Die Architekten - Stefan Heym - E-Book

Die Architekten E-Book

Stefan Heym

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Beschreibung

»Stefan Heyms grandiose Abrechnung mit dem Stalinismus.« Hamburger Abendblatt

»Stefan Heyms grandiose Abrechnung mit dem Stalinismus« (Hamburger Abendblatt) führt mitten hinein in das Jahr 1956. Illusionslos und doch voller Poesie erzählt Heym die Geschichte des Stararchitekten Arnold Sundstrom, der seine ästhetischen Ideale längst verraten hat und baut, was die Partei will. Doch die berühmte Geheimrede, in der Chruschtschow mit den Verbrechen Stalins abrechnet, bringt auch Sundstroms Lebenslügen zum Vorschein. Seine junge Frau Julia, überzeugte Sozialistin, begreift, dass ihr bewunderter Ehemann ihre Eltern in den Tod geschickt hat. Heym erzählt, wie Menschen am Verlust einer sicher geglaubten politischen Moral zerbrechen, während andere sich längst aller Werte entledigt haben.

Stefan Heyms großer Roman über die korrumpierende Macht der Diktatur, bei C. Bertelsmann erstmals 2000 erschienen, endlich wieder lieferbar als Teil der digitalen Werkausgabe.

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Seitenzahl: 588

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Zum Buch:

Berlin, 1956, Arnold Sundstrom, Chefarchitekt der noch jungen DDR, ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere, als er mit der Planung eines monumentalen Projekts beauftragt wird, das vor allem der Verherrlichung des real existierenden Sozialismus dient. Einst Bauhausschüler hat Sundstrom seine künstlerischen Ideale längst verraten und baut, was den Parteibonzen gefällt. Doch schwerer wiegt der Verrat, den er an seiner Frau Julia begangen hat, als er deren Eltern im sowjetischen Exil denunzierte.

Sundstroms Lügengebäude beginnt zu bröckeln, als die Stalinära vorbei ist und Daniel Tieck auftaucht, ein Freund aus alten Zeiten, der viele Jahre im sibirischen Arbeitslager verbrachte.

In den 60er Jahren geschrieben, konnte Heym diesen Roman erst nach dem Mauerfall veröffentlichen. Und noch heute ist es ein erschreckend aktuelles Buch über die Amoralität der Macht im Osten wie im Westen.

Ein Lehrstück über die korrumpierende Kraft der Diktatur, spannend erzählt, mit sicherem Gespür für Effekte und einer beinahe journalistischen Ökonomie der Mittel.« Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Heyms Buch ist nicht nur ein Zeugnis seines gnadenlos scharfen Blicks für die Entstalinisierung der DDR: es hat auch verblüffend prophetische Qualitäten.« Die Zeit

Zum Autor:

Stefan Heym, geboren 1913 in Chemnitz, floh als kritischer jüdischer Intellektueller vor der Nazidiktatur nach Amerika. Während der McCarthy-Ära verließ er das Land und siedelte sich 1952 in der DDR an. Er war ein international hoch geschätzter Schriftsteller und streitbarer Publizist, der zu den bedeutendsten und erfolgreichsten Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur zählt. Er starb 2001 auf einer Vortragsreise in Israel.

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Stefan Heym

Die Architekten

Roman

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Copyright © 2000 Inge Heym

E-Book-Ausgabe 2021

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2000 by C. Bertelsmann Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

Copyright © dieser Ausgabe by C. Bertelsmann in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlagkonzeption und Gestaltung: Sabine Kwauka nach einem Entwurf von hafen Werbeagentur gsk

Umschlagmotiv: © Delpixel / Shutterstock.com

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Abiling

ISBN978-3-641-27823-6V002

www.cbertelsmann.de

VORBEMERKUNG

Die erste Fassung des Plans für den Roman »The Architects« enthält den Vermerk July 30, 1963. Der endgültige Plan, dem folgend das Buch geschrieben wurde, ist datiert vom 1. November desselben Jahres. Ende 1966, das mir vorliegende Manuskript trägt kein genaueres Datum, war der Roman dann fertig.

Nach Lage der Dinge war die Veröffentlichung eines solchen Buches in der damaligen DDR ausgeschlossen. Freunde brachten eine Kopie meinem englischen Verlag, Cassell’s in London. Cassell’s lehnten jedoch ab; wohl erschienen mir die Gründe für ihre Ablehnung wenig stichhaltig, aber was blieb mir unter den Umständen, als das Manuskript wegzuschließen – auf Zeit, wie ich glaubte.

Im Jahr 1999 dann lag ich nach einer Operation, die Komplikationen mit sich brachte, acht Wochen im Koma. Nur dank der Liebe und Hingabe meiner Frau Inge, die Tag um Tag viele Stunden an meiner Seite verbrachte und mir Lebenskraft gab, und dank der Erfahrung meines Sohnes Stefan, der die Röntgenaufnahmen meiner Lunge richtig zu lesen verstand, und durch das Geschick und die Energie mehrerer Ärzte des Virchow-Krankenhauses, die mich per Hubschrauber auf ihre Intensivstation holten, entkam ich dem Tod. Da dachte ich mir, dass es doch ratsam sein möchte, wenn ich vor einem endgültigen Exitus mein Werk noch komplett vorlegte; ich übersetzte »The Architects« also ins Deutsche und schickte die Übersetzung an meinen Verlag nach München.

S.H.

PROLOG

Bald würden sie in Brest eintreffen, hörte er einen der Wachposten sagen. Die Posten spielten Domino; sie hieben ihre kleinen schwarzen Steine krachend auf ein Brett, das sie sich quer über die Knie gelegt hatten, und rauchten Machorka. Der Waggon, für Güter und Pferde gedacht, nicht für Menschen, ratterte über die ausgefahrenen Gleise, und der Geruch nach Schweiß und Angst wollte sich nicht verziehen, obwohl die Belüftungsklappen unter dem Dach, so weit es ging, offenstanden und sogar die Ladetür in der Seitenwand um einen Spaltbreit beiseite geschoben worden war.

Brest, dachte er. Seit vergangenem Jahr – soviel war durch Gefängnismauern und über die sibirische Taiga gedrungen – waren Stadt und Festung Brest wieder sowjetisch. Jenseits von Brest lag die neue Grenze, lag das Großdeutschland der Nazis.

Die Unruhe, die ihn zermürbte, seit er erfahren hatte, daß er aus der Sowjetunion abgeschoben werden sollte, schien sich auf einen einzigen Brennpunkt in seinem Innern zu konzentrieren; und es kostete ihn viel Nervenkraft, um wenigstens ein Minimum an Gleichgewicht İn seinem Herzen zu wahren: Was, im Grunde, würde dem Genossen Julian Goltz denn Schlimmeres widerfahren als eine Art von Strafversetzung aus der Bratpfanne ins Feuer. Mit seinem Leben hatte er sowieso abgeschlossen. Der Tod von Babette, so grausam der Gedanke ihm auch erschien, hatte zugleich auch das Ende der Sorgen um seine Frau bedeutet; nur die Angst um Julia war geblieben, doch war sogar auch diese Angst nun leichter zu ertragen, da er hoffen durfte, daß Sundstrom, mit seinem Talent und seinen Beziehungen, einer Verhaftung entgangen war und so sich des Kindes annehmen konnte. Sein eigener Weg verlief da simpler: Nur noch eine kurze Zeremonie stand ihm bevor an der Grenze – ein Akt freundlicher internationaler Zusammenarbeit, durch welchen eine Großmacht einer anderen einen unbequemen Kommunisten geheimpolizeilich übergab – und dann würde er zu neuen Verhören geschafft werden, Verhören nun nicht mehr durch Dmitrij Iwanitsch oder Iwan Dmitritsch, sondern durch deutsche Verhörer in einem deutschen Gefängnis, oder einem Lager, und irgendwann würde es wohl auch zu einer Wiederbegegnung kommen mit Genossen, die er seit sieben Jahren, seit 1933 genau, nicht mehr gesehen hatte: Überlebenden, wie er selber einer war.

Der schmale Streifen Landschaft in der offenen Schiebetür des Waggons begann zu schwanken. Das Herz in seiner Brust zog sich zusammen: Was würde er diesen Genossen sagen?

Das war ein ganz neuer Gedanke, der ihn auf eine ganz neue, eigenartige Weise erschreckte.

Die Wahrheit? Durfte er ihnen die Wahrheit sagen: daß er und Babette verhaftet worden waren wie Volksfeinde, um vier Uhr morgens, vier Uhr zehn, genauer; und weggesperrt wurden; und daß man sie hungern ließ und geschlagen hatte; und daß man sie am Schlafen gehindert hatte während des Tages und sie nächtens verhörte, Nacht um Nacht, bis Schmerz und Erschöpfung auch die letzte Gehirnwindung erfüllten …? Daß man all dies ihnen getan hatte, um Geständnisse von ihnen zu erpressen von Verbrechen, die ihnen niemals auch nur eingefallen wären, wobei Iwan Dmitritsch und Dmitrij Iwanitsch ihnen Stunde um Stunde die gleichen gelben, linierten Bogen Papier hinschoben zur Unterschrift …? Daß man ihn hatte verfaulen lassen in einem stinkenden Loch, in welches man ihn mit einer ständig wachsenden Anzahl ebenso stinkender Menschen hineingepfercht hatte – Mensch, wie stolz das klingt!, hatte Gorki einmal gesagt –, mit verwirrten und verstörten Geschöpfen, die blind vor sich hinstarrten oder in schrille Hysterie verfielen und sich um einen Löffel voll Fraß prügelten; Menschen, wie er selber einer war, die auf irgendwelche von irgendeiner anonymen Dienststelle irgendwann getroffenen Entscheidungen warteten …?

