Heumann ist weg - Reinhard Ost - E-Book

Heumann ist weg E-Book

Reinhard Ost

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Beschreibung

Das Verschwinden des Berliner Kommissars Heumann entwickelt sich zum Super-Gau der modernen Politischen Geschichte. Nikolaus Heumann ist nicht nur während einer Bootstour auf der Ostsee verschollen, sondern er ist auch als Datenmensch verschwunden. Alle seine Verwaltungs- und Kommunikationsdaten, einschließlich der Internetdaten, existieren nicht mehr. Seine Frau Annika gilt plötzlich als ledig. Im Polizeicomputer steht hinter den Namen ihrer Kinder, Luise und Bruno, das Wort unehelich. Familie, Freunde, Politiker und Öffentlichkeit geraten in Aufruhr. Die Mitglieder des Bundestagsauschusses "Digitale Agenda" sind in Schwierigkeiten. Die deutsche Kanzlerin trifft den amerikanischen Präsidenten in Camp David. Die Vereinten Nationen (UNO) verabschieden unter tumultartigen Umständen auf ihrer Vollversammlung eine Resolution. Die Welt, so wie wir sie politisch zu kennen glauben, steht vor der Katastrophe. Der Zukunftsroman des Autors spielt im Jahr 2023 und ist die Fortsetzungsgeschichte des Bildungs- und Wissenschaftskrimis "Die 13. Karte", den der Autor 2014 veröffentlicht hat.

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Seitenzahl: 195

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Impressum

Heumann ist weg

Reinhard Ost

Copyright: @ 2014 Reinhard Ost

Published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.com

ISBN 978-3-7375-2658-6

Heumann ist weg

Wir befinden uns im Sommerabschnitt des Kalenderjahres 2023. Vor etwa einem Jahr hatte Nikolaus Heumann seinen Motorbootführerschein gemacht. „Wir legen großen Wert auf die Schiffsbeherrschung unter allen möglichen und auch unmöglichen Situationen. Wir werden Sie auf keinen Fall enttäuschen. Die praktische Ausbildung findet von Montag bis Freitag statt und kann zwischen 9 und 20 Uhr vereinbart werden. Nach rechtzeitiger Absprache mit uns können einige Termine auch am Wochenende oder zu anderen Zeiten stattfinden“, hieß es seinerzeit auf der Webseite der Sportboot- und Bootsfahrschule Berlin.

Nach einigen Wochenendkursen und seiner erfolgreichen Führerscheinprüfung kaufte sich Nikolaus Heumann eine gebrauchte Motor-Yacht mit dem Firmennamen Martin 32 Fisherman. Die holzfarbene Yacht wurde bei Ebay für 27.000 Euro angeboten und stand in Kiel. Ihre technischen Daten lauteten: Länge: 9,75 m, Breite: 3,16 m, Tiefgang: 0,65 m, Gewicht: 5,5 t, Baujahr: 1992, Motor: 2 x Volvo Penta Diesel MD32 mit 106 PS. Sie hatte schon 3.000 Betriebsstunden auf dem Buckel. Mit dem Kauf des Bootes erwarb Heumann auch noch einige wichtige Zubehörteile: einen GPS-Navigator Furuno GP 31, einen kompensierten Steuer- und einen Handpeilkompas, Echolot, Einbruch-Alarmanlage, Batterieladegerät, Landanschluss 22V, Radio, Schlauchboot Typhon, Handscheinwerfer, lose Badeleiter, Feuerlöscher, Fender und Leinen, zweimal Anker inklusive Kette und eine Kran-Traverse mit Hebegurt.

