Der verdrängte Skandal - Frank Heinrich - E-Book

Der verdrängte Skandal E-Book

Frank Heinrich

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Beschreibung

Martina ist ein aufmüpfiger Teenager. Mit 15 hält sie es zu Hause nicht mehr aus und zieht zu älteren Freunden. Doch sie ahnt nicht, dass sie in die Fänge brutaler Ausbeuter geraten ist. Sie sperren Martina in eine Wohnung, wo sie von mehreren Männern vergewaltigt wird. Anschließend gibt es kein Zurück mehr: Von jetzt an muss Martina anschaffen gehen. Erst mit 24 schafft sie den Ausstieg – dank der Hilfe von Karo e.V. Menschenhandel mitten in Deutschland? Eine bittere Realität. Alleine rund 5000 Zwangsprostituierte leben hier, so Schätzungen des Bundeskriminalamtes. Kein Wunder, sind wir dank liberaler Gesetzgebung doch längst „der Puff Europas“ (Manfred Paulus, Kriminalhauptkommissar a.D.)! „Der verdrängte Skandal“ erzählt die erschütternden Geschichten von Betroffenen. Eingerahmt werden diese von Hintergrundbeiträgen: über die Rechtslage der Opfer und die Vorgehensweisen der Täter. Aber auch über Mut machende Initiativen, ins Leben gerufen von Menschen, deren Glaube ein Wegschauen nicht zulässt: die Arbeit von „solwodi“ von Sr. Lea Ackermann oder die Hamburger Initiative „Mission freedom“.

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Frank Heinrich und Uwe Heimowski (Hrsg.)

DER VERDRÄNGTE SKANDAL

Menschenhandel in Deutschland

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86506-928-3

© 2016 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: Gemeinsam gegen Menschenhandel e.V.

Satz: Brendow Verlag, Moers

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

www.brendow-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Wir dürfen nicht schweigen! Gemeinsam gegen Menschenhandel – Vorwort von Frank Heinrich, MdB

Der lange Weg der Hoffnung – Ilana

Menschenhandel in Deutschland: Zahlen und Fakten

Nachts auf dem Straßenstrich

Unterwegs mit Alabaster Jar e. V.

Auf dem langen Weg zur Freiheit – Yana

„Manchmal kann ich einfach nicht mehr glauben, dass mein Leben auf die Reihe kommt.“ – Charlotte

Herausforderung in der Betreuung und Nachsorge

Die Einführung des Prostitutionsgesetzes und die Folgen

Gesichter der Zwangsprostitution

Unterwegs mit KARO e. V.

Verletzt, enttäuscht und voller Wut – Sue

Auf den Spuren des Menschenhandels in Rumänien und Deutschland

„Ich will keine Hilfe, sondern mir selbst helfen können!“ – Emma

Methoden der Menschenhändler

„Ich konnte nicht länger wegschauen.“

Unterwegs mit Mission Freedom e. V.

William Wilberforce – ein Leben für die Abschaffung der Sklaverei

Ein Zuhause auf der Kurfürstenstraße – Zuversicht für Frauen in Not

Unterwegs mit Neustart e. V.

Opfern von Menschenhandel zu ihrem Recht verhelfen und Täter vor Gericht bringen

Unterwegs mit International Justice Mission

„Ich möchte einfach nur ein neues Leben beginnen!“ – Susanna

Alles, was Recht ist? Rechtliche Defizite beim Thema Menschenhandel

Ein echtes Wundermädchen – Frieda

Loverboys: Vom Traum- zum Albtraumprinzen

Informieren, motivieren, aktivieren

Unterwegs mit Freethem e. V.

Was Du gegen Menschenhandel tun kannst!

VORWORT

Wir dürfen nicht schweigen! Gemeinsam gegen Menschenhandel

„Der Spiegel“ griff in seiner Ausgabe 22/​2013 tief in die Kiste des Boulevard-Journalismus. Reißerisch titelte das Magazin: „Bordell Deutschland“.

Es war ein Volltreffer. Denn damit gelang, was lange überfällig war: Die Ausmaße des Menschenhandels, eines weitgehend verschwiegenen Skandals in der Mitte unserer Gesellschaft, wurden öffentlich wahrgenommen. Andere Medien sprangen auf den nun rollenden Zug: Fernsehfilme und Reportagen entstanden. Die gesellschaftliche Debatte nahm an Fahrt auf.

