Der verstrahlte Westernheld und anderer Irrsinn aus dem Atomzeitalter - Rudolph Herzog - E-Book

Der verstrahlte Westernheld und anderer Irrsinn aus dem Atomzeitalter E-Book

Rudolph Herzog

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Beschreibung

Eine Bilanz des Schreckens.Von verlorenen Wasserstoffbomben, verschwundenem Uran und unkontrollierbaren Technologien Nicht erst seit Fukushima weiß die Menschheit, dass Atomtechnologie nie völlig kontrollierbar sein wird. Welche ungeheuren Mengen atomaren Materials auf der Welt aber vorhanden sind, wie fahrlässig man damit umging und es teilweise immer noch tut, welche greifbaren Gefahren davon drohen – das wissen die Wenigsten.War es anfangs noch Unwissen, das Menschen und Regierungen dazu brachte, ganze Landstriche unbewohnbar zu machen (Bikini, sowjetische Testgelände, Nevada), bizarre Versuche vorzunehmen oder zu planen (die Erzeugung künstlichen Wetterleuchtens oder die Sprengung eines zweiten Panama-Kanals mittels 300 Atombomben) oder immer größere, gefährlichere und wahnsinnigere Waffen zu bauen (Atombombe, Wasserstoffbombe, Kobaltbombe), so liegt heute die Gefahr in der schieren Menge im Umlauf befindlichen Materials, von dem man oft gar nicht mehr weiß, wo es sich überhaupt befindet. Neben einer irgendwo im Eis vor Grönland verloren gegangenen Wasserstoffbombe fehlen laut Schätzungen weitere 30–40 Kernwaffen, und in Kasachstan liegen auf einem riesigen Testgelände verstreut viele Kilos waffenfähiger Stoff frei herum. Rudolph Herzog zieht jetzt erstmals Bilanz – er beschreibt die kurze, aber verheerende Geschichte des Umgangs der Menschen mit atomarem Material. Der Atomausstieg in Deutschland ist vor diesem Hintergrund nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Herzog führt drastisch vor Augen, dass ein öffentliches Bewusstsein für die globale Problematik dringend angesagt ist.

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Rudolph Herzog

Der verstrahlte Westernheld

und anderer Irrsinn aus dem Atomzeitalter

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Rudolph Herzog

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die zweitgefährlichste Erfindung aller Zeiten

Die rote Bombe

Die Mär vom taktischen Atomkrieg

Der verstrahlte Westernheld oder Wie die Bombe nach Alaska kam

Bildteil

Schwerter zu Pflugscharen

Die Weltuntergangsmaschine

Fliegende Reaktoren

Bildteil

Wie sicher ist sicher?

Atomares Australien

Strahlenmedizin auf Abwegen

Broken Arrows

Bildteil

Zitierte Werke

Abbildungsnachweise

Personenregister

Sachregister

Danksagung

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Ich war zwölf oder dreizehn, als mir mein Onkel die Barbiturate in seinem Kühlschrank zeigte. »Ich schlucke sie, wenn es knallt«, sagte er. Mit dem Knall war der atomare Knall gemeint, der Deutschland in eine Strahlenwüste verwandeln würde. Dass dies geschehen würde, schien in den 80er-Jahren ausgemacht. Seit 1981 regierte Ronald Reagan die USA, in der Sowjetunion herrschten unberechenbare Gerontokraten. Ein Ende des wahnwitzigen Rüstungswettkampfs, den die beiden Mächte seit fast vierzig Jahren betrieben, war nicht in Sicht. Über Sachalin wurde ein koreanischer Jumbo abgeschossen, die Amerikaner erdachten Laserwaffen im All, in Deutschland bauten Familienväter Atombunker im Garten. Nicht einmal im Kino konnte man sich von dem Katastrophengefühl ablenken lassen: In The Day After, dem Blockbuster des Jahres 1983, geisterten fahle Strahlenkranke über die Leinwand, in When the Wind Blows gab es die Versehrten noch einmal in Comicform, und Atomic Café machte sich ausgiebig über den Zivilschutz lustig, der gegen die atomare Bedrohung ohnehin nichts ausrichten konnte.

Zugleich wusste jedermann, dass sich Deutschland im Fadenkreuz des kommenden Atomkriegs befand. So hatten es die großen Mächte stillschweigend untereinander ausgemacht. In der Schule wurden uns die Konsequenzen schonungslos aufgerechnet. Ein Bundeswehroffizier, der in unserem Klassenzimmer einen Vortrag hielt, nannte die Doktrin der NATO »Flexible Response«. Flexibel daran war, dass man sich vorbehielt, einen sowjetischen Angriff auf Mitteleuropa wahlweise mit konventionellen Mitteln oder mit Atomwaffen zu beantworten. Wie aber mit der kleinen Bundeswehr gegen die Rote Armee in einem Bodenkrieg vorgegangen werden sollte, blieb nebulös. Der Redner ließ durchblicken, dass im Falle eines Angriffs der »Kommunisten« ein nuklearer Waffengang kaum zu vermeiden wäre. Der wahrscheinlichste Weg, den die Geschichte einschlagen würde, führte in den Abgrund. Um es den Menschen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs gehörig heimzahlen zu können, wurden im Westen des Landes atomar bestückte Pershing-II-Raketen stationiert.

Dann explodierte der Reaktor in Tschernobyl und mit der pulverisierten Reaktorhülle verschwand der letzte Glaube, dass Atomkraft auch zu etwas Gutem führen könnte. So war das Gefühl der nahenden Apokalypse allgegenwärtig.

