte, die aus der Pelle platzte, mit einer Hand wieder nach unten. Leider, leider hatte sie zum falschen Kleid auch die falsche Unterwäsche gewählt. Und zwar den einzigen Tanga, den sie besaß. Vor ein paar Wochen hatte sie beschlossen, ihre bequeme Baumwollunterwäsche, in der sie, wie ihre Freundin Nina behauptet hatte, »wie Tante Käthe beziehungsweise wie eine Frau, die seit dreißig Jahren ohne Sex lebt« aussah, komplett auszumisten und sich unten herum drastisch zu verjüngen. Da Angie eine vorsichtige Frau war, die Änderungen im Allgemeinen und drastische ganz besonders eher fürchtete als herbeisehnte, hatte sie sich probeweise einen dunkelroten Tangaslip gekauft. Und den hatte sie heute einweihen wollen.
Sie knipste wie auf Bestellung ein energisches Lächeln an, ignorierte das Zwicken auf Pobackenhöhe und betrat beherzt das Drei Tageszeiten.
»Ich wollte mich nur von Ihnen verabschieden.«
Jochen Winter sah von seinem Schreibtisch hoch und erwiderte das Lächeln der Praktikantin, an deren Namen er sich nicht mehr erinnern konnte. »Hat es Ihnen gefallen bei uns?«, fragte er der Höflichkeit halber, nicht weil es ihn wirklich interessierte.
Als sie »ehrlich gesagt war ich etwas enttäuscht« erwiderte und seinem konsternierten Blick nicht auswich, zuckte er ein wenig zusammen. »Darf ich fragen, warum?«, fühlte Jochen sich bemü ßigt nachzufragen, obwohl trotz der späten Stunde noch jede Menge Arbeit auf ihn wartete. Aber es widerstrebte ihm, dass jemand, der auch nur drei Wochen lang in seiner Firma gearbeitet hatte, Negativwerbung für den Betrieb machen könnte. Praktikanten zu beschäftigen, war einfach nicht besonders rentabel.
»Es gibt mehrere Gründe«, sagte sie, und ihre Stimme klang bedeutungsvoll.
»Die da wären?« Jochen seufzte und warf einen Blick auf den Papierstapel – Rechnungen, Kalkulationen, Steuerunterlagen, die er am liebsten alle mit einer schnellen Handbewegung in den Papierkorb gewischt hätte.
»Ich dachte, Lukullus wäre eine coole Restaurantkette«, meinte die junge Frau, »stattdessen machen Sie Alzheimerkost für Zahnlose in Altenheimen. Total uncool.« Jochen unterdrückte den kurzen Impuls, ihr – batsch, batsch – spontan ein paar Ohrfeigen zu geben. Sie war noch in dem Alter, in dem man sich unsterblich fühlte; dunkel erinnerte er sich daran, dass es ihm selbst einmal so gegangen war.
»Es tut mir leid, dass Sie unter falschen Vorzeichen bei uns angefangen haben«, sagte er, »aber Lukullus hat vor kurzem einen Teil seiner Familienrestaurants verkauft und sich stattdessen auf Seniorenheime und Kindergärten spezia…«
»Ist ja jetzt auch egal«, unterbrach sie ihn und schob ihm einen DIN-A4-Bogen hin. »Hier ist mein Zeugnis, ich hab schon alles ausgefüllt, Sie müssen nur noch unterschreiben.«
Jochen griff zum Kugelschreiber, überflog die Seite und stellte fest, dass das junge Mädchen Enja Wiese hieß, neunzehn Jahre alt war, die ihr gestellten Aufgaben zu seiner »allerhöchsten Zufriedenheit« erledigt hatte und er ihr für die Zukunft, die zu den »größten Hoffnungen« berechtigte, alles Gute und viel Erfolg wünschte.
»Da hat Ihnen mein Bruder ja ein schönes Zeugnis ausgestellt«, meinte er und unterschrieb.
»Das war ich«, sagte Enja. »Ich schreibe diese Dinger immer selbst, schließlich weiß ich ja am besten, was ich kann.«
War ich tatsächlich auch einmal so jung, überlegte Jochen, als er ihr das Zeugnis reichte, so absolut sorglos und unbegründet selbstverliebt? Er sagte: »Viel Glück«, stand auf und reichte ihr die Hand, die sie zu seinem Erstaunen etwas länger als nötig festhielt.
»Es gibt noch einen anderen Grund, weswegen ich enttäuscht war«, sagte sie. »Wollen Sie ihn wissen?«
Dass unsere Damentoilette keinen Schminkspiegel hat? Dass unsere Jungköche alle in festen Händen sind? Jochen grinste. »Unbedingt«, erwiderte er.
»Dass Sie überhaupt nicht gemerkt haben, wie toll ich Sie finde.« Enjas einladender Blick ruhte auf ihm.
Kopfschüttelnd lehnte er ab. »Ich bin geschmeichelt«, meinte er und ging zur Tür. »Aber sicher ist Ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass ich verheiratet bin. Und zwar glücklich. Guten Abend.«
Die junge Frau lächelte. »Man ist so alt, wie man sich fühlt«, sagte sie freundlich, »aber offensichtlich sind Sie schon hundert. Dabei hätten Sie durchaus noch Chancen. Carpe diem, hat mein Lateinlehrer immer gesagt. Knutsch den Tag, sage ich, bevor du alt und grau bist und dich keiner mehr zurückknutscht. Vielen Dank für alles, Herr Winter.«
Damit war sie verschwunden.
Als sich Jochen wieder an seinen Schreibtisch setzte, hatte er das, was Nina, die etwas anstrengende beste Freundin seiner Frau, einen »akuten Seniorenmoment« nannte. Deutlich drastischer ausgedrückt, er fühlte sich alt. Okay, er war zwar erst sechsundvierzig, angeblich die besten Jahre für einen Mann, und dass er noch nicht wie eine vertrocknete Schildkröte aussah, bestätigte ihm sein täglicher Blick in den Spiegel. Trotzdem war er kein Mann, der vor den Tatsachen die Augen verschloss. Und die sagten ihm unmissverständlich, dass es erstens seiner Firma seit der Finanzkrise im letzten Jahr nicht besonders gut ging und dass sich zweitens seine einundzwanzigjährige Ehe mit Angie auch schon seit einiger Zeit wie ein etwas ausgelatschter Filzpantoffel anfühlte: kuschelig, vertraut und bequem, aber nicht besonders attraktiv und sexy.
Er liebte sie von ganzem Herzen, ohne Frage, und bis auf ein einziges Mal im Skiurlaub vor zwölf Jahren, als ihn eine zweistellige Anzahl Obstler so schachmatt gesetzt hatte, dass er sich an nichts erinnern konnte und Angie ihn morgens aus dem Hotelzimmer einer ihm völlig fremden Frau gezogen hatte, hatte er sie auch noch nie betrogen. Sie war die Frau seines Lebens, daran bestand für ihn kein Zweifel, nur manchmal, in bestimmten Momenten, die er für sich behielt, hatte er eine tiefe Sehnsucht nach dem Jochen von früher. Dem Vor-Angie-Jochen. Der, wenn ein junges, hübsches Mädchen wie diese Enja ihm ein derartig eindeutiges Angebot machte, sofort zugegriffen hätte. Der sie auf den Schreibtisch gedrückt und dort auf der Stelle genommen und nicht, lahm und solide, etwas von »glücklich verheiratet« gemurmelt hätte.
Ich bin ein Schwein, dachte Jochen beschämt, Schluss mit diesen Gedanken! Er griff zum Telefon. Vielleicht brauchte Angie gerade jetzt ein bisschen Unterstützung, denn kurz bevor sie zum Klassentreffen aufgebrochen war, hatte sie ihn noch einmal panisch angerufen. »Sag mir sofort, dass ich die beste, schönste, hei ßeste Frau bin, die du jemals gesehen hast«, hatte sie verlangt. »Und sag es so, dass ich es dir auch glaube.«
Nun sprang ihre Mailbox an: »Hier ist Angie Winter. Offensichtlich bin ich nicht erreichbar. Nachrichten bitte nach dem Pfeifton.«
»Hallo, mein Schatz«, sagte Jochen. »Du bist die Beste, Schönste, jetzt hab ich vergessen, was du sonst noch bist – auf jeden Fall viel Spaß und bis später.« Er legte auf.
Durchaus noch Chancen, hatte diese Enja gesagt. Lächelnd griff er zum Papierstapel.
Carpe diem. Knutsch den Tag. Wie albern.
»Angie, du alte Nuss, komm her und lass dich drücken!« Das war Volker, und er sah genauso aus, wie Angie gehofft hatte. Ziemlich dick nämlich und so gut wie haarlos. Anfühlen tat er sich noch besser, wie sie kurz darauf in einer schwitzigen Umarmung, der sie nicht entgehen konnte, feststellen durfte, genauso weich um die Körpermitte wie sie selbst vor ihrer letzten »Obst bis zum Abwinken«-Diät. Die sie immerhin so lange durchgehalten hatte, dass sich ihre eigene Taille zum Glück deutlich fester anfühlte.