Heumann war also bestens ausgerüstet, als er am 23. Juli 2023, von Kiel aus, seinen ersten großen Bootstrip in der Ostsee startete. Und das tat er allein. Seine Frau Annika und seine beiden Kinder, Luise und Bruno, begleiteten ihn lediglich bis an den Bootssteg und winkten ihm noch lange nach. Das Wetter war hervorragend. Es war sonnig und 31 Grad warm. Seine sorgfältig geplante Bootsreise entlang der Ostseeküste sollte ihn bis nach Tallinn in die Hauptstadt Estlands führen. Fünf Wochen Urlaubszeit hatte er eingeplant, um zu sich zu kommen und Abstand zu gewinnen, wie er häufig zuvor sagte, zum beruflichen Alltag und auch zu seiner Familie, jedoch nicht zu allen Mitgliedern seiner Familie. Er reiste nämlich doch nicht allein. Der kleine Rauhaardackel Balu, eine Hündin mit struppig braunschwarzem Fell, war mit an Bord. Sie benötigte er, um zwar mit sich allein, aber nicht ohne Gesellschaft zu sein. Heumann war von Beruf Oberkommissar in einer Berliner Mordkommission. Opfer, Täter, Tatmotive, Zeugen und Berichteschreiben bestimmten sein alltägliches Denken, von dem er sich immer weniger zu lösen vermochte. Auch die Gemeinschaft seiner Familie bot ihm keinen besonderen Schutz mehr vor all den mörderischen Gedanken und Absichten, die sein Leben bestimmten, wie er meinte. Seine große Fahrt nach Tallinn sollte dazu beitragen, den Kopf wieder frei zu bekommen, um die Welt mit den normalen Augen eines normalen Bürgers der Bundesrepublik Deutschland sehen zu können. Die weite See, das eigene Boot, der frische Wind und die Ferne waren die Wellen, auf denen er frei und männlich reiten wollte, um ein neues persönliches Zukunftsempfinden zu entdecken. Annika fragte ihn zuvor einige Male, warum denn gerade Tallinn das Reiseziel sei. Das sei doch viel zu weit. Weil Tallinn eine besonders interessante Stadt wäre und weil Finnland noch 80 Kilometer weiter entfernt ist, hatte er dann geantwortet. Immer wieder betonte er auch die Geschichte der Stadt. Der Name der Stadt am Finnischen Meerbusen wäre bis zum Februar des Jahres 1918 amtlich Reval gewesen und auch andere russische, dänische und schwedische Namen hätte die Stadt getragen. Tallinn heiße schlussendlich aber „Dänische Stadt“ oder „Dänische Burg“. Während des Zweiten Weltkriegs wäre die Stadt von den Russen und dann von den Deutschen erobert worden. Heute würden 55 Prozent der Bevölkerung estnisch und 45 Prozent russisch sprechen. Aus welchem Grund ihr Ehemann sich genau diese geschichtlichen Daten und Ereignisse herauspickte, verstand Annika eigentlich nicht. Sie fragte aber nie weiter nach und dachte nur immer, dass die Auswahl der Erwähnungen eine Art von Rationalisierung ihr völlig unzugänglicher Motive sei. Den Freiheitsdrang, den ihr Mann verspürte, konnte sie allerdings gut nachvollziehen. Sein Job als Kommissar war auch für sie häufig eine Belastung, weil fast alle Mordfälle, die ihr Mann bearbeitete, zuhause durchgesprochen wurden. Freiheit war aber trotzdem für Annika keine Einsicht in die Notwendigkeit, kein Ordnungsgefüge mit strikten Regeln und Festlegungen und auch kein Sicherheitsphänomen. Der Mord, so oder so interpretiert, war für sie kein Ausdruck der Inanspruchnahme falscher Freiheit. Für Annika war man frei, wenn man beweglich sein und sich als einzelner Mensch frei bewegen konnte, hatte sie im Studium und im Leben gelernt. Speziell als Frau fühlte sie sich frei, wenn sie frei denken konnte, auch durch die Unterstützung ihres Mannes, und vor allem, wenn sie freie Zeit zur Verfügung hatte. Sie kannte natürlich auch die Untiefen des Freiheitsbegriffs sehr gut, denn sie hatte zwei Kinder, einen Hund, eine Schwiegermutter, viele Freunde und Arbeitskollegen. Ihre Eltern waren leider schon früh verstorben. Ihr in den Niederlanden aufgewachsener Vater, Georg Hendriks, fühlte sich in Deutschland nie so richtig wohl, und ihre Mutter, die in Reck-linghausen, im Ruhrgebiet, geboren wurde, bekam einen schlimmen schnellwachsenden Krebs, als sie 19 Jahre alt war.

