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Der Berliner Autor, Reinhard Ost, Jahrgang 1952, legt nach seiner Romantrilogie "Die 13. Karte", "Heumann ist weg" und "Yokatil oder Die wundersame Geschichte vom Größer-, Weniger- und Älterwerden" nun eine Sammlung von Essays über die Freiheit vor. "Die Essays sind keine wissenschaftlichen oder literarischen Essays im Sinne eines Genres. Vieles ist wissenschaftlich verantwortbar. Anderes wirkt literarisch. Einiges ist satirisch gemeint, manches sogar komisch. Das Meiste ist zweifellos alltäglich und allzu menschlich. Nur so, zusammen, scheint mein ganz persönliches Bild moderner Freiheit zu entstehen. Mein Alltag ist nie nur wissenschaftlich oder literarisch oder gar satirisch. Der Alltag ist einfach nur da, wie die Emotionen. Vielleicht hat Ihr Alltag ja auch diese Eigenschaft."
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Seitenzahl: 300
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Reinhard Ost
und
Essays
Copyright: @ 2015 Reinhard Ost
Published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.com
ISBN 978-3-7375-4511-2
Freiheit wird gemeinhin als die Möglichkeit betrachtet, sich ohne Zwang entscheiden zu können. In der modernen Wissenschaft benennt der Begriff im Allgemeinen einen Zustand der Autonomie eines Traumsubjekts. Diesem Grundgedanken verweigere ich mich. Er scheint mir nicht mehr zeitgemäß zu sein, ebenso wie jene Philosophien, in denen man nur noch denkt, dass man die Welt und die Menschen im Blick hat.
In der Antike war Freiheit noch kein Gut für alle Menschen, sondern ein Privileg gebildeter Oberschichten. Die Stoa entwickelte dann aber schon ein weitergehendes Verständnis von Freiheit, in dem Sklaverei verurteilt wurde, zwar nicht politisch, aber bezogen auf die einzelnen Menschen, die frei von Zwängen in der Welt sind und sein sollen.
Mit der Entstehung der großen Religionen können und dürfen wir davon ausgehen, dass die Idee der Freiheit einen zentralen Stellenwert in der Menschheitsgeschichte bekam. Der Begriff der Freiheit im frühen Christentum ist fordernder und religiöser als der in der Antike. Der Christ ist frei von Sünde, Gesetz und Tod (Römerbrief, Kapitel 6-8).
Im europäischen Mittelalter entwickeln sich dann die verschiedenen Vorstellungen davon, welche und wessen Freiheiten wie weit gehen können (Magna Carta Libertatum).
An der Grenze zwischen dem ausgehenden Mittelalter und der Neuzeit weist Martin Luther dem Christenmenschen die Stellung zwischen Herrn und Knecht zu: In Christus sind alle Menschen frei. Diese Freiheit ist durch Liebe und Verantwortung für den Mitmenschen gebunden.
Das moderne Verständnis von Freiheit ist vor allem auch dem Zeitalter der Aufklärung verpflichtet. Die Befreiung von Dogmen und Vorurteilen und die Freiheit durch Einsicht und Vernunft stehen im Mittelpunkt. Leben, Freiheit und Eigentum werden zu unveräußerlichen Rechten von Bürgerinnen und Bürgern erklärt. Freiheit wird guter Wille.
Im 18., 19. und 20. Jahrhundert werden Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu revolutionären Idealen. Die Bürgerinnen und Bürger moderner demokratisch verfasster Staaten können heute diese politischen Ideale in Form von Grund-, Bürger- und Menschenrechten in Anspruch nehmen.
Das liberale Limit (John Stuart Mill, „On Liberty“) legt prinzipielle Handlungsfreiheiten fest, aber auch fragwürdige Einschränkungen wie zum Beispiel, dass man sich selbst gegen andere schützen darf. Für Adam Smith setzt das Ordnungsprinzip der Freiheit keinen Altruismus voraus, sondern es geht automatisch aus egoistischem Gewinnstreben selbst hervor. Niklas Luhmann weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass in der freien Marktwirtschaft eine Verbindung zwischen Freiheit und Wahrnehmung existiert. Freiheit kann auch mangelnde Freiheit sein, deren Ursachen ich aber nicht unmittelbar erkenne. Die Freiheit des Marktgeschehens ist ein Zustand, welcher sich nicht ohne weiteres selbst erklärt und selbst erhält.
Die Freiheit ist schließlich das Programm politischer Parteien und Ideologien geworden: Liberalismus, Konservatismus, Sozialismus und Kommunismus, Anarchismus, Nationalismus und Totalitarismus. Das sind politische Verkleidungen von Freiheit, verbunden mit der Entwicklung von Organisationen, Institutionen und Kontrolle.
Was kann man auf diesem dramatischen und weltgeschichtlichen Hintergrund noch Neues bieten, wenn man, wie ich, Essays über die Freiheit vorlegt? Es kann in jedem Fall nur ein weiterer Versuch über die Freiheit sein.
Über Jahre hinweg habe ich mir Notizen gemacht. Es waren Assoziationen oder sogar nur Nachrichtenschnipsel, die mit meinem Alltag und meiner persönlichen Wahrnehmung gesellschaftlicher Prinzipien zu tun haben. Erst im Nachhinein konnte ich feststellen, dass ich wohl unbeabsichtigt auf einer Spurensuche war, die sich im Kern mit den unterschiedlichen Formen und Aspekten der Freiheit befasste. Nun erst habe ich den Mut gefasst, diese Notizen zusammenzustellen, sie zu strukturieren und ein ideelles Band zwischen ihnen zu knüpfen.
Die nachfolgenden Essays sind keine wissenschaftlichen oder literarischen Essays im Sinne eines Genres. Vieles ist wissenschaftlich verantwortbar. Anderes wirkt literarisch. Einiges ist satirisch gemeint, manches sogar komisch. Das Meiste ist zweifellos alltäglich und allzu menschlich. Nur so, zusammen, scheint mein ganz persönliches Bild moderner Freiheit zu entstehen. Mein Alltag ist nie nur wissenschaftlich oder literarisch oder gar satirisch.
