Die Sünde - Evelyn Holst - E-Book
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Die Sünde E-Book

Evelyn Holst

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Beschreibung

Ein Wolf im Schafspelz: Der fesselnde Kriminalroman »Die Sünde« von Evelyn Holst jetzt als eBook bei dotbooks. Sie ist die Frau, die überall aneckt: Kriminalkommissarin Alexa Martini ermittelt am liebsten auf eigene Faust. Doch manche Abgründe sind zu tief und dunkel, als dass man sich ihnen allein stellen kann, ohne daran zu zerbrechen … Ein neuer Fall gibt der Hamburger Polizei Rätsel auf: Mehrere Frauen geben an, in ihren Wohnungen überfallen und vergewaltigt worden zu sein – aber dafür gibt es keine Beweise. Nur Alexa ist überzeugt, dass die Frauen die Wahrheit sagen und beginnt fieberhaft zu ermitteln. Doch als sie das Netz um den Täter immer enger zieht, muss Alexa erkennen, dass das Böse manchmal genau dort lauert, wo das perfekte Familienglück zu Hause zu sein scheint … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der psychologische Spannungsroman »Die Sünde« von Evelyn Holst – auch bekannt unter dem Titel »Ach wie gut, dass niemand weiß« – ist der Auftakt ihrer Krimireihe um die Kommissarin Alexa Martini, die Fans von Nicci French und der Serie »The Fall« begeistern wird. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 529

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Über dieses Buch:

Sie ist die Frau, die überall aneckt: Kriminalkommissarin Alexa Martini ermittelt am liebsten auf eigene Faust. Doch manche Abgründe sind zu tief und dunkel, als dass man sich ihnen allein stellen kann, ohne daran zu zerbrechen … Ein neuer Fall gibt der Hamburger Polizei Rätsel auf: Mehrere Frauen geben an, in ihren Wohnungen überfallen und vergewaltigt worden zu sein – aber dafür gibt es keine Beweise. Nur Alexa ist überzeugt, dass die Frauen die Wahrheit sagen und beginnt fieberhaft zu ermitteln. Doch als sie das Netz um den Täter immer enger zieht, muss Alexa erkennen, dass das Böse manchmal genau dort lauert, wo das perfekte Familienglück zu Hause zu sein scheint …

Über die Autorin:

Evelyn Holst studierte Geschichte und Englisch auf Lehramt. Nach dem ersten Staatsexamen arbeitete sie dreizehn Jahre als Reporterin für den »Stern«, u. a. als Korrespondentin in New York. Für ihre Reportage »Es ist so still geworden bei uns« wurde sie mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Seitdem verfasste sie zahlreiche Romane, die auch verfilmt wurden, sowie Originaldrehbücher für Fernsehfilme. Evelyn Holst ist mit dem Filmemacher Raimund Kusserow verheiratet, mit dem sie gemeinsam zwei erwachsene Kinder hat.

Bei dotbooks erscheint ihre Hamburg-Krimireihe:

»Die Sünde – Alexa Martini ermittelt«

»Der Verdacht – Alexa Martini ermittelt«

»Das Verlangen – Alexa Martini ermittelt«

Bei dotbooks veröffentlichte Evelyn Holst außerdem ihre humorvollen Romane:

»Ein Mann für gewisse Sekunden«

»Aus Versehen Liebe«

»Ein Mann aus Samt und Seide«

»Du sagst Chaos, ich sag Familie«

»Ein König für gewisse Stunden«

»Gibt's den auch in liebenswert?«

»Der Mann auf der Bettkante«

***

Aktualisierte eBook-Neuausgabe April 2023

Dieses Buch erschien bereits 1997 unter dem Titel »Ach wie gut, dass niemand weiß …« bei Knaur.

Copyright © der Originalausgabe 1997 by Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München.

Der Abdruck eines Gedichts aus dem Sammelband »Mutterrecht der Sterne« erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Frau Ute Schiran.

Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: © HildenDesign unter Verwendung eines Motives von Shutterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-632-0

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

In diesem eBook begegnen Sie möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. Diese Fiktion spiegelt nicht unbedingt die Überzeugungen des Verlags wider.

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Evelyn Holst

Die Sünde

Kriminalroman – Alexa Martini ermittelt

dotbooks.

Die Sünde liegt im Gedanken, ob der Körper ihm nachspielt, das ist Zufall.

Georg Büchner

Dantons Tod

Teil 1

Kapitel 1

»Weiß deine Frau eigentlich, daß du sie betrügst«, fragte sie, »oder spielst du zu Hause den treuen Ehemann?« Sie lachte, schwang ihre langen Beine über die Bettkante und steckte sich eine Zigarette an. Sie setzte sich auf, sah ihn prüfend an. »Soll ich mich ausziehen, oder bist du heute abend nicht in Stimmung?«

Er beugte sich zu ihr hinüber und küßte sie auf die Lippen, aber sie schob ihn weg. »Netter Versuch.« Ihre Stimme klang verärgert und leicht resigniert. »Aber mit dir ist heute abend nichts anzufangen. Wenn du dich beeilst, schaffst du die letzte Maschine noch.« Sie stand auf, drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus. »Hast du wenigstens ein Geschenk für deinen Sohn gekauft? Wie alt ist er eigentlich heute geworden? Drei oder vier?«

»Drei«, antwortete er leise. Er schaute auf seinen Reisewecker. Sieben Uhr abends. Die Kinderfeier würde zu Ende und die Wohnung ein Schlachtfeld sein. Überall Papierschlangen, Papphüte und zermatschte Schokoküsse. Leander, sein Jüngster, würde strahlend auf seinem Dreirad durch den Flur rasen. Lucy, trotz ihrer knapp sechs Jahre schon ganz deutsche Hausfrau, würde alle Geschenkpapiere sorgfältig aufsammeln, glattstreichen und zusammenfalten. Und Anna saß bestimmt erschöpft mit den anderen Müttern in der Küche und trank ein Glas Wein.

»Schade, daß du nicht da bist«, hatte sie gesagt, als sie seinen Koffer packte. »Die Kinder werden enttäuscht sein.« Dann hatte sie ihn zum Abschied geküßt, liebevoll und völlig arglos. »Mach’s gut, mein Schatz, paß auf dich auf.«

Ich muß Schluß machen, heute abend noch, dachte er und fühlte die Traurigkeit und den Verlustschmerz, noch bevor er die Worte ausgesprochen hatte. Die Frau neben ihm war kein One-night-Stand gewesen, obwohl sie damals, vor sechs Monaten, bei einer Tagung in London, bereits am ersten Abend so heißhungrig übereinander hergefallen waren, als gäbe es kein Morgen mehr. Er liebte sie, genau wie er Anna liebte. Aber Anna gab es länger, und mit ihr hatte er zwei Kinder. Er mußte verzichten.

Er atmete tief durch und stand vom Hotelbett auf. »Ich nehm die letzte Maschine«, sagte er und wählte die Telefonnummer, ohne die Frau auf dem Bett anzusehen.

»Hallo, mein Schatz, ich bin’s, der Papi«, er fühlte ihren traurigen Blick im Rücken, »sag der Mami, daß ich in drei Stunden bei euch bin. Nein, dann seid ihr schon im Bett. Tschüs, mein Engelchen.«

Er legte den Hörer auf die Gabel. »Ich kann nicht anders«, seine Stimme klang rauh, »ich brauch meine Kinder einfach. Und ich liebe meine Frau. Fährst du mich bitte zum Flughafen?« Sie ging auf ihn zu und umarmte ihn. Ihr Gesicht war naß und seins auch. »Ich hab doch nichts anderes von dir erwartet«, sagte sie und räusperte sich energisch. Sie kramte in ihrer Handtasche und hielt ihm einen Apfel hin, »Hier, nimm«, ihre Stimme brach, »du hast den ganzen Tag nichts Richtiges gegessen.«

Er spürte ein leichtes Kratzen im Hals. Hoffentlich kein Asthmaanfall, dachte er, ich hab mein Spray nicht dabei. »Danke«, sagte er, nahm den Apfel aus ihrer Hand und biß hinein.

Kapitel 2

Verdammt! Verdammt! Verdammt!

Sie hatte die Gardinen zugezogen! Das milchige Licht, das durch die weißen, dünnen Vorhänge schien, ließ ihre Umrisse nur schemenhaft erkennen. Er fluchte leise. Alle Mühe umsonst.

Wochenlang hatte er sie ausspioniert. Sie verließ ihr Büro jeden Abend gegen halb sechs, im Edeka-Markt gegenüber, wo sie ihm aufgefallen war, kaufte sie ein, sehr gesund, sehr auf Linie bedacht, wie er mit einem diskreten Blick in den Einkaufswagen feststellte ‒ alles fettarm, wenig Kalorien, viel Obst und Gemüse. Dabei hatte sie es überhaupt nicht nötig. Samt ihren Einkäufen, die sie in einem Jutebeutel verstaut hatte, nahm sie dann den Bus, fuhr drei Stationen bis zum Niendorfer Gehege, betrat dann ihre Parterrewohnung, kam kurz darauf im Jogginganzug wieder und verschwand im nahe gelegenen Wald.

Bis sie nach einer, manchmal zwei Stunden keuchend wiederkam, vertrieb er sich die Zeit in seinem Auto mit Kreuzworträtseln. Die Lage ihrer Wohnung kannte er längst. Küche und Bad lagen zur Straße, das geräumige Wohn- und Schlafzimmer günstigerweise nach hinten zum Wald. Es hatte eine Woche gedauert, bis er sich im Garten einen geeigneten Platz zum Beobachten ‒ das Wort Spannen lehnte er ab ‒ so eingerichtet hatte, daß er erstens Nachbarn mit ihren Gassi gehenden Hunden nicht auffiel und es zweitens in der Hocke gut aushalten konnte.