Annika Heumann und ihre beiden Kinder fuhren noch am gleichen Tag, an dem sie ihren Mann Nikolaus am Kieler Hafen, um etwa 12.30 Uhr, verabschiedet hatten, wieder nach Berlin zurück. Es war ein Sonntag, und sie musste am nächsten Tag wieder zur Arbeit gehen. Sie war Lehrerin für die Fächer Deutsch und Bewegungsunterricht an einer Grundschule in Berlin-Moabit. Aber im Prinzip unterrichtete sie alle Fächer für „ihre Kleinen“, wie sie immer sagte, und trotzdem war für sie das Berliner Lernfeldkonzept, welches man vor Jahren europaweit eingeführt hatte, reichlich unausgegoren. Die Lehrer, zumindest die Lehrer an ihrer Grundschule, waren nicht mehr die Vertreter akademischer Fächer, die spezielle Kenntnisse, Qualifikationen und Fähigkeiten studiert hatten, sondern sie mussten die schlechten Moderatoren in falsch-dynamisierten Lern- und Unterrichtsgebieten spielen. Das Konzept vermochte zwar alle Lehrer ein wenig zum gemeinsamen Nachdenken und zum Kommunizieren anzuregen, im Resultat aber war es Anlass zu langandauernden und quälenden Besprechungen über das, was eigentlich schülerorientiert ihre Aufgabe war, nämlich zu unterrichten. Die Lehrer waren als Lehrkräfte nur noch projektorientiert unterwegs, und viele fühlten sich vom fachlich-exakten Nachdenken suspendiert. Die Rückfahrt von Kiel nach Berlin wurde dann am Ende doch noch außerordentlich stressig, nicht nur, weil die drei Heumanns dann immerhin acht Stunden Autofahrt hinter sich bringen mussten, sondern vor allem, weil ab dem Berliner Ring die Straßen völlig verstopft waren. Luise und Bruno stritten unentwegt, nicht weil sie wirklich Streit hatten, sondern weil sie sich langweilten und in ihrer Bewegung durch den Platzmangel und die Sicherheitsgurte sehr eingeschränkt waren. Das kannte Annika auch aus der Schule. Auf den hinteren Sitzen des Autos angeschnallt und fixiert zu sein und gerade sitzen zu müssen, war eine Tortur für die beiden kleinen Heumanns. Endlich, abends um 22.00 Uhr, kamen sie in Charlottenburg, ihrem Berliner Heimatbezirk, an. Aber dann ging es erst richtig los. Der Stress wollte kein Ende nehmen.

Annika bog mit ihrem gelben Audi Mantra in die Fußgängerstraße ein, in der sie am Ende der Straßenbiegung wohnten. Nach wenigen Metern im vorgesehenen Schritttempo von 10 Stundenkilometern sah sie das Malheur. Es ging nicht weiter. Die Straße war gesperrt. Ein Polizeiwagen und einige herumstehende Menschen versperrten ihr die Weiterfahrt. „Alles verkehrsberuhigte Fußgänger“, dachte sie zunächst. Man kam übrigens auch ohne Straßensperre tagsüber kaum mit dem Auto durch, weil Fußgänger und natürlich auch die spielenden Kinder stets Vorfahrt hatten und diese auch heftig nutzten. Um die leichte Biegung in ihrer Straße herum konnte sie die blinkenden Umrisse mehrerer Löschfahrzeuge der Feuerwehr erkennen. Ganz am Ende der Straße schien es zu brennen. Endlich sah sie nun auch die Rauchschwaden, die über die Dächer in den abendlichen Berliner Himmel zogen. Annika setzte mit ihrem Fahrzeug zurück, was ihr allerdings ausgesprochen schwer fiel, weil sich immer mehr Menschen in die Straße drängten. „Geile Gaffer mit Gier nach Sensationen, wie vor dem Fernsehapparat“, dachte sie. Schließlich konnte sie dann aber doch ihr Auto direkt in der Nebenstraße parken, weil zufällig ein Platz frei wurde. Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie das Auto abschloss und ihre Kinder rasch an beide Hände nahm. Das wenige Reisegepäck und eine große Tüte voller Bilderbücher und Süßigkeiten, die immer noch halb gefüllt war, ließ sie im Auto zurück. Die drei Heumanns drängelten sich durch die anwachsende Menschenmenge. Je weiter sie liefen und je näher sie an die Straßensperre herankamen, desto unruhiger wurden sie. Luise fing an zu weinen. Und plötzlich sahen sie das schreckliche Unglück. Am Ende der Straße schien es genau in ihrem Wohnhaus zu brennen. Zwei Wasserschläuche der Feuerwehr waren auf ihr Wohnhaus gerichtet und zwar auf die oberen Stockwerke. Annika war entsetzt. Nun fing auch Bruno noch an zu weinen. Die Polizisten ließen sie nicht weiter an den Brandherd heran. Alles war wie verriegelt. Annika sah aber sofort, dass es vor allem in ihrer Wohnung brannte und in dem Stockwerk darunter. Dreckig dichte Rauchschwaden quollen aus ihren Wohnungsfenstern im dritten Stock.