Der Alltag ist einfach nur da, wie die Emotionen. Vielleicht hat Ihr Alltag ja auch diese Eigenschaft.
Also fast unabsichtlich habe ich mich auf eine Spurensuche nach den Formen, Prinzipien und Verkleidungen des Freiheitsstrebens begeben, um Fragmente echter Freiheit zu entdecken, die sich vor allem hinter technischen Verfahren, Kulturindustrie und Massenapparaturen verstecken. Diese Aggregate der Freiheit nenne ich eine Erfindung und die Überschrift meiner überarbeiteten Notizen-sammlung „Die Aggregate der Freiheit und Der Traum vom Ich und Ich“.
Reinhard Ost
Berlin, im Mai 2015
Zweifellos ist der Autoverkehr im Dickicht großer Metropolen einer der bedeutendsten Stressfaktoren für die Stadtmenschen, die sich tummeln müssen. Im dichten Verkehr wird praktisch jeder zum Mitfahrer im Automobil, auch wenn er nur zu Fuß auf dem Bürgersteig spazieren geht.
Dem einzelnen Fahrzeughalter ist klar, dass er zwar frei, autonom und mobil ist, vielleicht sogar einigermaßen sicher und abgeschirmt von der Öffentlichkeit, aber zu seinem Missfallen ist er auch abhängig von der Straßenverkehrsordnung, von den Mitmenschen, die alle ähnliche Ziele wie er verfolgen. Der tumultartige Verkehr an der Straßenkreuzung, das notwendig rechts-förmige Verkehrsverhalten, das unmögliche Benehmen anderer Verkehrsteilnehmer können Stresspusteln hervorrufen und führen nicht selten zu offener Aggressivität.
Nicht nur als Autofahrer, Fahrradfahrer oder Fußgänger, sondern auch als Bewohner eines Hauses an der Hauptstraße, fühlt man sich wie unter Strom gesetzt, schon wenn man das Fenster öffnet und frische Luft einatmen will oder mit seinen Kindern durch die Haustür auf die Straße tritt. Der Asphalt der Fahrbahn ist nicht weit entfernt. Auf dem Bürgersteig laufen Menschen hektisch im Slalom um ihre Mitbürger herum. Man hält seine Kinder, wenn sie noch ganz klein sind, fest an der Hand, damit sie sich nicht losreißen und möglicherweise unter die Räder kommen. Sodann werden sie von einem Passanten angerempelt, der glaubt, die Vorfahrt zu besitzen. Der Verkehr erscheint als Natur zivilisierten Lebens. In London stehen leider sehr wenige Bäume in den Häuserschluchten der Straßen, in Berlin dagegen relativ viele. Wenn ich einen Hund hätte, würde ich mich zweifellos eher in Berlin niederlassen und Gassi gehen wollen.
Schließlich steigt man mit seinen Kindern ins eigene Automobil, um sie zur Schule oder in den Kindergarten zu fahren, kurz bevor man den Weg zu seiner eigenen Dienststelle antritt. Es ist Anschnallpflicht. Aber bevor man seine Kinder im Auto anschnallt, sollte man sorgsam darauf achten, dass sie von der Bürgersteigseite aus ins Fahrzeug steigen und nicht etwa von der Fahrbahnseite, denn das könnte mitunter lebensgefährlich werden.
Es ist ein Wunder, dass so wenig passiert, denkt man häufiger. Lediglich drei Unfälle hat das Berliner Polizeipräsidium am Donnerstagmorgen veröffentlicht. Zwei Kinder wurden von Autos angefahren, ein Erwachsener achtete nicht auf die Straßenbahn und wurde schwer verletzt. Diese drei Unfälle seien für die Entwicklung typisch, sagt der Polizeipräsident, der gerade die Unfallbilanz der Verkehrsverwaltung aus dem Jahr 2013 vorstellt. Verletzt oder getötet werden vor allem die Schwächsten, sagt er, also die Fußgänger und die Radfahrer. Dabei sei die Zahl der Verkehrstoten in Berlin auf einen neuen historischen Tiefststand gesunken. Im Jahr 2013 starben 37 Menschen auf den Straßen, im Jahr zuvor waren es 42. Unter den neuen Toten waren 14 Fußgänger und neun Radfahrer. 1995 waren es dagegen noch 143 Tote, also das Vierfache. Positiv sei die Entwicklung aber nur bei den Toten, so der Polizeipräsident. Die Zahl der Schwerverletzten stagniere seit vielen Jahren bei etwa 2000. Das vom Senat 2004 verkündete Ziel, die Zahl der Schwerverletzten um 30 Prozent senken zu wollen, sei bislang leider klar verfehlt worden. Die im Jahr 2013 gestarteten Sonderkontrollen, wegen der vielen beim Abbiegen verletzten bzw. getöteten Radfahrer, sollen fortgesetzt werden. Dabei seien innerhalb eines Jahres schon 5100 Autofahrer beim riskanten Abbiegen erwischt worden. Allerdings, bei den Kontrollen für die Radfahrer seien auch 14 000 radelnde Rotlichtsünder angehalten worden.
Wenn man im Auto sitzt, gibt es Hunderte von Möglichkeiten, vom Verkehr abgelenkt zu werden und die Konzentration zu verlieren. Das Handy klingelt plötzlich, während der Vordermann auf der Straße abrupt abbremst. Die Zigarette fällt dem Raucher aus der Hand, und er ist geschwind bemüht, sie unter dem Fahrersitz hervorzuzaubern, um einen Brandfleck zu vermeiden. Die Kinder quengeln auf den Rücksitzen, weil sie vielleicht an ihre nächste Mathematikarbeit in der Schule denken. Der mutige Autofahrer dreht sich nach seinen Kindern um und redet beruhigend auf sie ein. Dann könnte es blitzschnell krachen.