Und diese Wahrheit Genossen bekennen, die ähnlich Fürchterliches erlebt hatten wie er und doch sich aufrecht erhalten hatten in dem bedingungslosen Glauben an das Land, dessen Gebiet hier, hinter Brest, endete, und an die Idee, aus der dieses Land geboren worden war – Genossen, die sich an die lichte, herrliche, glorreiche Zukunft klammerten, die von dieser Idee ausging …? Genossen in Sachsenhausen oder Buchenwald oder Dachau, die diesen ihren Glauben sodann abzuwägen haben würden gegen seine Aussagen – die Aussagen von Julian Goltz, Kommunist, ehemals Mitglied des Reichstags, und darauf nur zu dem Schluß kommen konnten, daß er genau das war, was er Dmitrij Iwanitsch und Iwan Dmitritsch zu gestehen sich stets standhaft geweigert hatte: ein Verräter an der Sache …?

Der Gedanke war ihm neu, und war ihm bis jetzt entgangen, verzeihlicherweise, besorgt wie er gewesen war um sein Kind Julia, welches Sundstrom hoffentlich zu sich genommen hatte, und in Trauer um Babette, die in ihrer winterlich kalten Zelle verstorben war, und angewidert von der Monstrosität, zu der seine Partei, seine kommunistische Partei, sich entwickelt hatte. Da war, neben der physischen Tortur, die Seelentortur gewesen, die Gewissensqual durch die Widersprüche zwischen seinem Pflichtgefühl und seinem Durst nach Leben, und er fragte sich, ob dieses die Erfindung irgendeines Polizeigehirns war oder eher eine zufällige Folge jenes Pakts, der in Moskau unterzeichnet und mit Mengen besten Krimsekts besiegelt worden war zwischen Molotow und Ribbentrop.

Die neue Situation war in der Tat pervers. Zunächst hatte er es ja bedauert, daß sein Tag vor Gericht – der Tag, den jeder normale Kriminelle erhielt –, ihm durch die Verfahrensweise von Dmitrij Iwanitsch und Iwan Dmitritsch versagt worden war; nun aber würde ihm dieser Tag doch noch zuteil werden; das Gericht jedoch würde in einem deutschen Konzentrationslager tagen, und die eignen Genossen würden die Richter sein, obwohl sie die Fakten, die seinem Fall zugrunde lagen, von Rechts wegen gar nicht anerkennen durften.

In der Sowjetunion, so würden die Genossen sich selber einreden müssen, wird keiner ohne gute und ausreichende Ursache verhaftet. Oder lag hier menschlicher Irrtum vor? Bitte sehr, so etwas mochte es auch unter den besten Umständen geben. Aber jeder Moskauer Untersuchungsrichter hätte derart Fehlverhalten bald genug aufgeklärt und korrigiert. Zwar könnte er den Genossen auf deren Einwand hin erwidern: Genau das habe auch ich selber einst geglaubt – und könnte ihnen dazu eine kurze Schilderung von Dmitrij Iwanitsch geben, lang, hager, mausgraues Gesicht, mit fahlen Augen und faserigem Haar, wie der seine eintönigen Fragen von ein Uhr nachts bis fünf Uhr morgens in steter Folge herunterbetete, interpunktiert nur von den Schlägen seines metallenen Lineals auf die nackte hölzerne Platte seines Schreibtischs, und geduldig wartete, daß seine monotone Befragung endlich Wirkung zeigte auf die gespannten Nerven seines Opfers, oder, falls ihm die Stimme ermüdete, die Befragung seinem Partner Iwan Dmitritsch übertrug. Und würde dann Iwan Dmitritsch zu beschreiben suchen, untersetzt, den glattrasierten Schädel bläulich glänzend, den gleichgültigen Blick hinter den dicken Gläsern seiner Brille, die Zunge an den braunen Zahnstümpfen saugend … Würde man ihm solche Gestalten glauben, sowjetische gar, mit solchen sowjetischen Methoden, und was sie einem Menschen antun konnten?

Doch seine Richter würden ja wohl ähnliche Erfahrungen gehabt haben, durfte er annehmen. Nein, doch nicht ganz. Sie würden eine deutsche Hölle durchlebt haben, veranstaltet von einer Polizei, die nicht vorgab, die gleiche Sache wie sie zu vertreten; ihren hochnotpeinlichen Verhören waren sie nicht ausgesetzt worden von Kerlen, die behaupteten, den gleichen Sozialismus zu vertreten, von dem sie selber geträumt hatten. Eine deutsche Hölle und daher weniger schmerzhaft als seine es gewesen war, fast angenehm in der Tat. Und just darum würden seine Genossen Richter nicht glauben dürfen, daß es in der Sowjetunion Individuen wie Dmitrij Iwanitsch und Iwan Dmitritsch gab, ebensowenig wie die metallenen Lineale, mit denen sie dauernd auf den Tisch geschlagen hatten, oder gar zugeben, daß in der Sowjetunion Menschen existierten – zu Tausenden? Hunderttausenden? –, die zwischen derart Mühlsteinen zerrieben wurden. Noch würden seine Richter in Deutschland von den Stiefelabsätzen erfahren wollen, deren Marschtritt bei Morgengrauen in den Korridoren jenes Moskauer Hotels erschallte; und von dem kalten Schweiß auf den Stirnen der Gäste, während diese den Schritten vor den Türen ihrer Zimmer lauschten und dabei zu ihrem Gott beteten, wenn sie einen hatten, die Schritte draußen möchten noch einmal gnädig vorbeiziehen an ihrer Tür. Und wahrhaftig, es wäre besser für die Genossen, wenn sie von all dem nichts erführen …

Er wurde sich der Geräusche, die ihn jetzt umgaben, wieder bewußt. Die Räder des Waggons ratterten wie vorher gegen die Schienen, die Dominosteine knallten mit unverminderter Kraft auf das Spielbrett. Seine Mitgefangenen sprachen zueinander mit unterdrückter Stimme – nichts Wichtiges, soweit er sie verstehen konnte. Er hoffte, die Gedanken, mit denen er sich zermarterte, würden ihnen gar nicht in den Kopf kommen.

Draußen, vor der halboffenen Schiebetür des Waggons, schwankten die Birken langsam vorbei, weiße, schlanke Stämme, das Oktoberlaub goldgelb; dann eine Bauernhütte mit niedrigem Dach. Die Pastellfarben am Horizont deuteten die Weiten dieses Landes an, dieses Landes, das er liebte, seit er es zum ersten Mal betreten hatte, seit seinem ersten Wort zu dem ersten Sowjetsoldaten, dem er begegnet war, dem brüderlichen Wort, Towarischtsch. Er war mit Parteiauftrag gekommen; er sollte auf die Krim fahren, um sich die Lungen zu kurieren, die Lungen, die er sich ruiniert hatte in den langen Nächten, in denen er sich an die feuchte Erde der Grenzwälder zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei hatte pressen müssen.

Er starrte auf die vorbeigleitende Landschaft und lächelte müde. Wie einfach die Dinge ihm damals erschienen waren: eine klare Front mit klaren Fragen; sein einziger Zweifel ergab sich aus dem Warum jener Niederlage, die ihn – dessen Stimme die Massen auf den Plätzen Dutzender deutscher Städte in Leidenschaft und dessen beißende Reden im Parlament seine Gegner in Rage versetzt hatten – zu einem Spezialisten für Schmuggel und illegale Grenzüberschreitungen hatten werden lassen. Er hatte schmerzlich lange gebraucht, um zu erkennen, daß nichts mehr klar und einfach war. Und sogar nachdem Dmitrij Iwanitsch und Iwan Dmitritsch zu Alltagserscheinungen in seinem Leben geworden waren, versuchte er immer noch sich selber zu überzeugen, daß es sich in seinem Fall um einen administrativen Irrtum handeln mußte oder um eine feindliche Intrige. Er hatte Feder und Papier erbeten, um seinem Freund Arnold Sundstrom zu schreiben und den prominenteren Genossen in der Parteigruppe der deutschen Emigration. Einmal hatte er sogar geplant, sich an den Genossen Stalin zu wenden: nicht mit einer persönlichen Beschwerde, sondern mit einer ruhigen, grundsätzlichen Analyse, die dem Genossen Stalin die Willkür seiner Polizei aufzeigen sollte, die Entstellungen in der Praxis seiner Justiz, den bösen Hohn auf jede sozialistische Gesetzlichkeit, damit nämlich der Genosse Stalin mit einem einzigen Machtwort diesen ganzen Alptraum hinwegfegen könne.

Aber als er dann die Gelegenheit erhielt, Iwan Dmitritsch und Dmitrij Iwanitsch besser kennenzulernen, sah er, daß sie keineswegs etwas Persönliches gegen ihn hatten, sondern einfach kleine Rädchen waren in einer großen Maschinerie, die nach festgelegten Linien und auf zentrale Anweisungen hin funktionierte. Also gab er den Gedanken an eine Veränderung der Dinge durch Bittschriften auf und konzentrierte jeden Nerv und jede Zelle seines Wesens auf den festen Entschluß zu überleben.

Nach weiterem Nachdenken sah er ein, daß es sinnlos war, Arnold Sundstrom zu gefährden, indem er ihm schrieb. Sundstrom würde schon tun, was er konnte, ohne dazu besonders aufgefordert zu werden. Als ein Genosse nach dem anderen verschwand von denen, die sie kannten und denen sie vertrauten, hatten er und Babette und Sundstrom gewisse Möglichkeiten besprochen – apropos und ohne zunächst die bedrohliche Wirklichkeit gänzlich ernst zu nehmen. Aber da war das Kind gewesen, und Babette war schließlich zur Sache gekommen. »Du würdest dich um sie kümmern, Arnold, nicht wahr, falls mir oder Julian etwas zustieße?« Arnold Sundstrom hatte die Tischlampe um ein geringes verschoben, so daß das Licht auf Julia fiel, die in dem Kinderbett am Fußende des ehelichen Bettes schlief, und hatte die weichen Locken und die schlafgeröteten Wangen des kleinen Mädchens betrachtet und gesagt: »Ich verspreche euch das, es sei denn, ich werde durch force majeure daran gehindert …«

Er versuchte, sich des genauen Gesichtsausdrucks seines Freundes Arnold in jenem Moment zu erinnern. Aber dessen Züge blieben unbestimmt und zusammenhanglos, irgendwie im Abstrakten: die Augen, die gewöhnlich ein wenig zuviel von seinem Gefühl ausstrahlten, die edle Nase, die vollen Lippen über dem Cäsarenkinn, die Löwenmähne. Force majeure? … Arnold Sundstrom, Architekt und Revolutionär, war nicht der Mensch, sich irgendeiner force majeure zu beugen; gewöhnlich fand er Kraft und Gelegenheit, den Arm des Schicksals zu beugen, oder wenn nicht den Arm, dann doch ein paar Finger. Das Kind würde in sicheren, guten Händen sein; das war wenigstens ein Trost; und er hoffte, daß Babette in ihrer eisigen Gefängniszelle um ein geringes leichter gestorben war in diesem Bewußtsein.

