Das Haus in der Haynstraße - Zeiten der Veränderung - Evelyn Holst - E-Book

Das Haus in der Haynstraße - Zeiten der Veränderung E-Book

Evelyn Holst

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Beschreibung

Eine mitreißende Schicksalssaga für Fans von Wolf Sernos »Große Elbstraße 7« und Miriam Georg. Hamburg-Eppendorf, 1922: In der Haynstraße 7 zerreißt ein Schrei die Nacht. Ausgerechnet Hanna, die minderjährige Tochter des angesehenen Arztes Elkan Horwitz und seiner Frau Gitte erwartet ein Baby, von dem bisher niemand wusste … In dem altehrwürdigen Haus weckt der Schrei auch andere auf: So etwa Traudel Kappelmann, die sich bereits so lange ein Kind wünscht, doch eine immer größer werdende Distanz zu ihrem Mann verspürt, der in politischem Eifer entbrennt. Oder auch Angelica Nadelreich, die in ihrer ganz eigenen Ehehölle gefangen ist – doch mit einer Scheidung würde sie als Frau alles riskieren. Lily Bromberg allerdings bekommt von all dem nichts mit: Die reiche junge Witwe tanzt sich Nacht für Nacht durch die Stadt, offen für alle Farben des Lebens – bis sie sich in den falschen Mann verliebt … Der Beginn der großen deutschen Saga über ein Hamburger Stadthaus mit vielen Geschichten: In der alten Nähstube unterm Dach treffen sich die Frauen der Haynstraße 7 regelmäßig zum Kaffeeplausch – doch werden sie auch ihre Geheimnisse miteinander teilen?

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Seitenzahl: 417

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

Hamburg-Eppendorf, 1922: In der Haynstraße 7 zerreißt ein Schrei die Nacht. Ausgerechnet Hanna, die minderjährige Tochter des angesehenen Arztes Elkan Horwitz und seiner Frau Gitte erwartet ein Baby, von dem bisher niemand wusste … In dem altehrwürdigen Haus weckt der Schrei auch andere auf: So etwa Traudel Kappelmann, die sich bereits so lange ein Kind wünscht, doch eine immer größer werdende Distanz zu ihrem Mann verspürt, der in politischem Eifer entbrennt. Oder auch Angelica Nadelreich, die in ihrer ganz eigenen Ehehölle gefangen ist – doch mit einer Scheidung würde sie als Frau alles riskieren. Lily Bromberg allerdings bekommt von all dem nichts mit: Die reiche junge Witwe tanzt sich Nacht für Nacht durch die Stadt, offen für alle Farben des Lebens – bis sie sich in den falschen Mann verliebt …

Über die Autorin:

Evelyn Holst studierte Geschichte und Englisch auf Lehramt. Nach dem ersten Staatsexamen arbeitete sie dreizehn Jahre als Reporterin für den »Stern«, u. a. als Korrespondentin in New York. Für ihre Reportage »Es ist so still geworden bei uns« wurde sie mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Seitdem verfasste sie zahlreiche Romane, die auch verfilmt wurden, sowie Originaldrehbücher für Fernsehfilme. Evelyn Holst ist mit dem Filmemacher Raimund Kusserow verheiratet, mit dem sie gemeinsam zwei erwachsene Kinder hat.

Bei dotbooks erscheint Evelyn Holsts große Haynstraßen-Saga. Außerdem veröffentlichte sie ihre heiteren Romane »Ein Mann für gewisse Sekunden«, »Aus Versehen Liebe«, »Ein Mann aus Samt und Seide«, »Du sagst Chaos, ich sag Familie«, »Ein König für gewisse Stunden«, »Gibt’s den auch in liebenswert?«, »Der Mann auf der Bettkante« sowie ihre Hamburg-Krimireihe »Die Sünde – Alexa Martini ermittelt« »Der Verdacht – Alexa Martini ermittelt« »Das Verlangen – Alexa Martini ermittelt«.

Gemeinsam mit Uschi von Grudzinski veröffentlichte sie bei dotbooks den Roman »Das kleine Hotel unter Mandelblüten«.

Und zusammen mit ihrer Schwester Stephanie Olsen veröffentlichte Evelyn Holst bei dotbooks ihre Glückssucherinnen-Reihe mit den Romanen »Wenn das Leben anklopft« und »Morgen geht das Leben weiter«.

***

Originalausgabe Mai 2025

Copyright © der Originalausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Sarah Schroepf

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / shutterstock AI

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98952-782-9

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: http://www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Evelyn Holst

Das Haus in der Haynstraße – Zeiten der Veränderung

Roman

dotbooks.

Vorwort

Was ist los im Jahr 1922?

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Was ist los im Jahr 1927?

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Was ist los im Jahr 1929?

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Was ist los im Jahr 1933?

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Lesetipps

Widmung

Vielen Dank an meine Schwester Stephanie Olsen,

die mich mit ihrer hartnäckigen Recherche und Begeisterung unterstützt hat.

Vorwort

DAS JUDENHAUS

Dass ich in einem besonderen Haus mit einer besonderen Geschichte wohne, war mir gleich klar, als ich 1991 in die Haynstraße Nr. 7 in Eppendorf zog. In ein für diese Nachbarschaft typisches um 1900 gebautes Wohnhaus mit hohen Decken, Dienstbotentreppenhaus und dem Hamburger-Knochen-Layout – wer hier wohl alles gelebt hatte?

Kurz nach meinem Einzug fielen mir die kleinen Menschengruppen vor unserem Haus auf, sie standen einfach nur da und guckten hoch. Es waren vorwiegend alte Menschen, grauhaarig, leicht gebeugt. Sie sagten wenig, dann waren sie verschwunden. Ein paar Wochen später stand eine andere Gruppe da. Bewunderten sie die Architektur?

Ich ging auf die Straße und fragte sie.

»Wir haben hier gewohnt«, war ihre Antwort, »bis wir vertrieben wurden.«

»Hat denn jemand in der Haynstraße 7, 1. Stock rechts gewohnt?«, fragte ich.

Jemand hatte. Ein kleiner, sehr freundlicher Mann, der sich mit »William Katz, früher einfach Willy« vorstellte und der zehn Minuten später durch meine/seine alte Wohnung schritt. Schweigend, bedächtig ging er von Zimmer zu Zimmer.

»Erkennen Sie noch etwas wieder?«, fragte ich.

Das tat er. Nicht mehr viel, er hatte Hamburg bereits 1933 verlassen und lebte seitdem in Oxford. Aber er wusste noch genau, wo sein Kinderbett gestanden hatte, im Zimmer meines Sohnes, wo der gusseiserne Herd, rechts, nicht links an der Küchenwand wie jetzt, wo das Klavier, nämlich genau da, wo es jetzt steht, im Esszimmer, gleich rechts hinter der Tür. »Ich hab die Klavierstunden gehasst«, schmunzelte er, »obwohl ich ein guter Schüler war.« Sein Deutsch war etwas holprig, aber noch sehr gut zu verstehen, obwohl er nach seiner »Vertreibung« nur noch selten Deutsch gesprochen hat. Aber er freute sich sehr, als ich ihn lobte. »Ich bin ja im Grunde noch immer ein Hamburger Jung«, meinte er.

Kurz darauf, im Jahr 1995, kamen die Stolpersteine. Fünf Namen. Fünf Schicksale. Direkt vor meiner Haustür.

Gertrud Blut, Hannchen Fromme, Bianca Levy, Ilse und Manfred Victor. Alle in den KZs in Minsk und Riga umgekommen.

30 Jahre lang bin ich jeden Tag über diese Steine gegangen. Irgendwann erfuhr ich, dass mein Haus ein sogenanntes Judenhaus war. Natürlich haben die zwangseingewiesenen Juden nicht in komfortablen Wohnungen gelebt, sondern mit vielen Familien auf engem Raum zusammengepfercht. Sechs bis acht Quadratmeter standen ihnen anfangs zu, es wurden immer weniger. Dann wurden sie deportiert.