„Mein Gott, mein Gott, Hilfe, wir wohnen da oben“, schrie sie, für alle, die daneben standen, deutlich vernehmbar. Zwei ihr nahestehende Passanten mussten sie stützten. Die kleinen Hände ihrer Kinder hielt sie ganz fest, wie in einen Schraubstock eingeklemmt. „Autsch, du tust mir weh“, rief Bruno. Zwei weitere Passanten holten einen Polizisten herbei. „Beruhigen sie sich bitte“, murmelte dann der herbeigeeilte Polizist ihr zu, was Annika wegen seiner leisen, aber penetranten Tonlage noch mehr erregte. „Kommen Sie“, sagte Annika aber dann, „und bringen sie uns schnurstracks hier raus. In unserer Wohnung dahinten brennt es. Wir wohnen da. Wir haben kein Zuhause mehr.“ Der Polizist, Annika und die beiden Kinder drängelten sich, durch die inzwischen stark angewachsene Menschenmenge, zurück an die Straßeneingangskreuzung, wo sie an der Ecke eine freie Stelle zum Sprechen auf dem Bürgersteig fanden. „Ich heiße Annika Heumann und das sind meine Kinder. Wir wohnen dort im dritten Stock des brennenden Hauses, dort“, hechelte und keuchte sie und zeigte mit dem Finger in Richtung des Brandes. Der Polizist schien weniger außer Atem gewesen zu sein. „Schrecklich das Ganze, mein Name ist Peter Moser. Ich denke, ich nehme Sie und ihre Kinder jetzt ganz schnell mit auf die Wache. Dann können wir alles Weitere besprechen und ihre Daten aufnehmen“, sagte er dann, zum Glück auf hochdeutsch und nicht auf berlinerisch, wie Annika erfreut registrierte. Sie war wie in einem psychischen Ausnahmezustand, der ihr die Luft nahm. Erst als alle endlich im Polizeiauto saßen und losfuhren, wurde Annika etwas ruhiger. Auch die Kinder weinten nicht mehr. „Wo waren Sie, als es anfing, in ihrem Haus zu brennen?“, fragte der Polizist, der Herr Moser, während der Fahrt. „Wir waren gar nicht da. Wir waren unterwegs und sind gerade aus Kiel zurückgekommen, wo wir meinen Mann und unsere Hündin hingefahren haben. Er ist zu einer Bootstour in der Ostsee aufgebrochen. Mein Gott, jetzt, jetzt gerade wo es brennt, ist er weg. Sie müssen wissen, dass mein Mann auch bei der Polizei arbeitet und zwar als Hauptkommissar bei der Mordkommission der Kripo“, antwortete Annika, wobei sie dabei den Dienstrang ihres Mannes verwechselte und zu niedrig ansetzte. Bruno wollte auch noch etwas dazu sagen, was Annika aber mit einem schroffen „Jetzt nicht“ unterband.