Wenn Herr und Frau Schulze, er ist 60 Jahre alt, und sie sieht immer noch zwei Jahre jünger aus, nebeneinander im Auto sitzen, erzählt Herr Schulze seiner Frau, was er in der letzten ADAC-Zeitschrift am Abend zuvor gelesen hat. Frau Schulze interessiert sich zwar wenig oder gar nicht dafür, aber sie hört zu. Im Auto kann man nicht weghören. Der Allgemeine Automobil-Club Deutschlands (ADAC) sei der mächtigste Verein und der größte Lobbyist im Land, erzählt Herr Schulze. Zweck des ADAC-Clubs sei die Wahrnehmung und Förderung der Interessen des Kraftfahrtwesens, des Motorsports und des Tourismus. Er böte besondere Dienstleistungen an und vertreibe Stadtpläne und Straßenkarten. Außerdem würden inzwischen viele Fahrsicherheitszentren vom ADAC betrieben werden, sagt Herr Schulze. Das sei sehr gut. Die Pannenhilfe bleibe aber für jeden die bekannteste Dienstleistung des Clubs.
Die Ampel steht wieder einmal auf Rot, immer gerade dann, wenn man selbst über die Kreuzung möchte. „Wieso kann man die Ampeln nicht besser koordinieren?“, denkt Herr Schulze. Dann steht wieder ein Lastwagen in zweiter Spur, der seine eigene Geschwindigkeit arg reduziert. In solchen Augenblicken wirken Freiheit und Autonomie im Automobil sehr belastend und einschränkend. Das gilt für jeden Einzelnen und somit auch für alle.
Blah, blah, wird der eine oder die andere sagen. Das ist eben die Zivilisation, der Fortschritt und die Dynamik der modernen Zeit. Die Dorfbewohner in der Brandenburger Prignitz dagegen, fast wie in einem fremden Land, rümpfen möglicherweise irritiert die Nase. Der Verkehr auf ihren Straßen und vor ihren Häusern, hat sich statistisch betrachtet lediglich um zwei Fahrzeuge am Tag erhöht. Aber auch sie denken immer häufiger daran, dass man alles Notwendige tun müsse, um die Sicherheit von Kindern gewährleisten zu können. Die Zahl der Verkehrstoten auf einer Straße in der Prignitz im Verhältnis zu denen in einer großen Stadt ist allerdings verschwindend gering.
Die Freiheit im Straßenverkehr verwandelt sich in unendlich viele kleine und große Sicherheitsfragen. Für alle ist sonnenklar: Auf dem deutschen Lande ist es genauso wie in der Einöde US-Amerikas, in Texas oder Kalifornien zum Beispiel. Man benötigt dringend ein Fahrzeug, je mehr Fahrzeuge, je größer und stärker desto besser. Die Entfernungen wären sonst endlos. Jeder würde ohne ein vernünftiges Transportmittel seinen Kaufkraftwegesummenminimalpunkt verfehlen. Die Schweine- und Geflügellasttransporter braucht man dringend, wegen der Versorgung. Die Feuerwehr muss Brände löschen. Die Oma muss in ihrem alten Häuschen am Stadtrand tagtäglich betreut werden. Und überhaupt: die Eisen- und Autobahnen, die Erfindung des Rades, die Lastschiffe, die Ozeanriesen, die Flugzeuge und die Raketen. Was wäre die Welt ohne alle diese nützlichen Fahrzeuge? Flugzeuge können Menschen über Tausende Kilometer hinweg um den ganzen Erdball fliegen. Am Zielflughafen angekommen, steigt man dann flugs wieder in ein Auto, ein Taxi vielleicht. Die Menschen werden, historisch betrachtet, räumlich immer beweglicher, immer mobiler und internationaler. Niemand, aber auch wirklich niemand, kann ernsthaft etwas dagegen sagen. Dieser Fortschritt bedeutet Freiheit, so sagt man. Er ist Bewegung und Mobilität. Kultur ist Freiheit, durch die Freiheit des Reisens, des Entdeckens, des Forschens, der Menschenvernetzung. Krieg führen erscheint als eine ganz besondere Art von Freiheit und Mobilität, für die Gewinner jedenfalls, eventuell, manchmal. Ohne die Seidenstraße jedenfalls und ohne die Reisen Marco Polos würden wir Menschen noch in der Steinzeit leben, sagt mein Freund Rudi immer. Jetzt erst versteht man die wirklichen Gründe für die Macht des ADAC.
Hinter mir im Auto drückt der 22 Jahre alte Achmed aus Tunesien in seinem Opel Corsa kräftig auf die Hupe. Es geht ihm nicht schnell genug voran. Er gibt anscheinend mir, seinem Vordermann, die Schuld dafür.
Freiheit und Mobilität haben eigentümliche Eigenschaften, denn wenn alle Menschen zugleich frei, mobil und autonom sind, wird die Freiheit zum Massenphänomen. Dann wird das Automobil ein Aggregat der Freiheit, wie ich noch ausführlicher erläutern werde.
In allen Poren des gesellschaftlichen Lebens sucht sich die Erfindung des Aggregats ihren Nährboden. Es scheint zwar ein technologisches Produkt zu sein, aber es ist eben auch die Summe persönlicher Bedürfnisse. Es ist die Idee und die Erfindung von universeller Beweglichkeit. Viele nennen das inzwischen auch Demokratie. Der streng islamische Gottesstaat nutzt ein spezielles Aggregat, um an die Macht zu kommen und dort zu bleiben, um sie zu verewigen. Die große Freiheit und die vielen kleinen Freiheiten, die die Menschen in der Gemeinschaft der Selbsthilfegruppen ihrer Religionen zu erkennen vermögen, sollte man nicht geringschätzen. Die Zukunft wird diese Freiheit und Autonomie vielleicht eines Tages hinwegfegen, wie eine lästige Fliege, die einem auf der Nase herumtanzt.
Fest steht: Der Einheimische wird sich immer stärker auf viele Automobile, viele Touristen und andersartige Mitbewohner einstellen müssen. Er wird ihnen etwas anbieten und verkaufen wollen. Abschottung? Das geht nicht mehr. Zurückrudern? Geht gar nicht mehr. Kambodscha, Nordkorea, Nigeria, China, Russland, Europa und Amerika werden kaum Umwege beschreiten. Der Markt und die Handelsabkommen dienen nur einem Zweck. Sie verstetigen die Automobilisierung.