Deswegen habe ich mich entschlossen, einen Roman zu schreiben, der DAS HAUS IN DER HAYNSTRASSE heißen soll und in dem es um eine fiktive Hausgemeinschaft in der Haynstraße 7 geht. Ganz normale Menschen in einer außergewöhnlichen Zeit. In der Zivilcourage, Solidarität und Mut einem alles nehmen, ein falsches Wort den Tod bedeuten konnte. Und in der die meisten einfach nur leben wollten.

Und deshalb widme ich dieses BuchGertrud, Hannchen, Bianca, Ilse und Manfred.

Georg Büchner

Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einen, wenn man hinabsieht.

Was ist los im Jahr 1922?

Der Bau des Flughafen Tempelhof beginnt. Reichskanzler Friedrich Ebert erlaubt einem Schauspieler im Berliner Kabarett, in Reichskanzler-Maske ein freches Lied über ihn zu singen. »Solange er nicht so falsch singt wie ich, soll er ruhig weitermachen.«

Breite Stirnbänder, im Volksmund Dummheitsgardinen genannt, sind modern. Die Berlinerinnen sagen: »Wat macht det schon, wennse de Stirn verdecken. Wer küsst heute noch auf die Stirn?« In Italien marschieren die sogenannten Faschisten Richtung Rom. Der König ernennt den 39-jährigen Benito Mussolini zum Ministerpräsidenten. Seit 1919 wurden insgesamt 376 Polit-Morde verübt. Die 23-jährige Französin Suzanne Lenglen ist die erfolgreichste Tennisspielerin der Welt.

Prolog

Allgemeines Krankenhaus Eppendorf

Es war immer wieder ein kleines Wunder.

Nach all dem Geschrei, dem Stöhnen, dem Angstschweiß und dem Blut zog Dr. Elkan Horwitz vorsichtig das kleine, rot verschleimte Köpfchen zwischen den Beinen der Mutter ins grelle Licht des Kreißsaals. Drehte es vorsichtig zur Seite, damit es sich nicht an den mütterlichen Beckenknochen stieß. Hielt das nassklebrige Bündel kopfüber hoch, ein leichter Klaps auf den Po, ein lauter Schrei, ein neues Leben begann.

Es war immer wieder ein großes Glück. Und manchmal ein zerbrechliches.

»Ist alles dran, Herr Doktor?«, die junge Mutter wischte sich eine nasse Locke aus dem verschwitzten Gesicht und stemmte sich leicht ächzend in die Sitzposition. »Hab ich alles richtig gemacht?«

Dr. Horwitz lächelte beruhigend.

»Sie waren wunderbar. An dem kleinen Burschen ist alles dran, was dran sein soll. Diesmal ist alles gut gegangen.«

Die junge Mutter leuchtete und streckte die Arme aus.

»Ich danke Ihnen aus ganzem Herzen, Herr Doktor«, Krankenschwester Hedwig hatte das Kind inzwischen gesäubert und gewickelt und legte es ihr an die Brust.

Ein leises Schmatzgeräusch, das kleine Köpfchen sank in die mütterliche Weichheit – es war geschafft.

Sie lauschten gespannt, bis ein etwas lauteres Schmatzgeräusch verkündete, dass alles so war, wie es sein sollte.

»Der kleine Kerl trinkt wie ein Weltmeister«, meinte Schwester Hedwig, »ein gutes Zeichen. Wie soll er denn heißen?«

»Albert Victor, die beiden letzten Namen unseres letzten Kaisers«, die Mutter lächelte versonnen, »das wird ihm Glück bringen.«

Man konnte es nur hoffen. Ihr erster Sohn, ein Frühchen, hatte seine Geburt nur um eine Woche überlebt. So viele Dinge konnten schiefgehen, trotz aller Fortschritte in der Medizin.

Die Nabelschnur konnte Knoten bilden, was dann zu einer Plazentaablösung führte, bei einer kleinen Patientin hatte sich die Nabelschnur so fest um den winzigen Hals gewickelt, dass sie sich selbst erwürgt hatte. Ein schrecklicher Anblick, schlimmer als Wasserköpfe oder Hasenscharten, der Schwester Hedwig noch wochenlang im Schlaf verfolgte.

Aber nicht heute. Heute würde sie gut schlafen. Heute war ein guter Tag.

Schweigend gingen der Arzt und die Schwester den langen Flur entlang zum Waschraum, ein Gefühl tiefer Befriedigung, das sie beide teilten und Reden überflüssig machte.

Dr. Elkan Horwitz war Chefarzt der Geburts- und Kinderabteilung am Universitätsklinikum Eppendorf, ein erfüllender, aber manchmal auch belastender Posten. Inzwischen war er geübt darin, verzweifelten Eltern zu versichern, dass jedes Leben einen Wert hatte, auch ein nicht perfektes, und einem manchmal Kräfte zuwuchsen, die man nicht in sich vermutet hätte.

Wie dankbar ich bin, dass ich diese Kräfte bei meiner Tochter nicht gebraucht habe, dachte er dann. Hanna war eine leichte Geburt gewesen, Gitte, seine Frau, hatte noch im Wochenbett nach einem Glas Champagner verlangt. Jetzt war Hanna 16 Jahre alt, ein fröhlicher Backfisch, sein Augenstern, wie er sie manchmal nannte, und insgeheim bedauerte, dass sie in den letzten Jahren aus ihrer kindlichen Schmusigkeit herausgewachsen war. »Vati, lass mal bitte«, wehrte sie immer öfter ab, wenn er sie zur Begrüßung in den Arm nehmen oder wie früher auf beide Wangen und die Nasenspitze küssen wollte. Gern hätte er noch einen Sohn gehabt, aber ein zweites Kind war ihnen nicht vergönnt gewesen.

»Ich denke, ich kann mir heute einen frühen Feierabend gönnen, Schwester Hedwig, Sie haben alles unter Ihrer bewährten Kontrolle?«, fragte er und spülte den Schaum von seinen Händen, das übliche Waschritual nach einer Geburt.

Die Schwester nickte. »Hab ich, Dr. Horwitz, Ihre Gemahlin wird sich freuen, wenn Sie ausnahmsweise etwas früher nach Hause kommen. Wie geht es denn der kleinen Hanna? Ist sie noch immer so ein Rabauke?«

Dr. Elkan Horwitz schüttelte den Kopf. »Die Zeiten sind leider schon lange vorbei, der kleine Wirbelwind, der hier durch die Flure flitzte, ist jetzt beinahe eine junge Dame.«

»Eben noch kleine Hosenscheißer, und ehe man sichs versieht, sind sie erwachsen«, Schwester Hedwig warf einen Blick auf die junge Mutter, die versunken ihr Neugeborenes stillte, »es geht alles viel zu schnell.«

In seinem Büro schlüpfte der Arzt aus seinem weißen Kittel und hängte ihn sorgfältig auf, während die späte Nachmittagssonne einen glühenden Abschiedsgruß in die Martinistraße schickte. Er griff zu Hut und Mantel und freute sich auf einen frühen Abend mit seiner Familie. Hoffentlich hatte Minna, ihre wunderbare Perle aus Lüneburg, etwas Leckeres gekocht. Vielleicht sogar Königsberger Klopse und Rote Bete, sein Leibgericht.

Das Leben war schön.

So in wohlige Feierabendgedanken versunken, hörte er die eiligen Schritte auf dem Kopfsteinpflaster nicht und zuckte zusammen, als eine Hand ihn kräftig am Ärmel packte, »Schwester Hedwig? Was um alles in der Welt?«, so hatte er sie noch nie erlebt, so aufgelöst, seine immer gepflegte, immer auf Haltung bedachte Oberschwester. Unter ihrer Haube lag jedes Härchen glatt gekämmt, keines hätte sich auch nur die geringste Widerspenstigkeit erlaubt, ihre vernünftigen Schwesternschuhe waren so blank geputzt, dass man sich in ihnen spiegeln konnte. Sie duldete keinen Fleck auf ihrer Schwesternuniform, keinen Fehler bei einer Schwesternschülerin. Sie war geachtet und ein wenig gefürchtet. Und im Augenblick in geradezu fast aufgelöster Aufregung.

»Herr Doktor, entschuldigen Sie, aber ich muss leider Ihren Feierabend unter…«

»Unterbrechen? Was ist denn passiert, ein Notfall? Es war doch eben noch alles in Ordnung?«

Sie stand vor ihm, schwer atmend, auf ihrer Stirn glitzerten kleine Schweißtröpfchen, sie machte ihm Angst.

