Die Bücherschmuggler von Timbuktu - Charlie English - E-Book

Die Bücherschmuggler von Timbuktu E-Book

Charlie English

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Beschreibung

»Ein Meisterwerk des investigativen Journalismus. Ein kluges, fesselndes Buch!« The Guardian Timbuktu ist ein Mythos – einst so reich, dass angeblich sogar die Sklaven Goldschmuck trugen, verfügt die abgelegene Stadt am Niger über einen ganz besonderen Schatz: eine der größten Bibliotheken mittelalterlicher Schriften. Als im Jahr 2012 die Stadt in die Hände von Islamisten fällt, droht die Vernichtung der Bücher. Doch eine Gruppe von Bibliothekaren und Archivaren schmuggelt die Bücher unter Lebensgefahr aus der Stadt. Eine große, meisterhafte Reportage über Menschen, die sich mutig der Vernichtung eines Wissensschatzes und Erbes der Menschheit entgegenstellen – und eine Zeitreise zu einer sagenumwobenen Stadt.

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EPUB

Seitenzahl: 563

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Charlie English

Die Bücherschmuggler von Timbuktu

Von der Suche nach der sagenumwobenen Stadt und der Rettung ihrer Schatzes

Aus dem Englischen von Henning Dedekind und Heike Schlatterer

Hoffmann und Campe

Für Lucy

Prolog:

Ein Mann von Genie und Tatkraft

Unter den Millionen von Dokumenten, die im Staatsarchiv der britischen Regierung schlummern, befindet sich auch ein schlankes Dossier mit dem schlichten Titel »CO 2/20«. Nach dem Bändchen wird nur selten verlangt. Schließlich werden in den National Archives Unterlagen verwahrt, die tausend Jahre britischer Geschichte umfassen. Die meisten Besucher der modernen, hellen Räumlichkeiten im Londoner Stadtteil Kew sind auf der Suche nach anderen Raritäten: dem »Domesday Book« etwa oder Shakespeares Testament oder den unlängst zugänglich gemachten Akten über Verräter und Spione des kalten Krieges. Alle paar Jahre jedoch verlangt jemand nach dem Dossier »2/20« des »Colonial Office«. Dann wird die in Cheshire gelegene Stadt Winsford verständigt, wo das Dossier in einer Lagereinrichtung tief im Innern von Großbritanniens größtem Salzstock aufbewahrt wird. Dort macht sich ein Angestellter in die trockene Dunkelheit auf, sucht die Akte aus den über fünfunddreißig Regalkilometern heraus, die für die National Archives reserviert sind, und schickt sie Richtung Süden.

Die Schachtel, die einige Tage später im Leseraum eintrifft, besteht aus dicker Pappe und ist mit weißem Baumwollband zugebunden. Darin befindet sich ein Konvolut von etwa hundert handschriftlichen Dokumenten, die der britische Konsul in Tripolis Mitte der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts nach London schickte. Die weichen, rissigen Blätter haben eine weite Reise hinter sich, und jedes einzelne von ihnen beschwört längst vergangene Zeiten herauf. Eine Handvoll davon besitzt besondere Relevanz für unsere Geschichte: Es sind die letzten Briefe des heute ziemlich in Vergessenheit geratenen Forschers Alexander Gordon Laing – Briefe, in denen er über jenen Teil seiner Entdeckungsreisen berichtet, der ihn in die »weithin berühmte Hauptstadt von Zentralafrika« führte. Die Rede ist von Timbuktu.

Laing, ein aus Edinburgh stammender Major mit Koteletten à la mode, war vom Schicksal dazu auserkoren, diesen sagenumwobenen Ort 1826 als erster Europäer zu betreten. Bis ins 19. Jahrhundert beflügelte Timbuktu das europäische Afrika-Bild wie »El Dorado« das Bild vom südamerikanischen Kontinent. Man glaubte, Timbuktu beherrsche eine reiche subsaharische Region namens »Sudan« – nach dem arabischen »Bilad al-Sudan«, »Länder der Schwarzen«. Gerüchte über die Existenz der Stadt kursierten seit Jahrhunderten in Europa, und spätestens im 14. Jahrhundert begann man ihren Reichtum zu preisen. Bereits Marco Polos »Zipangu« war angeblich ein Land, dessen Königspalast mit Gold gedeckt war. Auch hier hieß es nun, die Häuser Timbuktus besäßen goldene Dächer. Scharen von Entdeckern wurden entsandt, die Stadt zu finden, doch alle Versuche scheiterten.

Im Jahr 1826 war Major Laing an der Reihe. Laing war britischer Soldat – ein typisches Produkt jener Zeit zwischen Waterloo und dem »Todesritt der leichten Brigade« in der Schlacht von Balaklawa, als Militärs allerorten Ruhm und Ehre suchten und dabei den Tod nicht scheuten. Mit seinem guten Aussehen und seinem ausgeprägten Selbstbewusstsein hätte er einem Roman wie Jahrmarkt der Eitelkeit entsprungen sein können, doch es war eine andere Geschichte, die sein abenteuerliches Leben prägte: Daniel Defoes Robinson Crusoe.

»In jeder freien Minute verschlang ich Reiseberichte«, schrieb er einmal. »Besonders die Geschichte von Robinson Crusoe fesselte meine jugendliche Phantasie.« Wie Defoes Held wollte auch Laing sich nicht mit der vermeintlichen »Glückseligkeit des Mittelstands« zufriedengeben. Wie Crusoe stürzte er sich in die Welt auf der Suche nach Sinn und Erfüllung.

»Ich werde tun, was noch keiner zuvor getan hat«, schrieb er, »und mich als das beweisen, wofür ich mich stets gehalten habe, als einen Mann von Genie und Tatkraft.«

Nicht alle teilten Laings unbescheidene Selbsteinschätzung. Während seiner Stationierung in Sierra Leone im Jahr 1824 schrieb sein befehlshabender Offizier an den für die Kolonien zuständigen Kriegsminister: Laings »militärische Leistungen waren noch dürftiger als seine Gedichte«. Offenbar hatte die Kritik jedoch keine negativen Auswirkungen auf seine Karriere. Noch im selben Jahr wurde Laing zum Leiter einer neuen britischen Mission ernannt, die jene Stadt finden sollte, für deren Entdeckung er glaubte, vom Schicksal ausersehen zu sein. Sollte es ihm gelingen, Timbuktu als Erster zu erreichen, bekäme er, wonach er sich wie nichts anderes sehnte. In einem seiner Gedichte bekennt Laing freimütig:

Tis that which bids my bosom glow

To climb the stiff ascent of fame

To share the praise the just bestow

And give myself a deathless name.

[Das ist, was meine Brust erglühen lässt

Den steilen Berg des Ruhms zu erklimmen

Die gerechten Ehren zu empfangen

Und mir einen unsterblichen Namen zu machen.]