Diese Aggregation der Freiheit braucht Politik, Wirtschaft und Religion. Umgekehrt brauchen diese Entwicklungsbereiche auch die Erfindung des Aggregats. Man kann zweifellos alles sehr unterschiedlich benennen und ausschildern, wie die Ordnungsmaßregeln im Straßenverkehr, die maßregeln aber auch ordnen. Ebenso sind die demokratische Verfassung, die Diktatur des Proletariats, die Ständeherrschaft, der Mormonen-Club im Salt-Lake-City-Tempel, der Automobil-Club von Deutschland und auch der Anarchismus ein bestimmtes Maß vorgebende Regeln.
Bei allem geht es um persönliche Freiheit, um die eigene Einsicht in selbst begründete „Notwendigkeiten“, wie wir schon seit Kant und den Aufklärern wissen. Es geht darum, sich eine möglichst autonome und selbstbestimmte Ordnung zu schaffen und die Eigenregeln entsprechend anzupassen bzw. deren Einhaltung zu beaufsichtigen. Religionen sind auch in diesem Sinne keine Rauschmittel fürs Volk, sondern sie sind das Volk oder der Stamm selbst, die einen bestimmten Glauben an die Aggregation von Freiheit haben. Wie trostlos wirken die vielen ideologischen und militärischen Auseinandersetzungen zwischen Gläubigen und Andersgläubigen in der Ukraine, in Syrien, im Irak, in Tibet oder sonst wo auf der Erde. Die Welt wird freier und freizügiger werden, hoffte einst der deutsche Philosoph Hegel, als eine historische Gesetzmäßigkeit gewissermaßen, wie er meinte. Die Einzelnen, die Gruppen, die Länder und die Völker sollen immer aggregierter in Sachen Freiheit werden. Freiheit und Freizeit als grenzenlose Beweglichkeit ist längst mehr als eine Utopie. Es gilt, so erscheint es, durch immer mehr Tempo die Entwicklung zu beschleunigen, ob mit oder ohne Krieg und Gewalt.
Am unfreisten sehe ich, ganz persönlich, den Juristen in der Provinz, der sich an einzelnen Verkehrsstrafzetteln seiner Klienten abarbeitet oder den einzelnen Polizisten, der vielen demonstrierenden Studenten auf der anderen Seite der Barrikade gegenübersteht. Diese drohen ihm Prügelstrafe an, weil sie ihn als Macht falscher Freiheitsordnung sehen. Die Völkerrechtler hingegen scheinen wirklich frei und mächtig zu sein. Völkerrechtler können ganze Volksgruppen umher schieben und enge Grenzen ziehen, in denen die Menschen angeblich leben wollen oder sollen. Beim genaueren Hinsehen stimmt das aber mit der Freiheit der Völkerrechtsjuristen nicht ganz. Sie sind nur deshalb frei, vielleicht freier als alle anderen, weil sie sich um die Definitionen von freiheitlichen Ordnungen und Regeln in einem größeren Rahmen kümmern. So sind sie deshalb frei, weil sie genauer und besser wissen, warum und zu welchem Zweck die Ordnungen und Regeln für die Freiheit überhaupt existieren. Sie erklären uns, warum man die Regeln einhalten muss und wissen sogar, wie man sie eventuell im Interesse von Kunden umgehen kann. Sie haben die große Freiheit der einschränkenden Phantasie, die sich an Ländergrenzen festmacht.
Mörder gehören zu den unangenehmsten unter den freien Aggregierten. Sie nehmen sich Rechte heraus, die ihnen niemand gewährt. Sie verhalten sich rechtswidrig. Dafür werden sie weggesperrt.
Die Strafrechtler erscheinen als notwendigste aller Juristen, die selten nur in Zweifel gezogen werden, weil sie sich um die Bestrafung von Mördern kümmern, die das wichtigste Gebot nicht einhalten: Du sollst nicht töten. Durch Strafrecht können Zuwiderhandelnde verurteilt oder sogar hingerichtet werden. Kriminalromane und Actionfilme sind genau deshalb so beliebt unter den Menschen. Sind doch dort meistens die Guten am Ende die Erfolgreichen, die Polizei und die Staatsanwaltschaft, die einen Mörder seiner gerechten Strafe zuführen. Allerdings sterben viele der Mörder in den Krimis sehr häufig schon vor ihrer eigentlichen Bestrafung, weil sie zu schießwütig konstruiert sind und das Böse schlichtweg übertreiben. Man möchte den Zuschauern im Kino schließlich ein ordentliches und quälendes Gerichtsverfahren nicht zumuten. Als allerletzter stirbt meistens der größte Bösewicht.