»Kommen Sie bitte mit, ich erkläre Ihnen alles, aber wir müssen uns sputen, sonst ist es zu spät«, sie waren zurück im Krankenhaus, Schwester Hedwig eilte voraus, Dr. Horwitz folgte ihr keuchend.

»Sagen Sie mir endlich, was los ist!«, rief er atemlos.

Aber Schwester Hedwig schwieg und eilte weiter, über den Hof, an der Gerichtsmedizin vorbei, vor einem Nebengebäude blieb sie stehen.

»Ich möchte Sie vorwarnen, Dr. Horwitz, es ist ein absoluter Ernstfall, sonst hätte ich die Sache auch selbst geregelt, aber … sehen Sie selbst …«

Sie betraten das schummrige Treppenhaus, auch die Flure waren nur spärlich beleuchtet, vor einer Tür blieb Schwester Hedwig stehen.

»Ganz kurz, bevor wir eintreten. Die junge Frau heißt Miriam, sie hat gerade als Schwesternschülerin angefangen und wohl lange verdrängt, dass sie schwanger ist. Der Kindsvater ist Zionist und lebt jetzt in Palästina. Ihre Fruchtblase ist geplatzt, sie ist in Panik und wusste nicht, wohin, Eltern gibt es nicht mehr, also hab ich sie in ein leeres Schwesternzimmer verfrachtet. Bitte machen Sie ihr keine Vorwürfe.«

Na wunderbar, dachte Dr. Elkan Horwitz leicht genervt, aber er ließ sich nichts anmerken und folgte Schwester Hedwig in das kleine Schwesternzimmer.

»Guten Abend, Miriam, ich bin Dr. Horwitz und werde dir jetzt hel…«

Ein Schrei. Ohrenbetäubend. Schwester Hedwig stürzte auf das Bündel zu, das bewegungslos auf dem schmalen Bett lag. »Miriam, was hast du? Sag was, ich hab Dr. Horwitz geholt …«

Das Bett blieb still. Totenstill.

Die Mutter lag mit offenen Augen auf dem blutigen Laken. Zwischen ihren Beinen lag das Neugeborene. Ein Junge. Ganz friedlich, mit fest geschlossenen Augen. Er atmete. Seine Mutter nicht mehr.

»Und jetzt?«, flüsterte Schwester Hedwig.

»Gibt es Angehörige?«, wollte Dr. Horwitz wissen.

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, sie war ganz allein auf der Welt.«

»Dann kümmere ich mich um eine anonyme Bestattung, und Sie bringen den Kleinen ins Waisenhaus zu Agnes Bernauer. Sie kennen die Adresse?«

Schwester Hedwig nickte. Vorsichtig durchtrennte sie die Nabelschnur mit der kleinen Schere, die sie immer dabeihatte, dann nahm sie das winzige Bündel hoch, ging zum Waschbecken und säuberte es.

Und jetzt? So nackt konnte es nicht bleiben.

Schwester und Arzt sahen sich an, ihr Blick fiel auf seinen Wollschal, sie hob fragend die Augenbrauen. Er verstand und gab ihn ihr, und so, eingewickelt in wollige Wärme, hob das Baby zum ersten Mal seine geschwollenen Lider.

»Wunderschöne Augen hat das Kind«, bemerkte Dr. Horwitz, »ein hübscher Bengel. Sorgen Sie bitte dafür, dass er beschnitten wird. Ich gehe doch richtig in der Annahme, dass …«

Schwester Hedwig nickte. Sie strich dem Säugling ganz vorsichtig über die Fontanelle. In etwa zwei Monaten würde sie verschlossen sein.

»Ich gehe davon aus, dass all dies …« Dr. Horwitz deutete auf das Bett, »unter uns bleibt.«

Sie nickte erneut.

Als er gegangen war, konnte sie sich nicht länger beherrschen. Sie setzte sich mit dem Neugeborenen auf die Bettkante, drückte es an sich und schluchzte sich die Seele aus dem Leib. Dann legte sie es vorsichtig neben seine tote Mutter. Nur einen kurzen Moment. Aber es war der einzige, den sie hatten.

»Miriam, du hast einen wunderbaren Sohn bekommen, der sich von dir verabschieden möchte. Er hätte dich so gern kennengelernt, aber er hofft, dass es dir im Himmel auch gut geht.«

Als sie das Baby wieder hochnahm, entdeckte sie ein winziges, rotes Herz auf seinem Nacken. Es war ein Blutschwamm, auch Storchenbiss genannt. Ein Glücksbringer vielleicht, wie manche glaubten. Die Schwester war nicht abergläubisch, aber jetzt hoffte sie es.

Es klopfte an der Tür, der Hausmeister kam mit seinem Gesellen und einer Trage.

»Das ist ja ein schöner Mist«, rief er und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund, als er das verweinte Gesicht der Schwester sah, »oh das tut mir bannig leid, war ein blöder Schnack, wollen Sie sich noch verabschieden, bevor …«, er deutete auf die Trage.

Sie schüttelte den Kopf und wickelte das Kind fest in den warmen Schal, dann verschluckte sie die frühe Dämmerung.

Zwei Stunden später

Der Säugling lag gewaschen, gewickelt und gefüttert mit 20 anderen Babys im Schlafsaal des Waisenhauses am Stadtpark. Agnes Bernauer schaute in jedes Kinderbett, deckte zu, summte leise ein Guten Abend, gute Nacht, wenn eines noch nicht eingeschlafen war; als alles ruhig war, ging sie in ihr Büro, zog mit einem tiefen Seufzer ihre Schuhe aus und zündete sich eine Zigarette an, blies einen kunstvollen Kringel in die Luft. Langweilig ist mein Leben nicht, dachte sie und inhalierte tief.

»Die Mutter ist bei der Geburt gestorben, es gibt keine Angehörigen, Dr. Horwitz hat mich geschickt«, dürre Worte, aber ihr geschultes Auge sah die kaum getrockneten Tränen. Unter jedem Dach ein Ach.

Es war nicht das erste Mal, dass ein Neugeborenes wie eine Fundsache einfach abgegeben wurde. Manche im Körbchen, liebevoll gepolstert, andere einfach in Lumpen vor die Tür gelegt, alles hatte sie erlebt. Dieses sehr hübsche, feingliedrige Kind war in einen eleganten Wollschal gewickelt, das war ungewöhnlich. Ein wohlhabender Ehemann mit Hang zum Küchenpersonal? Sie würde es nie erfahren.

»Gibt es noch irgendetwas, das ich wissen sollte?«, ihre Standardfrage, aber selten gab es etwas. Meist nur den Wunsch, ein neugeborenes Kind so schnell und diskret wie möglich loszuwerden.

Schwester Hedwig räusperte sich.

»Die Eltern des Kindes sind beide jüdisch, der Vater lebt vermutlich in Palästina, aber er würde es sicher wollen, dass sein Sohn beschnitten wird.«

Kapitel 1

Hamburg, Eppendorf, Haynstraße, 1922

Wie anders waren die Empfindungen, die in diesem Augenblicke seine Brust durchwogten! Nicht das Verlangen nach körperlichem Besitz war es, den der Anblick dieses jungen, blühenden Weibes in ihm wachgerufen hätte. Der einzigartige Blick, der aus dem Auge des schönen Mädchens ihn getroffen, hatte ihm ins Herz gezündet und die tiefsten Tiefen seiner Seele in Flammen gesetzt. Aufschreien hätte er mögen.

Gitte Horwitz seufzte tief und glücklich, als sie den Roman »Sünde wider das Blut« zur Seite legte und zur Teetasse griff. Ein Stück Kandis hineinplumpsen ließ und etwas Sahne dazu, sie liebte ihren Tee friesisch. Und ganz besonders liebte sie ihr tägliches Nachmittagsstündchen auf der Chaiselongue im Wohnzimmer, etwas Gebäck zum Tee und ein gutes Buch. Am liebsten eins, in dem verzweifelt und aussichtslos geliebt wurde. Ein Buch mit geradezu schamlosem Überschwang, wo mit Lust und Leidenschaft nicht gegeizt wurde. So wie vor Kurzem in der Novelle Brief einer Unbekannten von Stefan Zweig, die sie verschlungen und danach nur mühsam in den schnöden Alltag zurückgefunden hatte, so aus tiefstem Herzen hatte sie mitgefiebert. Leider endete die Novelle mit dem Tod der Heldin, der einzige Wermutstropfen. Gitte zog ein glückliches Ende vor.