»Auch nicht jünger geworden«, rief er jetzt, während er einen Schritt zurücktrat und sie musterte, »aber hoffentlich ein bisschen friedfertiger.«
»Wenn du auf deinen hässlichen BMW anspielst«, erwiderte Angie, während sie aus den Augenwinkeln die anderen Gäste registrierte, die in Grüppchen vor der Bar standen und angeregt miteinander plauderten, »das hab ich gern getan.« Ach, dieser Satz tat gut! Dieses verkniffene Grinsen in Volkers Gesicht, ein Volltreffer! Auch seine Antwort »Jetzt fahre ich einen Porsche« konnte ihre vorübergehende Hochstimmung nicht schmälern.
Allerdings trübte die sich sofort von allein wieder ein, als sie zielstrebig und mit klopfendem Herzen auf eine laut lachende Gruppe von vier Frauen zuging. Es waren die »Geierwallys«, sie erkannte sie sofort wieder, und genau die Clique, die sie in der gesamten Oberstufe schikaniert und gedemütigt hatte. Und das Schlimmste war, dass sie damals alles getan hätte, um auch eine Geierwally zu sein. Genauso cool, so arrogant, so unantastbar wie sie. Immer die richtigen Jeans zu tragen, immer auf die heißesten Partys eingeladen zu werden, an jedem Türsteher vorbeizukommen. Die Geierwallys, die sich so nannten, weil der Name »irgendwie geil« klang, den gleichnamigen Film hatte damals zumindest keine von ihnen gesehen, waren aus Angies postpubertärem, sehnsüchtigem Blickwinkel so toll, wie es heute Paris Hilton, Nicole Ritchie und Britney Spears zusammen sein mögen.
Der angesagte Look zu Schulzeiten war die Prinzessin-Diana-Frisur und möglichst große, quadratische Schulterpolster. Wie stolz sie gewesen war, als sie nach den Sommerferien mit ihren neuen Locken und einer bunten Bluse mit Blumenmuster und Schulterpolstern, die sich zum Sofaaufschlitzen geeignet hätten, zur Schule ging. Endlich konnte sie optisch mithalten! Und dann kam der Supergau. Vor allen Mitschülern, mitten auf dem Schulhof.
»Von wem hast du denn dein Haar vergewaltigen lassen?«, hatte Britta, die Topgeierwally, aufgeregt gekreischt. »Du siehst ja aus wie ein Wischmopp!«
Es war ein Vierteljahrhundert her, dass sich Angie puterrot vor Scham in die Mädchentoilette geschlichen und dort bitterlich geweint hatte, aber plötzlich war alles wieder da – der Kummer, die Peinlichkeit, die Wut. Und die ganz besonders. Sie standen jetzt mehr oder weniger mit dem Rücken zu ihr, alle vier blond gesträhnt und gertenschlank in schmalen Kinderjeans und bleistifthohen High Heels. Einen kurzen, heißen Moment fühlte Angie sich wieder wie auf dem Schulhof, doch dann zog sie den Bauch ein und ging zum Angriff über.
»Na, ihr Geierwallys«, rief sie laut mit einer Stimme, die sie selbst in dem Moment nicht wiedererkannte, so forsch und fröhlich klang sie, »immer noch die alten Zicken, oder habt ihr inzwischen menschliche Züge angenommen?«
Das Restaurant verstummte, auf jeden Fall kam es Angie so vor. Die vier Blondschöpfe drehten sich abrupt zu ihr um.
»Oh«, brachte Angie heraus und verstummte, denn alle vier Gesichter sahen relativ gleich aus. Die gleichen Stupsnasen, die gleichen Forellenmünder, die gleichen babyglatten Stirnen.
»Hallo, Wischmopp«, sagte prompt eine von ihnen, »was hat das Leben denn aus dir gemacht? Gehirnchirurgin oder Regenwaldretterin?«
Angie holte tief Luft, wobei sie ihren Tanga bis in jede Hautfalte spürte. Das unangenehm zwickende und reibende Gefühl gab ihr allerdings genau die Prise Aggression, die sie jetzt brauchte. »Hallo, Britta«, erwiderte sie, und es gelang ihr, in diesem Moment die kühle, beherrschte Frau zu geben, die sie gern öfter wäre, »ich hab dich sofort an deiner Mickymaus-Stimme erkannt. Und selbst? Dreimal gut geschieden oder selbst was auf die Beine gestellt?«
 
Auf der Damentoilette zückte sie ihr Handy. »Rate mal, wo ich gerade bin?« Am anderen Ende hörte sie ein wohliges Grunzen. »Nina, schläfst du schon?«
»Nein, ich zieh mir gerade die letzten zehn Folgen Wege zum Glück rein. Was meinst du, sind die Haare von Frederik Gravenberg echt? Und ich weiß ja, Angielein, wo du bist. Beim Klassentreffen. Meine Vorstellung von Vorhölle, wenn du mich fragst. Die Horrortypen von früher sind jetzt Hedge Fonds-Manager mit zwanzigjähriger Drittfrau aus Osteuropa. Und die Klassensprecherin mit der Eins in Sport ist zur frustrierten Gebärmaschine mutiert. Nie wieder, sag ich. Sind die gruseligen Geierwallys auch da? Also, erzähl kurz, dann will ich weitergucken.«
Wie immer, wenn sie mit Nina telefonierte, ging es Angie gleich besser. »Alle vier«, sagte sie, während sie versuchte, ihren Tanga, der auf ihrem Körper festgewachsen zu sein schien, in Position zu bringen. »Und weißt du, was das Schlimmste ist?«
»Sag’s mir schnell, mein Herz.« Nina gähnte.
»Dass ich Britta gefragt habe, ob sie was Richtiges auf die Beine gestellt hat.«
»Ja und? Hilf mir weiter, Hase, ich begreif die Pointe nicht.«
»Voll der Schuss nach hinten!« Endlich hing, zu ihrer großen Erleichterung, der Tanga halbwegs locker zwischen ihren Beinen. »Britta ist Kinderkardiologin«, sagte Angie und seufzte. »Sie packt gerade ihre Koffer für Dubai, weil irgend so ein Superscheich eine Klinik für sie dort gebaut hat. Tja, da siehst du’s …«
»Aber du hast doch auch was vorzuweisen«, tröstete sie Nina. »Einen tollen Mann, einen Sohn, der weder drogensüchtig noch kleinkriminell ist …« Sie verstummte.
»Und was noch?«, fragte Angie kleinlaut.
»Reicht das etwa nicht? Nicht jede Frau kann einen Facharzt in der Tasche haben. Was ist denn auf einmal mit dir los?«
»Du hättest mal Brittas hochmütiges Gesicht sehen sollen, als sie mich fragte, was ich so beruflich mache.«
Die Freundinnen schwiegen.
»Ich brauch was zum Angeben«, sagte sie flüsternd, denn in der Nebenkabine war jetzt ein lautes Strullern zu hören.
»Da weiß ich was«, meinte Nina.
 
Als Angie die Treppe zum Restaurant hochstieg, fühlte sie sich wesentlich besser. Der Besitzer des Drei Tageszeiten hatte gerade die Ehemaligen des Abijahrgangs 1984 an lange Tische gesetzt. Dass nun nur noch neben Britta ein Platz frei war, kam Angie sehr gelegen, denn an der Seite von Volker, dessen breite, beringte Hand sich mittlerweile auf dem Oberschenkel von Heike Hempel, der ehemaligen Klassenbesten, befand, hätte sie sich noch nicht einmal unter Androhung von Folter niedergelassen. Heike dagegen schien Volkers feuchten Händedruck zu genießen, vermutlich hatte er ihr gerade von seinem nagelneuen Porsche erzählt.
»Ihr müsst mich alle in Dubai besuchen«, sagte Britta gerade zu den anderen Geierwallys, von denen, wie Angie erfahren musste, zwei einen sehr erfolgreichen Dessousladen betrieben, die dritte preisgekrönte Wirtschaftsreportagen drehte. »Du natürlich auch«, meinte sie gönnerhaft zu Angie, »falls dein Mann auf dich verzichten kann.«
Das war genau das richtige Stichwort.
»Mein Mann?«, rief Angie. »Wollt ihr ihn mal sehen?«
Ohne die Antwort der ringsum Sitzenden abzuwarten, zückte sie ihr Handy. »Hier ist er«, sagte sie und reichte es in die Runde, »und so sieht er morgens nach dem Aufwachen aus.«
Die Stille, die ihren Worten folgte und zweifelsohne Bewunderung ausdrückte, war Balsam für Angies Seele.
»Mann, sieht der gut aus«, sagte Britta anerkennend.
»Das finde ich auch«, erwiderte Angie sanft. »Wir sind auch sehr glücklich.«
Britta gab ihr das Handy zurück, nachdem auch die anderen Geierwallys Jochens Bild auf dem Display bestaunt hatten.
»Nur eins verstehe ich nicht«, sagte Britta und lächelte sie süß an.