Ein vornehmes Aggregat der Freiheit ist der moderne Wissenschaftsbetrieb. Er gestattet sich im Grunde vieles. Es gibt, so sagt man, nur noch wenige Wissenschaftler in aussterbenden Fächern an der Universität, die zweifellos in der Lage wären, die Grenzen und Auswüchse der Freiheit gut zu erkennen und abzuschätzen. Aber niemand hört den Philosophen mehr richtig zu. Man scheint sie im Produktionsprozess der Aggregation von Freiheit nicht mehr zu benötigen. Freie Wissenschaftler sprechen gelegentlich noch Warnungen aus oder kündigen Weltkatastrophen an. Vieles klingt verzweifelt. Verzweifelt wehren sich auch einige Präsidenten an deutschen Universitäten gegen die allgemeinen und freien Kontrollprozeduren durch akademische Police-Guards, denn diese zwingt man ihnen politisch auf. Alexander und Wilhelm von Humboldt sind schon lange tot. Und wenn die beiden Brüder nicht gestorben sind, dann werden sie tagtäglich neu ermordet und beerdigt.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler suchen ihre persönlichen und gemeinschaftlichen Freiheiten in neuen Systemformaten des Betriebs. Welches Projekt bekomme ich von diesem oder jenem Förderer bewilligt? Wie hoch ist mein Drittmittelvolumen? Dem Steuerzahlerprojekt im allgemeinen Bildungsinteresse wurden leider längst die Mittel gekürzt und die Flügel gestutzt. Die Buchverleger stehen nicht außen vor. Auch bei ihnen geht nichts mehr ohne Begutachtung und Vorabbewertung. Der firmeneigene Lektor, falls es ihn überhaupt noch gibt, bügelt Ungewohntes und Ungewöhnliches glatt. Die unerwartete Schrift passt eigentlich nie richtig ins Verlagsprogramm. „Morgen fahren ich wieder zur Versteigerung der Lizenz- und Übersetzungsrechte nach New York“, sagt die Verlagsvertreterin. Dort wird sie dann die Rechte an den neuen erfolgreichen Veröffentlichungen ersteigern. Kundschaft ist schließlich König. Erfolg kann man kaufen, wenn man die Rechte zur Wiederveröffentlichung besitzt. Der Kunde will das, was auch die anderen Kunden schon vorher mochten, eben das, was schon schmackhaft gemacht wurde. Die Werbestrategen in den Verlagen haben viele Funktionen des Inhalts von Autorenwerken übernommen. Nur ganz prominente Autoren haben noch gewisse Spielräume, Peter Scholl-Latour zum Beispiel, aber auch der ist inzwischen leider schon tot.
Das Gegenteil des Aggregats scheinen Originalität und Werktreue zu sein. Aber selbst damit wird in staatlichen Museen oder privaten Archiven viel Unfug getrieben. Wie viel Raubkunst aus dem Irak verträgt eigentlich ein deutsches Museum? Wie konnte Cornelius Gurlitt so viele Kunstwerke vor der Öffentlichkeit verstecken? Kann man Brechts „Baal“ im Berliner Ensemble noch aufführen, wenn man ihn ungenau zitiert? Falls das passieren würde, müssten die Eigentümer, Nachfahren und Rechteverwerter eben klagen. Provenienz Forscher müssen bestellt werden. Vielleicht gelingt es ja doch noch, die ungeliebte Inszenierung zu verhindern.
Patente- und Rechteverwerter sind die Zauberlehrlinge der modernen Aggregation der Freiheit. Sie sind wie Verkehrspolizisten, die Strafzettel verteilen. Nur aus einem Grund existieren und zaubern sie. Nur für einen einzigen Zweck werden sie benötigt. Aus einem einzigen historisch-bedeutsamen Grund braucht man sie, nämlich, weil das Geld des Einen in die Tasche des Anderen überführt werden soll, weil auch die Freiheit der Kunst im Verkehr ein Spiegel pekuniärer Verwertungsabsichten geworden ist.
Geld und Vermögen haben eine eigene Verkehrsordnung. Geld ist ein aggregierter und verdinglichter Zustand von Freiheit. Vermögen und Eigentümerrechte sind die Götter pekuniärer Verständigung. Sie können sogar zu Kriegszwecken verwendet werden. Dieser Religion des Erwerbs und der Verteilung von Geld, mit Millionen von Jüngern, die sich tagtäglicher zu ihr bekennen, sollten wir einen neuen Namen geben. Wir müssen ihre Freund- und Feindbilder kennen lernen und den Betrügern dabei in die Karten schauen. Wir müssen viele Teufel erkennen. Wenn wir dieser verdinglichten Religion einen Namen geben, so soll er ebenfalls, wie ich finde, das Aggregat der Freiheit lauten.
Der aufmerksame Leser wird schon längst die entscheidenden Anmerkungen machen. Zu allen Zeiten waren Menschen autonom und mobil, der Fußgänger und der Autofahrer, auf allen Stolperwegen der Zivilisation. Es gab Bauern, die noch mit eigenem Pflug ihre Äcker bearbeiteten. Es gab die freiesten Geister, die in Deutschland Schiller und Goethe heißen. Es gab den klugen Albert Einstein, der gegen Mehrheitsmeinungen forschte. Es gab schon immer den einsamen Arbeitslosen, der verzweifelt nach seiner Familie sucht, und die Soldaten, die nach der Heimkehr aus dem Krieg ihre Kameraden vermissen. Die autonome und freie Persönlichkeit ist kein Phänomen der Neuzeit oder gar der Industrialisierung. Das ist zweifellos an dieser Stelle die wichtigste Einlassung über die Freiheit an dieser Stelle.
Die Erfindung der Aggregate der Freiheit kennzeichnet einen Prozess. Es ist ein Prozess der allgemeinen Geräteausstattung. Zugleich ist es auch ein Prozess-System, oder besser, ein Programm, welches man nicht mehr unmittelbar abstellen kann. Es geht um den Prozess der Zivilisation, in dem man Freiheit als Notwendigkeit von Entscheidungen, Verboten, Regeln und Kontrollen sieht. Es geht um diejenige Freiheit und Demokratie, die nur noch wenige gerne vermissen.
Was bedeutet es eigentlich, frei zu sein? Gibt es die absolute Freiheit des Willens? Gibt es noch Freiheit ohne einen Prozess und ohne Programm? Der Philosoph Peter Bieri hat in seinem Buch „Handwerk der Freiheit“ die unterschiedlichsten Antworten auf die Frage nach der Willensfreiheit gefunden. Er hat die Freiheit gewissermaßen so lange in Widersprüche verwickelt, bis sich am Ende einige wenige Prinzipien echter Freiheit erkennen ließen. „Das Buch entdeckt die Freiheit, die wir haben - ob wir wollen oder nicht -, wieder neu. Es ist klar bis zur Schönheit und spannend wie ein Roman“, hatte Rüdiger Safranski zu Bieris Buch seinerzeit geschrieben.
Bei der Erfindung des Aggregats der Freiheit geht es immer gleichzeitig auch um das Gegenteil von Freiheit, die Prinzipien der Unfreiheit, die sich hinter echten Freiheiten, Willensbekundungen und Freiheitsdeklarationen verbergen. Die Erfindung der modernen Freiheit ist gleichzeitig auch ihr genaues Gegenteil, jeden Tag und überall auf der Welt.