So sinnlich-aufwühlend wie Zweig, »funkelnd vor Lust, schwebend von Seligkeit«, schrieb dieser Artur Dinter nicht, aber sein Held Hermann Kämpfer war auch ein Mann, der um die Liebe litt. Um Elisabeth, die arisch aussehende Schönheit, die nur leider von ihrem jüdischen Vater eine leicht verdickte und etwas herabhängende Unterlippe geerbt hatte. Gitte hatte gestutzt. Herabhängende Unterlippe? Sollte das etwa besonders jüdisch sein? Sie kannte keine einzige jüdische Frau, die so eine Hängelippe hatte. Ihre eigene war auch eher schmal. Etwas irritiert legte Gitte das Buch zur Seite.

»Herzschmerz oder zur Abwechslung etwas Anspruchsvolleres?«, Gitte hatte ihren Mann nicht bemerkt, der jetzt hinter ihr stand und in ihr Buch linste. Schnell klappte sie es zu und drehte es um, damit er den Titel nicht sehen konnte. Sie liebte es nicht, wenn er sich über, wie er sie nannte, vor Schmalz triefende Buchtitel lustig machte.

»Wieso bist du schon da? Habt ihr keine Patienten mehr?«

Gitte bemühte sich, ihn ihre leichte Ungeduld nicht merken zu lassen, aber normalerweise kam er frühestens zum Abendessen nach Hause, deshalb fühlte sie sich leicht gestört, diese eine Nachmittagsstunde gehörte ihr. Da tauchte sie ab in Welten, in denen Mann und Tochter nichts zu suchen hatten und eine gutbürgerliche Ehefrau und Mutter auf einem weichen Daunenkissen versinken konnte und Erziehungs- und Haushaltsfragen keine Rolle spielten.

Der Rest ihrer Zeit gehörte Elkan und Hanna.

Die 16-Jährige machte ihr allerdings zurzeit wenig Freude. Ihr letztes Zeugnis aus der Töchterschule in der Löwenstraße hatte einen Trauerrand verdient, im Turnen zwar ein Sehr Gut, sonst nur Befriedigend und Ausreichend, in Handarbeit sogar ein Ungenügend. In Handarbeit!

»Hanna liegt mit ihren Leistungen leider weit unter ihren Möglichkeiten!« Das empörte Ausrufungszeichen war Gitte Horwitz gleich ins Auge gesprungen, sie fühlte sich persönlich angegriffen. Hatte sie ihrer Tochter nicht zum fünften Geburtstag eine Strickliesel geschenkt? Sie für jeden Häkelwurm gelobt, der, wenn er endlich lang genug war und einem leicht verfilzten Bandwurm glich, zu einem Topflappen vernäht wurde? Wie viele dieser wahrhaft hässlichen Dinger verstaubten jetzt in der Küchenschublade, selbst Minna wollte sie nicht benutzen. Trotzdem ein Ungenügend. Eine Blamage.

Auch ihr waren Dinge schulischer Natur nicht in den Schoß gefallen, und dass ihre Tochter keine Musterschülerin war, bescherte beiden Eltern keine schlaflosen Nächte. Es gab Wichtigeres für ein Mädchen als gute Zeugnisse. Ein gutes Herz und später einen guten Mann. Trotzdem hatte Gitte nichts unversucht gelassen, um ihre etwas antriebsschwache Tochter zu fördern und zu motivieren. Hatte ihr jeden Abend vorgelesen. Das kleine und große Einmaleins geübt. Auf dem großen Kugelglobus in der guten Stube mit dem Zeigefinger mit ihr in ferne Länder verreist. Genützt hatte ihr pädagogischer Eifer offensichtlich wenig.

»Ich leg mich mal ganz kurz aufs Ohr«, rief Elkan auf dem Weg ins Schlafzimmer; nach diesem Tag und diesem Ereignis, das er mit niemandem, auch nicht mit seiner Ehefrau teilen wollte, brauchte er ein kleines Zeitfenster für sich. Der Anblick der toten Mutter verfolgte ihn. Was war passiert? Unentdeckte Blutungen oder Entzündungen, Herzstillstand während der Geburt? Ein Rätsel, das die Tote mit in ein unbekanntes Grab nehmen würde.

Erschöpft ließ er sich auf das wuchtige, reich verzierte Ehebett aus Nussbaum fallen, das ihm eigentlich schon seit seiner Hochzeitsnacht ein Dorn im Auge war. Gern hätte er es gegen eine modernere Art-déco-Variante ausgetauscht, aber Gitte liebte ihre Trutzburg, wie sie ihr Bett nannte, obwohl die breite Besucherritze auch sie etwas störte, allerdings nur dann, wenn es zu einer nächtlichen Begegnung kommen sollte.

»Wo ist unsere Tochter? Macht sie Hausarbeiten oder den üblichen Unfug?«, wollte Elkan wissen, während Gitte, die ihm gefolgt war, ihr Buch auf den Nachttisch legte. Hermann Kämpfer musste warten, bis er Elisabeths Seelensehnsucht stillen konnte. Seelensehnsucht, so ein schönes Wort. Aber jetzt hatte sie erst mal der Alltag wieder.

»Hanna fühlte sich nicht wohl, ich hoffe, sie macht trotzdem ihre Hausaufgaben, stör sie jetzt lieber nicht. Ich schau mal, ob Minna mit den Rouladen zurechtkommt«, ein letzter Blick auf ihren Mann, dessen geschlossene Augen signalisierten, dass auch er nicht gestört werden wollte. Es machte ihre lange Ehe entspannter, dass sie sich beide ihre kleinen Inseln des Alleinseins gönnten.

Sie hatte Glück gehabt, das wusste sie, denn Elkan Horwitz war trotz seiner 39 Jahre noch immer ein stattlicher, schöner Mann, nur ein paar Silberfäden in seinem dunklen, lockigen Haar. Sein gezwirbelter Kaiser-Wilhelm-Bart, »mein Reichsadlerbart«, wie er ihn wegen seiner steifen Flügel rechts und links immer stolz genannt hatte, war einem gestutzten Oberlippenbärtchen gewichen. Aber erst nachdem der Kaiser abgedankt hatte, was Gitte und er bedauerten, besonders, weil es ein so würdeloser Abschied gewesen war. Man hatte den armen Mann ja fast mit Gewalt ins holländische Exil schleifen müssen. Wo er sich, wie man hörte, die Zeit mit dem Absägen der Bäume auf seinem Parkgelände beschäftigte. Wie gesagt, würdelos.

Dr. Elkan Horwitz war als Stabsarzt bereits drei Monate nach Kriegsbeginn in der Schlacht von Marne schwer verletzt worden, ein kleines Wunder, dass er sein linkes Bein behalten konnte. Kurz darauf war er entlassen worden. »Du ärgerst dich ja nur, dass du kein Eisernes Kreuz am Revers stecken hast«, neckte ihn Gitte manchmal, der männliche Kriegsbegeisterung unbegreiflich war. Elkan wechselte dann schnell das Thema. Der Erste Weltkrieg war sein wunder Punkt. Er hatte ihm gezeigt, dass er nicht der Mann war, für den er sich gern gehalten hätte. Kein Kriegsheld, der sich berauscht ins Kampfgetümmel stürzte. Er heilte lieber, als zu verletzen. Und er lebte zu gern.

Hanna sah ungewohnt blass aus, als sie sich an den Abendbrottisch im Esszimmer setzte. Ihr Vater beschloss, dies zu ignorieren, vermutlich das monatliche Frauenleiden, da hatte er jedenfalls privat keinen Erklärungsbedarf. Dafür war ihre Mutter zuständig. Vor zwei Wochen hatte Hanna einen Bubikopf durchgesetzt, ihre dicken, rotbraunen Zöpfe lagen jetzt in der untersten Kommodenschublade, was ihre Mutter etwas gruselig fand, aber Hanna hatte sich nicht von ihnen trennen mögen.