Heute hat sich das depressive Lebensgefühl der 80er-Jahre längst verflüchtigt, das Fadenkreuz ist anderswohin weitergewandert. Durch das Ende der Konfrontation zwischen Ost und West stellte sich ein neues Gefühl ein – das des Abstands. Die Verwerfungen des Kalten Kriegs wurden nahezu vergessen. Auch die Angst vor dem Atomkrieg und die Endzeitstimmung dieser Epoche lässt sich kaum noch in Erinnerung rufen. Doch dieses Sicherheitsgefühl ist trügerisch, denn die Verästelungen der Vergangenheit reichen bis in die Gegenwart. Viele Probleme sind trotz Atomausstieg in Deutschland nicht aus der Welt geschafft, sondern haben sich sogar verschlimmert. Da sind zum einen die Hinterlassenschaften der vergangenen Jahrzehnte: Auf mehreren Kontinenten sind ganze Landstriche durch Kernwaffentests, Uranabbau, Reaktorunglücke oder Atommüll dauerhaft verseucht. Gleichzeitig verbreitet sich das geheime Wissen um die Herstellung von Atomwaffen unaufhaltsam um die Welt. Nachdem bis 1989 der Kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion die größte Gefahr darstellte, ist heute der Nahe Osten ein politisches Pulverfass. Während Iran mit großer Wahrscheinlichkeit an Kernwaffen baut, halten sich andere Staaten in seiner Nachbarschaft die nukleare Option offen. Im schlimmsten Fall droht in der Region ein atomares Wettrüsten, gefolgt von einem Krieg.

Angesichts der heutigen Kenntnisse über frühere wie aktuelle Gefahren ist es bemerkenswert, welch große Hoffnungen das zerstörerische wie zivile Potenzial der Kernspaltung einst weckte. Dieses Buch beschreibt, wie über vierzig Jahre lang Fortschrittsglaube und Kriegsszenarien parallel die Forschung vorantrieben, wahl- und wechselweise am zukünftigen Wohl oder am Untergang der Menschheit interessiert. Zu diesem Zweck werden besonders prägnante Fälle atomarer Unvernunft untersucht. Dazu gehören Geschichten von spurlos verlorenen Wasserstoffbomben, verstrahlten Westernhelden, Plutonium im Weltall, durch Kernwaffen hervorgerufenem Wetterleuchten und weiterem bizarren Irrsinn, den das Atomzeitalter hervorgebracht hat. Meine Auswahl der Fälle ist exemplarisch und vollkommen subjektiv. Hiroshima, die Kuba-Krise, Tschernobyl, Fukushima und anderes allzu Bekannte wurde weitgehend ausgeklammert. Die wichtigsten Quellen sind freigegebene Geheimdokumente aus dem Kalten Krieg, Augenzeugenberichte, Gutachten und zeitgenössische Pressenachrichten. Sie lassen erkennen, mit welcher fatalen Mischung aus Leichtsinn, Naivität und Skrupellosigkeit Menschen mit dieser jungen Technologie umgegangen sind und soziale wie ökologische Belange machtpolitischen oder wirtschaftlichen Interessen untergeordnet haben. Und so stellt sich bei der Lektüre unweigerlich auch die beunruhigende Frage, ob die Menschheit heute bei der Entwicklung ähnlich neuer Technologien wohl umsichtiger handeln würde.

Da sich alles in ständigem Fluss befindet, ist dies nur eine Sammlung historischer Momentaufnahmen; die zukünftigen Kapitel des atomaren Sündenregisters müssen andere schreiben. Für Lücken, die es angesichts der Breite des Themas gibt, übernehme ich gern die Verantwortung.

 

Berlin, im Dezember 2011

Rudolph Herzog

Inhaltsverzeichnis

Die zweitgefährlichste Erfindung aller Zeiten

Seit mehr als einem halben Jahrhundert verbreitet sich die Kernwaffentechnologie rund um den Erdball. Manche Staaten haben mit militärischen Nuklearprogrammen angefangen und sie wieder eingestellt, wie etwa Südafrika, Argentinien, Brasilien, Libyen und die Schweiz. Im internationalen Kernwaffensperrvertrag werden heute nur fünf Länder, nämlich die USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien, offiziell als Atommächte anerkannt. Doch inzwischen gibt es vier weitere »inoffizielle« Mitglieder des Atomklubs, die den Vertrag nicht unterzeichnet haben: Israel entwickelte bereits in den Sechzigerjahren Kernwaffen, Indien testete 1974 die erste Bombe. 1998 und 2006 zogen zwei Staaten nach, die nicht den besten Ruf haben: Pakistan gilt als schwacher Staat, Nordkorea als unberechenbare Diktatur.

Dass die Verbreitung von Kernwaffen schleichend aber unaufhörlich weitergeht, hat mit einer kleinen, eher unscheinbaren Apparatur zu tun. Dabei handelt es sich um eine Maschine, mit der nukleare Habenichtse Bombenstoff herstellen können. Inzwischen steht sie in tausendfacher Ausführung selbst im Gottesstaat Iran – angeblich nur zur zivilen Nutzung von Kernenergie.

 

Die Geschichte dieser gefährlichen Bombenbau-Maschine beginnt in der »Stunde null«. Hitlerdeutschland lag am Boden, die Rote Armee drang bis nach Berlin vor oder bis zu der bizarren Trümmerlandschaft, die von der Hauptstadt übrig geblieben war. Dieser Endpunkt war zugleich der Anfang einer neuen Ordnung. Manches vollzog sich auf offener Bühne: die vollständige Kapitulation von Hitlers »Drittem Reich«, die Befreiung der Konzentrationslager, die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen. Andere Vorgänge geschahen im Verborgenen, im Vorgriff auf den Kalten Krieg. Längst waren die USA und die Sowjetunion Konkurrenten und versuchten, für den heraufziehenden Systemkampf Vorteile aus der Lage im besiegten Deutschland zu ziehen. Nur zu gern wollte man vom Know-how deutscher Wissenschaftler und Militärtechniker profitieren. Dazu griffen die Alliierten gezielt deutsche Wissenschaftler auf. Besonders begehrt waren die Mitglieder des »Uranvereins« – jene Forscher, die an Hitlers Atomprogramm gearbeitet hatten.