Denn nur ganz ins Dunkel eingetaucht, unsichtbar für die Welt, spürte er dieses Gefühl von Allmacht und Überlegenheit dieser Frau gegenüber, die er als unwissende Partnerin für seine Inszenierungen auserkoren hatte. Und nur daß sie völlig ahnungslos und unwissend war, machte sie ja überhaupt zu einem geeigneten Objekt seiner Lüste.

Völlig unbefangen ging sie in ihre Wohnung, und er stellte sich vor, wie sie eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank holte, sie öffnete, ganz arglos, ganz intim.

Ich bin dein magischer Kontrolleur, dachte er dann, ich weiß alles über dich ‒ und du, du hast keine Ahnung, daß es mich gibt.

Sie war ein paar Tage verreist gewesen, für ihn eine schier endlos lange Zeit, in der er tagsüber unruhig und gereizt gewesen war, während ihn nachts diese schlimmen Bilder quälten. Ungeduldig hatte er auf ihre Rückkehr gewartet, sich sogar einen kleinen Klappstuhl gekauft, damit er es länger im Gebüsch aushalten konnte. Doch jetzt hatte sie die Vorhänge zugezogen und ihn ausgesperrt. Alles war umsonst. Ein Gefühl von Ohnmacht und rasender Wut stieg in ihm auf. Wenn er sie jetzt nicht sehen konnte, jetzt sofort, wenn er sie nicht in dieser Sekunde mit den Augen ganz langsam ausziehen und streicheln konnte, dann würde er …

Er verdrängte diesen Gedanken sofort. Leise schlich er ums Haus und konnte sein Glück kaum glauben. Die Klappe ihres Küchenfensters war offen! Wie ein übermächtiger Sog zog ihn dieser Anblick an. Ein, zwei geübte Griffe mit der Brechstange, und er wäre in ihrer Wohnung. Der Gott aus dem Dunkeln, um sie, ganz allein sie, zu beglücken. Wie sie sich freuen würde ‒ wenn er sie erst einmal überzeugt hatte, daß er ihr Glücksbringer war.

Er ging zu seinem Wagen, öffnete den Kofferraum und ging mit dem Werkzeug zum Haus zurück. Er würde es riskieren.

Als er sich der Fensterklappe näherte, kam sie mit dem Telefon durch die Tür. Ihre Haare waren wundervoll, rotbraun und dick und lockig. Er preßte sich an die Wand, um ihre Stimme zu hören …

»Hallo? Ja, hallo! Du bist es. Endlich. Ja, natürlich hab ich dich vermißt. Ganz rasend sogar …«

Sie setzte sich auf einen Stuhl und legte die Beine auf den Küchentisch. Dabei rutschte ihr Nachthemd bis zu den Oberschenkeln, die fest und leicht gebräunt waren. Kein Wunder bei all dem Gerenne, dachte er zärtlich.

Sie kratzte sich die Beine und lächelte: »Kannst du nicht noch vorbeikommen? Wenigstens auf ein Stündchen? Ich bin auch schon angewärmt.«

Mit dem Telefon in der Hand ging sie auf das Fenster zu. Er preßte sich eng an die Wand. Als er sich vorsichtig wieder löste, hatte sie die Klappe geschlossen, die Vorhänge zugezogen und war verschwunden.

Neben ihm knackte es im Gebüsch. Sein Herz raste. Ein Hund? Die Polizei?

»Das ist mein Revier«, zischte eine Stimme, »die Frau gehört mir seit fünf Jahren. Ich war zur Kur, aber jetzt bin ich wieder da. Hau ab hier, sonst mach ich dir Beine.«

Er drehte sich um und sah einen etwa sechzigjährigen Mann mit einem offenen Trenchcoat. Auch die Hose darunter war geöffnet und gab eine kleine, sehr weiße, sehr weiche Schnecke frei.

»Sie gehört dir«, sagte er nun zu dem Mann und verschwand in der Dunkelheit.

Kapitel 3

»Mach’s gut, ruf an, wenn ich irgendwas für dich tun kann.« Küßchen rechts, Küßchen links, dann verschwanden die Trauergäste wie schwarze Nebelkrähen im Treppenhaus und ließen Anna Blumenberg mit einem Berg gutgemeinter Blumensträuße und in ziemlich ratlosem Zustand zurück.

Und nun? dachte sie leergeweint und todmüde, als sie etwas Weiches am Knie spürte. Leander, ihr dreijähriger Sohn, küßte und leckte ihr Bein, ganz sanft und zärtlich, wie ein Hündchen.

»Mama hat Aua«, sagte er mit seiner rauhen Kleinjungenstimme, »will wieder heilemachen.«

Sie zog ihn auf den Schoß, vergrub ihr Kinn an seiner kleinen Schulter. »Papa ist gestorben«, sagte sie, »das kannst du nicht wieder heilemachen.«

»Kommt Papa jetzt ins Kalte oder ins Warme?« fragte Leander, und es dauerte ein paar Sekunden, bis Anna begriff, daß er damit Himmel oder Hölle meinte.

»Wahrscheinlich ins Warme«, antwortete sie automatisch, denn ihre Vorstellung von Hölle war ein Platz, wo man immer kalte Füße hatte.

Ihr Sohn sah das anders. »Kommt Papa wirklich zum Teufel?« rief er entsetzt. »Dann will ich da auch hin. Ich will bei meinem Papa bleiben.«

Wenn sie gewußt hätte, daß Klaus so früh sterben würde, dann hätte sie ihn ganz bestimmt nicht geheiratet. Soviel Schmerz war nicht auszuhalten. Und soviel Wut. Ein so lächerlicher Tod. Wenn es wenigstens Krebs gewesen wäre, ein Herzinfarkt oder Verkehrsunfall, dann hätte sie angemessen um ihn trauern können.

Aber nein, noch im Tod mußte er sie veralbern. Mußte sich als schwer Asthmakranker auf einer angeblichen Dienstreise mit einer anderen Frau herumtreiben und beim Sex einen Apfel essen. An dem er prompt erstickte.

Als der Anruf des Notarztes kam, war die Geburtstagsschlacht gerade geschlagen, und sie saß erschöpft mit den abholenden Müttern in der Küche. Neun Dreijährige hatte Leander einladen dürfen, für jedes Lebensjahr drei, ein Wahnsinn, wie andere Mütter prophezeiten, die die Zahl der Geburtstagsgäste ihrer Kinder immer so klein wie möglich hielten.

»Wer möchte einen Wein?« rief sie erleichtert in die Mütterrunde, als Lucy mit dem Handy hereinkam. »Mama, für dich, ein fremder Mann.«

Die Mütter hatten amüsiert die Augenbrauen hochgezogen, als Anna den Hörer ans Ohr hielt. »Blumenberg?«

»Hier ist Dr. Melderis aus dem Unfallkrankenhaus in Wien. Der vor drei Stunden eingelieferte Pa ‒«

»Was ist los?« schrie sie los. »Um Himmels willen, was ist passiert mit Klaus?«

»Sind Sie die Schwester?« fragte eine ratlose Männerstimme. Die Mütterrunde war verstummt.

»Was soll der Unsinn?« rief Anna ungeduldig in den Hörer, »was ist mit meinem Mann? Ein Unfall?«

»Entschuldigen Sie bitte.« Die Stimme des Arztes klang unbehaglich. »Ein Mißverständnis, ich dachte, seine Frau sei bei ihm, mein Fehler, diese Telefonnummer …«

»Reden Sie endlich ‒ was ist mit ihm?«

»Es tut mir sehr leid, Frau Blumenberg, aber ihr Mann ist vor einer Stunde verstorben«, sagte der Arzt. »Er ist an einem Apfel erstickt. Ein Asthmaanfall. Es war nichts mehr zu machen. Auch seine, ähm, Begleitung, konnte offensichtlich nicht helfen. Sollen wir Ihnen seine Sachen zuschicken, oder kommen Sie selbst vorbei?«

Anna blickte in die Runde. Besorgte, ängstliche Frauenaugen. Der Anruf, vor dem alle Ehefrauen Angst haben. Ihr Anruf. In allen Augen dieselbe Frage.

Was ist passiert?

Ohne eine Antwort legte sie langsam den Hörer auf.

»Klaus ist tot«, sagte sie nur. »Er ist an einem Apfel erstickt. Wie Schneewittchen.«

Und dann, wie von weiter Feme, schwoll ein Lachen in ihr, ein böses, hysterisches Gekicher, das sie nicht mehr bremsen konnte. Der Ausdruck in den Augen der anderen wechselte von besorgt auf betreten, eine Frau nach der anderen erhob sich. Und während sich Anna mit hämmerndem Herzen die Tränen aus den Augen wischte, drang die kleine, ängstliche Stimme ihrer Tochter an ihr Ohr: »Hat Papa mir was mitgebracht?«

Es war die schlimmste Frage ihres Lebens.

Kapitel 4

Die Zeit bis zur Beerdigung versank in einem gnädigen Nebel. Ihr Hausarzt pumpte sie mit Valium voll, ihre Mutter kam und beschäftigte die Kinder, die sich unter Himmel eine Art erweiterte Dienstreise vorstellten, denn ihr Papa war ja als Vertreter für Computeranlagen sowieso ständig unterwegs, warum nicht auch im Himmel?

»Sind da auch Computer?« fragte Leander. »Und dürfen da alle Engel mit rumspielen?« Die fast sechsjährige Lucy dagegen hatte Annas Erklärung, ihr Papa sei jetzt ein Engel und beobachte sie von einer Wolke aus, mit starrem Schweigen entgegengenommen. Sie, von der Klaus immer lachend behauptet hatte, sie habe wohl Quasselwasser getrunken, sprach seit seinem Tod nur noch das Nötigste. Wenn Anna sie in den Arm nehmen wollte, wehrte sie böse ab. »Laß mich in Ruhe, Mama, ich will Papa.« Und dann ging sie in ihr Zimmer, knallte die Tür hinter sich zu, und das unterdrückte Kinderschluchzen, das von dort zu hören war, brach Anna das Herz.