Im Sommer 1825 brach Laing nach Tripolis auf und ritt von dort in die Sahara. Zu dieser Jahreszeit war das Land so ausgedörrt, dass selbst seine Kamele bis auf die Knochen abmagerten. Sein Führer, an der Küste ein freundlicher und umgänglicher Zeitgenosse, wurde immer ungnädiger und fordernder, je weiter sie nach Süden gelangten. In der sengenden Hitze der Tanezrouft-Region scheint er Laing schließlich an eine Gruppe Tuareg verraten zu haben. Bewaffnete Männer umstellten nachts das Zelt des Entdeckers, schossen auf ihn und hieben mit Säbeln auf ihn ein. Als sie ihn tot glaubten, machten sie sich davon. Laings bemerkenswerter Bericht über die Verletzungen, die er bei diesem Angriff erlitt, befindet sich in dem Dossier des Colonial Office. Er stammt vom 10. Mai 1826 aus einem Wüstenlager etwa dreihundertsechzig Kilometer nördlich von Timbuktu. Bis dahin sind Laings Berichte in schwungvoller Schönschrift verfasst. Dieses inzwischen stockfleckige Schreiben hingegen ist ein kaum lesbares Gekrakel.

»Mein lieber Konsul«, schreibt er. »Ich kann Ihnen nur eine kurze Mitteilung machen, deren Beförderung zudem unsicher ist, um Sie davon in Kenntnis zu setzen, dass ich mich von schweren Verletzungen erhole, die, auch mit der größten Gelassenheit betrachtet, jedes Maß überschreiten.« Die Geschichte des Zwischenfalls selbst ist für ihn ein Beispiel von »schändlichem Verrat und offenem Krieg«, doch davon wird er später berichten. Momentan geht es ihm nur darum, dem Konsul Anzahl und Art der Verletzungen mitzuteilen, die er bei dem Angriff erlitten hat:

Um oben zu beginnen: Ich habe drei Säbelwunden am Scheitel und drei an der linken Schläfe, allesamt Frakturen, bei denen ich viel Knochenmasse verloren habe. Ein Säbelhieb auf die linke Wange hat meinen Kiefer zerschmettert und mein Ohr zerschnitten, was eine sehr unansehnliche Wunde ergab, einen weiteren erhielt ich auf die rechte Schläfe. Schließlich habe ich noch eine klaffende Wunde im Nacken, durch welche auch die Luftröhre in Mitleidenschaft gezogen ist.

Er hat eine Musketenkugel in der Hüfte, die sich einen Weg am Rückgrat vorbei durch den Körper gebahnt hat. Außerdem hat er fünf Säbelwunden am rechten Arm und an der rechten Hand, die »zu drei Vierteln quer durchtrennt ist«. Auch die Handgelenksknochen sind durchtrennt. Er hat drei Wunden am linken Arm, der gebrochen ist, eine leichte Verletzung am rechten Bein und zwei am linken, davon »eine tiefe Wunde«, ganz zu schweigen von dem Säbelhieb über die Finger der linken Hand, mit der er den Bericht schreibt.

Liest man dieses blutige Protokoll – wie es der bestürzte Konsul sechs Monate später in Tripolis tat –, sucht man vergeblich nach Hinweisen darauf, dass Laing das Unternehmen als gescheitert ansah. Er muss aber doch geplant haben, auf dem schnellsten Weg nach Hause zurückzukehren? Muss überlegt haben, wie er auf dem Rückweg jeden Zusammenstoß mit den Räubern vermeiden könnte? Doch weit gefehlt. Die Anziehungskraft von Timbuktu – dieser Stadt hinter dem Horizont, die noch immer den europäischen Blicken entzogenen ist –, sie ist zu stark. Niemals würde er die Schmach ertragen, jetzt aufzugeben. Es gehe ihm trotz seiner Verwundungen »gut«, teilt er dem Konsul mit. Er hofft, mit »vielen wichtigen geographischen Informationen« nach England zurückzukehren. Er habe viele Dinge entdeckt, die auf der Landkarte Afrikas korrigiert werden müssten, und bete zu Gott, ihm die Zeit zu schenken, seine Arbeit zu Ende zu bringen.

Zwei Monate später schreibt Laing erneut. Seine Situation hat sich verschlechtert. Das Lager ist von einer dem Gelbfieber ähnlichen, »entsetzlichen Seuche« befallen worden, die die Hälfte der Bewohner dahingerafft hat, darunter seinen letzten verbleibenden Diener. »Ich bin nunmehr das einzige überlebende Mitglied der Expedition«, teilt er dem Konsul mit. »Meine Lage ist alles andere als angenehm.« Sein Sendungsbewusstsein ist dennoch so stark, dass er fortfährt:

Ich bin mir dessen wohl bewusst, dass, wenn ich die Stadt nicht erreiche, die Welt für immer in Unkenntnis von Timbuktu bleiben wird … Es ist durchaus keine eitle Prahlerei meinerseits, wenn ich sage, dass nach mir kein Christ je wieder seinen Fuß dorthin setzen wird.

Sechs Wochen später, am 13. August 1826, ist er am Ziel seiner Träume – Timbuktu. Dann geschieht etwas Seltsames: Laing verstummt.

Fünf Wochen lang sandte er keine Nachricht seiner Ankunft an den Konsul. Erst am 21. September schrieb er wieder, und auch dann war der Brief kaum fünfhundert Wörter lang. Er schreibt immer noch mit der linken Hand, und die Schrift ist eher noch unleserlicher geworden. Sein Leben sei in Gefahr, teilt er dem Konsul mit. Er bereite seine umgehende Abreise vor:

Ich habe keine Zeit, Ihnen meinen Bericht über Timbuktu zu übersenden, möchte Sie jedoch rasch wissen lassen, dass die Stadt außer in ihrer Größe (die einen Umfang von vier Meilen nicht übersteigt) meinen Erwartungen in sämtlichen Punkten entspricht … Ich war während der Dauer meines Aufenthaltes vollauf damit beschäftigt, Aufzeichnungen in der Stadt zu suchen, die reichlich vorhanden sind, und alle Arten von Informationen zu sammeln. Darüber hinaus will ich ohne jede Selbstzufriedenheit sagen, dass meine Beharrlichkeit reich belohnt worden ist.

Am Tag, nachdem er diesen Brief verfasst hatte, verließ Laing Timbuktu und verschwand im Dunkel der Geschichte. Der Konsul leitete den Schlussbericht nach London weiter und fügte eine Notiz bei, in der er eine Art Sieg verkündet: Es sei der »erste Brief eines Christen«, »der uns von diesem Ort erreichte«. Was die tatsächliche Gewinnung von Fakten und Daten für die europäische geographische Forschung anbelangte, war Laings Expedition jedoch ein Flop. Wenn Timbuktu seinen hohen Erwartungen »in sämtlichen Punkten entsprach«, wo blieben dann die Einzelheiten? Besonders rätselhaft war Laings Versicherung, es gebe »Aufzeichnungen in der Stadt«, aus denen er »alle Arten von Informationen« gewonnen habe. Welche Art von Aufzeichnungen konnten sein Interesse wecken? Und von welchem Nutzen wären sie für die britische Regierung?