Der deutsche Literaturkritiker Rüdiger Safranski ist, je älter er wurde, ebenfalls ein aggregierter Typ geworden. Er hat sich das Geschäft des herrschenden und wissenschaftsnahen Literaturbetriebs vorzüglich angeeignet. Schönheit hat klar und spannend wie ein Roman zu sein. Freiheit ist ein Gesellschaftsprogramm im Sinne Nietzsches. Ich bin frei, und die anderen sind es eben nicht, wie die Autofahrer, die schnell vorankommen wollen und dann einen furchtbaren Unfall verursachen.
Wir kommen leider nicht darum herum, wenn wir über die Erfindung des modernen Aggregats der Freiheit reden, uns mit wirtschaftlichen Vorgängen zu befassen, nämlich mit der Geld- und Finanzwirtschaft, der Warenwirtschaft und auch der Ideenwirtschaft. Gerne hätte ich das vermieden. Aber es geht nicht.
Das Unglaubliche ist, dass man heutzutage jeden x-beliebigen Sachverhalt, jede Idee, jeden einzelnen Menschen und sogar den Anwalt des schrecklichsten Mörders als wirtschaftliche Angelegenheit betrachten kann. Wirtschaft ist Essen und Trinken. Wirtschaft ist Lieben und Lügen. Wirtschaft ist kalter Krieg und warme Friedensvereinbarung. Wirtschaft ist Armut und irrsinniger Reichtum. Wirtschaft ist Freiheit und Politik.
Die Politik erscheint oft als die freizügigste aller Wirtschaftsangelegenheiten, weil sie eine Finanz- und Steuerangelegenheit ist. Für den bayrischen Biertrinker, abends in seiner Lieblingskneipe, ist Wirtschaft die Freiheit im ursprünglichen Sinn. Sie ist Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, wenn er sein Glas am Henkel fasst und uns zuprostet. Wir Alltagsphilosophen allerdings sollten uns nicht besoffen machen lassen. Wir sollten keine Zuproster werden, weil wir das menschliche Vermögen und die menschlichen Bedürfnisse erkennen und nicht nur ausleben wollen.
Das Vermögen eines einzelnen Menschen ist recht klein, wenn man einmal davon absieht, dass wenige Reiche riesige Vermögen besitzen, die so groß wie diejenigen ganzer Volkswirtschaften oder Kontinente sind. Das scheint mir aber nur ein Geldverteilungsproblem zu sein. Mein pekuniärer Reichtum ist mir nicht so wichtig, weil ich ohnehin nicht viel Geld habe. In meinem Argumentationszusammenhang ist es nicht entscheidend, wie groß ein Vermögen ist, sondern dass es schlicht vorhanden ist. Wenn sich einzelne Vermögen, ob große oder kleine, miteinander verbinden und vernetzen, dann werden sie ein Volks- und Menschheitsvermögen. Was der einzelne tut oder lässt, was er hat oder verbraucht, summiert sich. Es multipliziert und potenziert sich um das Millionenfache. Das einzelne Automobil mag noch ein nützlich-technisches Fortbewegungsmittel sein. Als Massenphänomen entstehen verrostete Wracks auf Autohalden, entstehen Verkehrstote, abgestürzte Flugzeuge, versunkene Schiffe, zerbombte Moscheen. Der einzelne Autoverkäufer, der seine Kunden betrügt, ist ebenfalls nur eingeschränkt nützlich. Jeder würde gerne auf die Kollateralschäden die er verursacht, verzichten. Aber geht das überhaupt? Es geht nicht. Oder vielleicht doch?
Wenn ich an ein Vermögen denke, dann denke ich nicht zuallererst an die Wirtschaft. Ich denke zunächst an Mahatma Gandhi, den schmalen und gebildeten Asketen. Was hat er bewirkt? Was hat sein persönliches Vermögen zustande gebracht? Er hat das Volk der Inder vereint. Er hat die Nation im Kampf gegen die Engländer zusammengeführt. Er ist ein Symbol starker und erfolgreicher Friedfertigkeit geworden. Aber was, so frage ich, ist aus Kalkutta und Neu-Delhi inzwischen geworden? Es sind Großstädte wie andere auch. Es sind Menschenaufläufe in der Mikrowelle. Es ist der Kampf um nackte Existenzen und um eine vernünftige Müllentsorgung mit dem großen Mut, in die Zukunft zu blicken?
Was also können Politik, Friedfertigkeit, Philosophie und Wirtschaft als Vermögenssachverhalt sein?
Jeder weiß, dass große Paläste, prächtige Moscheen, schmale gotische Kirchen und auch der streng gesicherte Wohnkomplex von Superreichen in Shanghai vom Mund des Volksvermögens abgespart wurden. Umgekehrt erscheint uns nur der Superreiche, der über seine eigenen Verhältnisse leben kann, in der Lage zu sein, Weltarchitektur bauen zu können. Die Armen und Mittellosen errichten nur ihre eigenen kleinen Hütten, wenn sie dazu überhaupt genügend Kraft und Ressourcen haben oder sie hocken in den Slums der Großstädte. Wir Westeuropäer verfolgen das sehr kritisch in Fernsehberichten. Zum Glück haben wir in Deutschland Zentralheizung, einen Kühlschrank und ein vernünftiges Dach über dem Kopf, werden die meisten in diesem Zusammenhang denken. Jeder ist seines Glückes Schmied, sagen viele Unverdrossene, die nur teilnehmende Beobachter der Freiheit und des Vermögens anderer sind. Die Vermögen sind eine Geburtslotterie.
Das aggregierte Volksvermögen ist unterschiedlich groß und unterschiedlich verteilt. Zwar ist das individuelle Vermögen im Prinzip bei jedem Einzelnen ähnlich groß. Es ist aber gänzlich verschieden organisiert. Dadurch kommt es zu Missverständnissen. Vermögen können dadurch auch zu einem Mysterium werden.