Es war alles so unwirklich. Sein Koffer und seine Aktentasche waren mit der Post gekommen und von ihr ungeöffnet in die Abstellkammer verfrachtet worden. Am liebsten hätte sie alles verbrannt. Gleich wird es klingeln, dachte sie dreißigmal am Tag, und Klaus wird reinkommen. Er wird seinen Koffer aufmachen, Geschenke für die Kinder, seine schmutzige Wäsche für mich. Ich werde ihn mir vorknöpfen, weil er schon wieder fremdgegangen ist, obwohl er mir doch versprochen hatte … egal. Er wird alles abstreiten, wie immer. Und, in die Enge getrieben, von einer ganz unwichtigen Einsamkeitsnummer faseln, die nichts, aber auch gar nichts, mit mir zu tun hätte. Und dann wird er mich anschauen, und wir werden uns im Bett wieder versöhnen, wenn die Kinder schlafen und Leanders Schnarchgeräusche aus seinem Zimmer dringen. Seine Polypen müssen raus, wird Klaus sagen, wie immer. Das geht doch erst, wenn er vier ist, werde ich antworten.

Sie vermißte ihren Mann trotz allem so heftig, daß es ihr körperlich weh tat. Ihr Unterbauch war hart wie eine Kugel. Er war ein Schlitzohr gewesen, ein Frauenheld, aber sie hatte ihn kompromißlos geliebt.

»So ein schöner Kerl, was will der denn von dir?« hatte ihre Mutter sehr erstaunt gefragt, als sie ihn zum erstenmal mit nach Hause brachte, »den halt bloß fest, so was kriegst du nie wieder.«

Und das hatte sie getan, während der zwölf turbulenten Jahre ihrer Ehe. Sie wußte, daß er schöner war als sie und witziger und sich viele wie ihre Mutter über diese Beziehung wunderten, auch wenn sie zu höflich waren, es auszusprechen. Nur ihre beste Freundin Alexa war unbeeindruckt gewesen. »Schöne Schale, hohler Kern, mein Augapfel«, hatte sie ihr nach dem Standesamt zugeflüstert. »Du hättest was Besseres verdient.«

Das hatte Anna nie gefunden. Sie liebte ihren treulosen Ehemann, bis daß der Tod sie schied. Eine Frau wie sie, das machte sie sich immer wieder klar, mittelgroß, mittelblond, alles mittel, für die war es ein Geschenk des Himmels, einen Ehemann gefunden zu haben, mit dem sie so hatte lachen können wie mit Klaus. Und mit dem es nach zwölf Jahren Ehe noch immer so heiß im Bett war. Eine absolute Ausnahmesituation, das wußte sie von ihren horizontal längst frustrierten Freundinnen.

Sie hatte sich deshalb mit seinen Seitensprüngen abgefunden. Er gehe gelegentlich mal fremd, so hatte er die Hotelrechnungen, die Lippenstiftspuren, den fremden BH im Handschuhfach begründet, weil er einfach ein Zuviel an Liebe in sich spüre, nicht ein Zuwenig. Und komme diese zutiefst maskuline Neigung nicht vor allem ihr zugute?

Sie hatte genickt und ein Lächeln versucht, dessen Kläglichkeit er nicht sehen konnte, weil er sich in seine Zeitung vertiefte. Und wie viele Tabletten sie gegen ihre chronisch übersäuerte Magenschleimhaut einnahm, konnte er ja nicht wissen. Nur auf einem hatte sie bestanden: »Mach’s, wenn’s sein muß, aber nicht in Hamburg, nicht vor meinen Freunden. Ich will nicht zum Gespött der Leute werden.«

Er hatte sie dankbar in die Arme genommen und sich an ihre Abmachung gehalten. Am Todesapfel war er dann ja auch, wie vereinbart, in Wien erstickt.

Fünf Tage nach seinem Tod klingelte es. Anna öffnete die Tür und sah sich einer jungen und, wie sie sofort feststellte, auffallend schönen Frau gegenüber. Schimmerndes, schwarzes Haar, leuchtendblaue Augen, teurer Kaschmirmantel. Annas Herz wurde ein schmerzhafter, kleiner Kloß. Vor ihr stand die Todesursache.

»Sie wünschen?« fragte sie ahnungsvoll und trat in den Hausflur, denn Alexa war drinnen und die Kinder.

Die junge Frau hatte verweinte Augen und eine Plastiktüte in der Hand. »Ich wollte mich nur ganz herzlich bei Ihnen entschuldigen«, sagte sie leise. »Es tut mir ja so leid. Hier…« ‒ sie drückte Anna die Tüte in die Hand ‒ »ein Geschenk für Ihren Sohn. Das hat Klaus an seinem letzten Tag für seinen Geburtstag gekauft.«

Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ging die Treppe hinunter. Wie festgewurzelt blieb Anna auf ihrer Fußmatte stehen und kämpfte das völlig unsinnige Verlangen in sich hinunter, dieser jungen Frau nachzueilen und sie in die Arme zu nehmen. Ein Alptraum mußte es gewesen sein ‒ heißer Sex die eine Minute, röchelnder Tod die nächste.

»Augenblick noch«, rief sie und lief die Treppe hinab. Die junge Frau blieb stehen und drehte sich um.

»Haben Sie meinen Mann geliebt?« fragte Anna.

Die junge Frau nickte.

»Er hat mich auch geliebt«, sagte sie, »aber Sie und die Kinder hat er mehr geliebt. Das Treffen in Wien war übrigens das letzte. Vielleicht tröstet Sie das.«

Sekunden später klappte die Haustür.

Anna ging langsam die Treppen wieder hoch. Eigenartig, dachte sie, das tröstet mich tatsächlich etwas. So tief bin ich als Ehefrau gesunken.

Jetzt bereute sie, daß sie Klaus auf Anraten von Alexa in einem billigen, braun furnierten Sarg hatte bestatten lassen, obwohl sie wußte, daß er eine Feuerbestattung vorgezogen hätte.

»Ein bißchen Rache soll schon sein«, hatte Alexa grimmig gesagt, »das bist du dir als betrogene Witwe schuldig.«

Selbst der Bestattungsunternehmer hatte maliziös die Augenbrauen hochgezogen und ein leises »Auch der Tote hat ein Recht auf Schönheit« gemurmelt.

Ob sie ihn umsargen lassen sollte?

In der Wohnungstür wartete Alexa auf sie. »Wo kommt die Duty-free-Tüte her?« fragte sie. Als Kriminalbeamtin hatte sie ein äußerst scharfes Auge.

»Die ist noch von Klaus«, wich Anna aus. »Hat jemand von der Lufthansa vorbeigebracht.«

In der Küche schüttete sie den Inhalt auf den Tisch. Eine Stange Zigaretten, eine Flasche Obsession, eine Hollywood Hair Barbie für Lucy, ein Lego-Auto für Leander. Unpersönlich. Hastige Geschenke eines leicht schuldbewußten Vaters, der wußte, daß er seine Kinder vernachlässigte, weil ihm die Karriere wichtiger war.

Alexa musterte die Sachen mit mokant hochgezogenen Mundwinkeln: »Liebevoll, wie es seine Art war«, sagte sie nur und küßte Anna flüchtig auf die Wange. »Ich muß los, das Verbrechen wartet nicht.«

Anna brachte die Kinder ins Bett und räumte auf.

Und jetzt, Anna Blumenberg? dachte sie. In ihr war eine große Leere. Tablettenbetäubte, trügerische Ruhe. Wie tot. So eingesponnen in trübe Gedanken war sie, daß sie das Klingeln an der Tür erst hörte, als es von kräftigen Schlägen begleitet wurde.

Als sie die Tür öffnete, rollte ihr Nachbar Gerd Hoffmann über die Schwelle. In der rechten Hand hielt er eine Flasche Krimsekt. »Dein Mann ist zwar tot, Gott hab ihn selig, aber du bist doch nicht taub«, sagte er in der ihm eigenen, sehr direkten Art, die Menschen, die ihn nur flüchtig kannten, oft vor den Kopf stieß. Was ihn wenig scherte, denn seit er vor acht Jahren nach einem schweren Autounfall auf der Intensivstation aufgewacht war und ihm der Arzt behutsam mitteilte, daß er vom dritten Rückenwirbel an gelähmt sei und nie wieder würde gehen können, daß sie seine schwangere Ehefrau und das ungeborene Kind leider auch nicht mehr hätten retten können, war er immun gegen die kleineren Widrigkeiten des menschlichen Lebens.

Er war seither absolut furchtlos, ein großer Mann mit muskulösen Oberarmen, die er jeden Tag eisern trainierte. »Mein Restkörper muß einfach perfekt sein«, lächelte er. »Wenn schon Krüppel, dann wenigstens obenrum fit wie ein Turnschuh.« Daß er sein Geld als Porträtmaler verdiente, war Glück im Unglück, weil er trotz seiner Behinderung im Sitzen weiterarbeiten konnte. Und nach einem rührseligen Artikel in einer Boulevardzeitung mit der Überschrift: »Und das Leben geht weiter ‒ die traurige Geschichte des Gerd H.« war er gefragt wie nie zuvor. Mein Schicksalsbonus, pflegte er zu scherzen, denn sein Humor war schwarz wie ein Rabenflügel.