Das Rattern der Räder klang plötzlich anders; ein paar schmutzige Gebäude kamen in Sicht; in der Entfernung war das Rund eines grasbewachsenen Hügels zu sehen, der dem Grabmal eines prähistorischen Häuptlings ähnelte: wahrscheinlich ein vorgeschobenes Fort der Festung Brest. Die Wachmannschaften sammelten ihre Dominosteine ein; dann nahmen zwei von ihnen Aufstellung in der Tür, Gewehr bei Fuß. »Brest!« wiederholte einer; die Gespräche der Gefangenen erstarben.

Er spürte den plötzlichen Stich im Herzen und schloß die Augen. Nicht daß er just jetzt besondere Furcht empfunden hätte in Vorausahnung der Fragen, die ihn erwarteten, Fragen, die seine Genossen ihm stellen würden drüben in den deutschen Lagern, schwierigere Fragen noch als die, mit denen Dmitrij Iwanitsch und Iwan Dmitritsch ihn je verfolgt hatten. Und was war mit seinen eigenen geheimen Fragen; was mit dem Moment, da die Schläge des Lineals auf die Schreibtischplatte ersetzt worden waren durch milde Rede, mit welcher Iwan Dmitritsch und Dmitrij Iwanitsch ihn zu überzeugen suchten, daß die Unterzeichnung seines Geständnisses, wenn er’s richtig überlegte, eigentlich seine revolutionäre Pflicht wäre, und sein abgestumpftes, erschöpftes Hirn auf einmal einen weiteren neuen Gedanken hervorbrachte: ob nämlich dieses alles noch als eine Revolution zu betrachten war oder nicht vielmehr als eine historisch beispiellose, wildgewordene Konterrevolution.

Die Kupplungen klirrten, der Zug hielt an. Dampf zischte aus der Lokomotive; die allen Bahnhöfen eigenen Geräusche wurden allmählich leiser und verebbten schließlich ganz, so als hätten die Menschen auf dem Bahnsteig, die Eisenbahnarbeiter und Schaffner und wer sonst noch sich auf einen Kordon des Schweigens um diesen einen, besonders bewachten Waggon herum geeinigt. Jede Sekunde erwartete er das heisere »Dawaj! Dawaj!« der Wachen zu hören und die Mündungen ihrer Gewehrläufe gegen seine Rippen zu spüren; aber die Männer lehnten immer noch gegen die Türpfosten, ihre Stiefelschäfte müßig gekreuzt.

Diese Stiefelschäfte brachten ihm das Schreckbild wieder ins Gedächtnis, das ihn so lange verfolgt hatte: genau derart Stiefel in einer anderen geöffneten Tür. Dann hatten die Stiefel ihm Platz gegeben, und er hatte das eiserne Bettgestell erblickt, und die verschmutzte Decke über dem abgemagerten Leib, und Iwan Dmitritsch, der die Decke von dem Gesicht wegzog, das, Gott sei Dank, keine Ähnlichkeit mehr aufwies mit dem von Babette, außer der Form der Ohren und der Reihe weißlicher Zähne zwischen ihren verzerrten Lippen, und Dmitrij Iwanitsch, der ihm mit feierlicher Stimme mitteilte: »Ihr feindlich-negatives Verhalten, Genosse Goltz, ist mitverantwortlich für den Tod Ihrer Frau.« Doch der erwartete Schock und die Wirkung blieben aus, welche sich die beiden von ihren Worten erhofften. Der Tod ist ein schlechter Bildner; die Masken, die er uns hinterläßt, beweisen nur, wie sehr er das Leben entstellt.

Der Waggon wurde abgekoppelt; er hörte, wie der Rest des Zugs davonfuhr, dann näherte sich eine andere Lokomotive, und er hörte den vorsichtigen Aufprall ihrer Puffer auf die des Waggons. Wahrscheinlich würde man die Gefangenen nicht umsteigen lassen, solange Lokomotive und Waggon sich noch innerhalb des Bahnhofs befanden: welch schönes Taktgefühl seitens der Behörden, der sowjetischen!

Nie zuvor hatte er diese Behörden als Muster von Diskretion erlebt; doch immer, dachte er, gibt es ein erstes Mal. Eines Nachts, nach einem besonders bösartigen Angriff Dmitrij Iwanitschs, hatte er plötzlich aufgeschrien: »Aber ihr habt doch nicht den geringsten Beweis für eure Anklagen gegen mich!« Dmitrij Iwanitsch, mehr über die Naivität dieses Protests als über dessen Unverschämtheit erstaunt, blickte ihn an aus seinen fahlen Augen und erwiderte: »Wünschen Sie zu behaupten, daß die Sicherheitsbehörden der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken ohne gute und genügende Gründe Strafverfolgungen von Menschen einleiten?« Er hatte seine Antwort, dachte Goltz, eher allgemein gehalten, und Iwan Dmitritsch schien den Mangel an Überzeugung in seinen Worten zu spüren. Er legte seine dicken Finger auf Dmitrij Iwanitschs Arm, als wolle er diesem bedeuten, daß er die Befragung zu übernehmen wünsche, und sagte: »Was hat es mit diesen Telegrammen auf sich, Genosse Goltz?«

»Wovon reden Sie?«

Der kugelförmige, bläuliche Schädel senkte sich gefährlich, aber die Stimme blieb unverändert geduldig. »Im Jahr 1935, in Prag, Genosse Goltz, erhielten Sie ein Telegramm mit der Nachricht vom Tode Ihres Vaters, richtig?«

»Ja.«

»Und 1939, jetzt aber in Moskau, erreichte Sie wieder ein Telegramm, und wieder aus Deutschland, und wieder mit dem gleichen Inhalt?«

»Aber –«

Das Lineal knallte auf die Tischplatte und hielt ihn davon ab, auf diese Frage hin die gleiche, im übrigen durchaus wahre und logische Erklärung ein übriges Mal zu wiederholen, die er Dmitrij Iwanitsch und Iwan Dmitritsch so oft schon gegeben hatte.

»Wie viele Väter hatten Sie?«

»Aber –«

Wieder das Lineal. »Würden Sie bitte auf die Fragen antworten, die wir Ihnen stellen?«

»Einen.«

»Also dann …!« Dmitrij Iwanitsch, der sich wieder am Verhör zu beteiligen gedachte, hatte sich zu seiner vollen, hageren Höhe erhoben, halb Drohgebärde, halb Geste von Selbstgerechtigkeit. Aber Iwan Dmitritschs Hand auf seinem Arm hielt ihn zurück, und Iwan Dmitritsch selber, unpersönlich hinter seiner dicken Brille, gab die einzige Grundsatzerklärung ab, zu der er sich während sämtlicher Verhöre des Genossen Goltz herabließ. »Dmitrij Iwanitsch und ich«, sagte Iwan Dmitritsch, »sind ein sehr gutes Team; eines der besten, würde ich meinen, auf unserm Gebiet. Lassen Sie mich Ihnen daher versichern, Goltz, daß wir von Ihresgleichen Geständnisse schon erlangt haben mit viel weniger Indizien, als uns in Ihrem Fall zur Verfügung stehen.«

Er stellte sich vor, er zitierte diese Feststellung den deutschen Genossen, die am Ende seiner Reise mit ihrem Gericht auf ihn warteten, und fragte sich, welchen Eindruck das Zitat wohl auf sie machen würde; und er bemitleidete sie. Warum nur hatte er soviel Anstrengung darauf verwendet, um mit sich im reinen zu bleiben und trotzdem zu überleben – warum hatte er Iwan Dmitritsch und Dmitrij Iwanitsch die kleine Gefälligkeit nicht getan: hier mein Geständnis, ein Federstrich, und Schluß. So blieb ihm als Alternative nur, die Stützen entweder für die moralische Existenz der deutschen Genossen ihnen unter den Füßen wegzuschlagen – oder sich selber …

Er zuckte zusammen. Der Waggon bewegte sich wieder. Am Ende des Bahnsteigs sah er eine neugierige Bauersfrau stehen, Kopftuch übers Haar geknüpft, dann ein letztes Bahnhofsschild, die Buchstaben undeutlich, Brest. Und dann ein Klappern und Rumpeln, als Lokomotive und Tender, samt dem Waggon, über ein paar Weichen fuhren. Im Halbdunkel des Waggons begann eine Frau hysterisch zu jammern, je schneller die Fahrt wurde, desto lauter. Die Wachen bewegten sich. »Dawaj!« rief einer. »Greift euch eure Sachen.«

Sein Bündel war leicht genug. Es gibt Momente im Leben eines Mannes, da er alles, was ihm von Bedeutung ist, in seinem Innern bei sich trägt. Er hörte, wie die Hysterie sich ausbreitete. Einer der Wachposten kam unsicheren Schritts und begann, mit seinen Stiefeln auf die Leiber im Stroh einzutreten. Das Geheul und Gewimmere verstummte; die Menschen richteten sich auf und standen, schattenhafte Figuren, die mitschwankten mit dem Schwanken des Waggons und Halt suchten einer am andern. Er sah jede Einzelheit, scharf gezeichnet wie auf einem Kupferstich: den hölzernen Boden, abgestoßen und zersplittert von tausend Ladungen; die mißgestalteten Füße einer Frau, verfärbt noch vom Frost des letzten Winters; ein paar Augen, getrübt bis ins Gelbliche; und draußen eine Landschaft, die nichts war als ein riesiges freies Schußfeld für unsichtbare Kanonen, kein Haus darauf, kein Baum, kein Busch, eine einzige schiefe Ebene bis zum Ufer des bleiern dahinkriechenden Flusses. Das alles sah er und sah es doch nicht; sein Hirn klammerte sich wie im Krampf nur um einen Gedanken: Es muß eine Antwort geben, die ich finden kann, eine gültige Erklärung dafür, wie all das geschehen konnte, was geschah, und wie ein Mensch den Glauben an sich selber und an seine Sache behalten kann trotz aller Dmitrij Iwanitsche und Iwan Dmitritsche – nicht nur behalten kann, sondern muß! Muß! Aber die Antwort wollte ihm nicht einfallen, und die Erklärung entging ihm, und die Bremsen des Waggons kreischten hinein in seine Gedanken, und er wurde gegen jemanden geschleudert, der laut zu fluchen anfing.