Hatten viele Menschen bei den Themen Zwangsprostitution oder Arbeitssklaverei viele Jahre nur an die Situation in Asien oder Osteuropa gedacht, an schmierige Bordelle, grenznahe Straßenstrichs oder halbdunkle Kellerräume, so stand einem breiten Publikum nun deutlich vor Augen: Deutschland ist zur Drehscheibe für Menschenhandel geworden.

Der rasante weltweite Anstieg von Menschenhandel, bei dem schon Kinder als Arbeitssklaven oder Zwangsprostituierte verkauft werden, ist eines der schlimmsten Verbrechen des 21. Jahrhunderts. Die Entrüstung darüber ist auch beim sogenannten „Otto-Normal-Verbraucher“ groß. Doch nur Insidern war bis zu jenem Artikel vom „Bordell Deutschland“ klar: Dieses Verbrechen geschieht vor unserer eigenen Haustür. Europa hat sich zum größten Marktplatz von Sklaven, insbesondere von Sexsklaven, entwickelt. Und mittendrin: Deutschland.

Im April 2013 veröffentlichte das Statistische Amt der Europäischen Union, Eurostat, eine Studie zum Thema Menschenhandel. Darin wird diese traurige Tatsache mit Zahlen unterlegt: Die Zahl der erfassten Opfer war von 2008 bis 2010 um 18 Prozent gewachsen.

„Es ist schwer vorstellbar, dass in unserer freien und demokratischen EU Zehntausende Menschen ihrer Freiheit beraubt, ausgebeutet und wie Waren zu Profitzwecken gehandelt werden können. Aber es ist die traurige Wahrheit. Der Menschenhandel gehört zum Alltag und rückt uns näher, als wir denken“, sagte Cecilia Malmström, EU-Kommissarin für Inneres.

Erschütternd dabei: Die deutlich gestiegene Zahl der Opfer ging mit einer gesunkenen Zahl an Strafverfolgungen einher, weil viele Opfer nicht den Mut fanden, als Zeugen auszusagen, oder weil gesetzliche Grundlagen und personelle Ressourcen fehlen.

Eine absurde Situation ist entstanden.

In den westlichen Gesellschaften leben wir in Freiheit. Unsere Rechte werden durch Verfassungen und Gesetze geschützt. Wir stehen in der Tradition großer Vorbilder, die für die Abschaffung der Sklaverei gekämpft haben. Um einige Beispiele zu nennen:

William Wilberforce, der nach jahrelangem Kampf 1807 im britischen Parlament die Abschaffung des Sklavenhandels durchsetzte.

Abraham Lincoln, der im Amerikanischen Bürgerkrieg für die Freiheit der Sklaven kämpfte und am 1. Januar 1863 die „Emanzipations-Proklamation“ unterzeichnete, nach der alle Menschen, die als Sklaven gehalten werden, „fortan und für immer frei sein sollen“.

Und natürlich Martin Luther King, der seinen Kampf für die Gleichberechtigung der Schwarzen noch 1968 mit dem Leben bezahlte.

Die legale Sklaverei ist lange überwunden. In den meisten Staaten auf unserem Globus ist Sklaverei offiziell gesetzlich verboten.

Doch gleichzeitig blüht der illegale Sklavenmarkt. Kriminelle Banden machen brutale, aber lukrative Geschäfte in Milliardenhöhe. Die Internationale Arbeitsagentur ILO beziffert den Umsatz mit Arbeitssklaven auf 150 Milliarden US-Dollar. Menschenhandel ist neben Drogen- und Waffenhandel das größte Betätigungsfeld der Organisierten Kriminalität geworden. Die Statistiken steigen auf nie dagewesene „Rekordzahlen“. 23.632 Opfer von Menschenhandel hatte der erwähnte Eurostat-Bericht 2010 alleine in der Europäischen Union erfasst – und dabei ist das Dunkelfeld überhaupt nicht berücksichtigt. So überrascht es nicht, dass die ILO die Zahl der modernen Sklaven weltweit auf insgesamt über zwanzig Millionen schätzt, und der Global Slavery Index 2016 sogar von 45,8 Millionen Sklaven weltweit spricht.