»Du siehst schlecht aus.« Sein prüfender Blick glitt langsam über ihr blasses Gesicht, die verquollenen Augen. »Du weißt, daß ich deinen Mann schon immer für einen Scheißkerl gehalten habe, deshalb erwartest du sicher nicht, daß ich jetzt Trauergefühle vortäusche. Bring Gläser, dann stoßen wir auf dein neues Leben an.«

Seltsamerweise tat Anna diese Direktheit wohl. Sie war in den letzten Tagen allzuoft tränenreich abgeküßt und gedrückt worden, hatte allzu viele gutgemeinte Trostworte anhören müssen. Am schlimmsten war der naßgeweinte Busen ihrer Schwiegermutter gewesen, die etwas von »so früh ins Himmelreich gerufen« murmelte. Anna hatte sie mit den sündigen Details seines Ablebens verschont.

»Ich darf nichts trinken«, wehrte sie ab, »ich hab immer noch zuviel Valium im Blut.«

»Vergiß dein Blut«, sagte Gerd und gab ihr ein volles Glas. »Du siehst übrigens bezaubernd aus in Schwarz, hat dir das schon jemand gesagt?«

Er beugte sich in seinem Rollstuhl vor und gab ihr einen brüderlichen Kuß auf die Wange. Das Verhältnis zwischen ihnen war schon immer leicht flirtig gewesen, aber während ihrer Ehe hatte sie sich sicher gefühlt. Dieser Schutzschild fiel jetzt weg, plötzlich fühlte sie sich seltsam beklommen, ein Gefühl, das sie sich auf keinen Fall anmerken lassen wollte. Nicht noch mehr Probleme. Wahrscheinlich bilde ich mir sein Interesse auch nur ein, rief sie sich zur Ordnung, schließlich bin ich nicht gerade für Schönheit vorbestraft. Und nur weil er im Rollstuhl sitzt, muß er ja nicht jede gut finden. Trotzdem tat ihr seine Gegenwart wohl.

Eine leise Ahnung wehte sie an, zart wie ein Frühlingshauch, daß es ein Leben nach dem Tode gab. Irgendwie, irgendwann. Daß vielleicht ganz tief in ihr drinnen eine Stärke schlummerte, die sie im Bedarfsfall abrufen konnte.

Gerd lehnte sich im Rollstuhl zurück und betrachtete sie. Ihren gebeugten Kopf, die nervös knetenden Hände, den allzu dünnen Körper. Und wie immer, wenn er sie unbemerkt beobachten konnte, gestattete er seinem energisch zugeschütteten Gefühl für sie eine klitzekleine Ausbreitung. Ließ es zu, daß diese warme, zärtliche Schwingung ihn wärmte, bis zum Bauchnabel. Verdammt, dachte er, ich lieb dich. Mit all deiner Unsicherheit und deinem Mißtrauen. Wenn du dich doch endlich mal richtig erkennen würdest! Wenn du doch endlich begreifen würdest, was für eine tolle Frau du bist!

Hilflos hatte er miterleben müssen, wie sie sich selbst belog. Hatte Klaus vom Fenster aus beobachtet, wie er sich vor der Haustür zärtlich von anderen Damen verabschiedete. War dann als Hausfreund zum Essen eingeladen worden, wo Anna, erglüht vor Freude, daß sie ihren Mann nach einer langen Dienstreise endlich wiederhatte, Rinderroulade servierte und die beiden verliebte Küsse austauschten. Nie hatte er in einer solchen Situation die Contenance verloren, er war immer der leicht sardonische Nachbar geblieben, der mit dem Hausherrn Witze riß und der Hausfrau leicht gewagte Komplimente machte. Manchmal spürte er den mitleidigen Blick von Klaus, der ihn, wie die meisten Männer, als Mann im Rollstuhl nicht ernst nahm. Keine Konkurrenz, sagte dieser Blick, armes Schwein.

Und während all dieser Zeit war seine Liebe zu Anna gewachsen. Er hatte ihre Tränen getrocknet, wenn sie Klaus im Hotelzimmer angerufen und eine fremde Frau den Hörer abgenommen hatte. Er hatte sie als Akt gemalt, ein Geburtstagsgeschenk für Klaus, das dieser ins Gästeklo gehängt hatte. In all diesen schmerzhaft schönen Jahren hatte er sich sicher gefühlt in seinem unterdrückten Gefühl für sie. Zwei unumstößliche Gründe dagegen halfen dabei ‒ ihre Ehe und sein Rollstuhl.

Jetzt war sie Witwe, aber er war immer noch ein Krüppel.

Es war ihm herausgerutscht, ehe er es verhindern konnte: »Kann ich denn jetzt mein Glück bei dir versuchen, wo du doch endlich keusche Witwe bist?«

Anna lachte, eine Sekunde lang. Dann hörte sie wie ertappt auf.

»Du bist wirklich unmöglich.« Ihre Stimme klang ernst. »Ich muß doch mein Leben erst mal wieder in den Griff kriegen. Klaus hat mir nur Schulden hinterlassen. Ich geh wieder an die Schule zurück. Montag fang ich an.«

Sie trank ihr Glas in einem Zug leer, hielt es ihm wieder hin. »Was soll’s?« seufzte sie, »ich bin ja sowieso zugedröhnt bis obenhin. Und wenn die Dröhnung nachläßt, fall ich erst mal in ein tiefes, schwarzes Loch.«

Ihre Stimme vibrierte leicht, also griff er in die Kleenex-Packung und hielt ihr ein Taschentuch hin. »Keine Sorge«, meinte er leichthin, »das war kein unmoralisches Angebot. Ich bin dein Freund, kein verhinderter Verehrer. Dein Alabasterkörper interessiert mich nicht.«

Er hatte so energisch gesprochen, daß sie leicht zusammenzuckte. Peinlich, dachte sie, wie schnell ich so einen harmlosen Scherz mißverstehe. Ich bin eben ganz ungeübt mit Männern. »Dein Mann war ein Arschloch«, sagte er.

»Ich weiß. Aber ich hab ihn von Herzen geliebt.«

»Das ist ja das Schlimme«, lächelte er.

Kapitel 5

Ein lauer Vorfrühlingsabend. Wie geschaffen für die Liebe.

»Hier möchte ich wahrlich nicht tot am Zaun hängen«, keuchte Kriminalhauptkommissar Peter König, als er mit seiner Kollegin, der Kriminalhauptkommissarin Alexa Martini die kohlduftende, uringetränkte Treppe eines heruntergekommenen Einfamilienhauses in Hamburg-Wilhelmsburg hochstieg, die zu einem diskreten kleinen Privatpuff im fünften Stockwerk führte. Dort sorgte ein geschäftstüchtiger Russe namens Fjodr Pojem mit einer stets wechselnden, multikulturellen Damentruppe für guten Umsatz.

Obwohl diskret geführt, war diese Absteige als Tummelwiese abgewiesener Asylantinnen polizeibekannt geworden und wurde deshalb regelmäßig kontrolliert. Ein Job, den die dreizehn Kollegen des »Fachkommissariats für Sexualdelikte« haßten wie grüne Pickel, denn vor Tatort trafen sie jedes Mal auf verlegene deutsche Freier, Prostituierte ohne jede Art von Ausweis und deutschem Sprachvermögen und haufenweise vollgefressene Ratten. Sie nahmen dann seufzend Protokolle auf, die eine oder andere weinende Asylantin fest, und es begann ein aufwendiger Papierkrieg mit diversen Behörden. In neun von zehn Fällen tauchten die Beschuldigten wieder unter. »Ist auch egal, ob wir hier sind oder in Nordkorea fallt ’ne Klotür zu«, murmelte König und klopfte kräftig an die dünne Wohnungstür.

»Jedesmal klopfst du, und nie macht jemand auf«, mokierte sich Alexa. »Noch nie was von den Segnungen moderner Technik gehört?« Sie griff zu ihrem Handy, drückte die Wahlspeichertaste. »Guten Abend, Fjodr, hier ist deine Freundin Alexa. Nein, ich will immer noch nicht für dich arbeiten. Wir stehen mal wieder vor verschlossener Tür. Wenn sich in drei Minuten Sesam nicht öffnet, trete ich ihn höchstpersönlich ein. Na also.«

Sie steckte das Handy in die Tasche und betrat die wie von Zauberhand geöffnete Wohnung. König war voll insgeheim eingestandener Bewunderung. Ein Teufelsweib, dachte er. Die hat mehr Mumm als mancher Kerl. Dazu sah sie prachtvoll aus, das gelungene Mischprodukt eines italienischen Vaters und einer ostfriesischen Mutter. Ärgerlich, daß sie für Männer wie ihn nichts übrig hatte. Einmal hatte er es probiert. Nach einem nächtlichen Einsatz, sie beide ganz allein im Einsatzwagen, nur hinten der Einbrecher mit Handschellen, hatte er ihr vorsichtig die Hand aufs Knie gelegt. Genauso vorsichtig hatte sie seine Hand wieder entfernt. »Danke, König, aber kein Bedarf«, sagte sie nur, sehr freundlich, aber es reichte. Sein Kater am nächsten Morgen hatte Raubtierdimensionen.

Sie hatte es nie wieder erwähnt.

Im stockdunklen Flur war niemand zu sehen. Totenstille. »Und ich sprach, es werde Licht, und es ward Licht«, sagte Alexa laut und knipste die grelle Flurbeleuchtung an. Dann öffnete sie eine Zimmertür nach der anderen. An ihrem beschwingten Schritt merkte König, wie sehr sie ihren Auftritt genoß. »Heraus aus den Betten, heraus, heraus, die liebe Frau Sonne, sie lacht euch ja aus«, sang sie das alte Kinderlied, während sie überall stimmungstötende Lichter anknipste. »Sie geht schon spazieren auf Feldern und Flur und denkt sich, wo bleiben die Kinder heut nur. Und der Hahn auf dem Hof und die Katzen im Haus …«

Da Fjodr zugenähte Hosentaschen hatte, bestand er in den Zimmern auf Funzelbeleuchtung. »Die Leute wollen vögeln und nicht Pickel zählen«, sagte er nur und beließ es dabei. Gebückte Schatten huschten durch die Räume, verzweifelte Männer nestelten an ihrem Hosenstall, stopften Oberhemden nach. Die Mädchen waren weniger schamhaft. In aller Ruhe griffen sie zu ihren Bademänteln und harrten der Dinge. Alle hatten falsche Pässe deponiert, ihnen konnte also im Ernstfall nichts passieren.