»Und das wäre?«, fragte sie.
»Wie kommt eine Frau wie du zu so einem attraktiven Mann?«
 
»Und dann hab ich ihr meine Suppe, die der Kellner gerade servierte, einfach über den Kopf gekippt und bin gegangen«, sagte Angie, während sie eine rote Ampel überfuhr und die Kreuzung passierte. »Aber jetzt fühle ich mich total beschissen.«
»Schatzi, für heute ist mein Bedarf als Ratgebertante irgendwie ausgeschöpft«, seufzte Nina.
»Weil ich in sieben Jahren fünfzig werde und Jochen das einzige Pfund in meinem Leben ist, mit dem ich wuchern kann.«
»Na, da wüsste ich aber noch ein paar andere«, sagte Nina und kicherte. »Und jetzt fahr nach Hause und hab Sex mit deinem Mann. Das entspannt, verbraucht mindestens zweihundertfünfzig Kalorien und macht gute Laune. Und du sagst ihm nichts, sonst bildet er sich noch sonst was ein. Das ist ein Befehl. Gute Nacht.«
»Wie war’s denn, Schatz? Erzähl doch mal«, kam seine Stimme aus dem Schlafzimmer.
»Nichts Besonderes, wie halt Klassentreffen so sind. Alle sind alt und dick geworden.«
Angie blickte stirnrunzelnd in den Badezimmerspiegel, vor dem sie sich gerade ein langes, dunkles Haar aus dem Hals gezupft hatte. Aus dem Hals! Sie war entsetzt. Dieser Tag hatte es aber wirklich in sich!
»Waren denn diese Geiertrudis auch da?«
Angie wusste, dass sich Jochen nicht ernsthaft für ihr Klassentreffen interessierte, deshalb rief sie nur ein etwas erschöpftes »Ja, aber ich hab kaum mit ihnen geredet« in seine Richtung. Sie verspürte in diesem Moment einfach keinen Bedarf, das Thema weiter zu vertiefen.
Jochen hatte seine neue, widerwillig gekaufte Lesebrille auf der Nase und gab vor, in Die Lust im Alter neu entdecken vertieft zu sein, ein Sachbuch, das sie ihm vor drei Jahren zum Valentinstag geschenkt hatte und das seitdem auf seinem Nachttisch verstaubte.
»Kannst du mir erklären, warum ich auf dem Kopf die ersten grauen Haare bekomme, aber die verdammten Borsten, die mir neuerdings aus dem Hals wachsen, pechschwarz sind?«
Mit dem längsten Halshaar in der Pinzette setzte sie sich zu ihm auf die Bettkante. »Hier, schau mal, Liebling, was denkt sich die Natur dabei?«
Jochen legte seinen Beziehungsratgeber zur Seite, nahm ihr die Pinzette aus der Hand und hielt sie gegen die Nachttischlampe. »Mann, das ist ja ein ganz schöner Brummer«, sagte er grinsend. »Mach dich darauf gefasst, dass dir demnächst auch eine dicke Warze aus dem Kinn sprießt. Dann muss ich mir leider eine Jüngere und Schönere suchen, was mir in deinem speziellen Fall ganz außerordentlich leidtäte.«
Angie beugte sich vor und tat so, als ob sie ihn küssen wollte. Dann riss sie den Kopf herum und biss ihn spielerisch, aber nachhaltig in die Wange.
»Bist du verrückt geworden?«, rief Jochen empört. »Nicht nur Hexe, sondern auch noch Kannibalin! Was hab ich dir denn getan?«
»Noch nichts«, feixte Angie und küsste ihn sanft auf die geschundene Wange, »aber du bist jetzt genau in dem gefährlichen Alter, wo Männer durchdrehen und sich weibliche Eizellen zum Spielen suchen.«
»Ich doch nicht«, protestierte Jochen. »Ich habe nie daran gedacht, mit einer anderen Frau zu schlafen. Und fang jetzt nicht wieder mit der Skinummer an, da war ich blau und kann mich an nichts mehr erinnern.«
Angie ging zurück ins Bad und überlegte beim Zähneputzen, ob sie Lust auf Sex hatte. Prinzipiell war sie nicht abgeneigt, nach diesem anstrengenden Abend aber etwas unschlüssig. Es war spät, und im Gegensatz zu ihr war Jochen kein Freund von Quickies, er schätzte ein gepflegtes, durchaus längeres Vorspiel, es würde also dauern. Lieber hätte sie noch ein bisschen gelesen und sich dann einfach nur gemütlich an ihn gekuschelt.
»Dein Mann sieht aus wie George Clooney, aber du behandelst ihn wie ein zerknautschtes Sofakissen«, hatte Nina kürzlich festgestellt. »Ist dir eigentlich klar, dass Jochen, wenn er wollte, jede Nacht Sex mit Angelina Jolie haben könnte?«
»Will er aber nicht«, hatte Angie etwas trotzig erwidert. »Er will nur mich.«
Wollte er sie heute Abend? Schwer zu sagen bei ihm. Er war nicht der Typ Mann, der sich aufdrängte, aber er konnte immer, wenn sie wollte. Eigentlich der ideale Bettpartner. Wann hatten sie überhaupt zuletzt, überlegte sie, als sie zur Zahnseide griff. Sie hatte keine Ahnung. Nicht den blassesten Schimmer. Angelina weiß sicher noch ganz genau, wann sie das letzte Mal mit Brad geschlafen hat, sinnierte sie und spuckte etwas Blut ins Waschbecken, und das bei sechs Kindern und den ständigen Trips in diverse Flüchtlingslager. Ich bin eine Versagerin, dachte Angie in einer plötzlichen Aufwallung von akuter Selbstzerfleischung.
Was konnte sie eigentlich besser als andere? Kochen? Apfelkuchen backen? Nett sein? O Gott, was für eine traurige Bilanz.
»Bist du langsam mal so weit?« Jochens Stimme klang ungeduldig. »Sonst schlaf ich nämlich ein.«
»Sofort«, rief Angie, »muss nur noch zu Ende flossen.«
Tja, das war sie, die eheliche Verbalerotik. Schatz, das Klopapier ist alle, holst du mir bitte mal eine neue Rolle? Kannst du mir mal diese lästigen Haare aus den Ohren zupfen? Heißer Sex braucht Abstand und Gefahr, sagte Nina immer, und am besten ist er nach einem richtig schönen Streit. Schwierig, wenn man einen Mann wie Jochen hatte, mit dem man sich einfach nicht streiten konnte. Mit dem man sich nach fast einem Vierteljahrhundert wie in einem warmen Schaumbad fühlte. Warm, aber nicht mehr heiß? Gemütlich, aber nicht mehr leidenschaftlich?
Nutzlos, darüber nachzudenken. Wie hieß der blöde alte Hippiespruch? Es passiert nichts Gutes, außer man tut es. Genau. Sex war im Grunde wie Joggen oder Klavierspielen: Wenn man sich erstmal aufraffte, dachte man: Mensch, das sollte ich viel öfter tun. Und je öfter man es tat, umso besser wurde man.
Zu allem entschlossen betrat sie das Schlafzimmer. Und blieb enttäuscht vor dem Ehebett stehen. Jochen hatte sein Gesicht im Kopfkissen vergraben, leises Schnarchen war zu hören, sanft und rücksichtsvoll, wie es seine Art war.
Angie nahm ihren Mann in Augenschein, und wie immer, wenn sie ihn ungestört betrachtete, kam es ihr wie ein kleines Wunder vor, dass ausgerechnet sie, Angela Winter, dreiundvierzig Jahre alt, mittelgroß, mitteldick, alles irgendwie mittel und durchschnittlich, sich so einen attraktiven Mann wie Jochen geschnappt hatte. Der sie zudem liebte und sie bisher nur ein einziges Mal betrogen hatte, obwohl er trotz seiner sechsundvierzig Jahre noch immer wie ein junger Gott aussah – groß, breite Schultern, schmale Hüften, im Gesicht genau die Faltentiefe, die einen Mann seines Alters markant machte, in seinem dunkelbraunen, leicht lockigen Haar genau der Silberschimmer, der auf Frauen aller Altersklassen unwiderstehlich wirkte. Wir sind wie ein Entenpärchen, dachte sie manchmal – er der bunt schillernde Erpel und ich die graubraune Ente.
Sie küsste ihn zärtlich auf die Stirn, die im Gegensatz zu ihrer noch keine Botoxspritze nötig hatte. Manchmal beklagte sie die Tatsache, dass sie einen Mann liebte, der leider besser aussah als sie. Ob sie ihn einfach aufwecken und eine kurze Runde schläfrigen Sex mit ihm haben sollte? Um das Thema erst einmal wieder abhaken zu können? Sie schüttelte ihn leicht. Er grunzte. Es klang nicht besonders beischlafwillig.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie ihm ins Ohr, und mit einem Blick auf seine geschlossenen Augen stellte sie fest, dass er sogar schönere Wimpern hatte als sie. Es reicht, dachte Angie. Dann rutschte sie in Löffelchenposition und schlief sofort ein.