»Was hast du heute Schönes in der Schule erlebt?«, Elkan fand es pädagogisch sinnvoller, seine Fragen optimistisch zu formulieren.

»Nichts der Rede wertes, immer nur die pure Langeweile«, murmelte Hanna.

Die Eltern warfen sich einen Blick zu. Nein, eine Marie Curie, die zwei Nobelpreise in Physik und Chemie gewonnen hatte, würde ihre Tochter nicht werden. Aber damit hatten sie sich längst abgefunden. Und die Mittlere Reife würde sie wohl hoffentlich schaffen, wenn kein Wunder geschah, mit Ach und Krach, aber einrahmen müsste man ihr Abschlusszeugnis zum Glück ja nicht.

»Du bist leider noch schulpflichtig, liebe Hanna«, meinte Elkan, um Verständnis bemüht, »und ein Hauch von Wissen schadet auch einer jungen Frau nicht. Dein zukünftiger Mann wird sich ja sicher auch hin und wieder mit dir unterhalten wollen, meinst du nicht?«

Gitte warf ihm einen erstaunten Blick zu, warum dieser scharfe Ton?

Hanna stöhnte. Ihre rechte Hand verschwand unter dem Tisch. Legte sich auf ihren Bauch.

»Beide Hände auf den Tisch, junge Dame, wo sind deine Tischmanieren«, Elkan schüttelte den Kopf, während Hanna etwas zögernd ihre Hand wieder hob. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihr.

»Dein Stöhnen ist völlig unangebracht, junges Frollein«, griff Gitte nun ein, »ich möchte doch sehr um ein bisschen mehr Respekt deinem Vater gegenüber bitten, der es nur gut mit dir meint.«

Wer sagte eigentlich, dass Kinder immer glücklich machten?

»Das Lernen macht mir einfach keinen Spaß, und daran werdet auch ihr nichts ändern«, erwiderte Hanna, ihre braunen Augen blitzten herausfordernd, »ich bin fürs Leben geschaffen, nicht für die harte Schulbank. Die langweilt mich zu Tränen. Und wenn ich in ein paar Jahren sowieso heirate, wozu muss ich dann wissen, welche Hauptstadt Ägypten hat und … entschuldigt mich.« Sie stürzte aus dem Zimmer, noch ehe Elkan »Kairo« murmeln konnte.

Gitte folgte ihr und klopfte an die Toilettentür, hinter der ihre Tochter, den Geräuschen nach zu urteilen, ganz offensichtlich mit einer Übelkeit kämpfte.

»Brauchst du Hilfe? Hast du etwas Falsches gegessen?«

Die Tür ging auf, Hanna schüttelte den Kopf. Sie war jetzt totenbleich und krümmte sich leicht.

»Geht schon wieder. Ich leg mich ein bisschen hin, Mutti, Minna kann mir einen Tee bringen.«

»Die spezielle Frauenzeit?«, fragte Elkan, als Gitte sich wieder hinsetzte. Sie wusste, dass er keine Einzelheiten wünschte, daher nickte sie nur und klingelte nach Minna, die eine Platte mit dampfenden Rouladen hereintrug, gefolgt von Schüsseln mit Bratkartoffeln und grünen Bohnen, und alles auf den Tisch stellte.

»Danke, Minna, mach dir später warm, was übrig bleibt. Und bring bitte Hanna einen Kamillentee und eine Wärmflasche, sie ist offensichtlich unwohl.«

Minna knickste und verschwand.

Elkan und Gitte aßen schweigend. Beide hatten an diesem Abend zum Thema Kindererziehung und deren Erfolg oder Misserfolg keinen Gesprächsbedarf. Sie konnten gut zusammen schweigen. Es war ja auch privat nichts Ungewöhnliches passiert an diesem Tag.

Gitte räusperte sich nach einer Weile.

»Willst du noch eine Roulade? Wenn nicht, freut sich Minna. Ich glaube, sie hat heute ihren Galan zu Besuch.«

Elkan Horwitz zog seine Stirn in die Art von Missbilligung, die seine Frau richtig deutete und deshalb ignorierte. Aber die sie verstand, denn sie wusste, dass er sich manchmal im Zwiespalt befand, für welches Gefühl er sich entscheiden sollte. Für den heimlichen Stolz, dass seine eher konservativ erzogene Ehefrau ein so moralisch dehnbares Herz hatte, oder der leisen Furcht, dass sie damit sich und ihn wegen Vorschub geleisteter Unzucht ins Gefängnis bringen würde.

Zum Glück waren die Zeiten liberaler geworden, wenn auch nicht so liberal wie im Babylon Berlin. Was Gittes Schwester Esther, die als unverheiratetes Fräulein und freie Journalistin, was er beides etwas befremdlich, zumindest ungewöhnlich fand, in Charlottenburg lebte, bei ihren seltenen Besuchen erzählte, ließ Elkan innerlich erschauern. Was das Liebesleben ihrer Schwester anging, ahnte Gitte mehr, als sie zu erfahren wünschte, und wollte es auch gern dabei belassen. Freie Liebe, Transvestitenbars, Graf Koks von der Gasanstalt, wie es so harmlos hieß, heilfroh waren sie beide, im solideren Hamburg zu leben.

Vergleichsweise solider, auf jeden Fall diskreter. Hanseatisch halt.

Als er heute im Morgengrauen das Haus verlassen hatte, waren zwei seiner Nachbarn mit einem gemurmelten »Guten Morgen« an ihm vorbeigeschlichen. Lily Bromberg und David Nadelreich. Beides keine Nachtarbeiter. Und kein Pärchen. Lily lebte allein, und David war verheiratet. Und Hamburg war kein Babylon.

»Ich habe heute Morgen die Bromberg und den Nadelreich getroffen«, Gitte sah ihren Mann erstaunt an.

»Wo getroffen?«

»Vorm Haus«, Elkan schnitt sich ein Stück von der köstlich duftenden Roulade ab, »ich ging, sie kamen. Nicht gemeinsam.«

Gitte zog die Augenbrauen auf eine Weise hoch, die ihren Mann ein schnelles »Aber das geht uns ja auch überhaupt nichts an« ergänzen ließ.

Sie nickte bekräftigend.

»Nicht das Allergeringste, Liebling«, sie warf einen Blick auf seinen leeren Teller, »ich sehe, es hat dir geschmeckt. Noch Appetit auf etwas Süßes zum Nachtisch?«

Gitte war froh, dass ihr Ehemann sich im Allgemeinen nicht für das Privatleben seiner Nachbarn interessierte und es eher amüsiert zur Kenntnis nahm, dass sie es umso intensiver tat. Aber nicht schnöde Neugierde trieb sie, wie ihr Elkan manchmal unterstellte, sondern Interesse und Anteilnahme. Und deshalb wusste sie, wo Lily Bromberg die Nacht verbracht hatte. Sie hatte Shimmy getanzt, in einem Tanzlokal namens Alkazar auf der Reeperbahn. In einem Fransenkleid, weil bei diesem Tanz die Hüften kreisen und der Unterleib beben mussten, so jedenfalls hatte Lily ihr diesen neuen Tanz mit Negerjazz aus Amerika erklärt. Ihr Grammophon angekurbelt und Gitte vom Stuhl gezogen. Nach einer Minute hatte diese sich den Schweiß von der Stirn gewischt und war froh, dass niemand sie beobachtet hatte.

»Lily war tanzen«, sagte sie jetzt, »du weißt ja, sie hat schwere Zeiten hinter sich.«

Elkan schwieg lieber. Zum Thema Lily sagte er leicht etwas Falsches.

»Und was David angeht, Angelica sagt, er schlafe schlecht und gehe dann nachts eben noch mal raus. Sein gutes Recht, oder?«

Na ja, dachte Elkan, das käme darauf an. Auf seine Vermutungen dazu wollte er nicht eingehen. Ein heikles Thema.