Auf der Polizeiwache angekommen, bekam Annika zunächst einen Pappbecher mit warmem Milchkaffee in die Hand gedrückt. Die Kinder bekamen eine gelbe Orangenlimonade. Die wachhabenden Beamten waren unglaublich hilfsbereit und zuvorkommend. Schließlich kam es dann aber doch zu den üblichen polizeilichen Aufnahme- und Sprechprozeduren. „Wir müssen Ihre Personalien aufnehmen und am Ende überlegen, wo wir Sie und Ihre Kinder heute Nacht unterbringen können.“ Annika saß dann schließlich vor einem großen Schreibtisch und der Rückwand eines ebenfalls sehr großen Computerbildschirms. Eine Beamtin nahm ihre Daten auf. Die Kinder wurden im Aufenthaltsraum der Polizeidienststelle betreut, also beschäftigt. Bruno malte und Luise blätterte in einem dicken alten Weltatlas.

Die Beamtin rief einige Masken auf ihrem Bildschirm auf. Annika zeigte ihren Ausweis und las ihre persönlichen Daten daraus vor. Das Weitere lief routinemäßig ab. „Wie sagten sie noch, heißt ihr Mann, den sie nach Kiel gefahren haben?“, fragte dann die Polizistin. „Nikolaus Heumann“, antwortete Annika, „und unsere beiden Kinder heißen Luise und Bruno“. Die Beamtin schaute merkwürdig irritiert hinter dem Bildschirm hervor. Annika hatte den Eindruck, als dass sie gemustert wurde. Die Augen der Polizistin suchten Blickkontakt. „Ja, ja. Also habe ich doch richtig verstanden“, sagte die Beamtin dann. „Merkwürdigerweise finde ich aber keinen Nikolaus Heumann. Ist ihr Mann polizeilich gemeldet?“ „Natürlich ist er polizeilich gemeldet, in der Grabenstraße 19, Berlin-Charlottenburg“, so Annika. Es verging eine unerträglich lange Weile, ehe die Polizistin vermeldete: „Es gibt keinen Nikolaus Heumann in der Grabenstraße 19.“ Annika hatte ein nicht beschreibbares Gefühl in der Magengegend. Wohl eine Mischung aus Wut und Angst stieg in ihr hoch, obwohl sie sich inzwischen vom Schock des Hausbrandes erholt zu haben schien. „Es gibt wirklich keinen Nikolaus Heumann. Bitte schauen Sie selbst auf meinen Bildschirm. Rücken Sie mit ihrem Stuhl ein wenig herum. Hier, ich gebe den Namen ihres Mannes noch einmal ein.“ „Ist das hier eine ‚Versteckte-Kamera-Sendung’?“, rief Annika und schaute sich irritiert im Raum um. „Mein Mann und ich und unsere beiden Kinder wohnen in der Grabenstraße 19.“ „Nach meinen Unterlagen wohnen Sie dort mit ihren Kindern allein“, sagte die Beamtin trocken. „Was, sagten Sie noch, macht ihr Mann beruflich?“ „Ich habe dazu noch gar nichts gesagt. Mein Mann ist Oberkommissar bei der Kripo in der Mordkommission Charlottenburg. Schauen Sie doch im Internet nach, wenn Sie mir nicht glauben wollen. Geben Sie einfach die Begriffe Nikolaus + Heumann + Mordkommission Berlin in die Suchmaske bei Google ein. Dann kommt als erster Link seine Dienstelle und als vierter Link sein Sportverein, und dann kommen noch sehr viele andere Hinweise.“ Die Beamtin schaute nun ebenfalls ein wenig irritiert umher: „Na schön, dann werden wir mal.“ Sie ging ins Internet und tat, was Annika ihr vorschlug. „Sehen Sie, kein Nikolaus Heumann, weder in der Mordkommission, noch im Sportverein, noch in der Grabenstraße 19. Es gibt überhaupt keine Person bei Google mit dem Namen Nikolaus Heumann“. Annika stand das totale Entsetzen ins Gesicht geschrieben. „Ich bin doch nicht verrückt, bitte schauen Sie mich nicht so an“, sagte sie. „Ich glaube, Sie haben wahrscheinlich einen Schock durch den Wohnungsbrand. Lassen Sie uns mal überlegen, was wir jetzt machen“, antwortete dann die Frau ihr gegenüber. „Ich habe eine fabelhafte Idee“, rief Annika daraufhin. „Wir rufen meinen Mann einfach an. Er hat sein Handy dabei und müsste inzwischen auf der Insel Rügen angekommen sein. Das ist nämlich die erste geplante Station auf seiner Ostseetour.