Der Vorgang Benario - Robert Cohen - E-Book

Der Vorgang Benario E-Book

Robert Cohen

4,9

Beschreibung

Am 29. April 2015 fand im Museum der Streitkräfte in Moskau ein spektakulärer Eröffnungsakt statt. Anlass war die Online-Publikation von bisher nicht zugänglichen Akten des Deutschen Reiches aus russischen Archiven. Darunter ein umfänglich einzigartiges Dossier über das international bekannte Holocaust-Opfer Olga Benario. Die Agentin der Komintern und Geliebte des brasilianischen Kommunisten Luis Carlos Prestes wurde im Frühjahr 1936 in Brasilien verhaftet und an Deutschland ausgeliefert. Robert Cohen hat die zweitausend Blatt umfassende Gestapo-Akte zu Olga Benario studiert und daraus ein ergreifendes Buch gemacht. Unumwunden offenbart sich das Vorgehen der Nazis im Zusammenhang mit dem Schicksal ihrer in Gestapo-Haft geborenen Tochter, sind die Versuche, sich über Prestes' Vaterschaft Gewissheit zu verschaffen, oder die detektivische Überwachung von Frauendelegationen aus England und Frankreich, die sich in Berlin um die Freilassung Olga Benarios bemühten, bloßgelegt. Das erste Buch aus der 70 Jahre nach Kriegsende endlich zugänglichen Sammlung der »Trophäendokumente« gibt einen ungeheuerlichen Einblick in das Räderwerk der NS-Menschenvernichtung.

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ROBERT COHEN

DER

VORGANG

BENARIO

Die Gestapo-Akte 1936–1942

edition berolina

ISBN 978-3-95841-527-0

1. Auflage

Alexanderstraße 1

10178 Berlin

Tel. 01805/30 99 99

FAX 01805/35 35 42

(0,14 €/Min., Mobil max. 0,42 €/Min.)

© 2016 by BEBUG mbH / edition berolina, Berlin

Umschlaggestaltung: buchgut, Berlin

Umschlagabbildung: © BArch Bild 183-P0220-302

www.buchredaktion.de

Wenn es keine Zukunft mehr gibt,

ist das Vergangene umsonst gewesen.

Anna Seghers

Vorwort

Dass die Vorstellungskraft erlahmt vor dem Ausmaß der Menschenvernichtung durch die Nazis, diese Erfahrung haben die Späteren immer aufs Neue zu machen. Können wir uns also den Holocaust nicht vorstellen? Die historisch-wissenschaftlichen Untersuchungen der Judenvernichtung, nachprüfbare Fakten, Zahlen, Daten, Namen und Orte liefernd, machen das Geschehen rational fassbar, aber nicht vorstellbar. Anders die Berichte von Opfern und Überlebenden. Was am Schicksal von Millionen nicht nachvollziehbar ist, offenbart sich am Schicksal Einzelner, an denen es sich vollzog. Doch musste für die Opfer im Räderwerk der Vernichtung manche für die Vorstellbarkeit zentrale Frage unbeantwortbar bleiben: Warum? Wie konnte es dahin kommen? Was trieb die Täter an? Welche Ideologien, Zwänge, Mechanismen, Organisationen und Strukturen? Die Antworten können nur die Täter selbst geben. Sie werden sich hüten?