»Übernachtet Minnas Galan etwa schon wieder bei uns?«, wollte er deshalb wissen. »Du weißt, dass ich strikt dagegen bin. Ein ganz schlechtes Vorbild für unsere Tochter. Wenn sie wenigstens verlobt wären.«

Gitte lächelte ihn an. »Ich glaube, sie sind heimlich verlobt«, behauptete sie. Elkan konnte es nur hoffen, aber er wollte nicht kleinlich sein. Vor allem wollte er auf Minnas Dienste nicht verzichten, sie war eine Perle, die Haushalt und Küche fest im Griff hatte. Wohingegen seine Frau, bei aller Liebe … keine deutsche Hausfrau war. An Minnas freien Tagen blieb die Küche meist kalt, Erkan lud seine Damen dann in eine Gaststätte ein, mit dieser Lösung lebten alle am besten.

»Sag ihr bitte, dass sie diskret …«

Gitte unterbrach ihn lächelnd. »Keine Sorge. Wozu gibt es einen Dienstbotenaufgang, mein Liebster? Ich denke, damit die Dienstboten ein bisschen Privatleben haben. Ein berechtigter Wunsch, finde ich. Wenn du nichts dagegen hast, dann ziehe ich mich jetzt zurück und überlasse dich deinem Hamburger Anzeiger. Vielleicht lenkt dich ein bisschen Mord und Totschlag ab.«

Elkan brummte Zustimmung und vertiefte sich in die Nachrichten. Ihm war nach Ablenkung, die nichts mit Geburten jeglicher Art zu tun hatte. Staatssekretär Hans Bredow riet AEG und Telefunken, sich mit dem Bau von Rundfunkgeräten zu befassen. Was das nun wieder für ein technischer Schnickschnack war.

Auf dem Weg zum Schlafzimmer klopfte Gitte an Hannas Tür.

»Alles in Ordnung?«

Stille. Sie will allein sein, dachte Gitte, erleichtert, dass mütterlicherseits nichts mehr von ihr erwartet wurde.

Die Seelensehnsucht wartete. Dass Hanna das Abendessen hatte ausfallen lassen, war keine Katastrophe, sie war ein wenig fülliger geworden in der letzten Zeit. Ziemlich füllig sogar, wenn Gitte darüber nachdachte, vermutlich pubertäre Spätfolgen, die sich hoffentlich verwachsen würden. Gitte bevorzugte die Art Probleme, die sich mit etwas Abwarten von alleine lösten. Zum Glück taten dies die meisten.

In der Küche saß Minna am Tisch und polierte einen Silberleuchter. Als Gitte hereinkam, stand sie auf. »Setz dich bitte«, sagte Gitte, »du musst nicht immer hochspringen, wenn ich reinkomme, wir sind doch hier nicht bei Hof.«

»Dann hätte ich ja wohl auch geknickst, bin ja nicht blöd«, Minna hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund, »Entschuldigung, das ist mir jetzt einfach so rausgerutscht.«

Gitte winkte ab.

»Ich habe kein Problem damit, wenn du deine Meinung sagst, Minna. Räum jetzt bitte den Tisch ab, und was übrig ist, kannst du dir aufwärmen. Für dich und … na, du weißt schon.«

Ihr Blick schweifte kurz durch den Raum, der Galan war wohl schon wieder weg, oder vielleicht wartete er auch im Mädchenzimmer auf seine Rouladenhälfte. Sie beschloss, dieser Vermutung nicht weiter nachzugehen. Vor allem sie nicht vor Elkan zur Sprache zu bringen.

Minna wartete, bis sie allein war. Natürlich »wusste sie schon« und war ihrer Herrin zutiefst dankbar für ihre keineswegs selbstverständliche Großzügigkeit. Sie räumte ab und garnierte Roulade, Kartoffeln und Gemüse auf einen Teller, mit dem sie auf Zehenspitzen in ihre kleine Mädchenkammer tappte.

»Na, mien Seuten, hast du endlich Feierabend?«, der Galan, ein kleiner, wuchtiger Mann mit kinnlangem, rotem Bart, der auf dem schmalen Bett gelegen hatte, stemmte sich in die Sitzposition und schnupperte vorfreudig.

»Das riecht ja wieder lecker.« Geschickt platzierte er den Teller auf seinen Oberschenkeln, griff zu Messer und Gabel. Eine genüsslich verschmatzte Stille folgte. Minna sah ihm amüsiert zu. Sie mochte Männer mit gutem Appetit.

»Kann ich bleiben?«, fragte er, als er sich danach den Mund mit dem Handrücken abwischte. »Oder gibt’s dann Ärger mit deiner jüdischen Herrschaft?«

Minna nahm ihm Teller und Besteck wieder ab.

»Ich überlege noch«, sagte sie und verschwand in der Küche.

Zwei Stunden später

Während der schöne Mund der Mutter in vollkommenstem Ebenmaß gebildet war, erschien die Unterlippe der Tochter leicht verdickt und etwas herabhängend. Dieses kleinen, dem Durchschnittsauge kaum wahrnehmbaren Schönheitsfehlers schien sie sich auch bewusst zu sein, denn sie war sichtlich bestrebt, die Unterlippe etwas einzuziehen und an die Oberlippe zu pressen, wenn sie den Mund geschlossen hielt. Dies schien das einzige körperliche Erbe zu sein, das sie vom Vater übernommen hatte.

Als Gitte diesen Absatz zum zweiten Mal las, kam ein kleiner Ärger in ihr hoch. Sie wusste nicht, ob sie sich über diese Sätze erbosen, amüsieren oder sie einfach als dichterische Freiheit ignorieren sollte. Sie hatte jedenfalls noch nie über die Beschaffenheit ihrer Unterlippe nachgedacht, geschweige denn, diese eingezogen oder an die Oberlippe gepresst.

»Walther Rathenau ist ermordet worden«, Elkan betrat das Schlafzimmer und warf die Zeitung aufs Bett, Gitte griff danach und las:

»Der deutsche Außenminister Walther Rathenau ist in seinem Auto durch Schüsse und eine Handgranate getötet worden. Die jungen, geistesgestörten Terroristen wurden später gefasst, zwei von ihnen begingen Selbstmord.«

Elkan und Gitte sahen sich an, ihnen fehlten die Worte.

»Ich habe die Plakate in der Stadt gesehen«, meinte Elkan schließlich, »die Mörder waren nicht geistesgestört, das waren verdammte, völkische Idioten. Ich habe immer konservativ gewählt, aber da hat dieser Philipp Scheidemann von der SPD mit seinem Satz: ›Der Feind steht rechts‹, leider recht.«

»Was für Plakate?«, fragte Gitte, ihr war Politik ein Buch mit sieben Siegeln, deswegen eins, das sie nie aufschlug, nur Zank und Streit, nur Mord und Totschlag, Krieg, Inflation, Straßenkämpfe, wann war jemals etwas Gutes dabei herausgekommen?

»Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau«, sagte Elkan, »dieser Mann, der so viel für Deutschland getan hat, der Rapallo-Vertrag wäre ohne ihn nie zustande gekommen … hörst du mir noch zu, Liebes?«

Gitte hörte zu, aber nur mit halbem Ohr, so kurz vor dem Einschlafen wollte sie nichts Schlimmes hören, das machte nur schlechte Laune und böse Träume. Und für Politik war schließlich ihr Mann zuständig. Dass sie seit vier Jahren wählen durfte, interessierte sie nicht, ihre Stimme würde der Kandidat bekommen, den ihr Ehemann für geeignet hielt. Und Elkan schien es auch nicht wichtig, nur auf ihrem täglichen Zeitungslesen bestand er.

»Danach sind dann deine Liebesschmöker erlaubt«, pflegte er zu scherzen. Aber im Grunde verstand er sie. Schließlich gab es seit 1914, seit acht Jahren also, nur noch schlechte Nachrichten, man gewöhnte sich fast daran.