KAPITEL 2
Wieso hat ein Mann über fünfzig noch so dicke Pickel?, dachte Nina angewidert, als sich ihre Hände im oberen Rückenbereich des Patienten Peter Ladinsky zu schaffen machten. »Ganz locker machen, Ihre Schulterblätter sind hart wie Hasenköttel«, sagte sie sanft zu ihm und versuchte dabei, den roten Knubbeln auszuweichen, die ihm vom Hals an nach unten blühten. Ob er ahnte, wie unappetitlich er von hinten aussah?
»Sie sollten öfter kommen«, fügte sie, ganz Geschäftsfrau, hinzu, »Ihr Rücken fühlt sich nach drohendem Bandscheibenvorfall an, und das sollten wir vermeiden, oder?«
»Auf jeden Fall«, murmelte Ladinsky. »Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie ganz wunderbar starke Hände haben?«
Nina Simon seufzte. Ja, das wusste sie. Ihre Hände waren schon immer groß und breit und stark gewesen. Schon als kleines Mädchen wurde sie gerufen, wenn ihre Mutter ein Marmeladenglas nicht aufkriegte oder bei ihrem Vater irgendwo eine Schraube festklemmte. »Nina, mach mal, du bist doch so stark«, hatte es ständig bei ihr zu Hause geheißen. Und so war sie nach ein paar Jahren Auszeit nach dem Abitur, in denen sie sich vorwiegend durch den südostasiatischen Raum kiffte und der Völkerverständigung auf männlicher Seite widmete, auf einer Fachhochschule für Physiotherapie gelandet, Spezialgebiet Sportmedizin. Der Grund war einfach: Dort gab es jede Menge Männer!
Nina liebte sie, und zwar in jeder Form und Farbe. Und beruflich jeden Tag Hand an und auf sie legen zu können, fand sie einfach wunderbar. Meistens jedenfalls.
»Ich spüre hier am vierten Lendenwirbel eine gewisse Unbeweglichkeit«, sagte sie nun, wobei sie so manch einen Mitesser am liebsten eigenhändig ausgedrückt hätte. »Das lässt auf Bewegungsmangel schließen. Treiben Sie irgendeine Art von Sport?«
Ladinsky knurrte in das flache Kirschkernkissen, das unter seinem Gesicht lag.
»Eher weniger«, meinte er schließlich.
»Das sollten Sie dringend ändern.« Nina drückte, und Ladinsky seufzte wohlig. Da vibrierte ihr Handy in ihrer Handtasche, und es ertönte die Melodie von Coldplays »Viva la Vida« – ein Lied, das sie erst an diesem Morgen programmiert hatte, weil es ihr sofort gute Laune machte. Sie war ein glühender Fan von Chris Martin und hatte es ihm schwer verübelt, sich damals für die magersüchtige, langweilige Gwyneth Paltrow entschieden zu haben, seiner Musik blieb sie jedoch trotzdem treu.
»Moment«, sagte sie, »bin gleich wieder da.«
Natürlich war es einen Hauch unprofessionell, einen Patienten einfach während der Behandlung liegen zu lassen, aber sie hatte Angies Nummer auf dem Display gesehen, das ging vor. Außerdem wusste sie, was ihrer Freundin auf der Seele brannte: ihr vierundvierzigster Geburtstag. Eine Schnapszahl, die gefeiert werden musste. Seit Wochen redete Angie von nichts anderem. Zu jedem Schneckenschiss, wie Nina es insgeheim nannte, wollte sie ihre Meinung hören. Um dann doch zu tun, was sie selbst für richtig hielt.
»Hallo, mein Engel«, flüsterte sie in den Hörer, während sie aus den Augenwinkeln beobachtete, wie Ladinsky auf ihrer Liege langsam eindöste. »Mach’s kurz, ich bin im Dienst.«
Sie lauschte. »Okay, also kein italienisches Büfett, doch lieber syrisch, find ich auch gut. Mach doch einfach, wonach dir ist. Um eins beim Italiener? Ciao, bella.«
Nina legte auf, trat an die Liege und sah auf ihren Patienten herab. Und für einen Moment setzte sie sich über jegliche sachliche Distanz hinweg, die ihr Job sonst mit sich brachte, klemmte die gröbste Hautunreinheit zwischen ihre beiden gut trainierten Zeigefinger und drückte mit aller Kraft zu.
»Autsch«, schrie Ladinsky und sprang auf. »Was war das denn?«
»Ein eingeklemmter Muskel«, meinte Nina und lächelte ihn entschuldigend an. »Ich sag ja, Bewegung, Bewegung, Bewegung.«
 
»Gott, diese Mimosen«, schimpfte sie zwei Stunden später, als sie mit Angie bei ihrem Lieblingsitaliener La Piccola Grotta die übliche Riesenportion Spaghetti Aglio Olio vertilgte. »Sport meiden wie die Pest und sich dann wundern, wenn Sehnen und Muskeln verkümmern. Weicheier!«
Angie, die diese Art von Gesprächsthemen beim Mittagessen gewohnt war, hielt inne und legte die Gabel nieder.
»Du bist hoffentlich nicht wieder auf Diät«, sagte Nina sofort. »Ich hasse es, wenn du nichts isst. Richtige Frauen haben keine Gewichtsprobleme!«
»Das sagst du nur, weil du es besser findest, wenn ich dicker bin als du. Und du willst meine beste Freundin sein.« Angie lachte und griff zum Brotkorb. »Luigi, bitte noch ein bisschen Parmigiano«, bat sie den attraktiven Neuimport aus Urbino, »und eine Flasche Wasser …«
»Vergiss das Wasser, bring uns lieber einen Liter Hauswein«, fiel Nina ihr ins Wort. »Du bist übrigens ein richtig Hübscher, Luigi, weißt du das? Molto bello«, setzte sie hinzu, als sie sein verständnisloses Gesicht sah. Prompt errötete der Kellner leicht.
»Manchmal kannst du ganz schön peinlich sein«, meinte Angie. »Musst du denn die Männer immer so verschrecken?«
»Männer mögen das«, erwiderte Nina ungerührt, »außerdem kann ich deine Diskussionen um Büfettgeschirrfarben und Partygästelisten nur im Halbrausch ertragen.«
»Ach, Nina, ein Leben ohne dich und deine blöden Sprüche wäre einfach grauenvoll.«
»Seh ich ganz genauso«, sagte Nina gerührt. »Wenn ich lesbisch wäre, würde ich dich heiraten.« Spontan beugte sie sich zu Angie herüber und küsste sie auf den Mund.
»Guten Appentitte«, meinte da Luigi und stellte mit abgewandtem Gesicht den Wein auf den Tisch.
»Was hat er da gesagt?«, prustete Nina.
Angie lächelte etwas gequält, weil sie den sich noch immer hartnäckig haltenden pubertären Humor ihrer besten Freundin nicht immer nachempfinden konnte.
»Alles in Ordnung, Luigi«, beruhigte sie ihn. »Es hat nichts mit dir zu tun. Sie ist immer so.«
So war es halt. Ein öffentlicher Auftritt mit Frau Nina Simon ging selten ohne kleine Peinlichkeiten über die Bühne. Aber das machte die Freundschaft mit ihr ja auch so spannend. Eine Meinung übrigens, die Jochen nicht teilte, er nannte sie, hinter ihrem Rücken natürlich, »Kastraten-Nina« und fand ihr Interesse an allem, was Haare auf Brust und Rücken hatte, anstrengend und ungesund.
»Was schenkt dein Mann dir denn?«, fragte sie jetzt, als »Viva la Vida« aus ihrer Handtasche erklang. »Wieder ein Geschmeide, das seine Sekretärin ausgesucht hat?«
Ohne Angies Antwort abzuwarten, griff sie zu ihrem Handy. »Ja, hallöchen?« Wenn Nina mit ihren Liebhabern sprach, veränderte sich ihre Stimme schlagartig, verwandelte sich in Sekundenschnelle in ein leises, raues Katzenschnurren. »Na, ausgeschlafen? Ich sitze gerade mit meiner Freundin beim Italiener. Sie ist total beeindruckt von deinen Fähigkeiten. Natürlich habe ich ihr alles erzählt. Entspann dich, soo schlecht warst du doch gar nicht. Heute Abend? Mal sehen, ob ich dann Lust habe. Ich melde mich.«
Sie legte auf und sah Angies Kopfschütteln. »So redet man mit den Kerlen«, sagte sie fröhlich. »Solltest du auch mal probieren. Du neigst zu ungesunder Harmoniebedürftigkeit, das wissen Männer nie zu schätzen, glaub mir.«
»Ach, Nina«, meinte Angie, »du kennst ja nur die Kurzstrecke. Von der Langstrecke hast du wirklich keine Ahnung.«
»Stimmt«, sagte Nina und hob ihr Glas, »und das ist auch gut so. Prost!«
War nicht sein Tag heute. Schon den ganzen Vormittag über spürte Jochen diese leichte Gereiztheit, die sich seit dem Aufwachen in ihm festgefressen hatte. Dabei war gar nichts Stressiges passiert. Kam jetzt doch die Midlife-Crisis, die er bisher für ein albernes Gerücht gehalten hatte? Ein von Psychologen und Medizinern ausgedachtes Hirngespinst, um panische Patienten zu Anti-Aging-Therapien und teuren Pillen zu überreden? Wer richtig lebt, hat keine Krisen, das war bisher sein Motto gewesen. Und er hatte ja nun wirklich keinen Grund, sich zu beklagen. Seine Ehe stimmte, sein sechzehnjähriger Sohn Julius nervte altersentsprechend, also vorübergehend, in seiner Firma gab es Probleme, okay, aber wo gab es die nicht in der heutigen unsicheren Zeit?