Am 29. April 2015 fand im Museum der Streitkräfte in Moskau, im Beisein hoher russischer und deutscher Persönlichkeiten, ein feierlicher Eröffnungsakt statt. Anlass war die Onlinepublikation von bisher nicht zugänglichen Akten des deutschen Reiches aus russischen Archiven. Russisch-deutsches Projekt zur Digitalisierung deutscher Dokumente in den Archiven der Russischen Föderation lautet der vollständige Name der Website. Eingeladen hatten russische historische Institute, gemeinsam mit der Max Weber Stiftung und dem Deutschen Historischen Institut Moskau. Der Bestand dieser sogenannten Trophäendokumente, achtundzwanzigtausend Akten, gegliedert in fünfzig Findbüchern, umfasst rund zweieinhalb Millionen Blatt, die bis 2018 schrittweise digitalisiert werden sollen. Unter den Tausenden von bereits digitalisierten Dokumenten findet sich ein Dossier von acht Akten der Gestapo – gegen zweitausend Blatt – zu einer einzigen Person: Olga Benario. Ein schon mit Blick auf den Umfang vergleichsloses Dossier. Der von der Gestapo sogenannte ›Vorgang Benario‹ ist die vielleicht umfassendste Sammlung von Dokumenten zu einem einzelnen Opfer des Holocaust. Zugleich bilden diese Dokumente – unvermeidliche Dialektik – eine umfassende Selbstdarstellung der Täter und der Ideologien, Zwänge, Mechanismen, Organisa­tionen und Strukturen, die sie leiten. Indem sie den ›Vorgang Benario‹ beinahe Tag für Tag aktenmäßig verhandeln, tun die Täter, was sie nicht wollen können: Sie geben Auskunft über sich selbst.

Wie kam gerade dieses Opfer zu solcher Aufmerksamkeit?

Olga Benario

Münchnerin, Jüdin, Mitglied des Kommunistischen Jugendverbands, in der Sowjetunion militärisch ausgebildet, Agentin der Komintern, Lebenspartnerin des schon in den 1920er Jahren weltweites Aufsehen erregenden brasilianischen Hauptmanns Luiz Carlos Prestes. Im Frühjahr 1936 zusammen mit Prestes nach einem misslungenen Volksaufstand in Rio de Janeiro verhaftet. Im siebten Monat schwanger an Nazideutschland ausgeliefert. Im Gestapo-Gefängnis in Berlin gebiert sie eine Tochter. Es folgen eineinhalb Jahre Haft in Berlin, dann zwölf Monate im KZ Lichtenburg und drei Jahre im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Im April 1942 in Bernburg südlich von Berlin vergast. Prestes verbringt fast zehn Jahre in Einzelhaft in Rio. Bis 1941, wenige Monate vor Olga Benarios Tötung, sind die beiden im Briefkontakt. Die Auslieferung der schwangeren Jüdin und Kommunistin an Deutschland und die Geburt ihrer Tochter, aber auch das Schicksal ihres Lebenspartners, führen zu internationalen Kundgebungen und Aufrufen, das zeigen die von der Gestapo aufbewahrten Zeitungsberichte und Protestschreiben an Heydrich, Himmler und sogar an Hitler.

Deutsche, Jüdin, Kommunistin, militärisch ausgebildet, Geliebte, Kominternagentin, prominente Gefangene der Gestapo, Mutter, KZ-Insassin, Vergasungsopfer. Was wissen wir damit über sie?

So erzählen wir ihr Leben.

12. Februar 1908 lautet das Geburtsdatum von Olga Benario, der Ort ist München, Haydnstraße 12. Am selben Tag wird auch Simone de Beauvoir geboren, startet in New York das erste Automobilrennen rund um die Erde, und in Deutschland regiert Kaiser Wilhelm II. Die jüdische deutsche Familie Benario besteht aus dem Vater Dr. Leo Benario, einem Rechtsanwalt, der Mutter Eugenie, geborene Guttmann, und dem sieben Jahre älteren Bruder Otto. Eugenie Benario wird 1943 in Theresienstadt getötet werden, der Bruder 1944 in Auschwitz. Olga wächst in der Jakob-Klar-Straße 1 auf, besucht die Höhere Mädchenschule in der Luisenstraße, das heutige Luisengymnasium. Was immer sie dort lernen mag, das eigentliche, das folgenreiche Lernen findet im Elternhaus statt. Der Vater, ein Sozialdemokrat, verteidigt vor Gericht Bedürftige, Proletarier und Arbeitslose. Die Fälle werden auch in der Jakob-Klar-Straße verhandelt, mit entgegengesetzter Wirkung auf Mutter und Tochter. Eugenie Benario sieht ihr gesellschaftliches Ziel, von der Münchner High Society akzeptiert zu werden, schon durch ihr Judentum kompromittiert. Nun also dieser Ehemann, der aus der konservativen Zunft der Rechtsanwälte ausbricht. Bei Eugenie Benario-Guttmann führt das zu einem Bann gegen alles Linke, der am Ende selbst die im Gewahrsam der Gestapo sich befindende Tochter und die Enkeltochter trifft. Aber auch wenn Eugenie Benario sich von ihrem Judentum und von allem Linken distanziert, dem Schicksal der Tochter entgeht sie nicht. Nicht nur von Herzlosigkeit wäre zu reden, sondern auch von der Heillosigkeit der Zeit.