“ Annika kramte ihr Handy aus der Handtasche hervor und tippte auf die eingespeicherte Adresse. Niemand ging ran. Das Telefon war tot. Kein Zeichen, nichts, gar nichts. „Sie schauen mich immer noch so merkwürdig an, bitte unterlassen Sie das“, platzte es aus Annika heraus. „Bitte schauen Sie doch mal auf ihrem Computer nach unserem Eintrag im Hochzeitsregister. Die Behörden sind doch inzwischen alle untereinander vernetzt. Da werden Sie finden, was sie suchen, dass wir nämlich vor sieben Jahren auf dem Standesamt in Charlottenburg nahe der Otto-Suhr-Allee geheiratet haben. Nächsten Monat haben wir Hochzeitstag.“ Die Polizistin tat auch das, obwohl sie inzwischen doch einige Zweifel an den Angaben von Annika hegte. „Sehen Sie, nichts, nichts von Hochzeit. Und übrigens: Bei den Datenangaben zu ihrer Person steht deutlich lesbar das Wort ledig. Bei Ihren beiden Kindern, Luise und Bruno, steht entsprechend unehelich. Schauen Sie.“ Annika lag inzwischen wie am Boden, obwohl sie doch immer noch auf dem Stuhl der Polizeidienststelle kauerte. Es dauerte dann eine Weile, bis sie wieder reagieren konnte. Ihr Verstand ratterte wie verrückt, und sie sagte: „Ich werde jetzt bei meiner Schwiegermutter anrufen, die wohnt hier ein paar Straßen weiter. Wenn auch die nicht mehr existiert, dann werde ich einen Nervenzusammenbruch kriegen, stellen Sie sich bitte darauf ein.“ Annika wählte auch diese eingespeicherte Nummer auf Ihrem Handy. Das Freizeichen tutete und ihre Schwiegermutter ging ans Telefon: „Hallo Schwiegermama, schön, dass du da bist. Es sind ganz schreckliche Dinge passiert und alles noch dazu auf einen Schlag. Unsere Wohnung ist abgebrannt und Nikolaus ist weg. Du weißt doch, dass wir ihn nach Kiel gefahren haben und er diese Bootstour nach Tallinn machen wollte.“ „Natürlich weiß ich das“, antwortete Annikas Schwiegermutter Gerda. Dann erst wurde auch ihr das Unglück klar: „Was, um Himmels Willen, eure Wohnung ist abgebrannt? Oje, Oje, Oje. Wo bist du jetzt? Wo sind die Kinder?“ „Wir sind auf der Polizeiwache. Ich muss jetzt aber ganz schnell hier raus, sonst werde ich verrückt. Können wir heute Nacht bei dir schlafen?“ „Natürlich könnt ihr das, um Himmels willen, ich erwarte euch. Es ist jetzt schon fast Mitternacht. Mein Gott, die Kinder.“ „Na dann wär das ja mit der Unterbringung von Ihnen und Ihren Kindern für heute Nacht geklärt. Ich hatte schon die Befürchtung, dass wir Sie hierbehalten müssten“, sagte dann die Polizistin. „Ich muss Ihnen aber mitteilen, dass unser Gespräch ein außerordentlich merkwürdiges Gespräch war. Schlafen Sie sich erst einmal richtig aus, dann werden wir weitersehen. Bitte halten Sie sich zur Verfügung.“ Die Polizeibeamtin notierte die Adresse der Schwiegermutter und führte Annika zu ihren Kindern. Luise und Bruno fielen inzwischen schon fast die Augen zu. Luise sagte: „Ich kann keine Bücher mehr sehen.“ Bruno hatte seinen Kopf schon auf die Tischplatte gelegt. Auf der Polizeiwache hatten die Kinder eigentlich keine Angst, wegen ihres Vaters. Bei der Verabschiedung am Ausgang der Polizeiwache erhielt Annika noch einige gute Tipps und Adressen für den Notfall, medizinischer, sozialtherapeutischer und psychologischer Art. Annika, Luise und Bruno irrten durch die nächtlichen Straßen Berlins. Völlig übernächtigt trotteten Luise und Bruno hinter ihrer Mutter her zur Wohnung von Schwiegermutter und Oma Gerda, die drei Querstraßen und etwa 10 Minuten Fußweg von der Polizeiwache entfernt lag. Annika maß dem Datenschwund im Computer keine größere Bedeutung bei, ein Datencrash eben. Aber das mit dem „ledig“ und „unehelich“ machte ihr ein wenig Angst. Endlich beim Wohnhaus der Schwiegermutter angekommen, verschlechterte sich ihr Zustand. Oma Gerda stand schon vor der Haustür und heulte. Vor der Wohnungstür weinten dann alle. Die Kinder rannten in die Wohnung. Auf einem extragroßen Klappbett, das immer für Besuchszwecke bereitstand und das Gerda schon zurechtgemacht hatte, schliefen sie dann schnell ein. Annika und Gerda blieben noch etwa eine Stunde auf und diskutierten die Ereignisse und mögliche Folgen. Von dem Datenmalheur auf der Wache erzählte Annika zunächst nichts. Sie musste in dieser Nacht neben der Schwiegermutter im Ehebett schlafen.