»Ich bin ja auch entsetzt, Elkan«, murmelte sie, bereits unter der Bettdecke, »aber jedes Land hat doch seine Idioten, mit denen es leben muss, erzähl mir den Rest beim Frühstück.«

Elkan beugte sich über seine Frau und küsste sie. Wie schön sie noch immer ist, dachte er, so samthäutig und rotwangig wie damals, als sie sich in der Wandervogelbewegung kennengelernt hatten. Beide beseelt vom einfachen Leben in der Natur, von Rohkost, Nacktkörperkultur, Barfußlaufen. Eine aufregende, wilde, freie Zeit. Die eine goldene Zukunft versprach. Dass er seine Frau splitterfasernackt bereits vor der Hochzeitsnacht gesehen hatte, war jedoch ihrer beider Geheimnis geblieben. Sein Vater hätte ihn enterbt, wenn er es gewusst hätte, und ihrer Mutter hätte es das Herz gebrochen. Manchmal war es von Vorteil, dass sie beide so früh und kurz hintereinander an Tuberkulose gestorben waren.

»Schlaf gut, mein Schatz«, flüsterte er, gern hätte er weitergeredet, mit jemandem, der sich genauso empörte wie er. Der diese diffuse, aber hartnäckige Sorge teilte, die sich mehr und mehr bei ihm einnistete, schließlich war auch er eine »gottverdammte Judensau«. Zwar christlich getauft und patriotisch erzogen, sogar im Krieg gedient, aber all das traf schließlich auch auf Walther Rathenau zu. Etwas Ungemütliches, ungut Verknotetes kroch in Elkan hoch, das er weder benennen noch sich mit ihm befassen wollte.

Sollte er Gitte von der toten Mutter und ihrem Baby erzählen? Lieber nicht, Gitte war ein Gefühlsmensch, sie würde auf Gedanken kommen, die er nicht hören wollte. Hanna war aus dem hoffentlich Gröbsten raus, ein leeres, kinderloses Nest hatte ja durchaus auch Vorteile.

Er zog sich aus, schlüpfte in seinen von Minna auf Kante gebügelten Schlafanzug und legte sich auf die andere Seite der breiten Besucherritze, Gittes leichte Schnarchtöne aus dem Nachbarbett wiegten ihn wenige Minuten später in den Schlaf.

»Was ist los, was fällt dir ein?«

Gitte schreckte hoch, Minna stand im Nachthemd vor ihr und zitterte vor Aufregung.

»Es ist etwas passiert, bitte kommen Sie schnell!«

Das Dienstmädchen hatte das herrschaftliche Schlafzimmer bereits verlassen und die Tür zu Hannas Zimmer aufgerissen, Gitte folgte ihr mit bangem, wild klopfendem Herzen. Der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie kurz aufschreien, ihre Tochter lag stöhnend auf dem Bett, ihr Nachthemd war verrutscht und klatschnass, eine deutliche Wölbung war nicht zu übersehen. Sie war schwanger.

»Mach die Tür zu, Minna«, rief Gitte, völlig überfordert, »weck den Hausherrn nicht auf.« Ein Stoßgebet, das sie gen Himmel schickte. Lieber Gott, bitte, lass es ein Albtraum sein. Lass mich aufwachen und über meine überhitzte Fantasie lachen. Ihr Herz klopfte aufdringlich und vorwurfsvoll. Wie konnte sie nichts davon bemerkt haben? Was für eine Mutter war sie bloß? Sie setzte sich aufs Bett und legte Hanna die Hand auf die Stirn, die schweißnass und eiskalt war.

»Kind, wie konnte das passieren?«, Gittes Gedanken drehten sich, ihr war schwindelig vor Panik und Ratlosigkeit. »Du bist doch erst 16, wer hat dir denn das angetan?«

Aber Hanna konnte nicht antworten, die Wehen schüttelten sie, ihre rechte Hand war blutig gebissen. Sie bäumte sich auf, sie schrie, die Tür wurde aufgerissen …

»Was ist denn hier los?«, Dr. Elkan Horwitz stand fassungslos vor seiner Tochter, die noch vor wenigen Stunden ein leicht rebellischer Backfisch gewesen war. Jetzt lag da eine junge, hochschwangere Frau vor ihm, die er kaum wiedererkannte. Aber obwohl er zu Tode erschrocken war und er sein Blut regelrecht durch seinen Körper rauschen fühlte, wusste er, dass jetzt der entsetzte, strafende Vater vorerst in den Hintergrund treten musste, das Kommando übernahm der kompetente Arzt und Geburtshelfer, den so leicht nichts erschüttern konnte. »Minna, bring heißes Wasser, saubere Tücher, meinen Arztkoffer«, wies er das Dienstmädchen an, dann wandte er sich an seine Frau. »Setz dich zu ihr, nimm ihre Hand und beruhige sie, egal womit, sing ihr etwas vor, sag ein Gedicht auf, erzähl eine Geschichte. Sorg dafür, dass sie ruhiger wird.«

Und dann ging alles ganz schnell.

Hanna schrie wie von Sinnen, Gitte hielt ihr die andere Hand vor den Mund, damit sie nicht die Nachbarschaft aufweckte, während sie: Der Mond ist aufgegangen, die güldnen Sternlein prangen, am Himmel hell undklar, der Wald steht schwarz und schweiget und aus den Wiesen …, mit zitternder Stimme summte.

Elkan hoffte inständig, dass die geradezu tierischen Schreie aus dem Mund seiner Tochter, dumpf abgeschwächt durch Gittes Hand, Schreie, die er nie wieder vergessen würde, bereits die Presswehen begleiteten, denn das würde bedeuten, dass die Geburt unmittelbar bevorstand. Sein Arztkoffer stand jetzt geöffnet neben ihm, Minna reichte ihm ein warmes, nasses Tuch … ein letzter Schrei, ein kleines, dunkles Köpfchen steckte in Hannas Scheide, Elkan atmete tief durch, zog es ganz vorsichtig zwischen ihren blutigen Beinen heraus, dann an beiden Schultern, immer noch ganz behutsam, um einen Dammriss möglichst zu vermeiden.

Ein lauter Schrei, diesmal nicht von der erschöpften Mutter, sondern von dem rosigen, schleimigen, winzigen Wesen, das er jetzt auf ihren Bauch legte. Ein kleines Mädchen. Er hatte schon viele Kinder auf die Welt gebracht, aber dies war sein erstes Enkelkind. Er wartete, bis die Nabelschnur nicht mehr pulsierte, dann durchtrennte er sie. Gitte und Minna standen schockstarr und stumm am Bett und warteten auf seine Anweisungen. Hanna hatte den Kopf zur Seite gedreht, mit geschlossenen Augen lag sie da.

»Elkan?«, Gitte hörte, wie bebend ihre Stimme klang, aber sie konnte es nicht ändern, alles an und in ihr bebte. Sie fühlte sich wie von einer Klippe in eine tosende Flut gestoßen. Ins unbeschreiblich, unerklärlich Bodenlose.

Er drehte sich um, sah sie an.

»Wusstest du …?«, fragte er, während er das winzige Wesen in ein Handtuch wickelte, das ihm Minna reichte. »Hattest du den Schimmer einer Ahnung, dass unsere Tochter …« Ihm fehlten die Worte, er fühlte sich gleichzeitig wütend, voller Panik und überfordert. Restlos überfordert. Drei Geburten an einem Tag, eine normale, eine tote und jetzt diese, seine 16-jährige Tochter! Ein Albtraum. Woher kam das überraschend weiche Gefühl, gegen das er sich vergebens stemmte, als er das rosige Bündel der Mutter, seiner Tochter, in die Arme legen wollte. Es fühlte sich auf völlig unbegreifliche Weise richtig und doch so verkehrt an. Hanna schien dies zu spüren, denn sie wehrte heftig ab.

»Lass mich. Ich will es nicht sehen. Ich will es nicht haben! Tu es weg.«

Sie zog ihre Bettdecke bis über die Ohren hoch und war nicht mehr ansprechbar.

»Gib mir das Kind«, Gitte streckte die Arme aus. Sie hatte vergessen, wie klein und zerbrechlich so ein Neugeborenes war, auch Hanna war seinerzeit so ein zartes Baby gewesen, ein Achtmonatskind. Meine Enkeltochter. In Gitte kämpfte ein Zwiespalt. Überforderung und Großmütterlichkeit. Abwehr und Beschützerinstinkt. Es war alles zu viel. Zu unerwartet. Sie brauchte eine Erklärung, ein Geständnis, die Wahrheit. Wer hatte aus ihrem unschuldigen Mädchen eine Frau gemacht, wer war schuld an diesem Albtraum?