Beinahe zwei Jahrhunderte später ist klar, dass die »Aufzeichnungen in der Stadt« zu der großen Anzahl vorrangig arabischer Texte gehörten, die nun allgemein als »Manuskripte von Timbuktu« bekannt sind. Die Dokumente der Stadt, die Laing offenbar als erster Europäer gesehen hat, sind so zahlreich, dass niemand weiß, wie viele es dort tatsächlich gibt, wenngleich man schätzt, dass es Zehn-, wenn nicht sogar Hunderttausende sind. Sie enthalten einige der wichtigsten Quellen zur Blütezeit Timbuktus im 15. und 16. Jahrhundert sowie zum Songhai-Reich, zu dem die Stadt einst gehörte. Experten stellen die Manuskripte in ihrer Bedeutung den Qumran-Schriftrollen vom Toten Meer oder der »Angelsächsischen Chronik« zur Seite. Sie liefern den schlagenden Beweis dafür, dass es eine jahrhundertealte schriftliche Tradition auf dem afrikanischen Kontinent gab.

Im Jahre 2012 war dieser kulturelle Schatz akut in Gefahr. Nach einem Staatsstreich im Süden Malis fiel Timbuktu in die Hände der sogenannten »Organisation Al-Quaida des Islamischen Maghreb« (AQIM). Die Dschihadisten begannen, die jahrhundertealten Mausoleen der Sufi-Heiligen der Stadt systematisch zu zerstören. Am 28. Januar 2013 teilte ein hilfloser Bürgermeister von Timbuktu der Weltöffentlichkeit mit, dass auch Teile der Manuskripte verbrannt worden seien.

Ich erinnere mich gut an jenen Morgen.

Ich war damals Auslandsredakteur beim Guardian, und Mali hatte immer schon eine besondere Bedeutung für mich gehabt. Bereits mit achtzehn träumte ich davon, durch die Sahara zu fahren. Ich sparte Geld, kaufte einen alten Land Rover und machte mich gemeinsam mit einem Freund von Yorkshire aus auf die Reise. Über Marokko und Algerien gelangten wir nach Mali, das wir im Frühling des Jahres 1987 erreichten. Die Wüstenstadt Adjelhoc sollte das Ende unserer Durchquerung bilden, den Scheitelpunkt. Doch sobald wir dort ankamen, verfielen wir auf eine neue Idee.

Was, wenn wir das klapprige Auto gegen drei oder vier Kamele eintauschen würden und nach Timbuktu ritten? Was für eine Geschichte könnten wir dann erzählen! Wir fanden einen potenziellen Verkäufer und verhandelten mit ihm, doch als dieser nach einer Woche nicht mehr als ein einziges Kamel auftreiben konnte, gaben wir unseren Plan auf und fuhren weiter gen Süden. In Gao, der Hauptstadt des alten Songhai-Reichs, verkaufte ich den Wagen und reiste weiter nach Burkina Faso, zur Elfenbeinküste und von dort wieder nach Hause. Ich hatte es nicht nach Timbuktu geschafft, aber ich hatte mich in die Wüste verliebt. Im Jahre 1989 kehrte ich mit einem anderen Fahrzeug in die Sahara zurück, doch war dieses dazu geeignet, um eine Fahrt nach Mali zu riskieren. Erneut blieb die »Stadt der 333 Heiligen«, wie Timbuktu auch genannt wird, unerreichbar für mich.

Im Juli 2012 sah ich im Fernsehen wütend und traurig mit an, wie die Dschihadisten die Denkmäler Timbuktus zerstörten. Im Januar darauf, als man unserem Korrespondenten mitteilte, die Rebellen hätten eine Bibliothek mit mittelalterlichen Büchern in Brand gesetzt, machten wir dies zur Titelgeschichte der Online-Ausgabe des Guardian. Tage später stellte sich heraus, dass die Manuskripte gar nicht vernichtet, sondern von den Bibliothekaren der Stadt rechtzeitig an einen sicheren Ort geschmuggelt worden waren.

Ich brannte darauf, mehr über diese Aktion zu erfahren, die mich an Robert Crichtons Roman Das Geheimnis von Santa Vittoria erinnerte. Darin retten die Einwohner einer kleinen Stadt in der Toskana eine Million Weinflaschen vor den plündernden Nazis. Die Geschichte in Timbuktu war natürlich noch viel besser, da der Schatz, um den es dort ging, unendlich bedeutender war. Obendrein war es eine reale Geschichte. Ich gab meine Stelle auf, mit dem Entschluss, darüber ein Buch zu schreiben.

Bruce Chatwin stellte einmal fest, dass es zwei Timbuktus gebe. Das eine ist der reale Ort – eine träge Karawanenstadt, dort, wo der Niger in die Sahara abbiegt. Das andere Timbuktu ist eine sagenhafte Stadt aus dem Reich der Legenden – das Timbuktu der Phantasie. Ich wollte beiden Timbuktus gerecht werden, indem ich zwei unterschiedliche Erzählstränge entwarf: einen, der von den jahrhundertelangen Bemühungen des Westens erzählte, die Stadt zu finden, einzunehmen, ihre Geheimnisse zu lüften; und einen, der vom Hier und Jetzt handelte, wo es galt, ihre Manuskripte und ihre Geschichte vor der Vernichtung zu bewahren. Der erste Erzählstrang sollte ergründen, in welchem Ausmaß unser heutiges Bild von Timbuktu durch Legenden geprägt ist; der zweite sollte von Besatzung und Evakuierung handeln.

Was ich damals nicht erkannte, war, wie eng diese beiden Geschichten miteinander verwoben waren.

 

Charlie English

London 2016

Teil 1Besatzung

O Wanderer, der du hierherkommst, wenn du den Weg nach der messingnen Stadt nicht weißt, so reibe die Hand des Reiters, und er wird sich umdrehen. Wende dich dann nach der Seite, nach welcher er die Spitze der Lanze dreht.

Tausendundeine Nacht, Geschichte der messingnen Stadt

1.Der Manuskriptsucher

März 2012

An einem diesigen Morgen in Bamako, der Hauptstadt des westafrikanischen Staates Mali, fuhr ein klappriger Toyota Land Cruiser bis zum Ende einer betonierten Auffahrt und bog in den morgendlichen Berufsverkehr ein. Auf dem Beifahrersitz saß ein distinguiert wirkender Mann in weiten Gewändern und einer fezartigen Kappe. Er war siebenundvierzig Jahre alt, maß über einen Meter achtzig und wog fast hundert Kilogramm. Obwohl ein kleiner munterer Schnurrbart im französischen Stil seine Oberlippe zierte, hatte seine Erscheinung etwas Gebieterisches. Seine wachen braunen Augen verrieten Intelligenz und Scharfsinn. Dieser Mann war Abdel Kader Haidara, Bibliothekar von Timbuktu, und sein Name sollte schon bald auf der ganzen Welt berühmt sein.