»Die Männer gehen bitte, vollständig bekleidet, in die Küche«, sagte Alexa und zückte ihren Laptop. »Dort wird Sie mein Kollege Peter König vernehmen, ein glücklich verheirateter Mann mit zwei Kindern und Reihenendhaus. Sie haben sicher einiges gemeinsam. Er kauft seine Babywindeln auch immer bei Schlecker.«

Sie kann’s doch nicht lassen, dachte König schmunzelnd, als er in die Gemeinschaftsküche ging, ein schmutziges Quadrat, das die Bezeichnung Küche nur durch einen völlig verdreckten Herd verdiente. Sie muß wieder piksen. Natürlich waren die meisten Freier verheiratet, hatten Kinder und Hypotheken. Hier in Wilhelmsburg ließen sie Dampf ab, um das Wochenende mit Schwiegermutter, Kaffeetrinken und Spazierengehen besser durchzustehen. Die Prise Sünde vor dem heiligen Sonntag.

Alexa, die Männer im allgemeinen und die mit Frauen verhandelten im besonderen für eine eigentlich überflüssige Spezies hielt, vergleichbar etwa mit der Beutelratte, war bei diesen Einsätzen immer in Hochform. Bewiesen sie ihr doch, daß ihr bewußter Verzicht auf jede Form von Ehealltag richtig gewesen war. Daß seit einiger Zeit immer öfter ein Gefühl in ihr pochte und drängte, das sie nur widerwillig als ihre biologische Uhr erkannte, hatte sie noch nicht einmal ihrer besten Freundin Anna gestanden.

Fünf im Koitus unterbrochene Wesen standen jetzt in der Küche und fühlten sich ausgesprochen unwohl.

»Ihre Papiere, bitte«, forderte König und wartete auf die einsatzüblichen Ausreden. Leider nicht dabei. Sind mir vorgestern geklaut worden. Ich wohne gar nicht in Deutschland, bin nur zufällig hier vorbeigekommen.

Er wurde nicht enttäuscht. »Ich denke doch gar nicht daran«, rief ein dickleibiger, etwa sechzigjähriger Mann mit Siegelring und abgewetztem Vertreteranzug. »Wo kommen wir denn hin, wenn ein anständiger deutscher Mann nicht mehr in den Puff darf? Außerdem hab ich gar keine Papiere dabei. Die sind mir gestohlen worden. Vorgestern.«

Anständige deutsche Männer hatte König an diesem Abend gefressen. »Kein Problem.« Seine Stimme klang kreideweich. »Dann stell ich Ihnen die Vorladung eben schriftlich zu. Die Adresse können wir über Ihren dunkelblauen Saab 9000 herausfinden, den Sie netterweise direkt vor dem Haus geparkt haben.«

»Friedrich Presler, Scheideweg 57.«

Ein leichter Sieg, dachte König, dem der Mann plötzlich leid tat. Er hatte ihn vorhin bewundert, wie er gelenkig von einer fadendünnen Afrikanerin mit riesigen Brüsten stieg. »Warum sind Sie hier?« fragte er Presler, der bereits in der Tür stand. »Möchten Sie, daß Ihre Kinder Sie so sehen?«

Presler drehte sich um. Er sah plötzlich aus wie ein Ballon, aus dem die Luft entweicht. »Ich werd so gern gestreichelt«, sagte er. »Meine Frau faßt mich schon seit Jahren nicht mehr an. Verstehen Sie das?«

»Das verstehe ich«, sagte König und ging ins Nebenzimmer, wo Alexa ihre Arme um zwei Frauen gelegt hatte und eindringlich auf sie einredete.

»Hast du alles?« fragte er. Sie nickte.

In der Tür drehte sie sich noch einmal um.

»Nicht vergessen, Mädels«, sagte sie. »Es muß nicht immer ein Mann sein.« Die Frauen lachten.

Kapitel 6

»Lesbenpropaganda im Puff, geht das nicht ein bißchen weit?« König stieg in einen dunkelblauen Golf, den ihm der deutsche Steuerzahler vor einer Woche mit einem eingebauten Dachmikrofon versehen hatte. Ein großes Privileg, um das er lange und hartnäckig gerungen hatte, denn nichts war lästiger und der Sache undienlicher, als »unerkannt« vor einem verdächtigen Haus zu sitzen, »dezent« in ein Mikrofon zu sprechen, um wichtige Dinge an Kollegen weiterzugeben, nur damit dann ein grinsender Drogendealer an die Scheibe klopfte und fragte: »Wolln Sie zu mir?«

Mit seinem neuen Mikro konnte er sich jetzt über den versteckt eingebauten Lautsprecher völlig unauffällig mit seinen Kollegen in der Zentrale oder in anderen Einsatzwagen unterhalten. Ein wunderbares Spielzeug.

Alexa hatte sich eine Zigarette angezündet, inhalierte tief und schaute ihn belustigt an. »Davon verstehst du nichts«, lächelte sie. »Die Mädels brauchen kompetenten Zuspruch, die müssen wissen, daß es auch Alternativen gibt.«

Er nahm ihr die Zigarette aus der Hand und drückte sie im Aschenbecher aus.

»Der neue Dienstwagen wird nicht vollgequalmt«, sagte er streng. »Hast du es nicht gerade aufgegeben, du schwaches, anfälliges Weib?«

Ergeben drehte Alexa das Fenster auf der Beifahrerseite herunter: »Ich möchte ein Kind«, sagte sie plötzlich und war genauso erstaunt wie er über dieses unvermutete Geständnis.

»Du möchtest was?« fragte König fassungslos. »Hab ich richtig gehört? Ein Kind paßt so gut zu dir wie ein Swimmingpool in die Wüste.«

Alexa schwieg. Alles in ihr rief nach Rückzug. »Kleiner Scherz am späten Abend.« Ihre Stimme klang wieder unbeteiligt. »Du weißt doch, wie gern ich kleine Männer schocke. Sollte mir das in deinem Fall etwa gelungen sein?«

Peter König seufzte. Gegen Alexa war kein Kraut gewachsen. Als sie vor zwei Jahren in seine Abteilung versetzt wurde, hatte ihn, wie alle männlichen Kollegen, ein kleiner Stromstoß getroffen. Diese blauschwarze Löwenmähne, der langgestreckte, aber an allen wichtigen Stellen genau richtig gekurvte Körper. Was machte so ein Superweib in einem Kommissariat für Sexualdelikte, in dem es tagein, tagaus um Vergewaltigungen, Inzest, brutale Zerstückelungen ging? War sie pervers? Undercover? Viele Fragen, keine Antworten.

Man munkelte, die Mafia habe ihren Vater umgebracht, dessen Tod sie jetzt rächen wolle. Und dann gebe es da noch einen Onkel, der sie als Baby sexuell mißbraucht habe.

Alexa lächelte und schwieg. Sie trug ihn gern, diesen Mantel aus Vermutungen, Anspielungen, mühsam verhüllter Neugier. Wenn ihr wüßtet, dachte sie oft belustigt, wie harmlos meine Familie ist. Ihre längst geschiedenen Eltern verkehrten immer noch freundlich miteinander. Einmal im Jahr besuchten sie und ihre Mutter Papa Daniele, der in Piemont stolzer Besitzer eines Weinberges war. Nix mit Mafia, aber das wußte keiner im Präsidium. Und Mutter Karin Martini war eine gestandene Endfünfzigerin, die sich in zweiter Ehe den Pastor der lutherischen Gemeinde aus Aurich in Ostfriesland so energisch gegriffen hatte, daß es für einiges Aufsehen gesorgt hatte. Auch da also kein Sündenpfuhl.

Laß sie rätseln, feixte Alexa innerlich, wenn sie am Montag nach einem Wochenendbesuch aus Aurich zurückkam, und auf die Frage, wo sie sich denn herumgetrieben habe, nur mit einem maliziösen: »Würdet ihr ja doch nicht verstehen. Wäre sicherlich zuviel für eure schwachen Nerven« antwortete. Dabei hatte sie den gesamten Sonntag in den Pflaumenbäumen des Pastorats verbracht und zehn Gläser Pflaumenmus im Kofferraum. Sonst war sie weniger diskret.

Eines Abends wartete eine hochgewachsene Blondine mit Messerschnitt und schwarzer Ledercombi auf sie. Lässig lehnte sie an ihrer Harley-Davidson und schmauchte eine Zigarre. »Guck dir diesen kessen Vater an«, hatte König ahnungslos geflachst, »dem möchte ich auch nicht im Dunkeln begegnen.«

»Ich werd’s bestellen«, konterte Alexa grinsend, ging auf die Blondine zu und küßte sie. Dann drehte sie sich zu König um: »Mach dir nichts draus, es hat nichts mit dir persönlich zu tun.«

Seitdem waren sie und König Partner, gingen auf jeden Einsatz gemeinsam, denn da es sich um Sexualdelikte handelte, in denen es fast immer einen männlichen Täter und ein weibliches Opfer gab, war die Anwesenheit eines weiblichen Polizisten vorgeschrieben.

»Gott, bin ich geschafft.« König reckte sich, seine Schultern knackten. Er hielt den Wagen an, stieg aus, sie wechselten die Plätze.