Eine Million, das sind tausend mal tausend – und dahinter steht jeweils ein einzelnes Schicksal. Ein Mensch, ein Geschöpf Gottes.

Vor allem Mädchen und Frauen werden tagtäglich wie Vieh verkauft und behandelt. Verängstigt müssen sie sich in ihr Schicksal beugen und oft ohne Lohn 16 Stunden täglich ihren „Herren“ gefügig sein. Sie werden ausgebeutet, geschlagen, missbraucht.

Dazu dürfen wir nicht schweigen!

Schon bevor der „Spiegel“ das Thema entdeckte und die Öffentlichkeit aufmerksam wurde, gab es Menschen, die diesen Skandal nicht hinnehmen wollten. Frauenrechtlerinnen wie die Journalistin Alice Schwarzer mit ihrer scharfen und pointierten Berichterstattung, oder die katholische Ordensfrau Lea Ackermann, die seit 30 Jahren mit ihrem in Kenia gegründeten Verein Solwodi auch in Deutschland aktiv ist.

Der Verein „Gemeinsam gegen Menschenhandel“ (GGMH) wurde als Bündnis gegründet, um verschiedene Initiativen in Deutschland und Europa zu vernetzen und damit in ihrem Kampf gegen Zwangsprostitution zu unterstützen.

Jedes der Mitglieder hat eine eigene Geschichte, die zu seinem Engagement geführt hat. Bei mir persönlich ist es eng mit der Heilsarmee verknüpft. Zwölf Jahre arbeitete ich als Offizier in dieser „Armee Gottes“.

In der Heilsarmee ist Menschenhandel ein Schwerpunktthema. William Booth, der Gründer, und sein Sohn Bramwell hatten bereits 1885 gemeinsam mit dem Journalisten William Stead eine erfolgreiche Presse-Kampagne („The Maiden Tribut“) lanciert, in deren Folge das Mindestalter von Prostituierten in Großbritannien von 13 auf 16 Jahre heraufgesetzt wurde.

Als ich 2009 in den Deutschen Bundestag gewählt wurde, hatte ich mir das Thema ebenfalls ganz oben auf die Agenda geschrieben.

In Thorsten Riewesell, dem Gründer von „jumpers“ (Jugend mit Perspektive e.V.), fand ich einen Mitstreiter. Wir luden zunächst einige uns bekannte Initiativen und Vereine, die mit Opfern von Menschenhandel arbeiten, zu einem Erfahrungsaustausch ein. Aus diesem ersten Treffen wurden regelmäßige Runde Tische, und ein Bündnis entstand: „Gemeinsam gegen Menschenhandel“ (GGMH), das sich 2013 als eingetragener Verein konstituierte. Seitdem ist die Zahl der Mitglieder und Partner kontinuierlich gewachsen. Das Bündnis ersetzt dabei nicht die Arbeit der einzelnen Mitglieder, sondern unterstützt und ergänzt diese.

GGMH verfolgt vier Ziele:

Öffentlichkeitsarbeit:

Den Skandal Menschenhandel, insbesondere in der Form der Zwangsprostitution, durch Kampagnen und Publikationen sichtbar machen.

Prävention:

Aufklärung in Herkunftsländern und Deutschland.

Opferhilfe und Opferschutz:

Durch Unterstützung und Vernetzung der Mitglieds-Organisationen, die sich um Opfer kümmern.

Verbesserung der juristischen Rahmenbedingungen:

Unterstützung von Maßnahmen, die die strafrechtliche Verfolgung von Menschenhändlern sowie Opferschutz und

-entschädigung

verbessern. Hierzu gehören auch politische Forderungen und Initiativen.

GGMH hat drei Magazine herausgebracht, in denen wir über Menschenhandel informieren. Im politischen Bereich haben wir Briefkampagnen initiiert. Viele Bürgerinnen und Bürger haben das genutzt, um die Abgeordneten ihres Wahlkreises auf das Problem der Zwangsprostitution aufmerksam zu machen. Ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit des Vereins sind Veranstaltungen und Netzwerktreffen.