Wie nahe die Atomphysiker der Nazis dem Bau einer funktionierenden Kernwaffe kamen, ist heute umstritten. Tatsache ist aber, dass die Deutschen anfangs einen deutlichen Zeitvorsprung vor den Amerikanern hatten. Nicht einmal ein Jahr nach der Entdeckung der Kernspaltung durch Otto Hahn, Fritz Straßmann und Lise Meitner im Jahr 1938 wandte sich der Hamburger Professor Paul Harteck ans Reichskriegsministerium und machte die Heeresführung darauf aufmerksam, dass nun die Tür zur Entwicklung einer Atombombe weit offen stehe und das Land, welches zuerst in den Besitz dieser furchterregenden Waffe käme, einen enormen Vorteil gegenüber anderen Ländern hätte.[1]

Zugriff auf alle für den Bombenbau notwendigen Substanzen hatten die Nazis reichlich: In Deutschland schlummerten riesige Uranvorkommen und im besetzten Norwegen wurde schweres Wasser produziert, eine entscheidende chemische Komponente von Reaktoren, mit denen man den Bombenstoff Plutonium gewinnen konnte. Doch obwohl sich die Crème de la crème der deutschen Atomforschung, darunter Otto Hahn, Carl Friedrich von Weizsäcker und der Nobelpreisträger Werner Heisenberg, an dem Projekt beteiligten, gelang es Nazideutschland nicht, seinen Vorteil zu nutzen.

Die Ursache für den Misserfolg des Uranprojekts ist nicht mehr eindeutig zu ermitteln. Wahrscheinlich gab es nicht einen einzigen Grund, sondern eine Vielzahl von Umständen, die Hitlers Bombe verhinderten. Häufig wird in diesem Zusammenhang genannt, dass viele der besten Köpfe wegen ihrer jüdischen Herkunft aus Deutschland vertrieben worden waren und sich während des Krieges erfolgreich der anderen Seite nützlich machten. Wenig förderlich war wohl auch, dass die Nazis immer wieder Wissenschaftler an die Front beorderten, was für massive Probleme in dem unterbesetzten Projekt sorgte. Ferner spielte Werner Heisenberg, der rasch zum Leiter des Projekts aufstieg, ein schwer durchschaubares Spiel. Auf Nachfrage des Rüstungsministers Albert Speer, wie viel Geld er, Heisenberg, zur Durchführung des Uranprojekts benötige, gab dieser die lächerliche Summe von 40000 Reichsmark an. (Zum Vergleich: Das renommierte amerikanische Brookings Institute beziffert die Gesamtkosten des US-Atombombenprojekts im Zweiten Weltkrieg mit 20 Milliarden Dollar.[2]) Außerdem bremste Heisenberg die Erwartungen des Ministers und der Militärs im Sommer 1942 mit der Einschätzung, die deutsche Bombe könne frühestens in drei Jahren einsatzfähig sein. Mit dieser für die Nazis äußerst enttäuschenden Prognose erschien das Uranprojekt wenig attraktiv. Gezielte Bombardements und Sabotageakte der Alliierten, die unter anderem einen Schwerwassertransport aus Norwegen trafen, gaben der deutschen Nuklearforschung den Rest.

Der wohl wichtigste Grund für das Scheitern des deutschen Kernwaffenprogramms war jedoch, dass die Naziführung, vor allem Hitler selbst, das zerstörerische Potenzial der Atombombe nicht erkannt und ihre Entwicklung nie mit dem nötigen Nachdruck forciert hatte. Das legt zumindest der Nuklearchemiker Nikolaus Riehl nahe, der als Insider des Uranvereins meint, es sei weniger eine bewusste oder unbewusste Weigerung der Wissenschaftler gewesen, für Hitler eine Atombombe zu bauen, als vielmehr die fehlende Gelegenheit dazu. Seiner Ansicht nach konnte sich »ein mit wissenschaftlicher Neugier oder technischem Spieltrieb behafteter Forscher oder Ingenieur der Faszination des Uranprojekts kaum entziehen, sodass bei starkem Druck und kräftiger Unterstützung seitens der Regierung die Deutschen sicher auch ein Stück weiter hätten kommen können«. Das »verhältnismäßig lasche« Interesse seitens der Regierung schreibt er wiederum »der intellektuellen Primitivität Hitlers und seiner Mannen« zu, die »wohl Verständnis etwa für Raketen [hatten], die mit viel Lärm daherbrausten und deren Funktionsweise anschaulich fassbar war, aber […] kein rechtes Verständnis für die nur mit ungewohnten abstrakten Begriffen erfassbare Energiefreisetzung durch Kernspaltung«. So habe die mangelnde Förderung seitens der Regierung dazu beigetragen, dass die meisten der Forscher »mit keinem Enderfolg des Uranprojekts vor Hitlers Zusammenbruch rechneten und daher [ihr] Gewissen gar nicht erst befragen mussten«.[3]

Die Wissenschaftler, die in den Vereinigten Staaten fieberhaft am »Manhattan Project«, dem amerikanischen Atomwaffenprogramm, arbeiteten, bekamen widersprüchliche Signale aus Deutschland. Nach einem heute legendären Austausch mit Heisenberg in Kopenhagen brachte der dänische Physiker Niels Bohr die Skizze eines wenig tauglichen Atombombendesigns nach Amerika. Als der in die USA geflüchtete Physiker Hans Bethe die (angeblich von Heisenberg selbst stammende) Zeichnung sah, rief er aus: »Mein Gott, die Deutschen wollen einen Atomreaktor auf London werfen!« J. Robert Oppenheimer, der »Vater« der Atombombe, soll lakonisch kommentiert haben: »Eine ziemlich nutzlose Waffe.«[4]

Dem umstrittenen Historiker Rainer Karlsch (Hitlers Bombe) zufolge arbeiteten einige deutsche Wissenschaftler im Schatten der letzten Kriegshandlungen an einer effektiven Atomwaffe, darunter der Physiker Kurt Diebner, ein Rivale Heisenbergs.[5] Noch im März 1945, kurz vor der Kapitulation des »Dritten Reichs«, ereignete sich laut einem von Karlsch zitierten sowjetischen Geheimdienstbericht in einem Waldstück in Thüringen eine mysteriöse Explosion. Dabei wurden Bäume im Umkreis von 500–600 Metern entwurzelt, eigens gebaute Anlagen zerstört und mehrere Kriegsgefangene getötet.[6] Karlsch schloss durch diese Beschreibung auf einen Kernwaffentest. Eine radiologische Untersuchung des angeblichen Atomtestgeländes im thüringischen Ohrdruf durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) im Jahr 2006 fiel jedoch negativ aus. Langlebige radioaktive Substanzen, die bei einem Atomtest entstanden wären, konnten nicht nachgewiesen werden. Für einen Kernwaffentest gebe es daher, so die PTB, »keinen Befund«[7].