Annika schlief in dieser Nacht, wenn es hoch kam, vielleicht drei bis vier Stunden. Im schlafenden Wachzustand spielte sie alle nur erdenklichen Möglichkeiten durch und vor allem die Aufgaben, die sie wegen des Wohnungsbrandes bewältigen musste. Sie hatte keine Schlüpfer und keine Klamotten, kein Eau de Toilette, keine Zahnbürste, keine Wohnung, kein nichts, kein Garnichts, und ihre Kinder hatten auch nichts. Die Kinder schliefen zum Glück tief und fest bis in den frühen Vormittag. Am nächsten Tag, um 7 Uhr frühmorgens, war Annika fast wiederhergestellt. Gerda stand immer schon um 6 Uhr auf und wuselte auch an diesem Tag in der Wohnung herum. Annika rief dann in ihrer Schule an und meldete sich mit sehr guten Argumenten ab. Die Schulbehörde hatte für Unglücksfälle wie diese, für Wohnungsbrände sowieso, sehr großzügige Beschäftigungsfreistellungsregularien. Die Kinder meldete sie auch krank, Luise in der Schule und Bruno in der Kindertagesstätte. Bruno hätte sie eigentlich gar nicht krankmelden müssen, denn der Kindergarten finanzierte sich durch die einzelnen Eltern nach tatsächlichen Anwesenheitszeiten der Kinder, nach einem Leistungsprinzip sozusagen. Waren die Kinder nicht da, musste auch nicht bezahlt werden. Annika meldete die Abwesenheit von Bruno trotzdem, weil sie eine der Mütter war, die ihren Sohn jeden Tag dorthin brachte und ihn auch wieder abholte. Diese Zeit nahm sie sich bzw. organisierte sie sich bei der Stundenplanmacherin ihrer Schule. Als nächstes versuchte sie wieder, ihren Mann Nikolaus telefonisch zu erreichen. Es klappte wieder nicht. Die Leitung war immer noch tot.