Der junge deutsche Entwicklungshelfer im Ausland stellt häufig genug fest, wie wenig er eigentlich beizusteuern vermag, um die sozialen und wirtschaftlichen Aggregate nachhaltig zu beeinflussen. Er stellt mit Erstaunen fest, dass sich seine unmittelbare Arbeits- und Schöpferkraft eigentlich kaum von der Kraft der Einheimischen unterscheidet. Aber dann denkt er sogleich an das Geld seiner Spender, weil er durch deren Unterstützung arbeitet. Damit erlangt er eine fast übermenschliche Größe. Mit dieser Größe kann er dann doch ganz gut einiges mit einer gewissen Langzeitwirkung bewirken. Wenn er den alternativen Nobelpreis erhält, hat er vieles richtig gemacht.
Also nichts wie ran, könnte man meinen. Sammeln wir eine große Menge Geld von wohltätigen Menschen ein, und bringen wir diesen „Fortschritt“ endlich in die „Dritte Welt“. Es ist zwar meistens der Fortschritt nach eigenem Muster, aber wichtig erscheint er dann doch: der Fortschritt durch die Idee vom Geld. Einige erinnern sich vielleicht noch, dass unsere „Erste Welt“ und unsere modernen westlichen Volksvermögen durch Sklaverei und Ausbeutung von Afrikanern, durch gestohlenes Gold aus Südamerika, mit Blutdiamanten aus Afrika und Milliarden unbezahlter Arbeitsstunden von Baumwollpflückern und KZ-Insassen entstanden sind: England, Deutschland, Niederlande, Spanien, Portugal, Deutschland, USA und so weiter. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben sich staatenmäßig sogar noch zusätzlich im Inneren vereint und intelligent vernetzt. Ihre internationale Schlagkraft ist inzwischen so groß geworden, dass sie jedes Jahr aufs Neue die Exportweltmeisterschaft gewinnen. Jeden Krieg könnten sie gewinnen. Diesen Titel wollen die Chinesen und viele andere auch, denken die Amerikaner. Die Produktion und der Export von Waren und Waffen, von Sicherheit und Freiheit, von Wissenschaft und Technologie, von Kommunikation und Kultur: Dafür steht die „freie Welt“.
Wirtschaftliche Großreiche und ideologische Königreiche können allerdings zerfallen. Sogar der große sozialistische Weltenbund ist zerfallen. Um das zu erkennen, braucht man kein Historiker zu sein. Auch McDonalds, Burger-King, Coca Cola, Microsoft, Facebook, Google, Walt Disney oder die Filmmetropole Hollywood werden eines Tages untergehen, weil die Menschen es so wünschen, wenn sie etwas anderes wollen. Die Volksvermögen, Volksgruppen und Gemeinschaften unter einen Hut zu bringen, dauert sehr lange. Das Zerfallen aber geht ganz schnell.
Das Vermögen großer Industriegesellschaften, unter dem Dach der einzelnen Volks- und Finanzwirtschaft, im Allgemeininteresse zusammen zu halten, scheint kaum noch steuerbar zu sein. Der Finanzminister wird zum Gott.
Mir persönlich fällt bei der Frage nach der Steuerung von Freiheit und Vermögen immer der Vortrag eines jüngeren Wirtschaftsliberalen ein. Ich glaube es war in der Friedrich- Naumann-Stiftung der FDP. Ich war dort eingeladen. Ein Referent referierte über die liberalen Prinzipien. Denen stünde ich nahe, dachte ich. Oder war es doch die Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD? Egal, jedenfalls sollte ich mir, so der Referent, einen Gaul vorstellen, dem man vorn das Futter ins Maul hineinstopft, damit er hinten genügend ausbringen kann. So funktioniere das moderne Wirtschafts- und Sozialwesen, hörte ich. Etwa um die Jahrtausendwende war es. Jeder einzelne sei an der Fütterung beteiligt, lernte ich. Jeder Mensch, jede einzelne Bank, jeder Investor, jeder einzelner Anleger, jeder arbeitende Mensch beteilige sich an der allgemeinen Wertschöpfung. Man müsse nur sein eigenes Politportfolio gut zusammenstellen. Wie peinlich, ich hatte schon damals gar keine Aktien. So sieht sie aber denn wohl aus, die Freiheit, wenn Einzelinteressen zu einem internationalen Weltwirtschaftsgesamtinteresse werden. Der Wettbewerb bringe Kooperation von selbst hervor, sagte der Referent noch. Wie eigenartig? So richtig hat mich das schon damals nicht überzeugt. Je älter ich werde, desto kritischer sehe ich mich um. Jedes Mal wenn ich kurz vor 20 Uhr den Fernsehapparat einschalte, um die Deutsche Tagesschau zu sehen, begegnen mir wieder diese galoppierenden Gäule des Wirtschaftsliberalismus, die man füttern muss, damit am Ende für alle etwas übrigbleibt. Ich bin kein Linker und kein Rechter. Also, was bin ich? Ich weiß nur, dass ich irritiert bin.
Die Dauersendung heißt „Bericht aus der Börse“ und kommt immer kurz vor acht Uhr, bevor die Nachrichten der Tagesschau losgehen. Und wieder höre ich schon im Bericht der Börsenjournalisten, dass ein neuer Krieg geführt wird. Ich erfahre, dass die ärmeren Euro-Staaten sich abgehängt fühlen. Die Löhne in Deutschland sollen schon wieder gekürzt werden und die Arbeitszeiten verlängert werden. Sozialabbau stünde ins Haus, und die Börsenkurse steigen und steigen. Gerhard Schröder wird für seine Agenda 2010 ein ums andere Mal gelobt. Die Kredite der EZB für Großinvestoren werden noch billiger. Das alles ließe die Börsenkurse auf einen neuen Höchststand steigen. Weit unter einem Prozent vegetiert dagegen der Zinssatz auf mein Sparguthaben bei der Sparkasse dahin. Die Börsenkurse werden immer noch weiter und höher steigen, erzählt man. Gibt es kein Ende? Jeden Tag, schon seit Wochen, wird der alte Höchststand aufs Neue getoppt. „Sollte ich mich am neuen Volksvermögen bereichern?“, frage ich mich. Ich lasse es, weil ich immer noch vermute, dass alles nur eine Blase ist. Wie dumm oder wie weitsichtig von mir.