Mit diesem Buch bietet sich die Gelegenheit, das Thema „Menschenhandel in Deutschland“ noch breiter bekannt zu machen und zugleich die Arbeit von GGMH vorzustellen. Unser Dank gilt dem Brendow Verlag und Herrn Nicolas Koch für die Initiative zu diesem Buch.

In einigen Grundsatzartikeln werden das Ausmaß und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Menschenhandel dargestellt. Daneben kommen Betroffene zu Wort: Ihre Schicksale werden erzählt, anonym – aber erschütternd offen. Und dann stellen einige Mitglieder beispielhaft ihre Arbeit vor. Sei es als Streetworker mit einer Thermoskanne direkt auf der Straße, als Seelsorger mit einem offenen Ohr in einem Café, als Sozialpädagoge in einer Schutzwohnung – sie alle sind „Anwälte“ für die Rechte der misshandelten und missbrauchten Frauen.

Sie alle haben sich entschieden, nicht zu schweigen, sondern etwas gegen Menschenhandel zu tun.

Damit die Opfer nicht länger Opfer bleiben, sondern ihre Würde wiederentdecken: Als von Gott geschaffene Persönlichkeiten.

Als Christ bin ich überzeugt: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“ (Galater 6,1)

Frank Heinrich, MdB

DER LANGE WEG DER HOFFNUNG - ILANA

Sie steht jeden Abend an der gleichen Ecke neben dem Dönerladen. Ihre Kleidung ist erstaunlich unauffällig: eine blaue Röhrenjeans, schwarze Sneakers und eine schwarze, kurze Kunstlederjacke. Sie könnte eine ganz normale junge Frau sein. Doch es ist Mittwochabend, 22 Uhr, auf dem Berliner Straßenstrich. Sie steht hier und wartet. Ihr langes, schwarzes Haar fällt über die zierlichen Schultern und umrahmt ihr schmales Gesicht. Die großen, dunklen Augen schauen traurig in die Nacht. Ilana ist eine Romni aus einer großen bulgarischen Hafenstadt am Schwarzen Meer. Sie ist eine von vielen Töchtern Bulgariens, die ihren Körper hier, auf den Straßen der deutschen Hauptstadt, zum Verkauf anbietet, in der Hoffnung, mit dem bisschen Geld sich und der Familie ein besseres Leben ermöglichen zu können.

Jetzt hat sie uns erblickt, und ihr Gesicht hellt sich auf. Hastig drückt sie die Zigarette aus und wirft den Stummel in die Ecke. Mit einem freudigen Lächeln und offenen Armen werden wir begrüßt und erst einmal fest umarmt. Wenn man darüber nachdenkt, was diese Frauen auf der Straße für ein Leben führen, was sie schon alles erlebt und eingesteckt haben, dann erstaunt es immer wieder, wie sie so fröhlich lachen und so herzlich sein können. Seit zwei Jahren kennen wir Ilana und haben in der Zeit stückchenweise ihre Geschichte erzählt bekommen. Es hat über ein Jahr gedauert, bis sie langsam anfing, sich zu öffnen und Vertrauen zu fassen.

Im Wartezimmer des Gesundheitsamtes, während wir auf ihre Untersuchung bei der Frauenärztin warten, fängt sie das erste Mal an zu erzählen. Da sei was nicht in Ordnung in ihrem Bauch, in ihrer Gebärmutter. Vor zwei Jahren hätte sie eine Abtreibung gehabt. Sie sei dafür in Polen gewesen, und es sei nicht ordentlich gemacht worden. Jetzt hätte sie Angst, dass sie deswegen keine Kinder bekommen könne. Dabei ist alles, was sie sich wünscht, ein normales Leben: ein normaler Job, eine normale Beziehung und irgendwann Kinder. Die Angst vor Krankheiten, die Angst, dass ihr Job alles kaputtmachen könnte, steht ihr ins Gesicht geschrieben. Immer wieder greift sie nervös nach meiner Hand und drückt sie ängstlich. Sie will raus: raus aus der Prostitution, raus aus dem Leben, das sie führt und das sie kaputtmacht. Die Ärztin kann nichts Schwerwiegendes finden, und doch halte ich am Ende eine bitter weinende Ilana in den Armen. Sie ist erschöpft und sieht keinen Weg aus ihrer Situation heraus. Von dem Tag an dürfen wir sie an der Hand nehmen und ihr Schritt für Schritt zeigen, dass es eine Zukunft für sie geben kann.