So, jetzt ist Schluss mit der Nabelschau, Jochen Winter, sagte er sich. Wahrscheinlich war einfach nur das Wetter schuld, der graue Regenhimmel mit seinen knietiefen Wolken, viel zu kalt für die Jahreszeit. Oder war es doch die winzigkleine, kahle Stelle, die er heute Morgen beim Haareföhnen im Spiegel entdeckt hatte? Oder nur die Fünf in Mathe, die ihm Julius beim Frühstück wortlos zum Unterschreiben hingelegt hatte? Dass ihn Angie nach seinem völlig berechtigten Zornesausbruch mit den Worten: »Du bist schließlich auch zweimal sitzengeblieben« beruhigen wollte, hatte die Sache auch nicht besser gemacht. Im Gegenteil, vor Wut hatte er sich später beim Rasieren geschnitten.
Angie hatte auf Anhieb kein Pflaster gefunden, was er ihr persönlich übelgenommen hatte. »Chaotischer Haushalt«, hatte er sich beschwert. Und obwohl Angie daraufhin laut gelacht und ihn zum Abschied zärtlich geküsst hatte, gelang es ihm nicht, seine miese Laune abzulegen. Und jetzt das …
 
»Kannst du mir bitte mal erklären, wieso wir für unsere Reinigungskräfte fünfzehn Prozent mehr bezahlen als noch vor zwei Jahren?« Jochens gereizte Stimme war so laut, dass Jan, der im Nebenzimmer saß, seinen MP3-Player etwas lauter stellen musste. Er war letzte Nacht mit seiner Exfreundin Kathy versackt, einer sowohl sexuell als auch alkoholisch äußerst widerstandsfähigen Dame. Sein Kater hatte Raubtierdimensionen und er deshalb überhaupt keinen Nerv, als Punching Ball für die schlechte Stimmung seines Bruders herzuhalten. Wusste er doch aus Erfahrung, dass dieses Tief zwar selten kam, aber wenn, dann heftig. Und in letzter Zeit häufiger als sonst. Die steigenden Putzkosten konnten es nicht sein, es gab wichtigere Probleme. Die sehr kostspielige Sanierung ihrer Firma Lukullus zum Beispiel, einer Kette von kleinen, aber feinen Familienrestaurants, die sie von ihrem Vater August geerbt hatten und zusammen führten.
Der Umsatz war in den letzten Jahren zurückgegangen, also hatte Jochen nach einem Gespräch mit einem Unternehmensberater vorgeschlagen, sie teilweise in ein »Unternehmen für Gemeinschaftsverpflegung« umzuwandeln. Damit waren schlichtweg Seniorenheime und Kinderhorte gemeint. »Brei statt Gourmet, ohne uns!«, hatten sich August und sein Jüngster zuerst gewehrt, aber Jochen hatte sich durchgesetzt, und das Konzept war aufgegangen. Während der Umbau der Restaurants in Billigbistros teuer gewesen war und noch nicht den nötigen Erfolg zeigte, lief das Geschäft mit der Gemeinschaftsverpflegung, für die sie auf dem Firmengrundstück eine große Profiküche eingerichtet hatten, immer besser.
»Es schmeckt ja wieder richtig nach was«, lobten die Heimbewohner das neue Essen, was an Jochen lag, der als gelernter Koch von Anfang an auf Qualität und Optik der Menüs geachtet hatte. Seine Devise »Nur weil jemand nicht mehr gut sehen, riechen oder schmecken kann, bedeutet das nicht, dass wir ihm geschmacksneutrale Pampe servieren« hatte sich bewährt. Inzwischen belieferten sie insgesamt zwanzig Seniorenheime und zwölf Kinderhorte. Das Arbeitsleben war anstrengend, aber nach dunklen Monaten mit roten Zahlen schienen die Tage allmählich heller und die Zahlen schwärzer zu werden.
 
Durch die geöffnete Schiebetür, die ihre Büros voneinander trennte, riskierte Jan einen Blick auf seinen vier Jahre älteren Bruder. Er entdeckte eine zusammengeknüllte Zigarettenschachtel auf seinem Schreibtisch, vielleicht war das der Grund für seine Missstimmung. Der Frust, einer Versuchung nicht nachgeben zu dürfen. Oder gab es eine andere Laus, die ihm über die Leber gelaufen war? Eheprobleme? Vor Jans innerem Auge tauchte Angie auf, und er musste lächeln. Undenkbar, mit dieser Frau Probleme zu haben. Sie war die perfekte Gattin: attraktiv, fröhlich, absolut loyal. Und eine fantastische Köchin. Sie war wie sechs Richtige. Jedenfalls sah er das so. Und einen ganz kurzen Moment vor vielen Jahren hatte er gehofft, er könnte auch für sie die richtige Partie sein. Aber dann hatte sie sich für Jochen entschieden.
Jan griff zur Zigarette; im Gegensatz zu seinem disziplinierten Bruder gönnte er sich das eine oder andere Laster. Er inhalierte tief und beschloss, diesen Gedanken jetzt nicht weiter nachzugehen. Weil es ihm danach selten besser ging.
»Guck dir das mal an.« Jochen war an seinen Schreibtisch getreten und reichte ihm einen Computerausdruck. »Vor zwei Jahren haben wir für jeden Laden drei Stunden täglich veranschlagt, das sind bei fünfzehn Läden fünfundvierzig Stunden à fünf Euro, macht pro Tag zweihundertfünfundzwanzig Euro. Eine Stange Geld also. Jetzt bezahlen wir dreihundert Euro. Ich will eine Erklärung dafür. Und würdest du bitte die Zigarette ausdrücken? Ich will nicht wieder rückfällig werden, verdammt.«
Jan hasste es, wenn Jochen in diesem Ton mit ihm sprach. Alte Kindheitsbilder tauchten dann unwillkürlich vor ihm auf – beide in der Badewanne, um Wasser zu sparen, aber er immer auf dem harten Stöpsel, weil er der Kleinere war und sich nicht durchsetzen konnte. Er in winterlicher Eiseskälte beim Zeitungaustragen, ein Job, den sie sich eigentlich teilen sollten, aber weil er beim Mau-Mau-Spielen dreimal hintereinander verloren hatte, musste er allein losziehen. Er auf Partys immer als Tröster der Mädchen, die Jochen nicht wollte. Immer wieder hatte Jan den Kürzeren gezogen, immer hatte Jochen Recht. Manchmal war das einfach nicht auszuhalten.
»Dann rauch doch wieder, alter Stinkstiefel«, sagte Jan jetzt. »Vielleicht bist du dann ein bisschen genießbarer.« Doch nachdem ihn Jochen weiterhin streng anschaute, drückte er resigniert seine Zigarette in den Aschenbecher. »Du wirst immer heiliger. Macht dich übrigens nicht sympathischer, Alter. Und ich kann dir genau erklären, warum die Kosten gestiegen sind. Weil ich den Putzdienst gewechselt habe. Der alte war so schlampig, dass sich das Ordnungsamt beschwert hat. Unser Betrieb muss so sauber sein, dass man vom Boden in den Toilettenräumen essen kann, das weißt du doch. Und der neue Service ist zwar teurer, aber er wischt alles lupenrein sauber.«
»Okay«, räumte Jochen ein und sah seinen Bruder plötzlich grinsend an. »Einmal Armdrücken, Alter? Bin gerade in der Stimmung, dich vom Tisch zu fetzen.«
»Na, dann mal zu«, sagte Jan kampfeslustig und krempelte den Ärmel hoch. »Und dann erzählst du mir, warum du heute Morgen so ein Arsch bist.«
 
August Winter lächelte. Von seinem Fenster im Geschäftshaus aus hatte er guten Einblick in die Büros seiner Söhne, und so sah er ihrem burschikosen Armgerangel amüsiert zu, während er sich den ersten Verdauungsschnaps des Tages genehmigte. Weitere würden im Laufe dessen folgen, aber nie so viele, dass es Familie oder Kundschaft unangenehm auffiel. Er trank nur so viel, bis er diesen Klumpen Trauer, den er seit dem Tod seiner geliebten Ehefrau Gertrud einfach nicht wieder loswurde, besser ertragen konnte. August Winter war kein Mann, der andere mit seinen Gefühlen belästigte.