Warum erscheint mir dieses Volksvermögen so elend? Kann Volksvermögen überhaupt ein Elend sein? Die traditionellen Linken haben die Frage schon längst mit gusseisernen Verelendungstheorien aus der Frühzeit der Industrialisierung beantwortet. Privater Reichtum und öffentliche Armut fallen eben auseinander, erläutert der Vorsitzende der Links-Partei. Als Konsequenz will er noch mehr Staat und noch mehr Steuern eintreiben. Wenigsten in den Behörden kann man damit noch mehr Arbeitsplätze schaffen, denke ich. Die Öffentlichkeit als Staat und Steuereinnehmer wird immer reicher, eben wegen der Fütterung des Gauls. Man weiß doch kaum noch wohin mit dem ganzen Geld. Man plane die umfassende Instandsetzung der Bundeswehr, formuliert die Verteidigungsministerin und fordert neue Kampfeinsätze gegen den Terror des „Islamischen Staats“. Die Berliner Schulen hingegen bleiben indes unterausgestattet. Das Vermögen scheint mir inzwischen wie eine Gabe zu sein, in politischen Ressorts erfolgreich mehr Geld zu fordern und auszugeben.
Ich gebe es auf, etwas von Wirtschaft, Börsen und Finanzpolitik verstehen zu wollen. Ich schaue mich lieber nach einer Bürgerinitiative um. Der könnte ich vielleicht beitreten. Aber siehe da, auch dort sitze ich wieder in einem dieser Aggregate, in einem etwas kleineren diesmal, mit einem kleineren Motor und weniger Höchstgeschwindigkeit. Übrig bleibt schließlich meine folgende Überlegung: Viele Menschen in der zivilisierten Welt vermuten, sie hätten gar kein Vermögen, obwohl sie doch ein ausgezeichnetes Auskommen haben. Das Aggregat ist immer nur zu klein, gemessen an den Wünschen und Bedürfnissen.
Das wirtschaftliche Volksvermögen hat inzwischen viele Namen erhalten. Zum Beispiel heißt es Bruttosozialprodukt (BSP) oder Bruttonationaleinkommen (BNE), als die Summe aller Güter und Dienstleistungen in der jeweiligen Landeswährung, die in einer Volkswirtschaft innerhalb eines Jahres bereitgestellt werden. Bei der Berechnung des BSP wird vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) ausgegangen. Von diesem zieht man die Erwerbs- und Vermögenseinkommen ab, die ins Ausland abgeflossen sind. Diejenigen Einkommen werden hinzugefügt, die von Inländern aus dem Ausland bezogen werden. Das BSP zielt also auf Einkommensgrößen und wird in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung eben auch als BNE bezeichnet. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) misst demgegenüber die wirtschaftliche Leistung eines Landes von der Produktionsseite her und wird in der Wirtschaftsstatistik inzwischen bevorzugt verwendet. Haben Sie das verstanden? Niemand weiß, was in den Zahlen mitgerechnet wird. Oder doch? Das alles ist mathematisches Wirtschaftswissen von Fachexperten. Tausend Fragen schießen mir tagtäglich diesbezüglich durch den Kopf. „Beruhige dich“, sagt mein Freund Rudi. „Man braucht nicht alles zu verstehen, vor allem dann nicht, wenn es funktioniert.“ „In Deutschland scheint es tatsächlich ganz gut zu funktionieren. In Griechenland, Spanien, Bulgarien und Portugal und anderswo funktioniert es anscheinend weniger gut“, möchte ich noch hinzufügen.
Die „Entwicklungsländer“ Europas haben Probleme, weil sie etwas falsch machen, weil sie falsch rechnen und keine vernünftige Steuerverwaltung haben, höre ich vom Kabarettisten Dieter Nuhr. Danach wendet er sich wieder seinem Lieblingsthema, dem Papst in Rom und der katholischen Kirche zu. Mich irritiert, dass, je entwicklungsbedürftiger ein Land ist, desto höher die Zinsen seien, die sie für einen Kredit zahlen müssen. Warum auch immer das so ist, wahrscheinlich ist es dem Geldmarkt geschuldet, denke ich. Großzügig bietet man den ärmeren Ländern Staatshilfen aus dem europäischen Säckel an, oder verweigert diese. Denn alles wird inzwischen finanzialisiert, mit etwas höheren Zinsen und längeren Laufzeiten für die Schwächeren. Die ärmeren Länder dürfen dann mehr Zeit aufwenden, um alles zurückzuzahlen. Man droht damit, dass sie gar nicht mehr erhalten dürften.
Bekommen die Ärmeren in der EU nun wirklich umverteiltes Geld von den Reicheren oder müssen sie das Geld am Ende doppelt und dreifach zurückzahlen?
Natürlich müssen sie alles zurückzahlen oder eben in Konkurs gehen. An den Kreditzinsen verdienen diejenigen, die das Geld vorgeschossen haben. Vorher wirft man die Notenpresse an. Das ist der alles entscheidende Ursprung aller Zirkulationsakte. Man wirft sie an und setzt auf politisches Vertrauen und den Gehorsam.
Wer verantwortet das?
Die Vermögen der Völker sind die Hoffnung auf die Aggregation der Freiheit, die sich über den Preis steuert, bei der man nur gelegentlich leider vergisst, einen vernünftigen Motor einzubauen. Das modernste Aggregat ist ein Leasingmodell. Man achtet sehr darauf, dass es immer sehr gut gewartet und instand gehalten wird. Allerdings: Die Leasing-Aggregate gehören dem Besitzer gar nicht. Am Ende ist die große Rest-Rate fällig. Deshalb wird man sich immer wieder neu ein Aggregat leasen müssen.