Auf Olga haben die Berichte Dr. Leo Benarios über die Weimarer Klassenjustiz eine sehr andere Wirkung. Im Alter von fünfzehn Jahren tritt sie dem illegalen Kommunistischen Jugendverband bei, wenig später ist sie Funktionärin. Im Mai 1925 lebt sie in Berlin im Stadtbezirk Neukölln mit dem acht Jahre älteren Otto Braun zusammen, der für den sowjetischen Geheimdienst arbeitet. Sie wird Mitglied der Bezirksleitung der Kommunistischen Jugend Neukölln, ein Jahr später der Bezirksleitung von ganz Berlin. Braun verschafft ihr eine Stelle als Stenotypistin in der sowjetischen Handelsvertretung, da kommt sie direkt mit dem sowjetischen Geheimdienst in Berührung. Sie ist achtzehn, als ihre Karriere eine jähe Unterbrechung erfährt. Am 2. Oktober 1926 wird sie verhaftet, sie soll mit ihrer politischen Tätigkeit die Republik gefährdet haben. Olgas Vater bietet an, die Tochter zu verteidigen. Aber von einem Sozialdemokraten, und sei es der eigene Vater, will sie sich inzwischen nicht mehr helfen lassen. Zwei Monate später kommt sie dennoch frei: Ihre Inhaftierung war nur ein Vorwand, das Interesse der Justiz gilt Otto Braun, der zusammen mit ihr festgenommen wurde.

Zwei Jahre später, man schreibt den 11. April 1928, die spektakuläre Aktion: Mit der Pistole in der Hand befreit die inzwischen Zwanzigjährige, gemeinsam mit Genossinnen und Genossen aus der Jugendgruppe, Otto Braun aus der Justizvollzugsanstalt Moabit. (In den Gestapoakten zum ›Vorgang Benario‹ spielt die junge Frau bei dieser Aktion nur eine Nebenrolle. Wo ist die Wahrheit?) Die Aktion wird in der Weimarer Republik notorisch, sogar in einer Passage von Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz ist sie erwähnt. Aber die Polizei lässt sich nicht von einer frechen jungen Frau verhöhnen. Fotos der beiden Untergetauchten auf Litfasssäulen und Kinoleinwänden. Der Oberreichsanwalt setzt für die Ergreifung eine Belohnung von 5.000 Reichsmark aus. Sie haben Olga Benario damals nicht erwischt.

Anfang Juli erreichen die beiden Flüchtlinge Moskau. Im September leitet Olga Benario bereits die Abschlussveranstaltung des fünften Weltkongresses der Kommunistischen Jugendinternationale, sie wird ins Zentralkomitee gewählt. 1929 (oder 1930) erhält sie in Borissoglebsk, fünfhundert Kilometer südöstlich von Moskau, eine zehn Wochen dauernde paramilitärische Ausbildung. Sie erlernt den Umgang mit leichten und schweren Waffen, lernt Reiten usw. Die körperlichen Strapazen während dieser Ausbildung hält sie aus, seit frühester Jugend treibt sie Sport, bei der Jugendgruppe in München war sie für körperliche Ertüchtigung – so hieß das damals – zuständig, auf den Wiesen vor der Stadt trainierte sie mit den Kameraden Fußball. Sie liebt Bewegung, sie hält sich fit wie eine Leistungssportlerin. Im Frühjahr 1930 reist sie im Auftrag der Komintern nach Frankreich und England, wo sie verhaftet und nach Moskau abgeschoben worden sein soll. 1931 trennt sie sich von Otto Braun. Es mehren sich Ungewissheiten und Lücken in ihrem Lebenslauf, das entspricht dem Wesen konspirativer Tätigkeit. Von der Komintern dafür ausgewählt, nimmt sie an einem Fallschirmspringer- und Fliegerkurs an der Luftwaffenakademie Schukowski in der Nähe von Moskau teil. Sie kann alles, was angeblich nur harte Männer können: mit Waffen umgehen, Fallschirmspringen, ein Flugzeug pilotieren, körperliche Leiden ertragen, sie hat Mut, sie ist verwegen, unerschrocken usw. Das Bild einer heroischen Superfrau lässt sich kaum mehr steigern. Wie es vermeiden, da es doch stimmt? Und wie eine Verbindung herstellen zu jener jungen Mutter, die Jahre später machtlos in Nazigefängnissen und Konzentrationslagern auf den Tod zu warten hat?