Bezeichnenderweise fand sich im besiegten Nazireich weder ein Entwurf noch eine ansatzweise funktionsfähige Atomwaffe. Von den Anstrengungen des Uranvereins blieb allein ein Versuchsreaktor, der in einem Kellergewölbe in der schwäbischen Kleinstadt Haigerloch aufgefunden wurde. Dass die Anlage den Bombenstoff Plutonium hätte abwerfen können, ist unwahrscheinlich.

 

Der wahre Wert, den das deutsche Atomwaffenprogramm den Alliierten hinterließ, waren die Köpfe des Uranvereins, deren wertvolles Wissen sich Ost und West gleichermaßen zunutze machen wollten. Wie hemdsärmlig man bei der »Anwerbung« der Naziwissenschaftler zu Werke ging, lassen Dokumente einer britischen Sondereinheit, der T-Force, erahnen. Die T-Force war eine hoch bewegliche Truppe, die den westlichen Verbänden vorauseilte und wichtige deutsche Industriebetriebe und Forschungseinrichtungen besetzte. Aufgegriffene Top-Forscher wurden kurzerhand entführt, worauf man ihnen mit Zuckerbrot und Peitsche ihr Wissen abpresste.[8] Während die T-Force sich wahllos deutsches Know-how aneignete (einer alten Witwe nötigte man etwa die Rezeptur des Kölnisch Wassers ab), betrieben die USA bereits seit 1943 ein Geheimdienstprogramm, das ausschließlich die deutsche Atomforschung im Visier hatte. Codename der Aktion war »Alsos«. Hatte das Ziel am Anfang der Mission gelautet, den Stand des deutschen Atomprogramms zu ermitteln, ging es bei Kriegsende um die Festsetzung Heisenbergs und seiner Kollegen sowie um die Sicherung der deutschen Kernforschungsanlagen. Am 23. April 1945 erreichte ein Vorauskommando der Alsos-Geheimdienstler den Forschungsreaktor in Haigerloch, der seit dem Vortag von französischen Truppen besetzt war. Um zu verhindern, dass der Reaktor den Franzosen in die Hände fiel, demontierten ihn die Alsos-Leute in einer Blitzaktion. Die Amerikaner fanden allerdings zuerst weder den Reaktorbrennstoff Uran noch das wertvolle schwere Wasser. Schließlich gelang es den Geheimdienstlern, einigen gefangenen deutschen Physikern die Verstecke der verschwundenen Komponenten zu entlocken; das Uran wurde vergraben in einem Acker gefunden, das schwere Wasser in einem alten Mühlenkeller.

Zwischen April und Oktober 1945, als die Alsos-Mission eingestellt wurde, griffen die Amerikaner viele wichtige Protagonisten des deutschen Uranprojekts auf. Dank ihrer frühzeitigen Spionagetätigkeit waren sie besser auf diesen Moment vorbereitet als die anderen Alliierten. Zudem half ihnen der Umstand, dass sich die meisten Mitglieder des Uranvereins bei Kriegsende in Westdeutschland befanden. Die Wissenschaftler der mit der Kernforschung betrauten Kaiser-Wilhelm-Institute (Heidelberg und Berlin-Dahlem) wurden in Wohnungen in Hechingen und Taiflingen verhaftet, Heisenberg selbst ging ihnen in seinem Sommerhaus in Urfeld am Walchensee ins Netz.

 

Die Sowjets gerieten beim Wettlauf um die Köpfe hingegen in Rückstand – und dies zu einem außerordentlich ungünstigen Zeitpunkt, denn am 6. August 1945 demonstrierten die USA mit dem Abwurf von »Little Boy« über Hiroshima die verheerende Wirkung der Atombombe. Stalin zeigte sich über die neue Entwicklung zutiefst beunruhigt, das Gleichgewicht der Kräfte zwischen den aufstrebenden Supermächten USA und Sowjetunion war durch die Existenz der neuen Waffe empfindlich gestört. Die Amerikaner waren für einen geschichtlichen Moment unbesiegbar geworden. Mit umso größerem Nachdruck wurde das seit 1943 existierende sowjetische Atomprogramm nun vorangetrieben. Dessen Leiter, Igor Kurtschatow, schickte die besten Leute seines Kernforschungsinstituts nach Ostdeutschland, um dort Uran zu erbeuten und die noch verbleibenden Mitglieder des Uranvereins aufzugreifen. Tatsächlich wurde die vom NKWD-Generaloberst Iwan Serow geleitete Aktion bald von Erfolg gekrönt. Die Häscher brachten unter anderem Lise Meitners Schüler Nikolaus Riehl in ihre Gewalt, zudem den Leipziger Kernphysiker Robert Döpel, den damaligen Direktor des Dahlemer Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie, Peter Adolf Thiessen, den Nobelpreisträger Gustav Hertz sowie den genialen Elektroniker Manfred von Ardenne.[9]