Haidara war kein zögerlicher Mensch, doch an jenem Morgen, als sein Fahrer den schweren Wagen durch die Trauben knatternder, in China hergestellter Motorräder und zerbeulter Minibusse manövrierte, die sich in den Straßen der Stadt drängten, tat er sich mit einem Entschluss schwer. Das Autoradio, eingestellt auf Radio France Internationale, brachte beunruhigende Neuigkeiten über die Situation im Norden, während pausenlos die billigen Mobiltelefone, die er immer in Reichweite hatte, klingelten, weil ihm seine Kontaktleute im knapp tausend Kilometer nordöstlich gelegenen Timbuktu die neuesten Nachrichten schickten. Die Rebellen rückten durch die Wüste vor und trieben Regierungstruppen und Flüchtlinge vor sich her. An den Bushaltestellen sammelten sich die Heimatlosen. Die Landstraßen waren verstopft von Motorrädern, Pick-ups und uralten Lastern, die unter dem Gewicht der flüchtenden Bewohner bedrohlich hin und her schwankten. Als Haidara die Wohnung verlassen hatte, war ihm bewusst gewesen, dass eine Fahrt durch dieses Chaos gefährlich wäre, doch nun ähnelte das Ganze einem Himmelfahrtskommando. Bald hatte er genug: Er sagte etwas zu seinem Fahrer, dann schlugen sie den Weg zurück nach Westen ein, wo die Außenbezirke der weitläufigen afrikanischen Metropole lagen.

Responsable ist ein französisches Wort, das den Bibliothekar in mehr als einer Hinsicht zutreffend beschrieb: Haidara war »verantwortlich« für die sogenannten »Manuskripte von Timbuktu«, eine Kollektion handschriftlicher Dokumente, die so umfassend war, dass niemand genau wusste, wie viele es waren, wenngleich er selbst die Anzahl auf mehrere Hunderttausend schätzte. Kaum jemand hatte mehr geleistet, diese Manuskripte zutage zu fördern, als Haidara. Und in den kommenden Monaten sollte er es sein, der sich um ihre Rettung verdient machte.

Der Bibliothekar war ein stattlicher Mann mit einem erstaunlich weichen Händedruck. Es war ein flüchtiger Gruß, der nur eine oberflächliche Erinnerung an die Begegnung hinterließ. Er kannte sich gut mit Inhalt und Geschichte der Dokumente aus, wirkte jedoch weniger wie ein Gelehrter, sondern eher wie ein Geschäftsmann, der seine Angelegenheiten in einer Vielzahl von Sprachen unterwegs via Mobiltelefon regelte oder an seinem Schreibtisch, der die Größe eines kleinen Bootes hatte. Er war nicht der einzige Manuskriptbesitzer in der Stadt, doch als Eigentümer der größten Privatsammlung und Gründer von Savama – einer Organisation, die sich der Bewahrung der historischen Aufzeichnungen Timbuktus widmete – beanspruchte er für sich, das Gros der Familien zu vertreten, die in der Stadt Manuskripte besaßen.

Haidara war in einem großen Lehmhaus in Timbuktu aufgewachsen, das wie hunderttausend andere in der Region um einen Innenhof errichtet war. Er war eines von vierzehn Kindern von Mamma Haidara, eines Gelehrten aus Timbuktu. In den vergangenen hundert Jahren hatte sich seine Vaterstadt kaum verändert. Im Herzen der Stadt gab es drei Moscheen: die »Große Moschee« (Djingere-ber) im Westen, die Sidi-Yahia-Moschee im Zentrum und die Sankoré-Moschee im Norden. Dazwischen drängten sich Häuser und Märkte. Die Medina, die Altstadt, besaß die Form einer dicken Träne mit einem Umfang von etwa zweieinhalb Kilometern. Die Menschen hatten ihre Toten in der Nähe ihrer Behausungen beerdigt, und mit dem Wachstum der Stadt waren die Grabstätten in das Netz aus Gassen und Straßen aufgenommen worden. Die Lebenden und die Toten existierten nun Seite an Seite. In der Tradition der mittelalterlichen Sufi-Mystiker gab es keine scharfe Trennlinie zwischen beiden: Die angesehensten Vorfahren, die Gelehrten und Richter und Führer vergangener Zeiten, ruhten in prächtigen Mausoleen, wo sie als Heilige verehrt wurden. Jemand hatte einmal 333 Heilige gezählt. Da es eine verheißungsvolle Zahl war, nannte sich Timbuktu nun selbst so: die Stadt der 333 Heiligen.

Als Haidara aufwuchs, gab es in der Stadt keine Pkws, nicht einmal Lastwagen. Die erste Tankstelle wurde im Jahr 1974 eröffnet. Bis dahin war die Stadt voller Tiere gewesen. Schafe, Ziegen, Rinder und Hühner ernährten sich von der spärlichen Vegetation und Abfällen. Eselkarawanen brachten Getreide aus dem Süden. Die größten Ereignisse des Jahres waren die Ankünfte der Tausende von Kamelen umfassenden Salzkarawanen von den Bergwerken in der Wüste.

Im Alter von sechs Jahren hatte man Haidara zum Studium der heiligen Schriften in die Koranschule geschickt, danach auf die franko-arabische Schule. Er erinnerte sich an eine sorgenfreie Kindheit. Doch wie die meisten Familien in Timbuktu hatte auch die seine nur wenig Geld. Ihr größter Schatz waren die Manuskripte. Diese lagerten überall im Haus, auf Regalen, die sich unter dem Gewicht des Papiers bogen, und in Häusern von Verwandten in und um Timbuktu. Sie waren hauptsächlich in Arabisch verfasst und in brüchiges Kamel- oder Gazellenleder gebunden, von Termiten angefressen und voller Wasserflecken. Es gab Werke über Astronomie, Poesie und Medizin, ebenso wie ganz profane Dokumente zu Eigentumsverhältnissen und Gerichtsurteilen oder Kaufverträge. Ein Großteil war religiösen Inhalts – Kommentare und rechtliche Auslegungen der heiligen Schriften des Islams. Haidaras Vater verwendete die Manuskripte im Unterricht. Aus der ganzen Region kamen Schüler, um von dem Gelehrten und seinen Büchern zu lernen, während seine Freunde – die grandes personnalités, die führenden Persönlichkeiten der Viertel und die Prominenten Timbuktus – zum Meinungsaustausch bei ihm zusammensaßen. Manchmal bat ihn sein Vater, ihm ein bestimmtes Dokument zu holen. Dann durchsuchte er die Räume des Hauses, bis er das Werk gefunden hatte. Später begann er, Auszüge aus den Manuskripten zu kopieren, und erlangte auf diese Weise ein besseres Verständnis für die Schriften.

Mamma Haidara starb 1981, als Abdel Kader siebzehn war. Es war Tradition, dass die Familie des Verstorbenen und die Stadtväter den Nachlass unter sich aufteilten. Zu diesem Zweck wurde in einem Schulheft eine Liste von Mamma Haidaras Besitztümern zusammengestellt. Die Manuskripte wurden jedoch nicht aufgeführt. Die Sammlung durfte nicht geteilt, verkauft oder weggegeben werden. Stattdessen oblag es einem Mitglied der nächsten Generation, sie weiter zu bewahren. Die Ältesten wussten um Abdel Kaders Interesse und wählten ihn aus. Er sollte der neue responsable sein.