Das also wären die Umrisse ihres Lebens, soweit wir sie kennen.

Im November 1934 – inzwischen ist ihr Vater gestorben und Hitler an der Macht – wird Olga Benario in Moskau an den Sitz der Komintern gerufen. Man stellt ihr einen schmächtigen, unscheinbaren Mann im korrekt sitzenden Anzug vor, Typ des anonymen Funktionärs, einen Kopf kleiner als sie. Das soll der brasilianische Haudegen Luiz Carlos Prestes sein, von dessen Gewaltmarsch durch das brasilianische Hinterland, zehn Jahre zuvor, und von dessen Anwesenheit in Moskau sie aus den Zeitungen erfahren hat?

Luiz Carlos Prestes

Die Gestapo hat, in Zusammenarbeit mit der brasilianischen Regierung, zahlreiche Fakten und Fäktchen über ihn zusammengetragen. Offizier, Ingenieur, Mitte der 1920er Jahre Anführer einer aufständischen Militäreinheit, seither im Volk verehrt, Kommunist, Ende 1935 wiederum Leiter eines Aufstands – wie mochten diese Identitäten zusammengehören? Endloses Werweißen und Nachforschen, ob er mit Olga Benario verheiratet gewesen sei, buchhalterisches Aufrechnen nach Monaten, Wochen und Tagen, ob er der Vater ihrer Tochter Anita sein könne.

Carlos Prestes – oder »Karli«, wie ihn Olga Benario in ihren Briefen oft nennt – kommt am 3. Januar 1898 in Porto Alegre zur Welt, der Hauptstadt des südlichsten brasilianischen Bundesstaats Rio Grande do Sul. Nach der Selbstcharakterisierung der Brasilianer ist er ein Gaúcho. Nacheinander werden vier Schwestern geboren. Der Vater stirbt früh, so wächst er in einem Haus mit fünf Frauen auf. Sie verhätscheln den einzigen Mann im Haus – und auch wieder nicht. Die Mutter, Leocádia Prestes, ist Schullehrerin, das Lehren und Lernen wird auch zu Hause betrieben, für die Mädchen ebenso wie für den Jungen. Auch die Arbeit im Haushalt wird unter allen fünf Kindern aufgeteilt. Carlos Prestes wächst auf mit Hochachtung vor der Mutter und Achtung vor den Schwestern. Er versteht schon früh Frauen – und auch wieder nicht. Ist es Scheu, ist es die spartanische Lebensweise des Militärs, ist es sein Charakter eines Asketen? Er wird mehr als fünfunddreißig Jahre alt werden, bevor er zum ersten Mal eine Beziehung zu einer Frau hat: zu Olga Benario.