Die Lukullus-Betriebe lagen in einem großen Industriegebiet im Norden der Stadt. Es war keine schöne Gegend, wenig Grün, viel Verkehr, aber sie lagen verkehrsgünstig, und die Grundstückspreise waren niedrig.
Es war besonders dem Senior nicht leichtgefallen, mit anzusehen, wie der Großteil seiner gemütlichen Lokale für viel zu viel Geld, wie er fand, in kalte, schnelllebige Bistros umgerüstet wurde. Sein Herz hing an den braun getäfelten, leicht verräucherten Familienrestaurants, deren erste Gründung vor dreißig Jahren ein kleines Lokal mitten im Stadtpark gewesen war. Seine Frau Trudi und er hatten aus dem ehemaligen Toilettenhäuschen mit Kloakengestank eine Goldgrube gemacht, in der die zwölf Tische immer besetzt waren und es bereits frühmorgens eine Warteschlange gegeben hatte, die geduldig auf Trudis selbst gemachte Frikadellen mit Kartoffelsalat gewartet hatte. Da August und Trudi sehr fleißig und sparsam gewesen waren, konnten sie bereits nach drei Jahren ein zweites Lokal am Hauptbahnhof pachten, das sie ebenfalls nach Lucius Licinius Lucullus benannten, dem berühmten römischen Feldherrn, der üppige Gastmahle schätzte. Trudi liebte diesen Namen mit seinen drei Us und drei Ls und beharrte darauf, auch wenn August sie immer wieder daran erinnerte, dass ihr geliebter Lukullus unter anderem dafür berühmt gewesen war, sich nach dem Essen bis zum Erbrechen einen Federkiel in den Hals zu stecken. »Quatsch mit Soße, August«, war Trudis Reaktion gewesen, »der Name bleibt, auch wenn wir mal die Radieschen von unten betrachten. Versprich mir das.«
Da August seine Trudi sehr geliebt hatte und nach ihrem frühen Tod vor zwölf Jahren untröstlich gewesen war, hatte August auf Beibehaltung des Firmennamens bestanden, obwohl auch seine Söhne ihn altmodisch und prätentiös fanden. Und August, ein rüstiger Mann von einundsiebzig Jahren, hatte noch immer ein kleines Arbeitszimmer, wo er von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends saß und »nach dem Rechten und manchmal nach dem Linken« sah, wie er es nannte. Seine Söhne nannten es eher »Papas Kontrollierwahn« und rollten die Augen, wenn er sich jede Unterschriftenmappe vorlegen und jeden Brief ausdrucken ließ und seine Söhne ohne Berücksichtigung ihres Alters auf vermeintliche Fehler aufmerksam machte.
»Es gibt kein Un bei Kosten, wie oft habe ich das schon moniert«, hatte er sich gerade mal wieder bei der langjährigen Sekretärin Johanna Schwingel beschwert; sie hatte in einem Brief von »anfallenden Unkosten« geschrieben. Doch die war Kummer gewohnt und hatte einfach nur leise geseufzt.
»Zu Hause sterbe ich«, hatte er seine Söhne vor ein paar Jahren gewarnt, als diese ihm nahelegten, sich doch endlich seinen wohlverdienten Ruhestand zu gönnen. »Wenn ich euch lästig bin, dann sagt es gleich, dann geh ich aufs Eis wie die alten Eskimos und komm nicht wieder.«
Ihn darauf hinzuweisen, dass es in Deutschland selten tragfähiges Eis gab, auf dem ein alter Mann in Ruhe sterben konnte, war zwecklos, deshalb behielt August Winter Narrenfreiheit.
 
Die neue Großküche hatte sich in dieser Frage als Segen erwiesen, denn seit es sie gab, hielt der Seniorchef sich am liebsten dort auf. Er stand dem Personal mit freundlichem Gesicht im Weg und probierte eifrig neue Gerichte. Was die Chefköchin Agnes mit ihrem unaussprechlichen, konsonantengespickten polnischen Nachnamen geduldig ertrug, zumal er ihr nach einem kleinen Klaps auf den Po zuverlässig ein Scheinchen in die Kitteltasche steckte.
»Aber nicht vernaschen, meine Kleine«, sagte er dann, worüber Agnes herzhaft lachen musste, weil sie mit einer Größe von 1,75 Meter und fast zwei Zentnern Lebendgewicht alles andere als klein war. Aber sie mochte »Oppa August«, wie sie den alten Herrn nannte, deshalb erwiderte sie mit einem Augenzwinkern: »Wird mir zwar schwerfallen, aber ich versuch’s« und ließ ihn von ihrer neuesten Kuchenkreation probieren.
Doch heute hatte August Winter andere Probleme, genauer gesagt, ein einziges, dafür allerdings ziemlich großes. Dr. Charlotte Pipp vom Ordnungsamt hatte ihren Besuch angekündigt, und da sie sowohl streng als auch äußerst gründlich war, musste er seinen bewährten Charme spielen lassen. Jochen, der diese Aufgabe sonst übernahm, weil die sechsundfünfzigjährige Frau Dr. Pipp einmal sehr deutlich gemacht hatte, dass sie ihre Kontrollen am liebsten mit ihm an ihrer Seite durchführte, hatte seinen Vater gleich frühmorgens informiert.
»Die Pipp kommt gleich, und sie freut sich auf dich. Keine Widerrede, Väterchen, ich fühle mich heute einfach nicht imstande, sie zu umgarnen. Du bist Witwer, du kannst das.«
August wollte protestieren, doch da hatte sein Ältester schon aufgelegt. Na, das kann ja heiter werden, dachte er, aber insgeheim war er froh darüber, gebraucht zu werden. Als es kurz darauf laut und energisch an seiner Tür klopfte, setzte er sein entspanntes Seniorenlächeln auf. Dr. Pipp trat ein, und hätte in diesem Moment jemand durchs Fenster geschaut, er hätte die beiden für ein Liebespaar gehalten. Denn August umarmte gern, auch wenn es nicht immer passend war. Und die Dame vom Ordnungsamt akzeptierte gelegentlich auch einmal eine Geste, die nicht der gängigen Etikette entsprach. Zum Beispiel den Kuss, den ihr August zur Begrüßung auf die Wange drückte. Fast hätte sie ihn erwidert. Aber nur fast. Dann schob sie August weg.
»Wir haben zu tun, Herr Winter, sehr viel zu tun«, sagte sie und lächelte dabei voller Vorfreude.
KAPITEL 3
»Long time no see, meine Liebe! Na, da sehe ich ja jede Menge Hüftgold.«
Angie zuckte zusammen, als die für einen Mann etwas zu hohe Stimme hinter dem Tresen des Fitnesscenters Fit for Life an ihr Ohr drang.
»Hallo, Jojo«, sagte sie und fühlte sich beim Anblick seines fadendünnen, bis auf die letzte Muskelfaser durchtrainierten Bodys sofort noch schuldbeladener. »Nicht schimpfen, ich weiß, dass ich ein böses Mädchen war. Aber es war einfach zu viel los zu Hause. Und jetzt bin ich ja da.«
Der Fitnessguru schnaubte verächtlich. »Ihr Hausfrauen seid wie die Rentner. Nichts zu tun, aber nie Zeit. Erzähl mir nicht, dass dir die eine Stunde am Tag fehlt, um deinen Frauenkörper auf optischem Mindestniveau zu halten. Vergiss nicht, du hast einen attraktiven Kerl zu Hause, und die Konkurrenz schläft nicht.«
»Halt die Klappe, Jojo, und behandle deine Kunden mit Respekt.« Es gelang Angie vorbildlich, ein gelassenes Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern, doch innerlich kochte und brodelte sie. Langsam reichte es ihr, ständig darauf hingewiesen zu werden, dass ihr Mann der Pfau und sie die Kröte war.
Okay, der Zahn der Zeit war in den letzten Jahren unerlaubt aktiv gewesen und hatte ein paar Spuren hinterlassen: Ein kleiner, hartnäckiger Fettring hatte sich um ihre Taille festgesetzt, und vermutlich verflüchtigte er sich nur wieder, wenn sie drei Jahre nichts als stilles Wasser trank und an einer Sojasprosse lutschte. Da gab es jetzt auch ein hauchzartes Faltenkränzchen um die Augen, das man jedoch nur sah, wenn das Licht unbarmherzig von oben kam, und ein paar graue Schamhaare, die sie natürlich sofort ausgezupft hatte. Autsch! Das war’s auch schon. Damit konnte man leben als fast vierundvierzigjährige Ehefrau und Mutter, die Wichtigeres auf dem Zettel hatte, als ständig panisch um ihr Aussehen zu kreisen.