Etwa zur gleichen Zeit kam der malische Schriftsteller Amadou Hampâté Bâ nach Timbuktu, um dort zu sprechen. Bâ war so alt, dass er fast die Anfangstage der französischen Kolonisierung miterlebt hatte. Er galt als Experte für die westafrikanische Kultur. Er war ein geborener Erzähler, ein Sammler von Traditionen und ein Mann von hoher Intelligenz, der wie ein Weiser verehrt wurde. Haidara ging hin, um ihn zu hören. Bâ sagte zu seinem Publikum, die großen Städte der Welt bildeten eine lange Reihe in der Kulturgeschichte, und einmal, so Bâ, habe Timbuktu ganz vorn gestanden. Doch dann habe Gott den schlangestehenden Städten befohlen, sich herumzudrehen, und nun stehe Timbuktu ganz hinten. »Wir wissen nicht, wie«, sagte Bâ, »aber vielleicht befiehlt Gott eines Tages erneut eine Kehrtwende, sodass Timbuktu seinen alten Platz wieder einnimmt. Ihr solltet jedoch nicht die Hände in den Schoß legen und auf diesen Augenblick warten. Ihr müsst der Geschichte helfen. Ihr müsst eure Manuskripte hervorholen. Ihr müsst sie gebrauchen.« Bâs Worte machten tiefen Eindruck auf Haidara. An jenem Tag begriff er, welche Aufgabe auf ihn wartete. Er wollte versuchen, den Geist Timbuktus als einer Stadt der Manuskripte neu zu beleben.

Im Timbuktu der achtziger Jahre gab es bereits eine Organisation, die sich mit dem Studium der Manuskripte befasste. Mit Unterstützung der United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) hatte die malische Regierung 1973 ein Forschungsinstitut in der Stadt gestiftet, das nach einem aus Timbuktu stammenden Gelehrten des 16. Jahrhunderts benannt war, Ahmed Baba. Aufgabe des Instituts war die Sichtung und Bewahrung der schriftlichen Aufzeichnungen des Landes. Das Ahmed-Baba-Zentrum hatte mit weniger als hundert Manuskripten begonnen und diesen Bestand um rund dreitausenddreihundert Dokumente vergrößert, als sich sein Direktor im Jahr 1984 an Haidara wandte und ihn bat, dort als prospecteur zu arbeiten, als Manuskriptsucher. Haidara willigte ein. Er wurde zum erfolgreichsten Manuskriptsucher, den das Zentrum jemals hatte.

Zunächst sprach er Freunde an. Er nutzte seinen Charme, seinen Familiennamen und seine angeborene Beharrlichkeit. Oft leugneten die Menschen, Manuskripte zu besitzen, doch Haidara suchte sie immer wieder auf, bis sie sich schließlich anders besannen. Er forschte in Timbuktu, doch auch in der weiteren Region. Er reiste per Esel, Kamel, Boot und Land Rover kreuz und quer durch Mali. Manchmal schloss er sich den Salzkarawanen an, mit denen er vierzehn Stunden am Stück unterwegs war. Er besuchte Städte, Dörfer und Weiler und beschwatzte die Menschen, ihm die Dokumente zu überlassen, die sie verborgen oder vergessen hatten. Er reiste bis an die Grenzen Mauretaniens und des Senegal im Westen und an die Grenzen Burkina Fasos und Nigers im Osten. Er ging in die Städte Goundam, Diré, Tonka, Niafunké, Niono und in alle Ortschaften dazwischen. Für ein wertvolles achtseitiges Dokument zahlte er bis zu 200 Dollar, für ein komplettes Manuskript 300 Dollar, wenngleich er bisweilen in Vieh bezahlte, das oft mehr geschätzt wurde als Bargeld. Am begehrtesten waren Manuskripte zur Geschichte, gefolgt von aufwendig verzierten, sehr alten oder von lokalen Autoren verfassten Texten. War seine Beute zu sperrig, mietete Haidara ein Auto oder ein Flussschiff, um sie zurück nach Timbuktu zu transportieren. Stück für Stück trug er so immer mehr Bücher und Dokumente zusammen.

Innerhalb von zwölf Jahren bereicherte er die Ahmed-Baba-Sammlung um sechzehntausend Manuskripte. Danach setzte er seine Suche fort, hörte jedoch auf zu zählen. Während er das Staatsarchiv aufbaute, dachte Haidara zunehmend auch über seine eigenen Manuskripte nach, die in einem kleinen, dunklen Raum in Truhen lagerten, wo sie der Feuchtigkeit, Termiten und dem Risiko eines Brandes ausgesetzt waren. Doch selbst, wenn er gewollt hätte, wäre es ihm nach altem Recht nicht erlaubt gewesen, sie zu verkaufen. Also beschloss er, seine eigene Forschungsbibliothek einzurichten. Er sandte Faxe an internationale Institutionen und Stiftungen und lockte einflussreiche Besucher in die berühmte Stadt, die er um Unterstützung bat. Viele wollten die Schriften kaufen, aber niemand wollte Geld dafür ausgeben, dass sie in Timbuktu blieben.

Im Jahr 1997 kam der bekannte amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaftler Henry Louis Gates jr. nach Mali, und Haidara lud ihn ein, seine Sammlung zu besichtigen. Als Gates die Dokumente erblickte, die man vor ihm ausbreitete, kamen ihm die Tränen. Warum er weine, fragte Haidara. Er antwortete, er habe fast zwanzig Jahre lang an einigen der besten Universitäten der Welt gelehrt, und stets habe er seinen Studenten erzählt, dass es in Afrika keine eigene schriftliche Tradition gebe, sondern ausschließlich eine mündliche. Dass er diese Manuskripte gesehen habe, verändere alles für ihn. Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten machte sich Gates für die Finanzierung von Haidaras Projekt stark, das bald die Unterstützung der »Andrew W. Mellon Foundation« fand. Andere ausländische Sponsoren – die »Ford Foundation«, die in London ansässige »Al-Furqan Islamic Heritage Foundation«, das »Juma al-Majid Center for Culture and Heritage« in Dubai – stellten in den kommenden Jahren ebenfalls Gelder zur Verfügung.

Im Jahr 2000 wurde das erste moderne Privatarchiv Timbuktus, die Mamma-Haidara-Gedächtnisbibliothek, in Anwesenheit der malischen First Lady feierlich eröffnet. Danach half Haidara seinen Freunden bei der Gründung eigener Institute, die bald allerorten aus dem Boden schossen, als immer mehr Familien aus Timbuktu ihre Sammlungen zugänglich machten.

Die Manuskripte erlangten auf diese Weise internationale Berühmtheit. In zunehmendem Maße wurden sie für eine Neuinterpretation von Afrikas Vergangenheit herangezogen, die sich gegen den Rassismus wandte, der den Kontinent so lange im Würgegriff gehalten hatte. Westliche Philosophen und Historiker hatten stets das Fehlen schriftlicher Zeugnisse aus Afrika als Beweis für die Rückständigkeit eines Kontinents angeführt, der nicht einmal eine Geschichte besitze.

»Es gab noch nie eine zivilisierte Nation von anderer Hautfarbe als der weißen«, schrieb David Hume 1748, »oder auch einen Einzelnen von Bedeutung in Tat und Spekulation. Keine erfindungsreichen Manufakturen bei ihnen, keine Künste, keine Wissenschaften.« Diese Sicht teilte noch im Jahr 1963 der britische Historiker Hugh Trevor-Roper: »Vielleicht wird es in der Zukunft eine afrikanische Geschichte zu lehren geben. Gegenwärtig jedoch gibt es keine. Es gibt nur die Geschichte der Europäer in Afrika. Der Rest ist Finsternis.« Manuskripte existierten in ganz Afrika, doch die Schriften von Timbuktu waren die berühmtesten. Nun führte man sie als Gegenbeweis ins Feld. Auf die Manuskripte berief sich etwa im Jahr 2001 der südafrikanische Präsident Thabo Mbeki im Rahmen einer Kampagne, die zu einer neuen Sicht auf Afrika einlud. Er ließ darüberhinaus von einem südafrikanischen Architekten einen großen modernen Neubau für das Ahmed-Baba-Zentrum in Timbuktu entwerfen, das ab 2009 eine Ausstellung, einen Konferenzsaal, Restaurierungswerkstätten und eine akademische Museumseinrichtung beherbergen sollte.