An der Militärakademie in Rio de Janeiro betreibt Prestes neben der militärischen Ausbildung ein Ingenieurstudium. Er arbeitet beim Bau von Eisenbahnlinien und Militärunterkünften, es ist der Beginn einer vielversprechenden militärischen Laufbahn, sie stößt bald an Grenzen. Die höheren Dienstgrade und Posten werden mit Vertretern der Oberschicht besetzt, seit jeher. Im Herbst 1924 erreicht die Unzufriedenheit der niederen Offiziersgrade eine neue Qualität. Mehrere Militäreinheiten erheben sich, eine davon, die spätere Kolonne Prestes, schlägt in São Luís Gonzaga, in der südwestlichen Ecke Brasiliens, an der Grenze zu Paraguay, eine vielfach überlegene Armeeeinheit. Weitere Militäreinheiten schließen sich dem Aufstand an, tausendfünfhundert Mann sind es schließlich, die sich unter der Führung des jungen Leutnants Prestes auf einen Marsch durch den riesigen Nordosten des Landes begeben, um der verarmten Bevölkerung im Landesinnern politische Aufklärung zu bringen und sie für den Kampf gegen die Oligarchie zu gewinnen. Es wird ein Marsch ohne Ende. Mehr als zwei Jahre später, mehr als fünfundzwanzigtausend Kilometer später, nach kaum vorstellbaren Strapazen unter einer fühllosen Tropensonne und in der wasserlosen Ödnis des Sertão, der die Pferde nicht gewachsen sind, so dass die Rebellenkolonne meistens zu Fuß unterwegs ist, nach unablässiger Verfolgung durch regimetreue Truppen, denen die Hälfte der Kolonne zum Opfer fällt, nach der endlichen Einsicht, dass das Regime auf diese Weise nicht zu besiegen ist, nach der Erkenntnis aber auch, einen Widerstandsmythos geschaffen zu haben, der die Unbesiegbare Kolonne – auch dieser Name hat sich erhalten – überdauern wird, überschreiten die Überlebenden am 3. Februar 1927 bei San Matías die Grenze nach Bolivien.

Im bolivianischen Exil beginnt der kleinbürgerliche Rebell Prestes mit dem Studium der Schriften von Karl Marx. Ein Jahr später ist er in Buenos Aires, die fünf Prestes-Frauen sind ihm ins Exil gefolgt, er arbeitet als Ingenieur und knüpft Kontakte zu Kommunisten. In Brasilien ist inzwischen durch einen Putsch Getúlio Vargas, auch er ein Gaúcho, an die Macht gekommen. Er bietet dem in der Bevölkerung als Ritter der Hoffnung (Cavaleiro da Esperança) verehrten Offizier den Rang eines Oberbefehlshabers der Streitkräfte an. Als Prestes ablehnt, wird er als Deserteur zur Verhaftung ausgeschrieben. Aus Argentinien ausgewiesen, von der Sowjetunion eingeladen, schifft er sich Ende 1931 mit der Familie zur Reise nach Moskau ein. In Moskau arbeitet er als Ingenieur, die vier Schwestern nehmen Hochschulstudien auf.

Die Kommunistische Internationale, auf der Suche nach Verbündeten gegen den in Deutschland und Italien an die Macht gekommenen Faschismus, richtet im Jahr 1934 ihr Interesse auch auf Brasilien. Im größten Land Südamerikas nimmt sie den sich formierenden Widerstand gegen die Diktatur des Mussolinibewunderers Vargas wahr. Der beste Mann, um diesem Widerstand eine organisatorische Form zu geben, befindet sich ausgerechnet in Moskau. Im August wird Prestes Mitglied der russischen Kommunistischen Partei. Mit einem kleinen Kollektiv erfahrener Berufsrevolutionäre soll er illegal nach Brasilien reisen und sich an die Spitze des Volksaufstands stellen. Zur besseren Tarnung werden die Verschwörer von ihren Frauen begleitet, ihrerseits erfahrene Revolutionärinnen. Prestes braucht eine Ehefrau, er braucht aber, von Vargas’ Geheimdienst bedroht, auf der langen Anreise und während des illegalen Aufenthalts in Brasilien auch eine Leibwächterin. So wird ihm im November 1934 am Sitz der Komintern Olga Benario vorgestellt.