War es nicht erst gestern gewesen, dass sie ihrer Tochter aus ihrem Lieblingsbuch Etwas von den Wurzelkindern vorgelesen hatte? Sie kannte das Gedicht noch auswendig.

Wacht auf, wacht auf, ihr Kinderlein,

es wird nun wohl

bald Frühling sein.

Da reckt und streckt

die kleine Schar

und fährt sich durch

das wirre Haar.

Hatte sie ihr nicht vor Kurzem noch das dicke, lockige Haar zu einem festen Zopf geflochten? Bevor Hanna auf einem Bubikopf bestand? Was war passiert vor neun Monaten, welch dunkles Geheimnis hatte sie ihren Eltern verschwiegen?

Und wieso hatten sie nichts gemerkt? Waren sie denn so unaufmerksame Eltern gewesen?

»Hat Hanna mit dir gesprochen?«, wandte sich Elkan an Minna, die inzwischen die verschmutzten Bettlaken gewechselt und den Boden gewischt hatte. Das Dienstmädchen schüttelte nur stumm den Kopf, aber als sie das Zimmer verlassen wollte, hielt Gitte sie am Ärmel fest.

»Minna? Bitte, wenn du etwas weißt, sag es mir.«

Minna hob die Schultern und blickte zu Boden. In diesem Moment fing das Baby an zu schreien.

Kapitel 2

Im selben Haus zur selben Zeit

»Wilfried, hörst du das?«, Waltraut Kappelmann, die lieber Traudel genannt werden wollte, weil es moderner klang, rüttelte ihren schlafenden Mann an der Schulter, aber der grunzte nur unwillig und schnarchte weiter. Traudel lauschte. Da war er wieder, dieser undefinierbare Schrei. Eine Katze? Nein, die maunzten zarter, dieser Schrei war kräftiger. Ein Baby? Aber in ihrem Haus war niemand schwanger gewesen, das hätte sie gewusst, dafür hatte sie einen Blick. Einen unbestechlichen, traurigen, neidischen Blick. Vor allem einen heimlichen. Denn es war der Blick einer unfreiwillig Unfruchtbaren, wie der von Sara mit dem »geschlossenen Schoß«, wie sie in der Bibel beschrieben wurde, die erst mit 90 Jahren endlich schwanger wurde. Auf so ein Gotteswunder würde sie allerdings dann lieber verzichten. Sie ging auf den Balkon, vom dem aus man auf den Schulhof der Oberrealschule Eppendorf schaute, an der ihr Mann Deutsch, Biologie und Geschichte unterrichtete.

Oft stand sie tagsüber dort und schaute dem fröhlichen Treiben der Schüler in der großen Pause zu, im Sommer flogen Gummibälle, im Winter Schneebälle, die lauten Rufe hallten dann über den Hof bis zu ihrem Schlafzimmerbalkon. Da war diese tiefe Traurigkeit, die sich jedes Mal in ihr ausbreitete und die von Monat zu Monat schlimmer zu werden schien. Immer dann, wenn ihr Körper ihr die so von Herzen gewünschte Schwangerschaft verweigerte. Und sie in ein so tiefes Loch fiel, dass niemand ihr heraushelfen konnte. Die Ärzte waren ratlos, sie waren beide gesund, es war einfach Schicksal. Oder sie wurde dafür bestraft, dass sie ihren ehelichen Pflichten mitunter innerlich seufzend nachging. Ihrem Mann ging es inzwischen wohl nicht anders. Sein in der Hochzeitsnacht geäußertes Versprechen »Der Appetit kommt beim Essen, Traudel, im Ehebett wird es ähnlich sein« hatte sich leider nur in Ausnahmefällen bewahrheitet. Dabei hatte er sich am Anfang wirklich bemüht. Ihre Hand dahin geführt, wo es für ihn schön war, und ihr angeboten, dies auch mit seiner Hand zu tun. Aber sie hatte mit diesem Angebot nichts anfangen können.

Traudel schätzte ihren Wilfried, aber war es Liebe? Sie wusste ja im Grunde nicht, wie sich Liebe anfühlte. Ein Kribbeln von Kopf bis Fuß wie in Romanen und im Kino war es jedenfalls nie gewesen, ihr Herz hüpfte nicht, wenn sie seinen Schlüssel in der Tür hörte, auch als sie noch mit Zunge küssten, schwanden ihr keineswegs die Sinne,

aber da war die Dankbarkeit, gut versorgt, kein altes Fräulein geblieben zu sein, war das genug? War sie undankbar, erwartete sie zu viel?

Es wäre, davon war Traudel Kappelmann fest überzeugt, mehr als genug, wenn er ihr ein Kind geschenkt hätte. Oder zwei, vielleicht sogar drei, sie hatte sich immer eine große Familie gewünscht. Kinderlachen an einem großen Tisch, Mensch Ärgere Dich Nicht an kalten Herbsttagen, kalte Kinderfüße, die zu ihr ins Bett krabbelten, psst, nicht Vati wecken!

Sie hatte ein genaues Bild vor Augen gehabt, wenn sie an ihr Leben dachte. Immer waren Kinder darin gewesen, was war sie denn, wenn sie nicht Mutter wurde? Ein geschlossener Schoß. Eine blütenlos vertrocknete Gartenpflanze. Wie Sara im Alten Testament. Als Ehefrau und Mutter eine einzige Niederlage. Sie hatte sie nicht verdient, diese Abwesenheit von Glück. Diese Verweigerung von dem, was für die meisten Frauen selbstverständlich war – eine Schwangerschaft, ein Baby, Mutterglück.

Sie lauschte in die Nacht, aber jetzt war alles still, hatte sie etwa nur geträumt? War sie vor lauter Sehnsucht verrückt geworden, hörte sie Schreie, die es nur in ihrer Einbildung gab? Sie erhob sich vom Bett, ging den langen, dunklen Flur auf und ab und spitzte die Ohren. Nichts.

Auch im Treppenhaus war es totenstill.

Aber sie war inzwischen hellwach, an Schlaf war nicht mehr zu denken. Sie ging nach vorn, in das mittlere Zimmer, das ihre Schwiegermutter Helga Kappelmann den Salon nannte, weil sie fand, das klinge vornehmer als Wohnzimmer. Sie war keine ganz einfache Person, diese Schwiegermutter, zu allem und jedem hatte sie eine Meinung, die sie niemals für sich behielt. Aber sie besaß auch Humor, vielleicht einen etwas boshaften, trotzdem kam Traudel meist recht gut mit ihr aus. Am besten nachmittags bei einem gemütlichen Kaffeestündchen und ein paar von den bunten Stücken, die Helga aus der Konditorei Schneewittchen am Klosterstern besorgte. Und Helgas »Komm, lass uns eine piepen«, mit dem sie ihre Schwiegertochter auf eine vor ihrem Sohn versteckte Zigarette auf den Balkon lockte, war ihr kleines Geheimnis, das sie aneinanderschmiedete.

Helga hatte nur eine für Traudel lästige, ja schmerzhafte Angewohnheit – zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit wies sie darauf hin, wie enttäuscht sie war, noch keine Großmutter zu sein.

Die Hüften ihrer Schwiegertochter konnten es ihrer Meinung nach nicht sein, »die sind doch wirklich ausladend genug, meine Liebe. Du hast Glück, dass mein Sohn so etwas mag«.

Vielleicht die viel zu kurzen Röcke, die gerade so modern waren, »und untenrum alles erkälten?«.

Helga mutmaßte gern. Am liebsten vor heimischem Publikum. Traudel reagierte dann mit einem Schweigen, das wort-, aber keineswegs ausdruckslos war. Und wenn wieder einmal bei einer gemeinsamen Mahlzeit ein Satz fiel wie dieser: »Nur ältere Herrschaften am Tisch, wie schön wäre jetzt ein Kinderlachen«, dann dachte sie ganz intensiv daran, dass ihre eigene Mutter vor vielen Jahren bereits an einem viel zu spät entdeckten Unterleibstumor gestorben war, aber ihre Schwiegermutter ihnen regelmäßig mit einem Mietzuschuss unter die Arme griff.