Dann folgte ein Durcheinander: Die Menschen wurden hinausgestoßen aus dem Waggon, drunten stolperten sie umher, wurden wieder zusammengetrieben, es gab Faustschläge, Wehgeschrei, Rufe – »Dawaj! Dawaj!« Da war eine Brücke, getragen von teils schon verrostetem Stahl; von einer Seite zur andern verlief ein Eisenbahngleis; auf der gegenüberliegenden Seite wartete eine Gruppe Uniformierter, behelmt und bewaffnet. Er schritt das Gleis entlang, als träumte er; nur seine Füße suchten die Realität zu ertasten, die Realität der dicken hölzernen Schwellen zwischen den zwei Schienen. Plötzlich lachte er auf: Seine Phantasie hatte ihm ein neues Bild vorgespielt, die Brücke, doch jetzt ihr stählernes Gerüst bepflastert mit Gedenktafeln ganz ähnlich den Tafeln an der Kremlmauer, und auf einer der Tafeln sein Name, Julian Goltz, und das Datum, 12. Oktober 1940. Jenseits der Tafeln erblickte er den Fluß, dessen Wasser die Äste und Steine und alles mögliche Strandgut an seinem Ufer umspülten, und die Gestalten vom anderen Ende der Brücke, die auf ihn zumarschiert kamen. Die Antwort, dachte er. Was war die Antwort und wo war sie zu finden?

Und dann dachte er an Julia, ihre vom Schlaf noch geröteten Wangen, ihr Haar, weich und lose gelockt auf dem Kissen. Er atmete tief und fing an zu laufen.

Rufe. Er erreichte das Brückengeländer und war schon dabei, das eine Bein darüberzuschwingen. Unten auf dem Wasser widerspiegelten sich zwei Wolken, die eine weiß, die andere rosagerändert von der Sonne, welche sich hinter ihr verbarg. Die Brücke erschien ihm abnorm hoch.

Von welcher Seite, dachte er, würde die erste Kugel geflogen kommen; dann spürte er sie, ein einziger großer Schmerz.

KAPITEL 1

Julia liebte ihren neuen Pelz.

Es war ihr, als hätte dieser Pelz ein eigenes Leben. Sie zog ihn dicht um sich, verkroch sich in ihm und spürte, wie seine Wärme eins wurde mit der Wärme ihres Körpers. Dabei hatte sie ein Gefühl des Geborgenseins, ein Gefühl, das weit zurückreichte in ihre Kindheit: damals, als sie eingehüllt gelegen hatte in weiche Decken wie eingesponnen in einen Kokon, und Stimmen in einem Ton, von dem ihr nur noch ein Echo geblieben, ihr Zärtlichkeiten zuflüsterten, deren Wortlaut sie lang schon vergessen.

Seit dem späten Nachmittag bereits hatte es geschneit; jetzt ließ der Schneefall nach. Die Flocken lagen glitzernd unter dem Schein der Bogenlampen, der die Straße und den Parkplatz vis-à-vis in eine silberne Fläche verwandelte, auf welche die Autos, die lautlos angefahren kamen, ihre Spuren zeichneten. Die Menschen, die sich über die Fläche bewegten, schritten wie auf einem dicken Teppich in Richtung der breiten Stufen zum Portal des Rathauses. Durch das Glas der Flügeltüren hindurch erkannte Julia den gewollt gleichgültigen Gesichtsausdruck der beiden jungen Leute İn Schwarz, die diskret die Eintretenden musterten. Aber selbst dieses gehörte zu der festlichen Atmosphäre und paßte auffallend zu den bunten Lichtsegmenten, die durch die bleigefaßten Butzenscheiben der hohen gotischen Fenster schienen, und dem Rot und Gold der Fahnen, das sich so sauber von dem Weiß draußen abhob, und zu dem Rascheln des Tafts und der chinesischen Brokate der Damen, die solcherart bekleidet an ihr vorbeizogen.

Dann entdeckte sie Arnold; er winkte ihr vom Parkplatz her zu. Er trat vorsichtig auf, wollte offenbar vermeiden, daß ihm der Schnee in seine Lackschuhe geriet. Er trug keinen Hut; in der Tat besaß er gar keinen; an den wenigen Tagen im Jahr, wenn das Wetter in diesem Teil der Welt wirklich zu kalt wurde, um barhaupt ins Freie zu gehen, setzte er sich die alte Pelzmütze auf, die er aus Moskau mitgebracht hatte. Sein Haar war voll wie je; vor ein paar Jahren war es grau an den Schläfen geworden – sein Diplomatengrau, nannte er es, ohne mehr Wesens davon zu machen als von der Differenz zwischen ihrem Alter und seinem. Ihr Blick folgte ihm, wie er das Stück Straße überquerte, das für den allgemeinen Verkehr gesperrt war; die grünbemäntelten Polizisten, ob sie nun wußten, wer er war oder nicht, salutierten ihm, und mehrere der Gäste, die, in Anbetracht der Stunde, eine gewisse wohltemperierte Eile gezeigt hatten, blieben stehen, um ihn mit »Guten Abend, Genosse Sundstrom!« zu begrüßen oder »Wie geht’s, Herr Professor?«

Julia war sich, während sie von der Vortreppe des Rathauses aus die Szene beobachtete, durchaus im klaren, wieviel Unterwürfigkeit sich in diesem Gebaren zeigte und wie deutsch das Ganze war; dennoch verschaffte es ihr auch Genugtuung: Schließlich gab es in dieser Stadt genug steinerne und zementene Zeugnisse für ihres Arnolds berechtigten Anspruch auf Anerkennung. Sie liebte ihn von ganzem Herzen in diesem Moment, und nicht so sehr um des Respekts willen, den man ihm allgemein entgegenbrachte, sondern weil er so überzeugt war von sich und seiner Tatkraft, so stark, so selbstsicher. Und so völlig der ihre, als er jetzt auf sie zutrat, seine Hand auf die Innenseite ihres Ellbogens legte und ihr sagte: »Du strahlst ja geradezu, Liebste.«

Die zwei schwarzgekleideten jungen Männer hielten die Tür auf für sie und ihn. Er bestätigte den kleinen Dienst mit einem freundlichen Kopfnicken und führte sie zur Garderobe im Parterre. Die kleine alte Frau hinter dem Tresen ließ die anderen Gäste stehen und eilte zu ihnen beiden, um seinen Mantel in Empfang zu nehmen, und wartete dann, bis er Julia den Pelz von der Schulter gestreift hatte. Ein kurzer, prüfender Blick im Spiegel auf das Geblink der Orden an seinem Smoking; dann bot er Julia seinen Arm, wiederholte: »Du siehst strahlend aus, wirklich!«, und führte sie die weite, teppichbelegte Treppe hinauf.

Sie spürte die Blicke, die ihn und sie musterten und schließlich auf ihr haftenblieben. Sie hatte beabsichtigt, eher unauffällig zu bleiben, und versuchte, die natürliche Bewegung ihrer Hüften so gut es ging zu unterdrücken.

»Glücklich?« fragte er.

»Sehr.«

Er betrachtete sie. War ihr klar, wie verführerisch sie war?

»Glücklich«, sagte sie. »Sollte ich etwa nicht glücklich sein? Heute ist dein Glückstag.«

Er verzog das Gesicht, als traute er seinem Glück nicht so ganz.

»Und da sind die vielen Lichter«, fuhr sie fort, »die Farben, die Menschen … Es ist schon ein Unterschied zwischen den Entwürfen eines Architekten und wie der Raum dann wirkt, wenn er mit Leben erfüllt ist. Dann erst kannst du erkennen, ob deine Arbeit gut war oder nur Mittelmaß.«

Sie war zu eifrig, dachte er – oder naiv, nach Art jener Jugend, die dem Ruf der Partei gefolgt war, um Neuland unter den Pflug zu nehmen in Sibirien oder die zerstörten Städte der Ukraine wiederaufzubauen. Diese simplen, aber äußerst nützlichen Reaktionen waren das Resultat der Erziehung, die man den jungen Leuten ganz bewußt hatte angedeihen lassen, immer die gemeinsame Sache im Auge, das gemeinsame Ziel. »Und dieses hier«, fragte er, »fügt sich ein in das Ganze, glaubst du?«

Sie blieb ein paar Stufen unterhalb des Treppenabsatzes stehen und blickte in die Runde. Sie hatte mitgearbeitet an der Einteilung und Gestaltung der Räumlichkeiten bei der Rekonstruktion des Rathauses, das zum erheblichen Teil zerstört worden war im Kriege. Hinter dem Marmor und den Bronzedekorationen sah ihr geistiges Auge die Präzision der Linien auf ihren Zeichnungen und Entwürfen; aber er ließ ihr nicht die Zeit, eine Antwort auf seine Frage zu finden; fast schien es, als habe er die Frage selber bereits vergessen – in der oberen Vorhalle, ihr Lächeln festgefroren auf steifen Gesichtern, warteten die Gastgeber des Abends, sie zu begrüßen.