Wie Riehl später berichtet, wurden die so »erbeuteten« Wissenschaftler mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt. Er erzählt, dass »merkwürdigerweise gerade die ›professionals‹, die Funktionäre der Sicherheitsorgane«, ihm gegenüber sehr freundlich gewesen seien. »Sie gaben mir Ratschläge, schoben mir Schokolade, Tabak und sonstige Herrlichkeiten zu. Als wir zum Abflug nach der Sowjetunion abtransportiert wurden, lief ein besonders furchterregender, vierschrötiger NKWD-Leutnant hinter dem Auto her, drückte mir die Hand, wünschte alles Gute und rief die prophetischen Worte aus: ›Sie werden noch im eigenen Auto durch Moskau spazieren fahren.‹«[10] Als die prominenten Kriegsgefangenen in Moskau angekommen waren, wurden sie in derselben luxuriösen Stadtvilla einquartiert, in der Feldmarschall Paulus mit seinen Stabsoffizieren nach der Kapitulation von Stalingrad untergebracht worden war. Im Speisezimmer hing noch eine Karte, auf der die Offiziere die Front markiert hatten. Am Abend entführte man Riehl, Ardenne und mehrere andere Wissenschaftler in das Bolschoi-Theater, wo zur Feier des Siegs gegen die Nazis Borodins Fürst Igor gespielt wurde.

Doch für die Nettigkeiten erwarteten die Sowjets nun Gegenleistungen von den gefangenen Wissenschaftlern. Dieses Ansinnen wurde den Deutschen in einem Gespräch mit Lawrentij Berija, Stalins gefürchtetem Geheimdienstchef, unmissverständlich klargemacht. Manfred von Ardenne berichtete seinen Mitarbeitern später von dem Ablauf des denkwürdigen Treffens: »Die Bomben, die macht ihr uns jetzt auch«, habe Berija befohlen. Ardenne war sofort klar, dass er sich in einer gefährlichen Zwickmühle befand. Verweigerten sich die Deutschen den Sowjets, drohte ihnen Arbeitslager oder Tod. Stimmten sie zu, würden sie zu Geheimnisträgern, die mit Sicherheit niemals mehr nach Deutschland zurückkehren konnten. Dazu wären die Informationen, zu denen sie Zugang hätten, viel zu sensibel. Doch Ardenne kam auf eine gewagte Idee, die er Berija und dessen Geheimdienstfunktionären mit wenigen Worten skizzierte: »Die Bomben bauen, das ist der einfachere Teil des Problems, das macht ihr selber«, sagte er. Die Deutschen würden hingegen die Herstellung des Bombenstoffs übernehmen.[11]

In der Tat war das Design einer Uranbombe vergleichsweise einfach, sogar so simpel, dass die Amerikaner vor dem Abwurf der Hiroshima-Atombombe auf einen vorherigen Test der Konfiguration verzichteten. In »Little Boy« befanden sich zwei Uranstücke, die mit einer Sprengladung aufeinander gefeuert wurden. Durch den Zusammenprall in dieser »Kanonenanordnung« formte sich eine kritische Masse Uran, wodurch im Inneren des Bombenstoffs eine Kettenreaktion von Kernspaltungen in Gang gesetzt wurde. Bei jeder Kernspaltung wurden zwei Neutronen freigesetzt, die wiederum zwei neue Atome aufspalteten; aus zwei wurden so vier, aus vier acht, aus acht sechzehn gespaltene Kerne usw., kurzum, es kam eine blitzartige Kettenreaktion in Gang, die gleichzeitig eine enorme Energiemenge freisetzte – mit verheerenden Folgen.

Ungleich schwieriger als das eigentliche Bombendesign war es, aus natürlichem Uran jene Substanz zu gewinnen, in der sich die Kettenreaktion anstoßen ließ. Diese Substanz war das spaltbare Isotop Uran-235, das gerade einmal 0,72 Prozent des Natururans ausmacht. Zum Zeitpunkt des Gesprächs zwischen Manfred von Ardenne und Berija gab es in Europa nur vollkommen unausgereifte Ansätze, wie man die winzigen Mengen Bombenstoff aus dem Uranmetall extrahieren konnte – ein Prozess, der »Uranisotopentrennung« genannt wird. In den Vereinigten Staaten war die Abtrennung der wenigen Kilo reinen, hochangereicherten Uran-235 für »Little Boy« nur durch einen jahrelangen großindustriellen Kraftakt gelungen. Die dabei eingesetzte Diffusionsmethode war so energieaufwendig, teuer und uneffektiv, dass sie für ein Bombenprogramm eigentlich nicht geeignet war. Selbstverständlich waren auch alle Einzelheiten dieses Verfahrens streng geheim.

Das Versprechen Manfred von Ardennes, das Problem der Uranisotopentrennung zu lösen, war also ein riskanter Schachzug mit ungewissem Ausgang, denn Ardenne ahnte wohl, dass die Deutschen beim Misserfolg ihres alchemistisch anmutenden Vorhabens mit dem Schlimmsten rechnen mussten. Nach einer halben Stunde waren die Beratungen der Sowjets abgeschlossen und der Vorschlag angenommen. Jahre später, als Manfred von Ardenne Nikita Chruschtschow bei einem Staatsempfang traf, nahm dieser den Deutschen beiseite und beglückwünschte ihn, wobei er anerkennend bemerkte, dass Ardenne seinen Kopf außerordentlich geschickt aus der Schlinge gezogen habe.[12]

 

Die Deutschen wurden nun in den kleinen, malerischen Ort Sinop, kaum zwei Kilometer außerhalb des Schwarzmeerortes Sochumi, gebracht (nicht zu verwechseln mit dem türkischen Badeort gleichen Namens). Dort wurde der Gebäudekomplex eines Intourist Hotels kurzerhand zum Physikalisch-Mathematischen Forschungsinstitut umfunktioniert, ausgestattet mit allerlei Kriegsbeute aus den führenden deutschen Chemie- und Physiklaboratorien. Was fehlte, wurde bei verschiedenen sowjetischen Industriewerken bestellt, vermutlich unter Androhung drakonischer Strafen im Fall des Misserfolgs.[13]

Doch trotz der enormen Anstrengungen, die von allen Seiten unternommen wurden, war der Anfang des Uranprogramms nicht sehr vielversprechend. Wenn es zum Erfolg führen sollte, so viel war Ardenne klar, würde nicht die Technik den Ausschlag geben, sondern ein Team der besten Köpfe – Wissenschaftler, die das Unmögliche möglich machen konnten. Fieberhaft ließ Ardenne in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern nach talentierten Physikern, Chemikern und Ingenieuren fahnden. Die Sowjets brachten ihm immer neue Listen mit aufgegriffenen Facharbeitern. Wer interessant erschien, wurde rasch an die georgische Sonne beordert. Manfred von Ardenne ahnte gar nicht, welch unerhörtes Glück er bei dieser Suche haben würde. Einer der zwei Helfer, die sich als unverzichtbar für das Projekt erweisen sollten, war nur durch Zufall noch am Leben.