Es war drei Uhr morgens, noch vier Stunden bis Feierabend. Langsam fuhr der Golf durch Niendorf, einen kleinbürgerlichen Stadtteil mit vielen Einfamilienhäusern, davon der Großteil in Eigenarbeit hergestellt, was man ihnen ansah. Ein Architektenpreis drohte keinem von ihnen.

»Kennst du den Witz von der lesbischen Kaulquappe?« fragte Alexa gerade, als König sie unterbrach: »Moment, fahr mal langsam.«

Er kurbelte die Scheibe herunter, griff nach seinem Fernglas und spähte ins Dunkel. In einem der Gärten bewegte sich etwas. So lautlos wie möglich näherten sie sich. »Soll ich aufblenden?« fragte Alexa. König überlegte. Es waren oft Sekundenbruchteile, die darüber entschieden, ob ein Täter direkt vor dem Tatvollzug geschnappt wurde, woraufhin man ihm meistens nichts nachweisen konnte, oder so richtig schön dabei; erst dann konnte man ihn nageln. Dies hier, dieses Gewusel im Gebüsch, sah nach Tatvollzug aus.

Er nickte.

Also blendete Alexa die Nebelscheinwerfer auf, und in ihrem Lichtkegel versuchte ein Mann mit heruntergelassener Hose, diese krampfhaft wieder hochzuziehen. Er war spätes Mittelalter und sah sehr ängstlich aus.

Armes Schwein, dachte König, es ekelte ihn immer noch, einen Exhibitionisten oder Spanner in flagranti zu erwischen. Obwohl der Ort des Geschehens fast immer öffentlich war, hatte er stets das Gefühl, in etwas zutiefst Privates hineinzuplatzen. Fast hätte er sich entschuldigt. Außerdem war ihm als äußerst schamhaftem Menschen, den schon FKK-Strände peinlich berührten, zutiefst schleierhaft, wie es einen ausgewachsenen Mann mit Lust erfüllen konnte, sich öffentlich zu entblößen, zumal der entblößte Körperteil oft alles andere als beeindruckend war.

Und obwohl diese armselige Art von Entspannung, wenn sie nicht in Tätlichkeiten ausartete, eigentlich harmlos war, mußten sie als Ordnungshüter eingreifen, Personalien aufnehmen, die Täter im Falle von Renitenz mit zur Wache nehmen. Und sich dort die ewig gleiche, kümmerliche Ausrede anhören: »Ich weiß überhaupt nicht, was Sie von mir wollen. Ich wollte nur pinkeln. Ehrenwort.«

König stieg aus und ging auf den Mann zu, der inzwischen seine Hose geschlossen hatte. In seinen Augen lag die spannertypische Mischung aus Furcht und Trotz. »Was wollt ihr von mir?« sagte der Mann. »Ich hab hier ins Gebüsch uriniert, seit wann ist das in einem freien Staat verboten?«

»Du weißt genau, was du hier gemacht hast, du armer Wicht«, brüllte Alexa, die inzwischen ausgestiegen war. Im Gegensatz zu König hatte sie für diese Abart Mann, wie sie sagte, überhaupt kein Verständnis. Zu oft hatte sie weinende Frauen und Kinder trösten müssen, die von einem schwungvoll geöffneten Trenchcoat zu Tode erschreckt worden waren. Für sie war Spannen eine Form von sexueller Gewalt und als solche zu verabscheuen. Ihre Stimme wurde schriller: »Du hast Weiber ausspioniert. Sicher wohnt hier irgendwo eine alleinstehende Frau, an der du dich im Dunkeln aufgeilst. Zu feige, dich zu zeigen. Mach, daß du wegkommst, sonst werde ich ausgesprochen ungemütlich. Los, ab mit dir, du Zecke.«

Sie blickten dem Mann nach, der ins Dunkel davonhastete. »Auf so was Blödes wie Spannen kann auch nur das männliche Gehirn kommen«, sinnierte Alexa, »im Gebüsch kauern und sich dabei ans Gemächt greifen. Keine Frau käme auf eine so schwachsinnige Idee. Aber Männer holen sich ja auch keine Blasenentzündung.«

Sie lachten und stiegen ins Auto.

Keiner sah den Mann, der auf der Straßenseite in seinem Auto saß und sie beobachtete. Das war knapp, dachte er, sehr knapp.

Kapitel 7

Die Gewerbeschule G 15 am Berliner Tor war in den sechziger Jahren erbaut worden, als weder Schönheit noch Umweltgifte bei öffentlichen Gebäuden eine Rolle spielten. Der verschachtelte rechteckige Pavillon war außen braun und innen grau, und über den Asbestbestandteil im ständig feuchten Gemäuer munkelte nur noch der schwindende Kern immer noch grün angehauchter Lehrer.

Seit den sechziger Jahren wurden an der G 15 vor allem deutsche Schlachter und Bäcker ausgebildet, seit fünfzehn Jahren kamen auf Anregung des damaligen Schulsenators, der sich seine linksliberale Wählerschaft nicht verprellen wollte, junge Asylanten dazu, deren Abschiebeverfahren noch nicht abgeschlossen war. Außerdem war eine Klasse mit körperbehinderten Hochbegabten eingerichtet worden. Ein sehr gemischtes Trüppchen also, dessen einzelne Gruppierungen sich jedoch, um allen konservativen Skeptikern ein Schnippchen zu schlagen, aus dem Wege gingen und in Frieden ließen. Ausländerfeindlichkeit war an dieser Schule unbekannt, denn, wie der Schulleiter Hans Wuttke, ein drahtiger, kaum behaarter Dynamo von rund 1,60 m Körpergröße, gern dazu sagte: »Wer selbst die Pik Sieben im Skat des Lebens gezogen hat, der prügelt sich nicht mit anderen Underdogs.«

Ein Satz, der leider nicht auf die Gesellschaft im allgemeinen, wohl aber auf die Schülerschaft der G 15 zutraf. Es war nichts Ungewöhnliches, einen optisch auf Neonazi getrimmten Schlachterlehrling mit Springerstiefeln zu sehen, der liebevoll einen Spastiker in seinem Rollstuhl zu seinem Klassenzimmer schob. Oder einer jungen Türkin heimlich eine Zigarette anzündete. Völkerverständigung ohne pseudobetroffenes Gelaber, so sagte Wuttke gern.

Ich liebe diese Schule, dachte Anna, als sie morgens um halb acht über den Schulhof ging. Vorbei an dem kleinen Ahornbäumchen, den die Lehrer für ihren Kollegen Achim Westernhof gepflanzt hatten, der sich vor drei Jahren aus einem Fenster im vierten Stock gestürzt hatte und an dessen Urne sich jetzt die Baumwurzeln klammerten.

Er war hochgradig depressiv gewesen, hatte sein Privatleben panisch geheim gehalten. Dabei hatten seine Art zu sprechen, seine für einen Lehrer sehr gewagte Kleidung, sein »Schwager«, der ihn manchmal abholte, keinen Kollegen im unklaren gelassen.

Doch die Angst vor Entdeckung, vor möglicher Suspendierung vom Unterricht hatte ihn zermürbt. Eines Tages hatte er sich ausgezogen, seine Sachen sorgfältig zusammengefaltet, einen Zettel »Es ist besser so« geschrieben und war aus dem Fenster gesprungen.

Der Ahorn, den ihnen das städtische Gartenbauamt als »kräftig, schnellwachsend, sehr pflegeleicht« empfohlen hatte, vegetierte eher kümmerlich vor sich hin, als ersticke er an der Last der unter ihm vergrabenen Asche. Neben ihm lümmelte an diesem Montagmorgen ein Trüpplein junger Türkinnen und rauchte, in den Familien dieser Mädchen ein schlimmes Laster, das sie sich nur in der Schule erlauben konnten.

»Mevlüde«, rief Anna einem der Mädchen zu, »ich dachte, deine Familie wollte wieder in die Türkei zurück.«

Mevlüde drehte sich um und lachte breit. »Noch nicht genug Geld verdient. Die Männer müssen arbeiten. Wo sind deine Babies?«

»Zu Hause«, erwiderte Anna, »ich arbeite wieder.«

»Du mußt wieder arbeiten?« Mevlüde schüttelte bedauernd den Kopf. »Wie schrecklich. Mann weg?

Anna nickte kurz und betrat die Schule. Im Eingang biß sie sich kurz und schmerzhaft in den linken Handballen, um die Tränen, die in ihr aufstiegen, zurückzudrängen. Klaus war tot, das war die eine Sache. Er war in den Armen einer anderen Frau erstickt, das war die andere. Diese Kombination war es, die so schlecht zu ertragen war. Trauer, Wut, Ohnmacht, verletzter Stolz, gekränkte Liebe ‒ und nie, nie, nie würde sie ihn fragen können: Warum warst du in diesem Hotelzimmer, ausgerechnet an Leanders drittem Geburtstag? Haben wir dir denn so wenig bedeutet? Er war nicht mehr da, um diese drängende, ungelöste Frage zu beantworten und ihr Frieden zu geben. Er war eine Leiche, die langsam verweste.

Das Perfide war, daß er sie mit einem Problem für immer allein gelassen hatte, das ihr seit ihrer Pubertät an die Substanz ging: ihrem mangelnden Selbstwertgefühl als Frau, ihren ständigen Zweifeln an sich selbst. Du mußt dich halt doppelt anstrengen bei deinem Aussehen, hatte ihre Mutter immer gesagt, einer Frau wie dir fliegen die Männer nicht zu. Das wußte sie längst selber. Klaus ist letztendlich tot, weil du ihm nicht genügt hast, Anna, weil du nicht Frau genug bist. Dieser Gedanke vergiftete ihr Leben. Keiner konnte ihr helfen. Alexa mit ihren männerfeindlichen Sprüchen nicht, Gerd mit all seiner liebevollen Aufmerksamkeit nicht. Er tut’s ja bloß, weil er Mitleid hat mit mir, das wußte sie. Und weil er so an den Kindern hängt.