Der Oberbürgermeister, Genosse Riedel, betrachtete Julia unter schweren Lidern hervor; seine bläulichen Lippen bewegten sich, als wolle er etwas sagen, während sein schlaffer Händedruck sie berührte. Julia schob sich weiter zur Genossin Tolkening. Untersetzt und fleischig wie sie war, machte Elise Tolkening die Bemühungen selbst der besten Maßschneiderinnen, staatlicher wie privater, zuschanden; trotz ihrer wenig attraktiven Figur aber war sie imstande gewesen, den Genossen Tolkening all diese Jahre hindurch an sich zu binden, während derer andere Genossen, gleich ihm zurückgekehrt aus dem Exil oder aufgestiegen aus den niederen Positionen im Lande, sich abwandten von den altersgezeichneten Kameradinnen ihrer vergangenen Kämpfe, um ihre Sekretärinnen zu ehelichen oder gar irgendwelche Damen vom Theater.

»Vielleicht, Genosse Sundstrom«, sagte Tolkening, »können wir heute abend ein paar Minuten finden füreinander.«

Wenn er wollte, hatte Tolkening ein schlaues, beinahe konspiratives Lächeln parat, das den Eindruck schuf, als verbinde ihn ein gemeinsames Herzensgeheimnis mit seinem jeweiligen Gesprächspartner. Diesmal schloß sein Lächeln auch Julia ein. Ihr Herz schlug schneller: Berlin hatte entschieden! Wie durch einen Nebel hindurch sah sie neue Gäste in den Bankettsaal strömen – war da nicht John Hiller mit seinem sarkastischen Mund und den schmalen, fast knabenhaften Schultern? – hatte Arnold ihm eine Einladung beschafft? … Dann wurde auch sie in den Bankettsaal gedrängt und geriet in ein Gewirr von Leibern, die auf dem Parkett einem gemeinsamen Ziel zustrebten.

Dies war keineswegs der erste offizielle Empfang, an dem sie teilnahm. Das anfängliche Gedränge, wußte sie, würde sich bald geben, sobald die üblichen Reden gehalten und die üblichen Toasts getrunken waren; jetzt jedoch widerte der Druck sie an, der würdelose, in Richtung der langen weißgedeckten Tische, die mit tranchierten Rehrücken beladen waren und großen Platten, auf welchen Hummer und Räucherschinken prangten, und mit Schalen voller Orangen und Bananen, besonders importiert für den Abend. Arnold, ein Veteran öffentlicher Veranstaltungen der Art, stemmte sich gegen die Phalanx von Uniformen, um die zwei Gläser Wein, die er erobert hatte, wenigstens noch halb voll zu Julia zu bringen. Julia ihrerseits strebte ihm entgegen, erreichte aber nur, daß die nächste Tischkante sich ihr in die Hüfte bohrte. Vor ihren überraschten Augen entnahm eine blaugeäderte, mit roten Fingernägeln und schweren Ringen bestückte Hand drei, vier, fünf Orangen aus einer der Schüsseln und ließ diese in einen bauchigen goldbestickten Abendbeutel gleiten. Dann begann der Lautsprecher Unverständliches zu quäken; der Diskant und das periodische An- und Abschwellen der Stimme waren deutliche Indizien der Rhetorik des Genossen Tolkening. Die Antwortrede des Leiters der sowjetischen Delegation, dessen Gestalt Julia hinter der Menge der Anwesenden verborgen blieb, war kürzer als Tolkenings, aber nicht kurz genug; ein beträchtlicher Teil der Gäste hatte sich Messer und Gabeln und Teller gegriffen und auf das Buffet gestürzt.

»Fütterungszeit im Zoo!« kommentierte jemand. Julia wandte sich um und erkannte Axel von Heerbrecht, der sie angrinste. Was wußte Heerbrecht, dachte sie – verwöhnter Kerl, der sich soviel auf seine Feuilletons am Rundfunk einbildete –, was wußte er von dem Hunger, den andere – darunter sie, Julia – so lange erfahren hatten; wie viele Jahre war es her seit dem Kriege? Zehn, fast elf. Und von diesen zehn, wie viele waren magere Jahre gewesen? Und von den Menschen, die sich an den Tischen dort ihre Bäuche vollstopften, wie viele hatten nicht nur ein paar Jahre gedarbt, sondern ein ganzes Leben?

»Hallo, schöne Frau!« Heerbrechts Blick wanderte über sie, »wir haben eine Nische gefunden, wo man sich wenigstens in Ruhe unterhalten kann – Käthchen Kranz und Warlimont vom FDJ-Zentrallager und ihr Freund John Hiller …«

Sie unterdrückte eine Grimasse. John Hiller hatte seinen Schreibtisch in einem Studio neben dem ihren, aber zu ihren Freunden zählte er nicht. »Ich warte lieber hier auf meinen Mann«, sagte sie.

Heerbrecht verbeugte sich leicht. »Soll ich gehen und ihn holen?«

»Danke – nicht nötig.« Julia erblickte Arnold, der sich gerade aus der Menge befreit hatte, die zwei Gläser Wein, seine Beute, immer noch in den Händen. »Ach, Heerbrecht!« grüßte er leichthin und bot Julia das eine Glas. »Ich hab versucht, auf geradem Weg zu dir zu kommen«, er zuckte die Achseln, »aber man hat mich von allen Seiten umringt und hin und her gestoßen, und ich bin beim Tisch des Genossen Tolkening gelandet …«

Heerbrecht schniefte spöttisch. »Dann darf man wohl gratulieren?«

Sundstrom ärgerte sich. »Ich hatte nicht die Absicht, mich an Tolkenings Tisch zu setzen. Ich bin dorthin gelangt durch höhere Gewalt sozusagen.«

»Sie haben mich mißverstanden«, erwiderte Heerbrecht kühl. »Mein Glückwunsch galt den Ehrungen, die Sie zu erwarten haben.«

Sundstrom brachte ein Lächeln zustande und überreichte dem aufdringlichen Burschen das Glas, das er eigentlich selber hatte trinken wollen. »Auf Ihr Wohl!«

»Auf das Ihrige, Frau Julia!« Heerbrecht wandte sich Julia zu und widmete Sundstrom seinerseits ein Lächeln, ein betont neutrales allerdings, und entfernte sich nach ein paar höflichen Augenblicken mit einer ebenso höflichen Entschuldigung.

Julia suchte Arnolds Blick. Der schale Geschmack des Weins haftete ihr noch immer auf der Zunge, und sie befürchtete Unheil irgendwelcher Art, obwohl sie nicht wußte, aus welcher Ecke es kommen sollte. Sein Gesicht war tiefer gerötet als sonst, aber die Ruhe, die jetzt von ihm ausging, gab ihr ihre Sicherheit zurück. »Wollen wir auch etwas essen?« fragte er.

Der Andrang am Buffet hatte nachgelassen. Die Mehrheit der Gäste in diesem Saal und dem benachbarten kämpfte mit dem Problem, wie man seinen Teller in einer Hand balancieren und zugleich sein mühsam ergattertes Stück Braten darauf zerschneiden konnte. Sundstrom steuerte auf einen der Tische im Zentrum des Raums zu. Wohlwollende Grüße nach rechts und links verteilend, schritt er vorbei an Karl-August Mischnick, dem Dichterfürsten des Proletariats, der die Würde seines Rangs mit seinen schlechten Manieren zu vereinen suchte; vorbei an dem leicht angetrunkenen international bekannten Physiker Professor Louis Kerr, dem seine eigentümlich farblose Frau auf dem Fuße folgte; vorbei an den Genossen Leopold Bunsen, dem Chefredakteur des Bezirksorgans der Partei, dessen ständiges Zwinkern eine Art von innerer Heiterkeit vortäuschen sollte. Inzwischen hatte auf einer Balkonloge eine Regimentskapelle zu blasen begonnen, deren rot-weiß gestreifte Schulterstücke im Takt zu den Silberquasten an dem buntbemalten Zepter ihres Dirigenten auf- und abhüpften.

»Arnold?«

»Ja, Liebste?«

Aber sie entschied sich zu schweigen. Der Lärm, dieses ganze Durcheinander, gingen ihr auf die Nerven.

»Du wirst dich besser fühlen, sobald du etwas gegessen hast«, tröstete er.

Doch auf dem Tischtuch vor ihnen lagen nur Kuchenreste und Orangenschalen. Das Skelett eines gebratenen Hasen, abgenagt bis auf ein paar Sehnen, vervollständigte das melancholische Stilleben. Er kratzte etwas Eßbares für sie und für sich zusammen; einen Löffel Heringssalat, ein paar Scheiben Wurst, eine viertel Gurke. »Später werden sie, wie ich sie kenne, noch einmal vorbeikommen mit Würstchen«, sagte er.

»Wir sind doch nicht zum Essen hergekommen, oder?« sagte sie.

Er nahm ihr den Teller ab, stellte ihn beiseite und küßte ihr die Hand, eine altmodische Galanterie, die er mitunter praktizierte. Julia überließ ihm ihre Hand. Ein paar Sekunden vergingen, bevor sie merkte, daß sich plötzlich ein Stück leerer Raum um sie und ihren Mann gebildet hatte.

Sie sah sich um. Genosse Tolkening strahlte sie an, flankiert von Elise und zwei Russen von der Sowjetdelegation, zu deren Ehren der ganze Empfang veranstaltet worden war. Ein unauffälliger junger Mann, der Übersetzer wahrscheinlich, hielt sich im Schatten hinter der Gruppe.