Die Zeit der Gemeinsamkeit

Im Jahr 2016 dauert ein Flug mit der Lufthansa von Moskau nach Rio (mit Zwischenlandung) etwa siebzehn Stunden. 1934 und unter den Bedingungen der Konspiration ist es eine Reise ohne Ende. Sie beginnt für Carlos Prestes und Olga Benario in den letzten Dezembertagen, mit einer sechshundertfünfzig Kilometer langen Eisenbahnfahrt nach Leningrad. Weiterfahrt nach Helsinki, von dort mit der Fähre nach Stockholm. Mit der Eisenbahn nach Kopenhagen, dann im Schiff durch Kattegat und Skagerrak in die Nordsee. Statt nach Amsterdam oder Le Havre führt die Reise nach Bristol, Umwege sind sicherer. Mit einem anderen Schiff weiter nach Amsterdam, von dort mit dem Zug nach Paris. Wochenlanges Warten auf (gefälschte) Papiere. Es ist bereits März, als sie aus der Zeitung erfahren, in Brasilien habe die Opposition sich zur Aliança Nacional Libertadora (ANL) vereinigt, mit dem Ziel, die Regierung Vargas zu stürzen. Da ist es mit dem Warten vorbei. In Brest schiffen sie sich auf der SS Paris ein, dem damals größten französischen Linienschiff. Nach ein paar Tagen erreichen sie New York. Die zweitausend Kilometer bis Miami legen sie mit der Bahn zurück, zwei Tage und eine Nacht im Schlafwagen. Vielleicht dann, vielleicht schon früher, vielleicht auch erst später werden sie sich nähergekommen sein. Warum auch nicht, zwei attraktive Menschen, das Außergewöhnliche der Partnerin, des Partners unübersehbar. Selbst wenn das zum Berufsbild von Kundschaftern, Geheimagenten und Spionen gehört: Irgendwann war es nicht mehr die übliche Beziehung. Von Miami bis Panama im zweimotorigen Propellerflugzeug, dann der südamerikanischen Westküste entlang viertausendachthundert Kilometer bis Santiago de Chile. Der Flug dauert mehrere Tage, die Nächte verbringen sie im Hotel. In einem der neuartigen zweimotorigen DC 2 Passagierflugzeugen über den Aconcaguapass nach Argentinien. Von Buenos Aires mit der Fähre über den Rio de la Plata nach Montevideo. Von dort mit dem Flugboot Santos Dumont der französischen Luftfrachtgesellschaft Latécoère (Vorläuferin der Air France) die Ostküste entlang Richtung Norden. Nach wenigen Stunden ist die Grenze zu Brasilien erreicht, man nähert sich Prestes’ Heimat. Den Bedingungen der Konspiration folgend, fliegen sie nicht bis nach Rio, sondern verlassen das Flugzeug bei einer Zwischenwasserung in Florianópolis. Nach weiteren Umwegen kommen sie Ende April 1935, vier Monate nachdem sie Moskau verlassen haben, in Rio an.

Vom Kennenlernen bis zur Verhaftung vergehen ein Jahr, drei Monate und zweiundzwanzig Tage. Eine kurze Zeit, wird man sagen. Aber was wäre eine angemessene Zeitspanne für eine Liebe? Die Bedeutung einer Beziehung bemisst sich nicht nach ihrer Dauer. Wollen wir etwas über die Liebe zweier Menschen wissen, so sollten wir nicht fragen, was die Menschen aus der Liebe machen, sondern was die Liebe aus den Menschen macht. Was sie aus Olga Benario und Carlos Prestes gemacht hat, erfahren wir aus ihren Briefen, sie erschienen 2013 unter dem Titel Die Unbeugsamen. Olga Benario – Luiz Carlos Prestes: Briefwechsel aus Gefängnis und KZ.

In Rio wohnen sie in der Rua Barão da Torre, wenige Schritte vom Strand von Ipanema entfernt, heute Strand der Schickeria, damals entlegen am südlichen Stadtrand, der Strand der Sonnenanbeter und Nichtstuer, aber auch von Einwanderern aus vielen Ländern. Das war den Bedingungen der Illegalität günstig. Wochen und Monate vergehen mit konspirativen Treffen, mit Kontaktnahmen zur ANL, zur illegalen kommunistischen Partei und zu oppositionellen Militärs, Prestes’ ehemaligen Kameraden. Pläne werden ausgearbeitet, ein Zeitrahmen festgelegt. Nach außen ist Prestes ein Mann von Muße, glattrasiert, leichter Anzug, Sonnenbrille, Hut, der am Spätnachmittag mit seiner eleganten Frau am Strand von Ipanema und Leblon entlang­spaziert. Die Tarnung vollendet durch Principe, der sie bellend umtanzt, er hat ihn ihr geschenkt, sie wird den kleinen Hund in ihren Gefängnisbriefen erwähnen. Olga Benario lernt Portugiesisch (sie spricht bereits Französisch, Englisch und Russisch), sie begibt sich an Prestes’ statt zu Treffen, diskutiert in seinem Namen, aber auch mit eigenem Wissen, über Fragen der Strategie und Taktik. Im November wird Prestes Mitglied der brasilianischen KP, so lang hat es gedauert, bis die Genossen ihr Misstrauen gegenüber einem Offizier aus dem Kleinbürgertum überwanden.