Sie betrat die Schule und schaute sich um. Alles noch wie vor ihrer langen Mutterschaftspause. Der Geruch von Bohnerwachs, Lehrerschweiß und Fotokopierer. Die montagsgrauen Pädagogengesichter, die erst freitagmittags wieder aufblühten. Und Werner Hagel, der Hausmeister, der mit einem freundlichen: »Je schlimmer der Montag, desto schöner die Frauen« auf Anna zustürzte und sie mit seinem penetranten Pfefferminzatem fast erschlug.

»Hallo, Werner«, lächelte sie, »apropos Montag ‒ was macht denn dieses Fanta-Fläschchen in deiner Hand?«

Er tat ganz unschuldig.

»Das wollte ich gerade zum Abfall bringen, meine Süße.« Unwillkürlich mußte Anna grinsen. Werner Hagels harmlose Fanta-Flaschen waren berühmt. Einmal hatte sie ahnungslos einen Schluck daraus getrunken und sofort wieder ausgespuckt, denn er reicherte seine Softdrinks regelmäßig mit hochprozentigem Wodka an.

Vor dem Lehrerzimmer holte sie tief Luft und versuchte, ihr hämmerndes Herzklopfen zu ignorieren. Die Gespräche werden verstummen, und alle werden mich mitleidig anstarren, dachte sie. Wie ich das hasse! Ich bin nicht geschaffen für die Rolle der trauernden jungen Witwe. Ob sie erfahren haben, wie er gestorben ist? Er wird schon seinen Grund gehabt haben, sie zu betrügen, werden sie denken, eine Schönheit ist sie ja nicht gerade. Und er hat so gut ausgesehen. Wahrscheinlich ist er nur der Kinder wegen überhaupt bei ihr geblieben.

Auf in den Kampf, Anna Blumenberg!

Sie öffnete die Tür. Das Lehrerzimmer war leer, bis auf einen großen, schlanken, etwa vierzigjährigen Mann, der vor den Lehrerschränken stand und neugierig in die Fächer schaute. Bei ihrem Eintreten zuckte er schuldbewußt zusammen. Fast unbeteiligt registrierte sie, daß er einer der schönsten Männer war, die sie je gesehen hatte. Noch schöner als Klaus. Die Ebenmäßigkeit seiner Gesichtszüge, das leicht gewellte, rötlichbraune Haar, die schrägstehenden, leuchtend braunen Augen waren visuell so beeindruckend, daß sie sich in seiner Gegenwart fast unsichtbar fühlte. Sie gehörte so eindeutig nicht zu seiner optischen Liga, daß sie dieses Wissen fast entspannte. Wahrscheinlich ist er schwul, dachte sie flüchtig, so schöne Männer sind es ja meistens.

»Kalt erwischt«, bemerkte er sanft, und auch seine Stimme war wie ein Streicheln. »Aber ich wollte zu gern mal wissen, was die Kollegen so in ihren Fächern haben. Erste Kontaktaufnahme im Feindesland, sozusagen.«

Er ging auf sie zu, gab ihr die Hand, die weich war und warm. »Ich bin der Neue hier«, lächelte er, wie um Vergebung bittend. »Mein Name ist Marlon Stephan. Ich unterrichte Chemie, Lebensmittelkunde und Sport. Heute ist mein erster Tag, und ich habe ziemliches Lampenfieber. Finden Sie das albern bei einem ausgewachsenen Mann wie mir?«

Er lächelte entwaffnend. Sie lächelte zurück.

»Ich heiße Anna Blumenberg«, entgegnete sie, »und ich bin eine alte Kollegin, die wieder anfängt. Und über den Fächerinhalt kann ich Sie gern aufklären. In jedem Fach sind die Unterrichtsunterlagen und ein Porzellanbecher. Der ist für Kaffee, und die Kollegen werden fuchsig, wenn ein anderer ihn aus Versehen benutzt. Manche haben ihren gesamten Hausstand im Fach, Tempos, Süßigkeiten, Zigaretten, Bücher, Wäsche zum Wechseln. Andere nur das Nötigste, aus Angst, jemand könnte, wie Sie eben, in ihrem Fach herumschnüffeln. Vor ein paar Jahren ist es einem Schüler gelungen, sämtliche Prüfungsarbeiten aus den Fächern zu klauen. Der Jahrgang schloß mit der Jahrhundertbestnote ab.«

Er schwieg beeindruckt. »Woher wissen Sie soviel? Auch schon mal geschnüffelt?«

»Natürlich«, sagte sie, »Neugier ist keine rein männliche Eigenschaft.«

Sie sahen sich an, zwei Kinder mit dem Finger im Marmeladentopf.

Ihre Stimme gefiel ihm. Die rauhe Grundlage, leicht heiser, und obendrauf ein ganz verhaltenes, mädchenhaftes Lispeln. Er sah sie genauer an. Die widerspenstigen, hellbraunen Haare, die sehr weiße Haut, die im fahlen Vormittagslicht fast durchscheinend wirkte, die graublauen Augen, in denen Zurückhaltung lag, fast so etwas wie Angst.

Sie war eine schüchterne Frau, das merkte er sofort, eine, die sich wenig zutraute, sich ihrer Wirkung auf Männer überhaupt nicht bewußt war. Wahrscheinlich hätte sie ihn ausgelacht, wenn er ihr gestanden hätte, daß er sie ausgesprochen hübsch fand. Und warm.

Billige, aufgetakelte Weiber, die sich einem Mann aggressiv an den Hals warfen, gab es schließlich genug. Sie war ganz offensichtlich anders. Das gab den Ausschlag.

»Haben Sie Kummer?« fragte er unvermittelt.

Entsetzt starrte sie ihn an. War es so deutlich? Sah sie so verhärmt aus?

»Entschuldigen Sie.« Seine Stimme klang zerknirscht. »Wie aufdringlich von mir. Aber Sie haben so schrecklich traurige Augen.«

Ein winzig kleiner Teil ihrer Trauer löste sich in Luft auf. »Mein Mann ist vor kurzem gestorben«, sagte sie leise.

»War er krank?« Was ging ihn das an?

»Nein, er ist verunglückt.«

»Verkehrsunfall?«

Ihm konnte sie es beinahe sagen, ohne sich gedemütigt zu fühlen.

»Er ist an einem Apfel erstickt. Wie Schneewittchen.«

Er sah sie an und spürte, wie fest sie sich wieder verschloß. »Kein schöner Tod«, meinte er trotzdem. »Haben Sie ihm denn nicht helfen können?«

»Ich war nicht dabei«, seufzte sie.

Die Tür öffnete sich schwungvoll, und Schulleiter Hans Wuttke betrat das Lehrerzimmer. Eine halbverglühte Zigarette klebte in seinem rechten Mundwinkel, denn er war ein überzeugter Kettenraucher, den selbst nikotingelbe Finger, übler Atem und die Tatsache, daß seine vielgeplagte Sekretärin Martha Lampe auch im Winter bei geöffnetem Fenster arbeiten mußte, nicht von seinem Laster abbringen konnten. Wuttke war Schulmann mit Leib und Seele, er liebte seine Lehrer, seine Schüler, fand in jedem Schultag ein neues Abenteuer. Seinem Kollegium, das überwiegend aus frustrierten Beamten mit schlecht sitzender Kleidung, Magen- oder Alkoholproblemen bestand, war er ein Rätsel: ein Schulleiter, der morgens nicht schon beim Einparken hinter dem Schulhof diesen dumpfen Druck aus Angst und Magensäure spürte, an dem es nicht ständig nagte, daß es zum Sprung in die freie Wirtschaft nicht gereicht hatte, der sich statt dessen pfeifend eine Tasse Kaffee selbst aufbrühte und manchmal vor Schulbeginn die Klassenzimmer abschritt und bei Bedarf die Tafeln säuberte und die Papierkörbe leerte.

Ein Mann also mit geradezu penetrant guter Laune.

»Anna, meine Schöne«, sagte er jetzt strahlend und preßte sie an seinen nikotingeschwängerten Pullover, den seine Frau vergeblich mit Lavendelöl besprühte. »Endlich bist du wieder da und bringst Schwung in meinen müden Laden.«

»Hallo, Hans«, gab sie lachend zurück und ließ ein bißchen gepreßte Luft raus. Es war viel weniger schlimm, als sie gefürchtet hatte.

»Wie sieht’s denn aus? Muß ich Vertretungsstunden machen, oder hast du eine Klasse für mich?«

Wuttke grinste zufrieden. Eine Kollegin nach seinem Geschmack. Keiner dieser durchhängenden Jammerlappen, mit denen sein Kollegium leider durchsetzt war. Gestern hatte er zähneknirschend einen Antrag auf Frühpensionierung unterzeichnen müssen. Die Kollegin war 49 Jahre alt und konnte ein psychologisches Gutachten vorlegen, das ihr Angstzustände und Suizidtendenzen bescheinigte, wenn sie weiterhin vor eine Klasse mit aggressiven Schülern treten mußte. Auch ihre längst geheilte Neurodermitis könne möglicherweise wiederkommen, hatte ihr ein Dermatologe bestätigt. Wuttke hatte innerlich geschäumt, aber im Grunde war er heilfroh, sie loszuwerden. Anna dagegen war aus anderem Holz geschnitzt, eine Erzieherin mit pädagogischem Ethos, selten wie ein vierblättriges Kleeblatt.