»Tut mir leid, dich zu unterbrechen, Genosse Sundstrom«, eine bedauernde Handbewegung Tolkenings. »Ich meine aber, du solltest den Leiter der Delegation kennenlernen, die uns besuchen gekommen ist …«

»Oh, der Genosse Krylenko ist mir ein alter Bekannter!« sagte Sundstrom mit nostalgischem Lächeln. »Und wie ich bemerke, haben die Jahre ihn kaum verändert …« Hände ausgestreckt, wollte er auf den rothaarigen, rundlichen Mann zutreten, dessen glattes Gesicht keinerlei Reaktion auf seine Grußworte gezeigt hatte.

Aber Tolkening hielt ihn zurück. »Ich möchte dich mit dem Genossen Popow bekanntmachen«, sprach er mit Betonung. »Er ist der Leiter der Delegation.« Und sich dem anderen Russen zuwendend, der neben ihm stand, die dunklen Augen bewegungslos, fuhr Tolkening fort: »Genosse Popow, darf ich Ihnen Genossen Professor Sundstrom vorstellen, den Chefarchitekten unserer Stadt, und seine charmante Gattin?« Der Übersetzer murmelte simultan. »Genosse Sundstrom, wie Sie wohl erkannt haben werden« – das war die Korrektur des Fauxpas, den Sundstrom begangen hatte –, »hat beträchtliche Zeit in der Sowjetunion verbracht.«

Julia bemerkte, daß Arnold seine Hand nun Popow reichte und dabei wieder sein ruhiges Lächeln zur Schau stellte. Popow schüttelte ihm die Hand und erklärte, zu Tolkening gewandt, auf russisch: »Ich bin vertraut mit den Arbeiten von Professor Sundstrom.«

Die Feststellung, wortwörtlich übersetzt, schien Tolkening zu beeindrucken. »So haben Sie also seine Straße des Weltfriedens bereits besichtigt? Sie ist unser Schaustück hier.«

»Bis jetzt haben wir die Gelegenheit noch nicht gehabt«, erwiderte Popow. »Ein Besuch dort steht aber auf unserem Programm, hat man mir gesagt.«

Die Peinlichkeit des Krylenko-Zwischenfalls schien damit überwunden zu sein. Julia, erleichtert, hörte Elise Tolkenings Deklamation: »Das ist die Straße, auf welcher der Frieden in unsere Stadt kam in der Person des Genossen Stalin auf seinem Weg nach Potsdam. Darum haben wir sie auch ausgewählt als die erste Straße, die von Trümmern geräumt werden, die erste, die aus den Ruinen auferstehen sollte, breiter, geräumiger, schöner und glänzender als sämtliche anderen Straßen unserer Stadt: die erste Straße des Sozialismus. Und darum haben wir ihr auch ihren neuen Namen gegeben: Straße des Weltfriedens. Unser Karl-August Mischnick hat ein langes Gedicht zu Ehren des Tages geschrieben, an dem die ersten Arbeiter das erste fertige Haus an dieser Straße bezogen. Und auf Vorschlag des Genossen Tolkening hat der berühmte Komponist Nationalpreisträger Benda eine würdige Musik zu Mischnicks Text komponiert, und Chöre in der ganzen Republik singen das Lied jetzt. Ich bin sicher, der Genosse Tolkening wird veranlassen, daß die Delegation Plattenaufnahmen davon erhält und einen Satz Fotos, der die Veränderungen im Gesicht dieser Straße zeigt …«

Popow hörte sich die Übersetzung geduldig an. Dann bedankte er sich bei Elise und versicherte ihr, die Delegation werde jede Information zu schätzen wissen, die ihr helfen würde, sich ein möglichst vollständiges Bild von den Mühen und der Arbeit der Werktätigen dieser Stadt und ihrer Partei zu machen. »Was nun die Vorhaben des Genossen Professor Sundstrom angeht«, ließ er sich wieder zum Thema vernehmen, »so habe ich mich bereits in Moskau mit mehreren seiner Entwürfe befaßt.«

»Sie sind ein Kollege?« fragte Sundstrom auf russisch, ohne auf die Worte des Übersetzers zu warten. »Architekt?«

Julia wunderte sich über die an Mißtrauen grenzende Zurückhaltung in seiner Stimme.

»Bauingenieur«, informierte Popow.

»Im Ministerium?«

Popow, die Falten wie tiefgefroren auf seinem Gesicht, schien die Frage nicht gehört zu haben. Er wandte sich Tolkening zu. »Ich habe die Vielseitigkeit des Genossen Professor Sundstrom immer bewundert. Man findet so etwas selten bei einem Architekten.«

Der Genosse Tolkening warf einen prüfenden Blick auf den Übersetzer, ganz als ließe sich aus dessen nichtssagender Miene ein zweiter Inhalt jenseits des Textes herauslesen. Dann hatte er seinen Entschluß gefaßt. »Genosse Sundstrom?«

Julia wußte, die Zeit für die große Eröffnung war gekommen. Ihre Nerven spannten sich. Und spürte just in diesem Moment Elises Fingerspitzen, überraschend sanft, auf ihrem Handgelenk. »Komm, Kind!« sagte Elise, fast etwas wie Mitgefühl in ihrem Ton. »Die Männer möchten sicher allein sein …«

Sie schob Julia beiseite. Julia wußte nicht, sollte sie lachen oder sich ärgern. Am Ende obsiegte ein Gefühl von Dankbarkeit. Es gab Momente, da zeigte diese Frau hinter ihrem unglückseligen Äußeren einen durchaus bemerkenswerten Charakter.

Elise Tolkening entließ sie inmitten einer Gruppe von Offiziersehefrauen, deutschen und sowjetischen, die von ihren Gatten instruiert worden waren, Freundschaft füreinander zu zeigen. Sie versuchte, den holpernden Bemühungen um Konversation zu folgen, aber ihre Gedanken kreisten weiterhin um die andere Sache. Seit Monaten schon, seit Arnold ihr von Tolkenings Erwähnung eines möglichen Nationalpreises für ihn gesprochen hatte, wartete sie auf diese Entscheidung. Nach außen hin gab Arnold sich gleichgültig; der Preis galt ihm nichts, verkündete er – die Arbeit zählte. Aber es war eben doch wichtig, auch für ihn – öffentliche Anerkennung, Ermutigung! Und nicht nur für ihn. Für sie ebenso, und für das ganze Kollektiv, das seinen Anteil hatte am Bau der Straße, für einen jeden von ihnen, von Architekten und Statikern und Zeichnern bis zum letzten Ziegelträger. Aber ständig waren da die Stimmen, die von überall her wisperten und sich nicht festnageln ließen und die verneinten, was jedem Menschen von Ehre und gutem Willen selbstverständlich sein mußte: daß die Straße den Geist und das Bestreben unsrer Werktätigen mit den besten Traditionen unsrer Architektur verband und etwas Großes und Edles symbolisierte, für das es sich einzusetzen lohnte.

Heerbrecht kam auf sie zu, Käthchen Kranz an seiner Seite. Ohne den leicht höhnischen Ton seiner Stimme zu mildern, rief er: »Sie sehen so verloren aus, Julia Sundstrom! …« und ergriff sie mit seinem noch freien Arm und zog sie mit sich.

Sie lachte. Alles erschien ihr auf einmal lächerlich – die Frauen, aus deren Mitte sie soeben entführt worden war, Heerbrecht mit seinem eitlen Gesicht und seinen eulenartigen Gläsern, Käthchen Kranz. Käthchen trug eine hochgetürmte Frisur und lange falsche Wimpern; ihr war es sogar dienstlich gestattet, sich so westlich wie sie wollte zu gerieren, denn mit ihrer Tap-Dance-Nummer und ihren Songs, die vom Volkstümlichen bis zu einer Art Baby-Jazz reichten, war sie die persönliche Verkörperung dessen, was das Blatt des Genossen Bunsen als die heitere Muse der Republik bezeichnete.

»Schade, daß man Sie so selten in Gesellschaft sieht, Frau Sundstrom« – Käthchen suchte die Wirkung ihrer Worte auf Heerbrecht einzuschätzen. »Sie arbeiten? Sie sind Architektin? Und Sie sind verheiratet? Wie tödlich! Ich dachte, daß Axel und ich Sie manchmal einladen könnten, könnten wir doch, was, Axel?«

»Käthchen, meine Liebe« – Heerbrecht gab ihr einen strafenden Klaps, ohne aber deshalb seinen Druck auf Julias Arm zu lockern –, »die Genossin Sundstrom hat vielleicht Wichtigeres im Sinn.«

»Und ich etwa nicht?« protestierte Käthchen. »Habe ich nicht den echten sozialistisch-realistischen Hoopla auf den Weg gebracht, den Lipsi, und ist meine Kunst nicht mindestens so wichtig wie deine Weisheiten und die Sprüche der Genossen Warlimont und Bunsen und Tolkening?«

»Die Leute, die dich reden hören, werden glauben, du bist sarkastisch«, sagte Heerbrecht.

Julias Belustigung endete so abrupt, wie sie begonnen hatte. Sie fand sich plötzlich in der Nische, von der Heerbrecht an diesem Abend bereits gesprochen hatte. Und immer noch hielt deren ursprüngliche Besatzung sich darin auf, einschließlich John Hillers und des Genossen Warlimont, der sein am Hals offenes Blauhemd demonstrativ zur Schau trug.