Max Steenbeck, vormals Leiter des Siemens-Reiniger-Werkes in Berlin und in Forscherkreisen wegen seiner richtungsweisenden Plasmaforschung als »Plasmapapst« bekannt, hatte seine Fabrik als »Volkssturmmann« gegen die Rote Armee verteidigt. Nach seiner Gefangennahme biss Steenbeck auf eine Zyankaliampulle, doch aus mysteriösem Grund wirkte das Gift nicht; ein befreundeter Chemiker meinte später, dies habe mit Steenbecks Magensäure zu tun, die abnormal basisch sei und die tödliche Wirkung der Blausäure gehemmt habe. Wahrscheinlicher aber als diese gewagte Theorie ist, dass die Ampulle gar kein Gift enthielt, sondern eine unschädliche Substanz.[14]

Nach einem Gewaltmarsch landete der verhinderte Selbstmörder in Posen, wo er in einem Kriegsgefangenenlager interniert wurde. Die Bedingungen in sowjetischer Haft setzten dem empfindlichen und auf Status bedachten Mann rasch zu. Schon nach wenigen Wochen war Steenbecks ganzer Körper mit Geschwüren übersät, außerdem litt er an Fieber und einem hartnäckigen Durchfall. Als einzige Hafterleichterung gab man dem Schwerkranken einen Strohsack sowie täglich ein Glas Milch. Der Tod, dem er gerade wundersam entkommen war, schien nahe. So war Steenbeck, dessen Schicksal im buchstäblich letzten Moment eine glückliche Wendung nahm, zu geschwächt, um die Vorgänge vollends zu verstehen, als er Mitte Oktober 1945 von sowjetischen Offizieren aus seiner Baracke geholt wurde. In seiner Erinnerung »viel zu gleichgültig für irgendeine Empfindung«, selbst als die Gruppe durch das Tor den Stacheldrahtbereich verließ – »ein Augenblick, den wir uns doch immer wieder mit Hoffnung oder Angst so lebhaft vorgestellt hatten«. Auch im Zimmer des Kommandanten begriff Steenbeck nicht, wie ihm geschah. »Selbst dass jetzt vor mir ein gedeckter Tisch stand mit vielen guten Sachen – ich habe keine Ahnung mehr, was es war, nur an ein kleines Glas Wodka erinnere ich mich noch – all das berührte mich eigentlich gar nicht. In meiner Lethargie nahm ich nichts für wirklich – alles schien ein Traum zu sein […] Als ich am nächsten Morgen aufwachte, lag ich in einem weiß bezogenen richtigen Bett, allein in einem großen Zimmer. Wieso das so war, wusste ich nicht recht.«[15] Der Grund für Steenbecks Rettung war Manfred von Ardennes Liste, von welcher der »Plasmapapst« nichts ahnte.

Nachdem die Sowjets den geschwächten Steenbeck in einem Krankenhaus aufgepäppelt hatten, wurde er ans Schwarze Meer gebracht – in eine merkwürdige Gegenwelt, die kaum etwas gemein hatte mit dem elenden Barackenlager, das er hinter sich ließ. Die Deutschen um Manfred von Ardenne waren Gefangene, daran änderte sich nichts. Sie mussten den Anweisungen der Sowjetführung gehorchen, auch das blieb so, wie es war. Doch in Sochumi merkten die Wissenschaftler kaum, dass ihre Freiheit beschnitten war, denn ihre Lebensumstände waren traumhaft, viel besser als die eines durchschnittlichen Sowjetbürgers und die der Bevölkerung im darbenden Nachkriegsdeutschland.

Die Schwarzmeerstadt, heute Hauptstadt der von nur wenigen Staaten anerkannten Republik Abchasien, liegt am Fuß des Kaukasus. Von ihrer prunkvollen Vergangenheit zeugt die breite Strandpromenade, die allerdings im georgischen Bürgerkrieg in den 1990er-Jahren verwüstet wurde. Zu Sowjetzeiten war Berijas Heimatstadt eine blühende Hafenmetropole und weithin bekannt als die »weiße Stadt am Meer«. In Sochumi verbanden sich Fischerdorf und Sowjetprotz, Kur-Pastorale und kommunistische Grandezza zu einer eigentümlichen Mischung, die nicht ohne schwülen Charme war. Im Schatten hundertjähriger Palmen residierte Stalins Geheimdienst NKWD, gleich nebenan konnte man in einer Schwefelquelle baden oder auf der Promenade flanieren. An allen Ecken hatte die Obrigkeit riesige Bettenburgen für die Arbeiterelite hochgezogen; jedem Flur dieser Orwell’schen Anlagen war ein Spitzel zugeteilt. Am Wochenende begaben sich verdiente Sowjetmenschen wahlweise zu einem Trinkgelage an den Strand oder auf eine romantische Wandertour in den Kaukasus, was letztlich auf dasselbe hinauslief: Man pflegte demonstrativ ein Lotterleben, so verlottert es eben ging in der Enge der stalinistischen Diktatur.