»Habt ihr euch schon bekannt gemacht, ihr Zuckermäuse?« fragte er jetzt. Er duzte bis auf den Oberschulrat jeden und war beleidigt, wenn er nicht zurückgeduzt wurde. »Was ist los?« fragte er dann, »seh ich soviel älter aus als du?«

»Wir haben schon«, sagte Anna und sah Marlon an. Das Morgenlicht tanzte in seinem dichten, braunen Haar und warf rötliche Lichter, die Wimpern waren dicht und leicht gebogen. Wie kommt so ein Mann an die Schule? dachte sie.

»Und ich hab eine Klasse für dich.« Wenn Wuttke lachte, wirkte er wie von innen angeknipst. »Nur Ausländer. Denen sollst du Ernährungskunde und Kochen beibringen. Von deinen werten Kollegen will sie keiner haben. Der Studierte gibt sich halt nicht gern mit jemandem ab, der fehlerhaftes Deutsch spricht. Ich sage nur ‒ Lichterketten. Wie schon Churchill so richtig feststellte: Der Deutsche leckt dir entweder die Stiefel, oder er geht dir an die Gurgel. Naja. Also ‒ traust du dir das zu? Ihr Deutsch, wie gesagt, ist ziemlich dürftig, ihre Motivation auch, denn alle haben Asylverfahren laufen, können also jederzeit wieder abgeschoben werden. Doch bis es soweit ist, dürfen sie hier Hühnerfrikassee und Bratkartoffeln lernen. Alles auf Kosten des Steuerzahlers.« Wuttke grinste dabei, denn er hatte eine wunderschöne Ehefrau aus Eritrea und vier süße »Nougatschnitten«, wie er sie selbst nannte; Ausländerfeindlichkeit konnte ihm also niemand vorwerfen.

»Welche Länder?« fragte Anna interessiert. Die Aufgabe reizte sie.

»Türkei, Mazedonien, Nigeria, Ghana. Überall, wo es warm und arm ist«, antwortete Wuttke.

»Klingt spannend«, sagte Anna. »Wann fange ich an?«

»Eine Lehrerin, die sich auf ihre Schüler freut. Welch ungewohntes Bild.« Wuttke klang hoch zufrieden. »Heute haben deine Süßen einen Praktikumstag in ›Dat Backhus‹, morgen um neun erwarte ich dich auf der Matte.«

»Aye, Aye, Sir«, sagte Anna und salutierte.

Marlon hatte den Wortwechsel stumm verfolgt. Offensichtlich war Anna hier eine geschätzte und beliebte Kollegin. Eine Frau, die mit Menschen umgehen kann, dachte er. Die keine Angst hat vor Nähe. In ihm flackerte ein Gefühl auf, das er selbst nicht als Mischung von Neid und Traurigkeit erkannte. Es drückte ihn nur so, daß er plötzlich ausatmen mußte. Ungerufen tauchte in ihm die Vorstellung auf, wie sie sich wohl in seinen Armen anfühlen würde. Ob sie auch …? Vergiß es sofort, rief er sich zur Ordnung.

»Bis morgen also.« Anna nickte beiden Männern zu und ging in Richtung Tür. Stumm schauten sie ihr hinterher. Über ihre Wade lief eine dicke Laufmasche.

»Und jetzt zu Ihnen.« Wuttkes Stimme war eine Spur schärfer geworden. »Welcher Art waren denn nun die Schwierigkeiten, die Sie in Lüneburg hatten?«

Kapitel 8

Sie hatte den Tisch schon gedeckt, als er nach Hause kam. Sein Lieblingsessen ‒ Bratkartoffeln mit Leber und Apfel-Zwiebel-Ringen. Obwohl ihn jeden Tag, wenn er nach Hause kam, derselbe Anblick empfing, störte er ihn diesmal ganz besonders.

Fast angewidert folgte er den Bratgerüchen in die Küche, wo seine Mutter, eine frische weiße Schürze umgebunden, am Herd stand und die Zwiebeln wendete. Da sie kaum noch sehen konnte, hielt sie die immer tränenden Augen ganz dicht an die Pfanne. Bei seinem Eintreten drehte sie sich um, stolperte über den Küchenstuhl. Beinahe wäre sie gefallen, wenn er sie nicht im letzten Moment aufgefangen hätte.

»Paß doch auf«, rief er ärgerlich. Es strengte ihn an, ihre zunehmende Hinfälligkeit zu beobachten, ihm fehlte die Geduld. Und die Liebe.

»Hallo, Marlon, mein Schätzchen«, lächelte sie. »Wie war dein erster Tag an der neuen Schule?«

Ihre Frage verkrampfte ihn. »Danke, gut«, sagte er nur, setzte sich an den Küchentisch und öffnete die Post. Werbung, Finanzbehörde, Mahnung wegen eines Parkvergehens. Ein roter Umschlag ohne Absender.

»Interessante Post, Schatz?« fragte seine Mutter. »Auch etwas für mich dabei?« Ihre Stimme klang eher ängstlich, denn in ihrem Alter bestand private Post vorwiegend aus Todesanzeigen.

»Diesmal nicht«, antwortete er geistesabwesend und öffnete den roten Briefumschlag.

»Mein Herzallerliebster!« Das Ausrufungszeichen war mit einem dicken Herzen versehen, er erkannte die weibliche Handschrift sofort. Mist, wieso ließ sie ihn nicht endlich in Ruhe? War er nicht deutlich genug gewesen? Er legte den Brief auf den Tisch, hob ihn aber sofort wieder auf und las weiter: »Warum hast Du Dich nach unserem Streit nie wieder bei mir gemeldet? Es tut mir leid, daß ich so ausgerastet bin. Ich hatte doch keine Ahnung. Und dann ausgerechnet bei einer Kollegin, das war schon ein Schock für mich. Ist denn dieses, ja, wie soll ich sagen, Bedürfnis, dieser Wunsch so stark bei Dir, daß Du ihn nicht zügeln kannst? Für so etwas muß es doch Hilfe geben. Geh doch mal zu einem Psychologen.

Ich würde Dich trotzdem sehr, sehr, sehr gern Wiedersehen. Ich liebe Dich noch immer.

Leider.

Deine Marion.«

Irritiert legte er den Brief zur Seite. Sie hat schon immer zur Melodramatik geneigt, dachte er. Eine kurze Beziehung, die unerfreulich endete. Warum belästigte sie ihn denn immer noch?

»Das Essen ist fertig«, verkündete seine Mutter und stellte die schwere Pfanne mit den Bratkartoffeln auf die Tischkante. Er sprang auf, schob sie in die Mitte. Seine Mutter hatte von dem Brief nichts bemerkt.

»Fett und knusprig, wie du es magst«, keuchte sie kurzatmig. »Und binde dir bitte die Serviette um, diese Fettflecken sind ungeheuer schwer wieder rauszukriegen.«

Ich muß raus hier, dachte er, wie schon so oft, sonst werde ich wahnsinnig. Das Eßzimmer mit seinen dunkelbraun gebeizten, wilhelminischen Möbeln schien zu einer Röhre zu schrumpfen, die immer enger wurde, ihm die Luft zum Atmen nahm. Er wischte sich über die Augen, hinter denen kleine, braune Punkte tanzten. Raus hier, nur raus.

Der Geruch der fetten Bratkartoffeln bereitete ihm Übelkeit. Ich muß kotzen, dachte er und stand auf.

»Mama, sei nicht böse«, sagte er, während er seine Serviette zusammenrollte und in seinen silbernen Ring mit Monogramm steckte, »ich kann jetzt nichts essen. Ich geh noch eine Runde joggen.«

Kapitel 9

Anna stand vor dem Schlafzimmerschrank und überlegte. Klaus’ Anzüge und Hemden hatte sie dem Roten Kreuz gegeben, einer muffeligen, älteren Dame, die mißtrauisch in die Plastiktüten geschnüffelt und dann festgestellt hatte: »Ich hoffe sehr, Sie haben die Sachen zumindest gewaschen, auch der Bedürftige verfugt über ein Geruchsorgan.«

Es ist alles sauber, hatte Anna noch sagen wollen, aber die Rote-Kreuz-Dame widmete sich bereits der nächsten Lieferung.

Wohin bloß mit seiner Unterwäsche? Sie stand gedankenverloren vor dem Wäschefach und ließ seine Unterhosen durch ihre Hände gleiten. Klaus war ein Wäschefetischist gewesen, der sogar bei seinen Boxershorts Wert auf Bügelfalten gelegt hatte. In allen Farben und Stoffen trug er sie ‒ sogar eine rotsamtene aus New York war darunter. Sie erinnerte sich genau an den Tag, an dem er sie zum ersten Mal getragen hatte. Ein feuchtheißer Tag im Juli vor sechseinhalb Jahren. Klaus war auf einer Konferenz, sie hatte ihn begleitet. Seit drei Tagen wußte sie, daß sie schwanger war. In einer Mischung von Euphorie und Zukunftsangst war sie durch die Lower East Side geschlendert und hatte lauter Souvenirs gekauft. Die roten Shorts steckten am Plüschpo eines Spielzeugelefanten mitten in einem Schaufenster. Darüber ein Schild: Feels so goood!

Da Anna zu Hause eine Elefantensammlung hatte, kaufte sie das Tier plus Hose für 25 Dollar und wartete im Hotelzimmer auf Klaus. Er kam gegen Abend, erschöpft, schwitzend und fand seine Frau auf dem Hotelbett, nackt bis auf die roten Boxershorts. Um sie herum schwebte eine Wolke aus rosa Luftballons.

»Hi«, sagte er überrascht. »Willst du den alten Mann heute nacht verwöhnen?«

Sie hatte sich tausend Sätze zurechtgelegt. Witzige, romantische, zweideutige. Aber da sie stundenlang auf ihn gewartet hatte, war ihr Gehirn plötzlich leer. »Wir sind schwanger«, flüsterte sie aufgeregt, und in ihrem Gesicht leuchtete es. »Wir bekommen ein Kind.«