Hiller trat auf sie zu, eine halb geleerte Flasche Kognak in der Hand. »Ich warne dich, Julia« – seine Zunge hatte Schwierigkeiten mit den Konsonanten –, »ich bin betrunken und werde mich unordentlich aufführen.«

»Wirst du nicht«, sagte sie mit größerer Schärfe, als sie beabsichtigt hatte. »Du wirst dich benehmen.«

»Warum sollte ich? Gib mir einen guten Grund, Julia. Deinetwegen etwa?«

»Weil du dich auf einem offiziellen Empfang befindest. Und weil auch du das städtische Architekturamt vertrittst …«

»Das große Kollektiv, was?« Hiller zog seine Stirn kraus. »Unsre Werktätigen? Warum hörst du nicht endlich auf, die Tempeljungfrau zu spielen, Julia!« Er fuhr sich durchs Haar, eine dicke Strähne war ihm über die Stirn gefallen und ließ seine sonst einigermaßen sensiblen Züge grobschlächtig erscheinen. »Werd erwachsen! Dein geliebter Gatte wird kriegen, wonach er so heftig giert. Und Warlimont weiß, daß er es kriegen wird. Alle wissen sie es. Dafür hat der Genosse Tolkening schon gesorgt, wenn auch nur, damit ein Widerschein vom Ruhm des großen Sundstrom ihm auf das eigene Haupt fällt. Also –« Er hielt ihr die Flasche hin.

»Nein, danke schön!«

Seine Augen wurden feucht. »Julia«, bat er, schwer atmend, »trink einen Schluck. Nur einen. Zusammen mit mir. Auf diesen Preis. Auf all die Türmchen, die wir auf all diese Dächer gepappt, und auf all die Säulchen, die wir vor all diese Hausfronten gestellt haben …«

Sie erbleichte. Er ließ die Flasche fallen. Die Flasche zerbrach.

»Ach, Julia …«

»Heerbrecht«, forderte Julia ihn auf, »wollen Sie mich bitte zu meinem Mann bringen?«

Sundstrom zündete sich eine frische Zigarette an und steckte das Endstück seiner niedergerauchten, mit der Glut nach unten, in die feuchte Erde einer Topfpalme. Die Palme gehörte zu einer Gruppe von Pflanzen, welche den Eingang zur Küche kaschierten; so konnte Sundstrom, im diskreten Schutz des Grüns, einen Anschein von Vertraulichkeit für das Gespräch mit Krylenko wahren, das er den ganzen Abend schon gesucht hatte.

»Sie können sich darauf verlassen, daß Tolkening aus jeder Gelegenheit, die sich ihm bietet, einen Vorteil zu ziehen weiß.« Sein Russisch war fehlerlos, aber seine Verärgerung über seinen Fauxpas ließ seinen deutschen Akzent stärker als sonst hervortreten. »Und ich kann Ihnen die Notiz in der Zeitung zeigen, Pawel Grigoritsch: da stand, Sie wären der Delegationsleiter.«

Krylenko zuckte die Achseln. »Man hat Popow in der letzten Minute ernannt. Meinen Sie etwa, mir war der Austausch angenehm?«

Sundstrom zerbröselte die verwelkte Spitze eines der Palmenblätter. »Ich müßte wirklich wieder mal nach Moskau kommen, und sei es auch nur für ein paar Tage. Man verliert seine Verbindung zu den Vorgängen so schnell. In diese Provinz dringen nur Informationen aus zweiter Hand – besonders über politische Entscheidungen und Kader … Es hat eine Menge Veränderungen gegeben bei euch in der letzten Zeit, nicht?«

»Die Dinge verändern sich dauernd.« Krylenko vermied es, seinem Gegenüber ins Auge zu blicken, eine Gewohnheit, die ihm zur Eigenschaft geworden war. »Das liegt in ihrer Natur.«

»Pawel Grigoritsch!« Sundstrom zügelte seine Ungeduld. »Ein Erdbeben ist auch eine Veränderung. Aber ich kann versuchen, mich seinem Epizentrum fernzuhalten.«

Krylenko lachte. »Ich glaube nicht, daß wir ein Erdbeben hatten – oder eines haben werden. Wir können uns Erschütterungen der Art gar nicht leisten.«

Die Feststellung war in jenem Ton von Autorität getroffen worden, den Sundstrom zu schätzen wußte. Aber die Tatsache blieb, daß Krylenko, der Rangordnung der Delegation zufolge, ein Stück dieser seiner Autorität verloren hatte. »Wer ist dieser Popow?« wollte Sundstrom wissen. »Wo kommt er her?«

Krylenkos rötliche Brauen hoben sich ein wenig; der Weg, den Sundstroms Gedanken genommen hatten, war nur allzu offensichtlich gewesen. Doch vermied Krylenko es auch weiterhin, irgendwelche Unruhe zu zeigen. »Oh, Popow kennt sein Gebiet. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen.«

»Müßte ich mir denn Sorgen machen?«

»Sie?« Krylenko lachte kurz. »Bei der Entfernung zwischen Ihnen und dem Epizentrum?« Krylenko brach ab. Seine Ironie, gerade weil sie so klar zu der Situation paßte, hatte ihn dazu verführt, etwas zuzugeben, das er bisher nicht einmal sich selber eingestanden hatte. »Ich habe Ihnen erklärt, es würde kein Erdbeben oder dergleichen bei uns geben, Arnold Karlowitsch«, sagte er ärgerlich. »Vielleicht werden wir irgendwo ein paar leichte tektonische Erschütterungen haben; so etwas passiert immer mal in unsern Apparaten, bevor neue Strukturen ihren festen Platz gefunden haben.«

Das klang vernünftig, und Sundstrom wünschte selber, es zu glauben. Der große Mann, auf dem so viele dieser Strukturen basiert hatten, war fast drei Jahre tot; und obwohl eine Anzahl seiner Spitzenleute Sitz und Rang in dem allgemeinen Stühlchenverrücken verloren hatten, das seinem Ableben gefolgt war, so hatte sich doch nichts grundlegend Neues ereignet, keiner von jenen Umstürzen, die niemandem Gutes verhießen.

»Aber sagen Sie mir, Pawel Grigoritsch«, griff er das Thema wieder auf, »könnte diese oder jene von Ihren leichten tektonischen Erschütterungen, wie Sie es nennen, nicht auf ein viel gewaltigeres Ereignis hindeuten, einen Ausbruch in Tiefen, die kein sich verantwortlich fühlender Mensch aufgewühlt zu sehen wünschen würde? Warum hat man diesen Popow Ihnen plötzlich vor die Nase gesetzt? Wer, oder was, ist er denn eigentlich?«

»Nun« – Krylenko bewegte sich unbehaglich –, »der Mann ist eine Weile nicht so sehr hervorgetreten.«

»Also einer von denen …!«

»Ja, einer von denen, Arnold Karlowitsch.« Der Schatten eines Palmenblatts warf ein Streifenmuster auf Krylenkos flaches, ausdrucksloses Gesicht. »Sie kommen nach Moskau zurückgetröpfelt. Genau weiß ich nicht, woher, und ich will es auch gar nicht wissen. Ich habe auch Popow nicht danach gefragt. Sie erhalten den ihnen zustehenden Wohnraum und eine Arbeitsstelle, wenn sie gesund genug sind, um zu arbeiten, oder eine Kur in einem Sanatorium …«

»Aber das ist doch –« Sundstrom unterbrach sich. »Ich meine, sie werden so etwas à la longue nicht verdeckt und verborgen halten können. Es gibt zu viele von ihnen. Es wird durchsickern.« Seine Hand zitterte, und er bemerkte, daß auch Krylenko dies Zittern bemerkt hatte. »Habt ihr denn die Konsequenzen nicht bedacht?«

»Wer ist ihr?«

»Sie, Pawel Grigoritsch. Ihr alle.«

»Wissen Sie, wen ich getroffen habe, vor einer Woche etwa« – Krylenko schien das Thema wechseln zu wollen –, »mitten auf dem Arbat?«

Sundstrom zündete sich eine neue Zigarette an. Wenn ich nicht lerne, mich zu beherrschen, dachte er, wird aus mir ein Kettenraucher. Krylenko versuchte offenbar, eine Antwort auf seine Frage nach den Konsequenzen zu vermeiden, obwohl diese sichtlich sie alle betraf, das gesamte sozialistische Lager, überall auf der Welt.

»Mitten auf dem Arbat, vor einem Schaufenster stehend – Ihren Freund und Genossen Tieck, Daniel Jakowlewitsch!«

»Tieck …« Eine heisere Silbe, als hätte plötzlich eine Art Mehltau Sundstroms Stimmbänder befallen.

»Daniel Jakowlewitsch Tieck«, bestätigte Krylenko, »in Person. Das Haar schneeweiß geworden, aber sonst durchaus munter, soweit ich sehen konnte. Nun ja, er ist der zähe Typ; die ertragen so etwas am besten. Er hat auch sofort nach Ihnen gefragt, Arnold Karlowitsch.«

Krylenko beobachtete ihn. Sundstrom spürte einen leichten Schwindel. Sein Blut war ihm vom Gehirn zum Herzen geströmt; Krylenko mußte seine plötzliche Blässe wahrgenommen haben.

Aber Krylenko fuhr ungerührt fort. »Ich habe ihm gesagt, daß Sie leben und wo Sie leben und daß Sie die Tochter von Julian und Babette Goltz geheiratet haben. Zuerst hat er sich geweigert zu glauben, daß die Kleine schon so erwachsen wäre; dann hat er die Jahre rasch durchgerechnet – die Jahre, die er fort war, und die, die ein Mädchen braucht, bis es zu einer heiratsfähigen Frau wird. Dann hat er gesagt, daß er sich sehr freut, für euch beide, und mir aufgetragen, ich soll euch grüßen.«

»Wie schön.«

Sundstrom war dankbar, daß seine Stimme wieder funktionierte. Der Nationalpreis, hatte Tolkening im Beisein von Genosse Popow und Genosse Krylenko gesagt, sei ihm sicher. Und nun kam noch Daniel Tieck zu seinem Glück hinzu, aus dem Nichts sozusagen, und freute sich und sandte ihm und Julia Grüße. Es wurde also doch noch ein großer Abend, dachte er ironisch. »Es geschehen eben noch Zeichen und Wunder!« sagte er.