In diesem der Realität nur scheinbar enthobenen Idyll fand sich Steenbeck nun wieder; dass er hier beim Bau der sowjetischen Atombombe mithelfen sollte, war ihm schon vor seiner Ankunft mitgeteilt worden. Er willigte ein, denn ihm blieb ohnehin keine andere Wahl. Der Kriegsgefangene wurde von Ardenne zum Abteilungsleiter ernannt, ein Auto mit Chauffeur wurde bereitgestellt, ebenso ein geräumiges Zimmer mit Blick auf eine Parkanlage. Vom Eingangsbereich der Villa führte eine mit mächtigen Sandsteinlöwen flankierte Freitreppe hinaus ins Grüne. Fotos aus den Vierzigern und Fünfzigern geben einen Eindruck von dem Privatleben der Deutschen in Sochumi: Studienzimmer mit hohen Bücherwänden, polierte Dielenböden, freundliche Pfeifenraucher auf der Veranda. Die Chefs lebten in weiß getünchten Villen, die Ingenieure und Arbeiter in eigens gezimmerten, rustikalen Holzhäusern. Durch das Forschungszentrum führte ein Bach, der sich nahtlos in das Bild der kaukasischen Riviera einfügte, wie es einer der Forscher zeichnet: »In der subtropischen Vegetation, am Flüsschen oberhalb des Objektes, rankten sich wilde Weinreben mit süßen Trauben auf die Bäume. Ebenso wuchsen Kakipflaumen und andere essbare Früchte für jeden, der sie nur pflücken wollte. Mandarinen wurden auf umliegenden Plantagen gezüchtet und waren in Kisten zu 20 kg billig zu kaufen« – ein wahres Paradies, nur getrübt durch ein »unglaublich lärmendes und den Schlaf störendes Konzert der Kröten und Fische« in besagtem Bach.[16]

Im März des Jahres 1946 stieß ein Nachzügler zu der Gruppe am Schwarzen Meer, der sich als zweite Schlüsselfigur des sowjetischen Uranprojekts erweisen sollte. Der österreichische Ingenieur Gernot Zippe hatte einen praktischen Verstand, der die perfekte Ergänzung zu Steenbecks außerordentlichen Rechenkünsten war. Zippe hatte seine technischen Fähigkeiten im Krieg bewiesen: Erst hatte er an der Entwicklung deutscher Radar-Peilfunkgeräte mitgearbeitet (Typ »Forsthaus«), dann hatte er sich beim Luftwaffenforschungsinstitut in Prag nützlich gemacht und mit einem neuartigen, ultraschnellen Propellertyp experimentiert. Ein Mitgefangener gab den Sowjets den Tipp, sich diesen vielseitigen Techniker genauer anzuschauen.

Im Gegensatz zu Steenbeck, der sich nach dem Krieg zum überzeugten Sozialisten wandelte und später in den DDR-Forschungsrat berufen wurde, konnte sich Zippe nicht mit Marx und Engels anfreunden. Dass er weiter an seinen »Führer« glaubte, gab er unumwunden zu: »Bei meiner Erziehung und den Erfahrungen mit der Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur in Österreich bekannte ich mich – auch in Anbetracht des verlorenen Krieges – als glühender Anhänger von Adolf Hitler. […] Natürlich gab es nicht nur für mich neue und andere Einsichten ›danach‹, zum Beispiel wurden uns auch vor Ort Filme über die Gräuel der Konzentrationslager vorgeführt, von denen ich bis dahin keine Kenntnis hatte. Faktum bleibt aber, dass ich eine unglaubliche Aufbruchstimmung, begleitet von großen sozialen Erfolgen, erleben konnte.«[17]

Neben den weltanschaulichen Gegensätzen von Zippe und Steenbeck waren die beiden Männer auch sonst höchst verschieden: Während der Österreicher zurückhaltend und introvertiert war, galt Steenbeck als rechthaberisch und arrogant; er selbst charakterisiert sich in seinem Buch Krise und Aufbruch als egozentrisch. Doch trotz der radikalen Unterschiede der Einstellungen und Temperamente wurden die zwei Männer zum effektivsten Team des Uranprojekts in Sochumi. Ihre Zusammenarbeit gelang, weil sie von gegenseitigem Respekt geprägt war. Steenbeck, der nominell der Vorgesetzte Zippes war, ihn aber weitgehend unbehelligt schalten und walten ließ, schätzte dessen praktische Intelligenz. Zippe wiederum erkannte die visionäre Kraft von Steenbecks Geist. Freilich lief diese merkwürdige Symbiose nicht vollkommen reibungslos. Bezeichnenderweise wird der Österreicher in Steenbecks Autobiografie nur peripher erwähnt; Zippe wiederum konnte sich in seinen eigenen Memoiren die Stichelei nicht verkneifen, Steenbeck, der geniale Theoretiker, habe »oft in höheren Sphären« geschwebt, »sodass man meinen konnte, er glaubt, was er ausrechnet müsste die Natur dann auch tun. Meiner Meinung nach ist es in der Wirklichkeit allerdings eher umgekehrt!« Als Experimentator habe er Steenbeck oft »aus seinen hochfliegenden Träumen an beiden Beinen wieder auf den Boden der naturgegebenen Beschränkungen zurückstellen« müssen.[18]