»Die Manuskripte eröffnen Möglichkeiten, die Welt mit anderen Augen zu sehen«, sagte Mbeki, »die Gelegenheit, die Geschichte ganz neu aufzurollen.«

Unterdessen schritt die Forschung rasch voran, die Anzahl von Dokumenten, die in Timbuktu eintrafen, wuchs stetig. Im Jahr 2001 verkündete John Hunwick von der Northwestern University, der führende internationale Experte auf dem Gebiet schriftlicher islamischer Überlieferungen Westafrikas, dass man ihm in Timbuktu eine Sammlung von dreitausend Manuskripten gezeigt habe – darunter Werke zur Theologie, Jurisprudenz und Geschichte –, angesichts derer man »die Geschichte neu schreiben« müsse. »Mir sind fast die Augen aus dem Kopf gefallen«, sagte Hunwick gegenüber der Chicago Tribune. »Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gesehen.« Hunwicks Freund und Kollege Sean O’Fahey sagte, es sei, »als stieße man auf eine zweite Angelsächsische Chronik, die uns einen neuen Blick auf die Frühgeschichte Englands ermöglicht hat«. Und David Robinson, Professor für afrikanische Geschichte an der Michigan State University, nannte den Fund schlicht »kolossal«.

Anfang der achtziger Jahre hatte Amadou Hampâté Bâ die Menschen von Timbuktu dazu aufgefordert, sich auf die eigene Geschichte zu besinnen. Im Jahr 2011 waren Haidara und seine manuskriptsuchenden Kollegen dem Ziel einen großen Schritt näher gekommen, Timbuktu wieder seinen rechtmäßigen Stellenwert in der Welt zu verschaffen. Die Anzahl von in der Provinz gezählten Manuskripten habe inzwischen 101820 Stück erreicht, verkündete Haidara, und die Zahlen für das gesamte Land rangierten knapp unter der Millionengrenze. Ohne Feuer, Krieg und Naturkatastrophen wäre die Zahl noch weitaus höher.

Doch dann eskalierte in der Wüste außerhalb der Stadt ein Konflikt, der dort schon lange geschwelt hatte.

Der Norden Malis, der sogenannte Azawad, war schon immer unsicheres Gebiet gewesen, ein Zufluchtsort für Banden, Schmuggler und Rebellen. Seit den Kolonialzeiten kämpften nomadische Tuareg von hier aus gegen die schwarze Regierung in Bamako. Erst 1996 war es zu einem Friedensschluss der verfeindeten Parteien gekommen.

Im Jahr 2003 nun hatten algerische Dschihadisten, die ihre eigene Regierung bekämpften, auf der anderen Seite der Grenze, in Mali, Zuflucht gesucht. Bald darauf erhielten sie den Segen von Osama Bin Laden und nannten sich um in »Organisation Al-Qaida des Islamischen Maghreb (AQIM). Sie wurden in der Wüste sesshaft, wo sie sich eine Scheibe vom Schmuggelgeschäft abschnitten. Ihre wichtigste Einnahmequelle waren jedoch Entführungen. Zwischen 2003 und 2010 erpresste die AQIM zig Millionen Dollar für westliche Diplomaten, Mitarbeiter von Energiekonzernen und Touristen, die in die falsche Gegend geraten waren.

2011 trat eine neue Verschärfung der Lage ein. In jenem Jahr führte eine von NATO-Jets und Cruise Missiles unterstützte Revolution zum Sturz des Regimes von Muammar al-Gaddafi. Hunderte malischer Tuareg, die in den Armeen des Diktators gedient hatten, kehrten aus Libyen zurück. Was sie an Waffen und Munition tragen konnten, nahmen sie mit. In Mali schlossen sie sich einer politischen Bewegung an, die sich für einen unabhängigen Tuareg-Staat im Norden des Landes starkmachte. Die »Nationale Bewegung zur Befreiung des Azawad« war geboren. Die MNLA, so die französische Abkürzung, erklärte der Regierung in Bamako den Krieg und fügte dem demoralisierten Militär mit Unterstützung des verbündeten Al-Qaida-Terrornetzwerks eine Reihe schmachvoller Niederlagen zu. Mitte März 2012 kam es zum Staatsstreich durch eine Gruppe unzufriedener malischer Armeeoffiziere, und in dem darauf folgenden politischen Chaos nutzten die Rebellen die Gelegenheit und fegten über den Norden hinweg, während sich die Armee ungeordnet zurückzog.

Als Haidara am Morgen des 31. März in seinem Auto saß, änderte er noch einmal seinen Entschluss. In dieser Stunde der Bedrohung gab es für ihn nur einen Ort auf der Welt. Der schwerfällige Land Cruiser beschrieb erneut einen U-Turn und fuhr zurück nach Nordosten, in Richtung Timbuktu. Dorthin, wo Krieg herrschte.

2.Ein großer weißer Fleck

Juni–November 1788

Die Suche nach Timbuktu begann, wie solche Dinge manchmal zu beginnen pflegten: in einem Wirtshaus. Am 9. Juni 1788 kam eine Gruppe von neun einflussreichen Männern in der St. Alban’s Tavern in London zusammen, nur einen Flintenschuss von der offiziellen Residenz des Königs, dem St. James’s Palace, entfernt. Man sprach über die Zukunft der Erkundung der Welt. An dem Treffen des exklusiven Saturday’s Club – es schien keine Rolle zu spielen, dass es an einem Montag stattfand – nahmen teil: ein ehemaliger Kabinettsminister, ein künftiger Generalgouverneur von Indien, ein Kammerherr und eine Reihe von Rittern. Acht der insgesamt zwölf Mitglieder des Clubs waren Parlamentsangehörige. Sechs gehörten der angesehenen britischen Wissenschaftsakademie, der Royal Society, an. Einer – die Schlüsselfigur bei dieser Versammlung von Schlüsselfiguren – war der Präsident der Royal Society, Sir Joseph Banks.