»Zeichen und Wunder?« fragte Krylenko. »Was haben Sie denn erwartet?«

Ja, was hatte er denn erwartet? Das Blut, das seinen Kreislauf wiederaufgenommen hatte, schien noch einmal abstürzen zu wollen. Nichts. Nichts hatte er erwartet, gar nichts; er hatte die Dinge nie bis zu diesem Punkt durchdacht. Sein Hirn war gnädig genug gewesen, sich regelmäßig abzuschalten, bevor es hätte zu Folgerungen gelangen müssen.

»Warum sollte ich irgend etwas erwartet haben …«, sagte Sundstrom schließlich. »Der Genosse Tieck verschwand einfach. Das war alles. Was hätte ich tun können? Oder Sie, Pawel Grigoritsch, wären Sie an meiner Stelle gewesen? Oder irgendeiner?«

Krylenko äußerte sich nicht.

»Hat Daniel Jakowlewitsch Ihnen irgend etwas erzählt von seinen Plänen, als Sie ihn auf dem Arbat trafen?« fragte Sundstrom weiter. »Oder später irgendwann? Was geschieht mit der Art Leuten? Können sie tun und lassen, was sie wollen? Gehen, wohin es sie treibt? Reden, mit wem es ihnen Spaß macht?«

»Ich denke schon. Warum auch nicht …?« Krylenko seufzte. Seine Geduld erschöpfte sich. Er hatte das alles vor langer Zeit schon durchgespielt, als er hinter dem Katafalk einhergeschritten war, von der Säulenhalle her, durch die trauernde Stille der Moskauer Straßen, und hatte schon damals gewußt, daß dies Problem auf sie zukommen würde. Man hatte Beethoven gespielt über die Lautsprecher, den Trauermarsch aus der Eroica. Beethoven!

»Aber warum nur?« Die Frage kam tief aus Sundstroms Brust, fast wie ein Röcheln. »Warum muß das sein, Pawel Grigoritsch? Wem nützt es, die Skelette aus dem Schrank zu ziehen? Der Partei? Der Sowjetunion? Dem Sozialismus?«

»Beruhigen Sie sich doch! Was sollten wir denn tun, nach Ihrer Meinung? Die alten Mißbräuche weiter betreiben?«

Sundstrom wußte keine Antwort.

»Schließlich und endlich waren die meisten dieser Leute«, eine müde Geste Krylenkos, »gänzlich schuldlos.«

»Ich habe noch nie erlebt, Genosse Krylenko, daß Sie Fragen persönlicher Ethik für wichtiger hielten als das Wohl und den Nutzen der Revolution …« Sundstrom biß sich auf die Lippe. Er war zu weit gegangen. Auch wenn Krylenko herabgestuft worden war, blieb er immer noch eine Macht. »Natürlich muß man Ungerechtigkeiten beseitigen«, gab er hastig zu. »Aber ein Tieck hier, ein Popow da – wie viele von der Sorte, frage ich Sie, werden noch auftauchen an wie vielen Stellen! Erst wird man ein Getuschel hören, dann Kritik, die immer lauter werden wird, und am Ende wird es von allen Hausdächern schallen. Und was wird dann aus den – aus den anderen?«

»Persönliche Ethik«, zitierte Krylenko ihm seine eigenen Worte. »Ungerechtigkeiten, Skelette … Ich sähe es lieber, Arnold Karlowitsch, Sie verzichteten auf diese subjektive Einstellung.« Sein Mundwinkel zuckte. »Jawohl, subjektiv. Die Dinge werden, so hoffe ich, mit Diskretion gelöst werden; keine Übereilung, keine Fanfaren: Wem liegt schon daran, mit dem eigenen Finger auf die eigene Person zu zeigen? Aber getan werden muß etwas.«

Er schwieg einen Moment. Sundstrom fuhr fort, einen dünnen Streifen von einem Palmblatt um seine Finger zu wickeln.

»Denn es ist historisch notwendig!« beantwortete Krylenko die Frage, die ihm gar nicht gestellt worden war. »Entlang des alten Weges liegt der Kollaps – ökonomisch, moralisch, politisch. Hätten Sie weiter in Moskau gelebt, auch Sie hätten es gespürt, Arnold Karlowitsch. Die Welt ist im Umbruch, unsere eigene Welt; die einzige Kraft, die diese Welt auf Kurs hielt in der Vergangenheit – war er. Das war sein Verdienst, und das wird bleiben. Aber wir haben ihn ins Mausoleum getragen. Ich sage Ihnen, Verehrter, es liegt mehr auf der marmornen Bahre dort als ein fachmännisch ausgestopfter Leib in Marschallsuniform. Solange er da war, war alles klar und unkompliziert, jede Gleichung ging auf in unsrer Rechnung; und wenn sie es einmal nicht tat, wußte man dennoch, wie man die Zahlen zu manipulieren hatte. Und jetzt …«

Er unterbrach sich.

»Aber das sind nicht Ihre Probleme«, beschwichtigte er schließlich. »In Ihrer wohlbehüteten kleinen Republik hat es nichts der Art gegeben, also müssen Sie sich nicht ängstigen … Ich sehe, Ihre Frau kommt.« Und den Kopf in ihre Richtung neigend: »Meine liebe Julia Julianowna, Sie müssen mir verzeihen, daß ich Sie so lange Ihres Gatten beraubt habe.« Und stieß Sundstrom scherzhaft in die Seite: »Meinen Sie nicht, Sie sollten es ihr erzählen?«

Sundstrom ließ seine Augen freudig aufleuchten und lächelte von Ohr zu Ohr; dann, ganz Wärme und inneres Glück, nahm er sie in den Arm und sagte: »Ich habe eine wunderbare Nachricht für uns, wirklich wunderbar!«

»Der Preis?«

»Ja, Liebste, der Preis.«

Der Schnee hatte sich in Matsch verwandelt. Die Reifen rutschten. Sundstrom fluchte.

»Wir hätten den Chauffeur nehmen sollen«, sagte Julia, schmiegte sich an ihn und betrachtete seine breiten Finger, die fest auf dem Steuerrad lagen. Er fuhr den Wagen wie einer vom Fach; aber man sah, er war müde und mit den Nerven herunter. »Dann hätten wir im Fond sitzen und Händchen halten können.«

»Soll der Mann seinen freien Abend haben«, knurrte er. »Ich mag es nicht, wenn Leute, die sich als Sozialisten bezeichnen, ihre Fahrer draußen warten lassen, während sie sich an irgendwelchen Buffets vollstopfen und ihre Karriere fördern.«

Julia nickte. Sie schätzte das an ihm: Er hatte nicht vergessen, wer am Ende die Rechnung zahlte, und obwohl er zur sogenannten Prominenz gehörte und ein Anrecht hatte auf einen gewissen Anteil an öffentlichen Geldern, vermied er es peinlich, auch nur einen Pfennig davon für seinen eigenen Komfort, seinen eigenen Vorteil auszugeben. Manche Genossen wurden da nachlässig, sobald ihnen ein breiter Amtssessel mit einer entsprechenden Anzahl von Telefonen auf dem Schreibtisch zufiel – nicht so ihr Arnold. Kommunist sein, hatte er ihr einmal, schon vor ihrer Hochzeit, gesagt, ist eine Lebenseinstellung. Und hatte ihr erklärt, daß Korruption schon darin bestand, daß einer die Macht, die ihm für gewisse Zwecke gegeben war, nebenher für eigene Interessen nutzte. Solche Fälle erregten seinen Widerwillen; er hatte den Koch in der Kantine des Architekturamts entlassen, weil der den Arbeitern und Angestellten die ihnen zustehenden Butterrationen kürzte; aber er hatte auch den Leiter eines ganzen Bauunternehmens, eines volkseigenen, vor Gericht gebracht, nachdem dieser seine Planzahlen gefälscht und die Prämien für die Übererfüllung eingesteckt hatte. Er hatte sich sogar den Verkäufer in einem staatlichen Schuhgeschäft persönlich vorgenommen, der einem seiner Maurer durchlässiges Schuhwerk verkauft hatte, und hatte das Geld dafür zurückverlangt, oder es würde noch größeren Ärger geben; aber er scheute sich auch nicht, in Gegenwart des Genossen Tolkening einen von dessen Hauptabteilungsleitern zu kritisieren, der seiner Sekretärin von einem Tag auf den anderen, oder sollte man sagen, einer Nacht auf die andere, eine Zweiraumwohnung mit Bad zugeschanzt hatte, damit er bequemer mit ihr schlafen konnte. Ein Kommunist, hatte er Julia, seit sie politisch denken konnte, immer wieder gesagt, darf keine faulen Köpfe dulden, keine lauen Herzen und vor allem das Laisser-faire nicht, das Eine-Hand-wäscht-die-Andere und das Reg-dich-nicht-darüber-Auf; dein Denken und Handeln müssen so klar und transparent sein wie der Entwurf auf deinem Zeichentisch. Nicht daß er sich dadurch beliebt machte; aber im allgemeinen respektierte man seinen Sinn für Gerechtigkeit und seine Unbestechlichkeit.

»Der Preis«, fragte sie, »glaubst du, er wird nur dir persönlich verliehen werden oder zugleich dem Kollektiv?«

Manchmal hörte er einfach nicht. Sein Blick war auf die Straße vor ihm gerichtet oder auf ein Bild in noch weiterer Ferne. Seine Geistesabwesenheit, der sonderbare Ausdruck um Mund und Augen, erzeugten in ihr wieder das ungute Gefühl, das sie in jener Nische mit Hiller und Hillers Vertrauten schon gespürt hatte, als die Rede auf die bewußten Türmchen und Säulchen gekommen war – das Kollektiv: Das mochte für ihn nichts anderes bedeuten als John Hiller und dessentgleichen.

»Arnold!«

Er fuhr auf. »Ja, Liebste?«

»Du oder das Kollektiv?« fragte sie wieder und wurde sich, zu ihrem eigenen Unbehagen, des nörgelnden Tons in ihrer Stimme bewußt.