Es war der »geniale Theoretiker« Steenbeck, der plötzlich eine neue Methode zur Gewinnung des Bombenstoffs Uran-235 ins Spiel brachte. Er schlug vor, eine spezielle Zentrifuge zu bauen, in der das winzige Quantum des Bombenstoffs, das im Natururan enthalten war, von der Masse abgeschieden werden konnte. Steenbeck wollte sich dabei die Tatsache zunutze machen, dass Uran-235 im gasförmigen Zustand um einen winzigen Hauch leichter ist als die übrigen Bestandteile des radioaktiven Metalls. Schleuderte man aus Uran gewonnenes Gas, das Uranhexafluorid, so würde sich der Bombenstoff im Zentrum der Zentrifuge konzentrieren. Waschmaschinen nutzen ebenfalls diesen Trenneffekt: Das saubere Wasser wiegt weniger als das schmutzige und verbleibt so im Inneren der Schleuder. Zu diesem Vorgang ist eine Wäschetrommel vonnöten, die sich etwa fünfzehn Mal in der Sekunde dreht. Steenbeck errechnete, dass eine Zentrifuge, die Uran-235 von den übrigen Isotopen abscheiden könnte, sich hingegen mit Überschallgeschwindigkeit drehen müsste, schwindelerregende 90000 Mal pro Minute. Dies war trotz aller vorhandenen Möglichkeiten ein nahezu unüberwindbares Hindernis. Jede noch so solide gebaute Trommel würde bei derart hohen Rotationsgeschwindigkeiten in Stücke gerissen. Wie man eine solche Zentrifuge bauen sollte, davon hatte im Jahr 1946 niemand auch nur die geringste Ahnung. Dennoch schien Steenbecks verwegener Plan der einzig gangbare Weg; eine zweite Forschergruppe in Sochumi, die sich mit der Diffusionsmethode herumplagte, machte nur mäßige Fortschritte und ein drittes Verfahren, das Steenbeck ursprünglich favorisiert hatte, erwies sich als nicht praktikabel.

Zugleich war der Erfolgsdruck bei allem zur Schau gestellten Gönnertum der Sowjets enorm. Nicht ohne Schaudern wird von verschiedenen Zeitzeugen berichtet, Berija habe in einem Safe eine Liste der Wissenschaftler aufbewahrt, die beim Misslingen der Bemühungen um die Bombe mit dem Arbeitslager oder gar dem Tod bestraft werden sollten.

Steenbeck und Zippe machten sich an die Arbeit. Wo sie auch hinsahen, gab es unlösbar erscheinende Probleme. Als Erstes stellte sich die Frage des Materials. Bei Erreichen der sogenannten »kritischen Geschwindigkeiten« wird die Zentrifugentrommel durch die auf sie einwirkenden Kräfte verformt – bei der ersten dieser Beschleunigungsstufen wird sie krumm wie eine Banane. Jedes Metall würde durch diesen brachialen Vorgang sofort brechen. Zippe und Steenbeck experimentierten daher mit Gummischläuchen, die aber bei höheren Drehgeschwindigkeiten »Schwingungsbäuche« bildeten und den beiden Experimentatoren um die Ohren flogen. Auch mit Rohren aus Glas und Messing wurde herumprobiert – mit gefährlichen Folgen. Serienweise brachen die Zylinder; Trümmerteile und Splitter schossen unkontrolliert durch das Labor. Zippe liebäugelte mit der Idee, sich zum Schutz eine historische Ritterrüstung auszuleihen. »Es war eigentlich nur sehr, sehr viel Glück zu verdanken, dass in dieser ersten Phase des Herumprobierens kein ernsthaftes Unglück passierte«, bekannte er später.[19] Immer wenn es im Zentrifugenlabor wieder knallte, fassten sich die an anderen Projekten arbeitenden Deutschen an den Kopf. Für sie war klar: »Die ganze Gruppe Steenbeck spinnt.«[20] Was die Experimente noch zusätzlich gefährlich machte, war die Tatsache, dass Zippe und Steenbeck die Rohre von Anfang an mit Uranhexafluorid befüllten, einer Substanz, die in luftleerer Umgebung funkelnde Kristalle bildet, sich aber beim geringsten Kontakt mit Wasser in ätzende Flusssäure verwandelt. Bei winzigsten Verunreinigungen durch Feuchtigkeit fraß sich die Säure durch die Zentrifugenrohre, selbst hartes Glas konnte sie problemlos zersetzen. Diese Unsicherheitsfaktoren wurden auch dadurch nicht beherrschbarer gemacht, dass sich Zippes russischer Laborant vor jeder Schicht einen gestrichenen Messbecher 96-prozentigen Alkohol in den Rachen goss. Kurzum, die Sicherheitsbestimmungen in Sochumi waren lax bis nicht existent. Bei einer Explosion in einem anderen Labor des Instituts erblindete ein Kollege, wurde von eifrigen Helfern weggeführt und ward nicht mehr gesehen.

Doch ungeachtet aller Widrigkeiten machten Zippe und Steenbeck Fortschritte. Sie kamen auf die Idee, in Metallrohre flexible Verbindungsglieder einzubauen. Diese verhinderten, dass die Zentrifugen durch die exzentrischen Bewegungen während der kritischen Geschwindigkeiten auseinanderbrachen. Parallel dazu konstruierte Steenbeck einen Elektromotor, der die Rohre auf die erforderliche Drehzahl bringen konnte. Trotz eindrucksvoller erster Resultate gab es allerdings immer noch einen entscheidenden Knackpunkt: die Reibung. Bei einer Bewegung, bei der sich zwei Körper berühren, entsteht Hitze. Im Fall einer Zentrifuge, die sich nahezu mit Schallgeschwindigkeit dreht, ist die Hitzefreisetzung enorm und führt zur Zerstörung der Apparatur. Selbst wenn sich die mechanischen Teile der Zentrifuge kaum berührten, konnte allein die Reibung mit der Luft den Zentrifugenkörper irreparabel beschädigen. Von einer Lösung dieser Problematik waren die Deutschen weit entfernt.

Zippe lenkte sich mit ausführlichen Bergtouren ab, denn den gefangenen Wissenschaftlern standen vier Wochen Urlaub zu, den Chefs sogar üppige sechs Wochen. Im offenen Jeep ging es durchs kaukasische Hochland, immer mit einem Aufpasser im Schlepptau, der sich als Dolmetscher nützlich machte. Beim Wandern um den Riza-See, der auf 3200 Metern Höhe liegt, blickte Zippe hinab auf Schneefelder und Felsflächen, auf denen sich Pferde tummelten. So glitt die Zeit dahin. Während bereits die ersten regulären Kriegsgefangenen nach Deutschland entlassen wurden, arbeiteten die Wissenschaftler in ihrem goldenen Käfig am Schwarzen Meer weiter, Tage wurden zu Monaten und Monate zu Jahren.