Banks war damals zweiundvierzig Jahre alt, trinkfreudig und stämmig. Im Gegensatz zu seinem berühmten Vorgänger Isaac Newton war er sehr beliebt. James Boswell beschrieb ihn als »Elefanten, recht friedlich und freundlich«, der es einem gestattete, »auf seinem Rücken zu sitzen oder mit seinem Rüssel zu spielen«. Er hatte eine Ausbildung in Harrow und Eton genossen, wo er die Klassiker zu hassen und die Botanik zu lieben gelernt hatte. Kurz, nachdem er Oxford verlassen hatte, brach er zu seinem ersten wissenschaftlichen Abenteuer auf. Als Naturkundler reiste er auf einer Fregatte der Royal Navy nach Neufundland und Labrador. Dies war jedoch nur die Generalprobe für jene Reise, mit der er sich einen Namen machen sollte: James Cooks erste Weltumseglung. Im Jahr 1771 kehrte er von der dreijährigen Fahrt mit sage und schreibe dreißigtausend Exemplaren verschiedener Pflanzen zurück. Sein Ruhm überstrahlte selbst den von Cook. Er wurde ein enger Vertrauter von George III. und machte seine Royal Botanical Gardens in Kew zu einem bedeutenden Forschungszentrum. Mit fünfunddreißig leitete er die bedeutendste wissenschaftliche Gesellschaft der Welt, die Royal Society. Diese Position behielt er die folgenden vier Jahrzehnte inne. Er stand in Kontakt mit den bedeutendsten Naturwissenschaftlern, philosophischen Denkern und Politikern seiner Zeit – von Carl von Linné über Benjamin Franklin bis zu Thomas Paine und Henri Christophe, dem König von Haiti. Von seinem Haus am Soho Square 32 aus verschickte er Tausende von Briefen, in denen er Projekten, die ihn begeisterten, seine Unterstützung zusicherte und mit seinen Ratschlägen begleitete. Und begeistern konnte er sich für eine ganze Menge.

Auf allen Gebieten menschlichen Forschens und Erfindens wurden gegen Ende des 18. Jahrhunderts gewaltige Fortschritte gemacht. Es war eine Zeit der Entdeckungen und der Revolutionen. 1783 erlangte Amerika seine Unabhängigkeit von der britischen Krone. 1789 richteten die Franzosen ihren König hin.

Banks war allen Neuerungen gegenüber aufgeschlossen und förderte sie nach Kräften: William Roys erste wissenschaftliche Landvermessung und Kartierung von Großbritannien; William Smith, der eine erste geologische Karte Großbritanniens schuf; William Herschel, den Entdecker des Planeten Uranus. Als Mitglied des Board of Agriculture sowie des Board of Longitude half er, die Getreideproduktion ebenso wie die Navigation auf See zu modernisieren, während er als Treuhänder des British Museum Sammlungen zusammentrug, die das Fundament für das Natural History Museum und die British Library bildeten. Überseeische Unternehmungen interessierten Banks besonders: Er stand hinter der unglückseligen Mission der HMS Bounty, Brotfruchtbäume aus Tahiti zu verpflanzen, um Sklaven in der Karibik zu ernähren, und befürwortete die Einrichtung einer Strafkolonie in Australien. Erst in jenem Januar war die erste Flotte mit Verurteilten an einem Gestade angelangt, wo er einst nach neuen Pflanzenarten gesucht und das Cook auf den Namen Botany Bay getauft hatte.

Im Sommer 1788 richteten Banks und seine Freunde ihre Aufmerksamkeit in eine neue Richtung – nach Afrika. Es war ein in der westlichen geographischen Forschung nahezu unbekannter Kontinent, auf den Banks einst selbst seinen Fuß gesetzt hatte, als Cooks Schiff Endeavour1771 in der Bucht von Kapstadt vor Anker gegangen war. Damit bildete er jedoch eine Ausnahme. Selbst als Forschungsreisende die amerikanischen Kontinente, Asien und die Arktis erkundeten, waren die kartographischen Kenntnisse des afrikanischen Kontinents noch immer dürftig. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatte sich der Satiriker Jonathan Swift mit einem frechen Vers darüber lustig gemacht:

So Geographers in Afric-maps,

With Savage-Pictures fill their gaps;

And o’er unhabitable downs

Place Elephants for want of towns.

[Die Afrika-Geographen füllen

Ihre Wissenslücken mit Bildern von Wilden,

Und das unbewohnbare Hügelland

In Ermangelung von Städten mit Elefanten.]

Mitte der siebziger Jahre wurde erstmals das Interesse für diese vernachlässigte Weltregion geweckt, durch einen schottischen Edelmann: James Bruce. Bruce war aufgebrochen, um die Quelle des Nils zu finden, und verbrachte am Schluss zwei Jahre in Äthiopien. »Afrika kommt allerdings in Mode«, schrieb Horace Walpole 1774. »Gerade ist ein Mr. Bruce zurückgekehrt, der drei Jahre am Hof von Abessinien gelebt und jeden Morgen zusammen mit den Hofdamen lebende Ochsen gefrühstückt hat.« Infolgedessen, so bemerkte Walpole gehässig, seien Banks’ eigentliche Großtaten »mehr oder weniger in Vergessenheit geraten«.

Afrika kam in London nicht nur in Mode, sondern wurde auch Gegenstand einer schwelenden moralischen Krise, die in den nächsten fünfzig Jahren die britische Außenpolitik prägen sollte. Ende der siebziger Jahre war der Handel entlang der westafrikanischen Küstenregionen zu einer wichtigen Säule der britischen Wirtschaft geworden. Benannt wurden die Regionen nach ihren jeweiligen Handelsgütern: Pfefferküste (Liberia, Sierra Leone), Elfenbeinküste, Goldküste (Ghana), Sklavenküste (Togo, Benin, Nigeria). In dem halben Jahrhundert bis 1772 hatte sich der Umfang des Afrikahandels auf fast eine Million Pfund im Jahr versiebenfacht. »Wie bedeutend doch unser Handel in Afrika ist«, schrieb ein unbekannter englischer Geschäftsmann in jenem Jahr. »Mit ihm steht und fällt der ganze Rest. Er ist die wichtigste Triebfeder der Maschine, die das Rad in Bewegung setzt.« Zu einem großen Teil wurde mit Menschen gehandelt: In London, Liverpool und Bristol ansässige Kapitäne tauschten Waffen aus Birmingham und Stoffe aus Ostengland gegen Sklaven, die zu den westindischen Tabak- und Zuckerplantagen verschifft wurden, mit denen die britische Wirtschaft in Schwung gehalten wurde. In den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts transportierten britische Schiffe jährlich zweiundvierzigtausend Sklaven über den Atlantik, mehr als jede andere europäische Nation.

Nun jedoch bekamen die Briten ein schlechtes Gewissen, da die Menschen erstmals mit den Opfern der Sklaverei in Berührung kamen. Im Jahr 1770 arbeiteten in England Zehntausende Schwarze als Hausdiener, und in den folgenden Jahren erschienen erste Bücher, in denen der Sklavenhandel angeprangert wurde. Insbesondere die Merkwürdige Lebensgeschichte des Sklaven Olaudah Equiano, von ihm selbst veröffentlicht im Jahre 1789 sollte zu einer wahren Streitschrift der Sklavereigegner werden, besonders im Umfeld der Glaubensgemeinschaft der Quäker, die eine Bewegung zur Abschaffung des Menschenhandels ins Leben riefen. Mitglieder des Saturday’s Club wie der Abgeordnete Henry Beaufoy sahen in der Ausbeutung anderer, »legitimer« Güter in Afrika die Möglichkeit, der Sklaverei ein Ende zu machen. Andere, darunter auch Banks, witterten neue Geschäftsmöglichkeiten, die für England von Vorteil sein könnten.