»Ich will meine Mitgliedschaft wieder aufleben lassen«, sagte Angie entschieden zu Jojo. »Habt ihr euch endlich neue Geräte angeschafft? Die alten waren ja noch rostiger als ich.«
»Alles neu macht der Mai«, sagte Jojo, »du hast also keine Ausrede mehr. Ich kann dich gleich mit Marianne zusammen einweisen, wenn du magst, die fängt heute neu an.«
Angie nickte und ging mit Jojo in den großen Fitnessraum. Um diese Tageszeit, am hellen Vormittag, trainierten außer ihr tatsächlich nur Rentner, was sie sehr angenehm fand, denn sich nach Büroschluss mit lauter hippen, jungen, anorektischen Mädels zu drängeln oder sich von smarten Erfolgsmännern einen vorschnaufen zu lassen, fand sie noch demoralisierender, als allein vor sich hin zu schwitzen.
»Du hast schon angefangen – braves Mädchen«, rief Jojo durch den Raum einer Frau zu, die Angie auf Anhieb sympathisch fand. Aus drei Gründen: Sie war deutlich über vierzig, wog sichtlich über siebzig Kilogramm, hatte ein knallrotes Gesicht und hechelte angestrengt. Nichts verbindet ja intensiver als gemeinsame Pein, dachte Angie, und ihre Laune hob sich schlagartig.
»Darf ich die Damen einander vorstellen?«, sagte Jojo. »Das ist Marianne, die bis heute noch nie einen Fitnessclub von innen gesehen hat, und das ist Angie, die geglaubt hat, dass sich, wenn man genügend lange wegschaut, das Hüftgold von selbst wieder auflöst.« Angie und Marianne nickten sich freundlich und verständnisvoll zu.
»So, und jetzt machen wir einen Rundgang, und ich zeige euch die neuen Geräte. Danach lass ich euch in eurem Elend allein, aber vor einer Stunde will ich keine von euch beiden an der Bar sehen.«
»Ist dieser Fitnessnazi immer so?«, flüsterte Marianne ihr zu.
Angie nickte. »Im Grunde hasse ich jede Art von Sport«, flüsterte sie zurück, »aber das darf man ja heutzutage gar nicht mehr laut sagen.«
Marianne nickte mitfühlend.
 
»Du kennst meine Freundin Nina?«, rief Angie zwei Stunden später an der Saftbar. Sie fühlte sich schlapp, gut durchblutet, einfach wunderbar.
»Wir haben uns vor zwei Jahren mal einen Mann geteilt«, sagte Marianne und lachte. »Doch das haben wir erst nach ein paar Monaten durch Zufall herausgefunden. Seitdem sind wir locker miteinander befreundet. Den Kerl haben wir natürlich gemeinsam in die Wüste geschickt. Inzwischen bin ich mehr oder weniger Single.«
»Happy oder auf der Suche?«, fragte Angie, die sich nicht vorstellen konnte, allein zu leben. Es war nicht der Sex, der aus ihr eine zufriedene Ehefrau machte, es war der ganze Rest. Jochens verschlafenes Gesicht auf dem Kopfkissen, wenn sie morgens aufwachte, sein Singen unter der Dusche, immer einen halben Ton daneben, seine schlechten Witze, über die er selbst am lautesten lachte, seine Geduld, wenn er im Auto wieder einmal auf sie warten musste, weil sie daheim etwas vergessen hatte, seine stets warmen Füße.
Ich würde eingehen wie eine Primel, wenn ich ihn nicht hätte, dachte sie plötzlich.
»Meistens happy«, sagte Marianne. »Ich bin eigentlich ganz gern allein. Deshalb warte ich auch nur darauf, dass meine Tochter endlich auszieht. In der Kathedrale meines Herzens brennt ein warmes Licht für sie, aber sie treibt mich im Moment zuverlässig in den Wahnsinn.«
»Mein Sohn ist sechzehn, und mir graut jetzt schon vor dem Tag, an dem er mal auszieht«, meinte Angie wehmütig. »Ich bin und bleibe leider das totale Familientier. Ohne meine Lieben wäre ich wie ein angepiekster Ballon. Mir würde schlichtweg die Luft ausgehen.«
Marianne sah sie verwundert an. »Das ist doch bitte nicht dein Ernst, Angie! Guck dich doch mal an. Du bist jung, gesund, intelligent, siehst gut aus, die Welt steht dir offen! Weißt du das nicht?«
Angie lächelte versonnen. Dann sah sie auf die Uhr, sprang auf und sagte: »Ich muss los. Soll ich dich irgendwo absetzen?«
 
Eine Viertelstunde später hielt Angie vor einem Mietshaus aus den siebziger Jahren, so hässlich, dass man eigentlich den Architekten dieses Schandflecks an die Wand nageln sollte. Meinte jedenfalls Marianne, als sie Angies Blick sah.
»Willst du doch noch auf einen Sprung mit hochkommen?«, fragte sie. »Dann kannst du meine Tochter kennenlernen – falls sie schon aufgestanden ist.«
Angie schüttelte bedauernd den Kopf. »Julius kommt gleich aus der Schule, dann will er sein Mittagessen.«
Wirklich eine sehr nette Frau, aber emanzipatorisch voll hinterm Mond, dachte Marianne, als sie mit einem Seufzer der Vorahnung ihre Wohnungstür aufschloss. Es war genau so, wie sie befürchtet hatte.
»Wie spät ist es eigentlich?«, murmelte Gesa, und ihre Augen öffneten sich einen Spaltbreit. Dann wühlte sie sich mit einem wohligen Grunzen in die Kissen zurück. Sie sah aus wie ein unschuldiger Engel, ein Anblick, der ihre Mutter inzwischen zur Weißglut brachte. Da lag sie, ihre einundzwanzigjährige Tochter, um halb vier nachmittags und war dabei, gerade wieder einzuschlafen. Marianne fand, dass sie ein Recht auf mittelschwere Gereiztheit hatte. Das Leben fasste einen leider nicht immer mit Samthandschuhen an, sie war das beste Beispiel dafür. Dank eines Exmannes namens Laurenz, der nach der Geburt ihres gemeinsamen Kindes ins Ausland geflohen war und sie mit einem Schuldenberg und einem schreienden Baby zurückgelassen hatte.
Leider war dieses Kind bis heute nicht einen Hauch reifer und vernünftiger geworden. Es war nach zwei gescheiterten Anläufen durchs Abitur gefallen und hatte nach ein paar halbherzigen Praktika und Aushilfsjobs im Grunde seit Jahren die Nacht zum Tage gemacht. Wie Marianne es hasste, dieses sogenannte Vorglühen, bei dem Gesa und ihre Freundinnen ihren persönlichen Prosecco-Vorrat vernichteten, um dann gegen Mitternacht kichernd das Haus zu verlassen, während sie sich nach einem langen, anstrengenden Tag als Verkäuferin in einer ganzjährig geöffneten Eisdiele bettfertig machte. Sie lebte in einer Zwangs-WG, in der sie alle Pflichten und ihre Tochter alle Rechte hatte.
»Aufstehen«, rief sie jetzt etwas schrill, griff nach Gesas Bettdecke und riss diese schwungvoll zu Boden. »Ich erwarte dich in fünf Minuten in der Küche, und dann wird Tacheles geredet. So jedenfalls geht es nicht weiter. Nicht eine SEKUNDE!«
»Wassnlosmami?« Erschrocken von dem ungewohnten Tonfall ihrer Mutter hatte Gesa sich im Bett aufgesetzt. »Wasschreissndusorum?«
Marianne sah ihrer Tochter ins Gesicht und wusste nicht, ob sie Mitleid haben oder einfach Hand anlegen sollte. Wie gern hätte sie dem Mann, der genetisch mitverantwortlich für dieses Wesen war, einfach gesagt: »Jetzt kümmerst du dich mal um sie.« Und dann alle Telefone ausgestöpselt, um eine Weile nicht erreichbar zu sein.
Wieso war ausgerechnet sie, die immer Vernünftige und Pflichtbewusste, mit so einer verantwortungslosen Tochter gestraft worden? Alles hatte sie versucht, um sie auf die richtige Schiene zu bringen. Alles umsonst. Hatte sie in ihrer Erziehung so versagt? Die verpatzten Abidurchläufe hatten Gesa »so schlecht draufgebracht«, dass sie erst einmal ausführlich »chillen« musste, und zwar in einer Art Späthippiekommune auf Ibiza, von wo aus Marianne fast täglich mitternächtliche Panikanrufe erreicht hatten: Hab einen Unfall gebaut, war aber nicht schuld, Mami! Mir ist die Kreditkarte geklaut worden! Bin vielleicht schwanger! Entwarnung, bin es doch nicht! Aber ich bin total verliebt, Mami! Das Arschloch ist verheiratet! Sag mal, ich hab da so einen Knoten im Arm, könnte das Knochenkrebs sein?
Nachdem Gesa diese Hiobsbotschaften losgeworden war, hatte sie sich fröhlich verabschiedet und den Hörer aufgelegt. Und ihre Mutter in einem Zustand von innerer Aufregung zurückgelassen, der sich langsam zu einer ausgewachsenen Verärgerung steigerte, so als hätte sich eine Zecke an ihrem Hals festgesogen, die nicht mehr von ihr ablassen wollte. Nach sechs Monaten stand Gesa strahlend wieder vor der Tür.