Am 23. November 1935 bricht im zweitausend Kilometer von Rio entfernten Natal, am nordöstlichsten Punkt Brasiliens, der Aufstand aus. Zu früh, wie Prestes und die Mitverschwörer sofort feststellen; die Stimmung in der Bevölkerung ist noch nicht reif. Es bleibt ihnen nichts übrig, als den Aufstand zu unterstützen. Nach wenigen Tagen ist alles vorbei. Es gibt viele Tote; Tausende, darunter fast alle Mitglieder des kleinen Verschwörerkollektivs, werden verhaftet, viele gefoltert, die ANL wird zerschlagen. Unter den Gefolterten die deutschen Kominternagenten Arthur und Elisabeth »Sabo« Ewert, Olgas enge Freundin. Die Folter von einer Grausamkeit, die unausdenkbar ist. Arthur Ewert wird davon wahnsinnig. Nach dem Krieg hat man ihn in die DDR zurückgeholt und in ein Sanatorium verbracht, er starb 1959. Sabo wurde zusammen mit Olga Benario nach Deutschland ausgeliefert, kam in dieselben Gefängnisse und starb 1939 in Ravensbrück. Im ›Vorgang Benario‹ ist sie vielfach erwähnt.

Olga Benario und Carlos Prestes entkommen den Fahndern in die nördliche Arbeitervorstadt Méier. Am 5. März werden auch sie verhaftet. Die Polizei hat den Auftrag, Prestes niederzuschießen. Olga Benario, die Leibwächterin, soll sich, schwanger, vor ihn gestellt und dadurch die Tötung verhindert haben.

Sie haben sich danach nicht wiedergesehen.

Ende August beschließt die brasilianische Regierung, die Jüdin und Kommunistin Olga Benario an Nazideutschland auszuliefern, sie werden gewusst haben, was das bedeutete. Ende September 1936 bringt man die im siebten Monat Schwangere gemeinsam mit Sabo auf den im Hafen von Rio ankernden deutschen Frachter La Coruña. Das widerspricht der brasilianischen Verfassung, wonach Frauen das Recht haben, mit brasilianischen Ehemännern gezeugte Kinder in Brasilien zur Welt zu bringen. Waren Olga Benario und Carlos Prestes verheiratet? Die Frage ist naiv angesichts der Bedingungen der Illegalität. Dennoch haben die Nazibehörden auf dem Vorweisen eines Heiratsscheins beharrt. Als ob sie im Mindesten die Absicht gehabt hätten, Olga Benario freizulassen. Am 18. Oktober erreicht La Coruña Hamburg. Wenig später wird Olga Benario im Frauengefängnis in der Barnimstraße 10 in Berlin eingeliefert. Sie befindet sich in ›Schutzhaft‹, Nazicode für unbegrenzte Haft, für die es keine beweisbaren Gründe braucht.

Gefängnis- und KZ-Jahre

Bis zu Olga Benarios Tötung bleiben noch sechs Jahre. Kurz nach ihrer Einlieferung bringt sie am 27. November 1936 eine Tochter zur Welt, Anita Leocádia. Vierzehn Monate später, am 21. Januar 1938, wird ihr das Kind weggenommen. Danach erst erfährt sie, Anita sei der Großmutter Dona Leocádia Prestes und deren Tochter Lygia übergeben worden und mit ihnen nach Paris gereist. Im Oktober 1938 entziehen sich Leocádia und Lygia mit dem Kind dem langen Arm der Nazis nach Mexiko.