Einige Tage später, im Wartesaal des Jobcenters, erzählt sie weiter. Sie erzählt von ihrem Vater, der trinkt und ihre Mutter schlägt und misshandelt.

„Er ist ein Idiot“, meint sie in klarem Deutsch.

Als Mädchen war ihr die Schule vom Vater verwehrt geblieben. Erst mit 14 besuchte sie für zwei Jahre eine Internatsschule. Sie würde so gerne zur Schule gehen und richtig Deutsch lernen, erzählt sie mir mit strahlenden Augen.

Sie würde so gerne zur Schule gehen und richtig Deutsch lernen.

Schlau ist sie auf jeden Fall, denn ihr Deutsch, welches sie in den zwei Jahren auf der Straße gelernt hat, ist fließend und gut verständlich. Wo ihr Vater heute ist, wurde nicht klar aus ihrer Erzählung. Die Mutter kämpft alleine um ihr Überleben und das von den drei Brüdern. Von ihrem mageren Verdienst auf der Straße schickt sie so viel wie möglich an die Mutter in Bulgarien. Diese weiß offiziell nicht, was ihre Tochter in Deutschland genau macht.

Als Ilana ungefähr 18 war, verkaufte sie ihr Onkel als Frau an einen deutlich älteren Mann. Dieser reichte sie seinem Sohn Milo weiter. An dieser Stelle wird ihre Erzählung sehr hastig und undeutlich. Ich verstehe nur noch brockenweise, was in den Jahren nach dem Internat alles geschah. Klar ist, dass sehr viel Gewalt im Spiel war. Sie wurde gegen ihren Willen in diese Beziehung gezwungen und gegen ihren Willen in die Prostitution geschickt. Irgendwann kam sie zusammen mit Milo nach Deutschland. Er scheint ihr in diesen Jahren Schutz geboten zu haben, und sie fühlte sich ihm gegenüber verpflichtet. Er ist nicht gewalttätig. Jedoch spricht er im Vergleich zu ihr nach drei Jahren kaum drei Worte Deutsch und hat auch nie hier gearbeitet, sondern profitiert von ihrem Einkommen. Zusammen wohnen sie in einem Hotelzimmer, das ihnen von einem türkischen Bekannten für den „Freundschaftspreis“ von 50€ die Nacht vermietet wird. Dieses Geld muss Ilana jeden Abend erst mal anschaffen. „Das macht mich kaputt“, stammelt sie immer wieder.

Wir tun, was wir können, um ihr auf dem Weg in ein anderes Leben beizustehen und zu helfen. Nacht für Nacht steht sie aber wieder auf der Straße, um das Geld zu verdienen. Sie versucht sich als Zimmermädchen im Hotel, doch ihr zierlicher Körper ist zu schwach für die anstrengende Arbeit. Später finden wir einen Restaurantbesitzer, der ihr eine Chance geben will und sie aufnimmt. Sie blüht auf und freut sich wie ein Kind über den „normalen“ Job als Küchenhilfe. „Ich habe Kartoffeln geschält und geschnitten“, erzählt sie begeistert. Doch die Schwierigkeiten dauern an. Milo ist immer noch da, und sie verliert langsam das Vertrauen in ihn. Sie kriegt das Geld für das Hotel nicht mehr zusammen und beginnt sich zu verschulden. Und dann wird sie auch noch krank. Wochenlang hustet sie, ist geschwächt und macht trotzdem weiter. Immer wieder steht sie nachts auf der Straße, weil das Geld fehlt. Wir erzählen ihr vom Frauenhaus, doch sie kann sich nicht dazu durchringen. Sie ist gefangen, fühlt sich verpflichtet, für ihre Familie zu sorgen.

Auch wenn sie langsam anfängt zu verstehen, dass Milo es nicht gut mit ihr meint, findet sie nicht den Mut, ihn zu verlassen. Wir bereiten uns ein zweites Mal darauf vor, sie ins Frauenhaus zu bringen. Stattdessen steigt sie mit ihm in den Bus nach Bulgarien. Seit sechs Jahren hat sie ihre Familie nicht mehr gesehen. Wann und ob sie zurückkommt, wissen wir nicht.