»Und jetzt?«, hatte Marianne mutlos gefragt. »Irgendwelche konkreten Pläne?«
»Nicht so direkt«, hatte Gesa erwidert. »Aber es wird sich schon was ergeben.«
Es ergab sich gar nichts. Kein Ausbildungsplatz, keine Jobs, keine Praktika. Gesa recherchierte hin und wieder im Internet, wenn sie gerade nicht chattete, manchmal bekam sie sogar einen Vorstellungstermin, den sie entweder verschlief oder sie erschien in einem so knappen Mini und mit so einem gewagten Dekolleté, dass sie gleich wieder nach Hause geschickt wurde.
»Wird schon, Mami«, so lautete Gesas Mantra. »Mach dich nicht verrückt, sonst kriegst du frühe Falten.«
Worunter Marianne am meisten litt, war die Tatsache, dass ihre Tochter sich überhaupt nicht unwohl zu fühlen schien. Ganz im Gegenteil, sie genoss das Leben, verliebte sich, entliebte sich, war von einer Entspanntheit im Hier und Jetzt, um die ihre Mutter sie fast schon wieder beneidete. Soll ich sie einfach vor die Tür setzen, fragte sie sich manchmal, das Schloss auswechseln und dann für ein halbes Jahr in Timbuktu untertauchen? Ein verführerischer Gedanke.
 
Niedergeschlagen und genervt werkelte Marianne in der Küche, als das Telefon klingelte. Da es Nachmittag war, konnte es nicht für ihre Tochter sein, denn deren Anrufe fingen erst abends an, um sie, die Mutter mit dem uncoolen Leben, unbeschwert bis weit in die Nacht hinein zu stören. Sie hatte im Moment keinen Gesprächsbedarf und griff widerwillig zum Hörer. »Ja, bitte?«
»Ich bin’s mal wieder, tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Darf ich vorbeikommen?«, fragte Nina, die sich von der zweistündigen Massage eines Zweizentnermannes ein wenig erholen wollte.
»Dich schickt der Himmel!«, sagte Marianne und seufzte. »Gesa macht mich mal wieder wahnsinnig.« Sie spürte, wie sich bei der Aussicht auf Ninas Besuch der Druck, der auf ihrem Herzen lastete, bereits etwas lockerte.
»In zehn Minuten bin ich da. Und mach mir bitte deinen wunderbaren Milchkaffee, den brauche ich zur Beruhigung, sonst verkrafte ich deinen ungehobelten Sprössling nicht.«
Marianne lachte. »Mit Eierlikör?«, wollte sie wissen.
»Klar, mindestens eine halbe Flasche. Ciao, bella.«
»Mami, hast du Brötchen gekauft?«, rief Gesa kurz darauf aus dem Schlafzimmer. »Ich hab so lange gepennt, dass ich richtig Hunger habe.«
Marianne fühlte, wie ihr Knäuel Wut erneut hochstieg. Es war inzwischen so dick, dass sie richtig schlucken musste.
»Nina kommt gleich vorbei; es wäre nett, wenn du uns zur Abwechslung mal Gesellschaft leisten würdest«, rief sie.
»Supi«, kam die Antwort, »dann können wir ja alle zusammen frühstücken.«
Kopfschüttelnd schüttete Marianne das Espressopulver in die Maschine und holte Milch und Eierlikör aus dem Kühlschrank. Frühstücken am Nachmittag? Sie beschloss, sich diesmal wirklich bei ihrer Tochter durchzusetzen. Ein Job musste her, ein Praktikum, irgendeine Beschäftigung, bei der morgens der Wecker klingelte und sie aus dem Haus scheuchte und sie abends müde und zufrieden ins Bett fiel. Ein ganz normaler Alltag. Was für ein schöner Traum.
Gut, dass Nina gleich vorbeikam. Sie brauchte jetzt seelische Unterstützung. Zwischen Nina und ihr hatte sich eine Frauenfreundschaft entwickelt, die sich auf beiden Seiten leicht und angenehm anfühlte. Es gab keine Verbindlichkeit, manchmal sahen sie sich ein paar Wochen nicht, um dann, wenn sie sich wiedertrafen, bis in die Nacht bei der einen oder anderen Flasche Rotwein zu versacken. Und jetzt hatte sie zufällig ihre Freundin Angie kennengelernt; sie war gespannt, was Nina über sie erzählen würde.
 
Als Nina an der Tür klingelte, saß Gesa bereits am Küchentisch und ließ es sich schmecken. Ein kleiner Milchbart zierte ihren schön geschwungenen Mund, den die meisten Männer einfach göttlich nannten. Ihr Gesicht war ein perfektes Oval, in dem alle Proportionen stimmten. Die dichten rotbraunen Locken, die großen dunkelbraunen Augen – alles leider nicht von mir, hatte Marianne oft bedauert, alles von Karibik-Laurenz, der nichts mehr mit uns zu tun haben will. Sie selbst, ein wenig zu üppig, mit Haaren, die sie jeden Morgen mühsam auf Fülle föhnen musste, war eine Frau auf den dritten Blick, und den riskierten leider immer weniger Männer.
Der letzte Mann, ein arbeitsloser Grafiker, jünger und leider deutlich schlanker als sie, hatte sich nach drei sehr mittelmäßigen Nächten nie wieder bei ihr gemeldet. Als sie ihn später zufällig beim Bäcker getroffen hatte, hatte eine junge Frau neben ihm gestanden und er mit panisch flackernden Augen an Marianne vorbeigesehen. Der Bauch seiner Begleiterin war so dick gewesen, dass sie zum Zeitpunkt ihrer gemeinsam verbrachten Nächte bereits schwanger gewesen sein musste. Kurz hatte sie überlegt, ob sie den treulosen Knopf zur Rede stellen sollte. »Ein Baby?«, hätte sie sagen können. »Vielleicht schaffst du es ja, wenigstens bis zu seiner Geburt treu zu sein?« Es brannte ihr auf der Zunge, doch zum Glück hatte sie sich diese Worte verkniffen und ihm nur einen langen, eisigen Blick zugeworfen, den die glückliche werdende Mutter nicht gesehen hatte.
Sie hoffte inständig, ihre Tochter Gesa würde sich nie derartig in einem Mann täuschen. Nicht wie sie, nicht wie die junge Frau in der Bäckerei, nicht wie all diese Frauen, die zu sehr liebten und am Ende doch mit nichts als dem kleinen Zipfel Wurst in der Hand zurückblieben.
»Na, meine Schöne, heute schon einen Beitrag zum Allgemeinwohl geleistet?« Nina, wie immer in zu engen Jeans und einer Bluse, aus der herausquoll, was sie »Hans und Franz« nannte, beugte sich nun zu Gesa hinunter und küsste sie auf beide Wangen.
»Ich bin doch generell ein Beitrag zum Allgemeinwohl«, sagte Gesa grinsend, wobei sie ihre Küsschen erwiderte. »Außerdem hatte ich eine ziemlich lange Nacht und brauchte meinen Schönheitsschlaf.« Eine rosige Zunge umkreiste ihre vollen Lippen und leckte ein Restchen Nutella weg.
»Lange Nacht, weil toller Mann oder weil viel Alkohol im Spiel?«, fragte Nina, nahm Marianne die Tasse mit dem Milchkaffee aus der Hand und tauchte ihre Nase in den Schaum. Nach einem Tag voller verknoteter, verspannter Körperteile hatte sie sich dies wirklich verdient, fand sie.
»Ein paar Wodka-Feige und ein Mann zu viel«, gestand Gesa. »Ich glaub, ich mach mal’ne Männerpause.«
»Gute Idee«, meinte Marianne. »Dann räum doch zur Abwechslung mal dein Zimmer auf. Wäre klasse für mich, wenn der Teil der Wohnung, in dem du dich vorwiegend aufhältst, nicht mehr einer Müllhalde ähnelt.«
Sie sah den Blick, mit dem ihre Tochter sie nachsichtig musterte, und ärgerte sich darüber. Gesa machte sie zu einer Mutter, die sie absolut nicht sein wollte. Einer, die ständig meckerte und kritisierte und ihrer Tochter dann trotzdem hinterherräumte.
»Ach, Mami«, sagte sie, »irgendwann komm ich doch ganz groß raus. Entweder als Domina oder als Bundeskanzlerin. Oder ich such mir einen reichen Kerl, der mir fünf Kinder macht. Warum soll ich mir bis dahin graue Haare wachsen lassen?« Herzhaft biss sie in ihr Brötchen und lächelte den beiden Frauen zu. »Und dann lad ich euch beide auf die Malediven ein.«
Marianne und Nina wechselten einen Blick.
»Nach dir«, sagte Marianne zu ihrer Freundin.
»Das sind ja wunderbare Aussichten«, meinte Nina, »aber ein kluges Mädchen wie du sollte immer einen Plan B parat haben.«
Gesa schaute sie verständnislos an. Inzwischen war auch ihre Nasenspitze nutellaverschmiert. Ninas Blick wurde strenger, als sie beabsichtigt hatte, aber sie wusste – jetzt war Solidarität unter Frauen angesagt.