Am 15. Februar 1938 wird Olga Benario ins KZ Lichtenburg in Prettin überstellt, etwa hundert Kilometer südlich von Berlin. Fünfzehn Monate später, Mitte Mai 1939, bringt man sie ins neu erstellte Frauenkonzentrationslager Ravensbrück bei Fürstenberg, achtzig Kilometer nördlich von Berlin. In Ravensbrück soll Olga Benario die ersten Wochen in Einzelhaft verbracht haben. Was sich an Qualen dahinter verbirgt, ist nicht überliefert. Das gilt auch für die Zeit von Ende August bis Anfang Oktober 1939, die sie erneut in den Händen der Gestapo in Berlin zubringt. Davon ist ein in Ravensbrück ausgestellter »Transportzettel für die Gefangenen-Beförderung« vom 20. Juli 1939 erhalten. Olga Benarios Erscheinung und ihre Kleidung sind mit buchhalterischer Vollständigkeit aufgelistet: »Haare: dunkelblond; Augen: blau; Zähne: vollständig; Bart: ohne«; und: »buntes Kleid m. rotem Gürtel, schwarzer, dreiviertellanger Mantel, beige Sandaletten, helle Strümpfe. Gepäck: gelbe Handtasche«. So könnte man auch eine lebensfrohe junge Frau beschreiben. Der Zweck der Überstellung an die Gestapo: »Vernehmungen«. Oben auf dem Zettel schließlich, unterstrichen, der handschriftliche Vermerk »Jüdin« (eine Abbildung dieses Dokuments in Fernando Morais: Olga. Das Leben einer mutigen Frau. Köln 1989). Auch noch da, wo die Nazisprache ein Faktum zu bezeichnen scheint, erweckt sie Grauen. Nach der Rückkehr aus Berlin, mehrere Wochen später, wird Olga Benario nicht mehr in der Gefangenenbaracke (im KZ-Jargon: ›Block‹) für politische Häftlinge, sondern im ›Block‹ der Jüdinnen untergebracht, die auf der Skala der Nazis noch unter den Kommunistinnen rangieren (nur etwa zehn Prozent der Häftlinge waren Jüdinnen). Schon im November ist sie ›Stubenälteste‹ – der Begriff ›Stube‹ verweist auf ein behagliches Wohnzimmer –, später ›Blockälteste‹, die einzige jüdische Gefangene in dieser Position in der Geschichte Ravensbrücks. Sie hat sich auch noch unter den Bedingungen des Konzentrationslagers für ihre Mithäftlinge eingesetzt. Das ist keine wohlmeinende Vermutung. Die Österreicherin Ida Hirschkron, im September 1941 aufgrund eines »Irrtums«, wie sie später aussagt, aus Ravensbrück entlassen, hat am 3. November 1947 in Wien vor Hauptmann H. A. Brunner von der britischen Field Investigation Section, War Crimes Group (NWE) Folgendes unter Eid zu Protokoll gegeben: Nach dem misslungenen Attentat auf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller (am 8. November 1939) seien in Ravensbrück die jüdischen Häftlinge wochenlang im Zellblock 11 eingesperrt und von der Aufseherin Emma Zimmer angeschrien und geschlagen worden. »Da wagte unsere Blockälteste Olga Benario Brestes [sic] die Zimmer zu ersuchen, diesen beinahe unerträglichen Zustand zu beenden. Die Zimmer schrie wie eine Verrückte und machte dem Lagerkommandanten Kögl [recte Kögel] eine Meldung wegen Meuterei.« (Die Aussage von Hirschkron in: The National Archives of the United Kingdom, Dokument WO 309/1153, S. 74 –76, hier S. 74.) Olga Benario wurde für ihre Frechheit bestraft (es gab die Prügelstrafe).

Von einer der Aktivitäten Olga Benarios hat sich ein Artefakt erhalten. Die Vielgereiste hat ihren Mitgefangenen Kenntnis der Welt vermittelt. Zu diesem Zweck hat sie aus dem Naziblatt Völkischer Beobachter