Eine Stunde später rief Annika auf der Dienststelle ihres Mannes an: „Annika Heumann hier“, meldete sie sich am Telefon. Am anderen Ende der Leitung war die Sekretärin ihres Mannes, Uschi Heinekötter, zu hören. „Frau Heinekötter, Sie kennen mich doch und meinen Mann Nikolaus Heumann auch, der zurzeit in Urlaub ist?“, fuhr sie fort. „Natürlich kenne ich Sie und meinen Chef sowieso. Was denn sonst. Was ist los?“, antwortete Frau Heinekötter. Uschi war bekannt dafür, dass sie blitzschnell zu reagieren vermochte. „Unsere Wohnung in der Grabenstraße ist gestern Nacht abgebrannt, und meinen Mann kann ich telefonisch nicht erreichen. Im Übrigen gab es gestern, spät in der Nacht, noch einige Merkwürdigkeiten auf der Polizeiwache. Könnten Sie mal in ihrem Computer nachschauen und die Daten meines Mannes nachprüfen.“ Uschi Heinekötter verstand im Grunde nicht, was das bedeuten sollte. „Geben Sie einfach den Namen Nikolaus Heumann in ihren Computer ein“, forderte Annika. Frau Heinekötter folgte. Sie gab Nikolaus Heumann in die Volltextsuchzeile ihres internen Kripoprogramms ein, nicht ohne aber zuvor ihre Anteilnahme an dem schrecklichen Wohnungsbrand sehr akzentuiert zu übermitteln. Dann erschrak auch sie plötzlich, fast vor Entsetzen, als sie auf den Bildschirm schaute: „Ähm, Frau Heumann, hier ist etwas Merkwürdiges. Ich kann ihren Mann nicht finden. Unter dem Namen Heumann kommt nichts, gar nichts. Was ist denn da los?“ „Genau das Gleiche habe ich gestern Abend auf der Wache erlebt“, sagte Annika. „Mein Mann ist nirgendwo datenmäßig mehr auffindbar. Er ist als Datenbürger quasi verschwunden. Er existiert gar nicht mehr. Nicht einmal im Internet ist sein Name irgendwo auffindbar. Können Sie sich noch an den Mordfall Aporius erinnern, wo er einige Male von den Journalisten verschiedener Tageszeitungen interviewt worden war. Nicht einmal mehr diese Zeitungsartikel sind im Netz verfügbar. Er ist nicht polizeilich gemeldet. Unsere Standesamtsdaten sind nicht mehr vorhanden und so weiter und so fort.“ Annika weinte. „Tatsächlich! Nichts ist mehr da. Mein Gott, was ist das für ein schrecklicher Datenunfall? Hoffentlich ist es wirklich nur ein Datenunfall. Und dann noch der Wohnungsbrand und dass Sie ihren Mann telefonisch nicht erreichen können, das klingt ja alles sehr bedrohlich“, formulierte Frau Heinekötter. „Ich bin völlig verzweifelt“, schluchzte Annika. Die Dimension der Geschehnisse begann ihr klar zu werden. „Ich wollte Ihnen das alles erst einmal kurz mitteilen. Vielleicht können Sie ja auf der Dienststelle etwas recherchieren. Mein Gott, mein Gott, hoffentlich ist das nicht wirklich ein Fall für die Mordkommission. Ich habe inzwischen die schlimmsten Befürchtungen. Ich muss mich jetzt um die Bootsreise meines Mannes kümmern, Frau Heinekötter. Bitte sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie etwas Vernünftiges rausbekommen. Ich mache hiermit schon mal vorsichtshalber eine Vermisstenanzeige bei Ihnen. Ich wohne mit meinen Kindern zurzeit bei meiner Schwiegermutter in der Hohmann Straße 24. Telefonisch bin ich über mein Handy erreichbar.“ „Ich werde mich um alles kümmern“, meldete Uschi Heinekötter zurück. „Ich werde jetzt erst einmal die Kolleginnen und Kollegen hier vor Ort informieren. Wir melden uns dann bei Ihnen. Ihre Handynummer haben wir ja. Viel Glück und viel Erfolg für alles, was Sie tun.“ Annika strich über ihr Handy und beendete das Telefonat. Uschi rannte aufgeregt aus dem Bürozimmer. Nach zwei Minuten wussten alle in der Mordkommission Bescheid.