Diese Motive wurden vom Club nicht öffentlich dargelegt. Der vorgeschobene Grund für den neuerlichen, von Beaufoy angeregten und von Banks befürworteten Vorstoß nach Afrika war reiner, uralter Entdeckergeist.

Von den Objekten, die unsere Aufmerksamkeit am meisten fesseln, gibt es vielleicht nichts, das von der Kindheit bis ins Alter so sehr die Neugier entfacht, nichts, was Gebildete und Ungebildete gleichermaßen zu ergründen streben, wie die Natur und die Geschichte jener Teile der Welt, die nach unserem Wissen bislang noch nicht erforscht worden sind.

Die britische Seefahrt und Cooks Reisen im Besonderen waren derart erfolgreich, dass »mit Ausnahme der Pole nichts mehr bleibt, das auf See zu erforschen sich lohnt«, fuhr Beaufoy fort. Die Zukunft der Forschungsreisen lag daher an Land. Mindestens ein Drittel der bewohnbaren Erdoberfläche war noch nicht kartographisch erfasst, darunter große Teile Asiens und Amerikas und beinahe ganz Afrika. Dank der Anstrengungen von George Forster, der in den Diensten der East India Company stand, der von Bengalen über Afghanistan, Persien und Russland nach England gereist war, würde sich die Kenntnis von Asien vermutlich bald »ihrer Perfektion nähern«. Daneben konnte man auf die Pelzhändler von Montreal bauen, West-Kanada in den Griff zu bekommen. Das Landesinnere Afrikas hingegen war immer noch »ein großer weißer Fleck« auf der Landkarte, auf der die Geographen mit zögernder Hand »ein paar Namen nicht erforschter Flüsse und unbestimmter Nationen« eingetragen hatten.

Solche Unwissenheit, stellte Beaufoy fest, »muss dem gegenwärtigen Zeitalter in gewissem Grade zum Vorwurf gemacht werden«. Um sich von diesem Makel zu befreien, wollte der Saturday’s Club eine neue geographische Abteilung gründen, die African Association, die sich für die Erforschung des Kontinents stark machen sollte:

In dem Bestreben, das Zeitalter vom Vorwurf der Ignoranz zu befreien, welcher ansonsten so wenig seinem Charakter entspricht, haben einige Personen in der festen Überzeugung, dass es praktikabel und nützlich sei, den menschlichen Wissensschatz zu mehren, den Grundstein für eine Gesellschaft zur Förderung der Erkundung des afrikanischen Landesinneren gelegt.

Rasch legte man die Statuten der Gesellschaft fest, einigte sich auf einen Jahresbeitrag von 5 Guineen und wählte ein fünfköpfiges Komitee. Banks sollte Schatzmeister und Beaufoy Sekretär werden, während Lord Rawdon, der Bischof von Llandaff, und der Rechtsanwalt Andrew Stuart zu Beisitzern ernannt wurden. Aufgabe dieser Männer sollte es sein, »geographische Missionare« anzuwerben, die die ersten Entdeckungsreisen unternehmen sollten.

Blieb nur noch die Frage, wohin auf dieser großen nicht kartographierten Landmasse man sie entsenden sollte.

 

Tim-buk-tu. Die Herleitung dieser drei Silben ist umstritten. Vielleicht bedeutet es »Mauer« oder »Quelle« von »Buktu«, einer Sklavin, die an diesem sagenumwobenen Ort acht Kilometer jenseits des Scheitelpunkts des Nigerbogens lebte. Oder auch »das Lager einer Frau mit großem Nabel«. Gemeint sein könnte aber auch ein tiefliegender, in den Dünen verborgener Ort. Es gibt viele Theorien, viele Aussprachen und Schreibweisen dieses Wortes, das Bruce Chatwin einst als »Beschwörungsformel« bezeichnete, die man »einmal hört und niemals vergisst«. Mehr oder weniger fest steht, dass um das Jahr 1100 an diesem Ort eine Siedlung entstand, die sich dank ihrer Lage am Berührungspunkt der größten Trockenwüste der Erde und des längsten Flusses Afrikas zu einer bedeutenden Stadt entwickelte.

Die Sahara erstreckt sich über neun Millionen vierhunderttausend Quadratkilometer und reicht vom Atlantik bis zum Roten Meer sowie vom Mittelmeer bis zur Sahelzone. Sie bedeckt einen größeren Teil der Erdoberfläche als die gesamten Vereinigten Staaten, als China oder Australien. In der Phantasie der meisten Menschen ist sie ein Meer wogender Dünen, doch obwohl es solche Sandozeane tatsächlich gibt, bilden sie lediglich etwa ein Sechstel der gesamten Wüste. Die Tuareg nennen die Sahara tinariwen, was »Wüsten« bedeutet, also im Plural, um die vielen unterschiedlichen Facetten der Sahara zu beschreiben. Es gibt in den Himmel ragende, über dreitausend Meter hohe Berge und Salzseen in der Größe des Ontariosees, auf denen der Treibsand leicht ein Auto verschlucken kann. Größtenteils aber besteht die Sahara aus Hunderttausenden Quadratkilometern flachen, nackten Felsgesteins.

Vor sechstausend Jahren durchstreiften Elefanten, Giraffen und Flusspferde dieses Land, tranken aus seinen Seen und ernährten sich von der Vegetation. Heute regnet es in weiten Teilen manchmal jahrelang nicht. Wenn doch ein Schauer niedergeht, bilden sich reißende Ströme, die tiefe Gräben in die Oberfläche spülen und dann nur Augenblicke darauf wieder verschwinden. Manchen Messungen zufolge ist die Sahara der heißeste Ort der Erde, an dem die Temperaturen bis zu sechzig Grad Celsius im Schatten erreichen. In Winternächten hingegen, ohne den Schutz von Wolken, Erdreich oder Vegetation, kann die Wüste weiß überfrieren. Über dieser nackten Einöde kollidieren Schichten heißer und kalter Luft, was gewaltige Winde erzeugt, die manchmal bis zu fünfzig Tage anhalten und dabei einen alles erstickenden Staub aufwirbeln, der die Sonne verdunkelt. Obendrein bilden sich Sandhosen, durch die Pflanzen entwurzelt und Tiere getötet werden.

Die Wüste ist zwar lebensfeindlich, doch an ihrem südwestlichen Ende trifft sie auf die Lebensader Westafrikas, einen Strom, den die Einheimischen den »großen Fluss« oder den »Fluss der Flüsse« nennen. Der Rest der Welt kennt ihn als Niger. Der Niger entspringt in über neunhundert Metern Höhe in einer Schlucht des Berglandes Fouta Djallon in Guinea, einem der feuchtesten Orte der Welt. In Fouta Djallon entspringen auch die beiden anderen großen Ströme Westafrikas, der Gambia und der Senegal. Jeder dieser Flüsse gibt seinen Namen einem Land, doch allein dem mächtigen Niger gelingt dies auf seinem langen Weg zum Meer gleich zweimal. Nähme er die kürzeste Route zum Atlantik, wäre er ein steiler Sturzbach von zweihundertvierzig Kilometern Länge. Stattdessen aber bricht der Niger selbstbewusst in die falsche Richtung auf und fließt zunächst nach Nordosten, um bei Timbuktu einen mächtigen Bogen zu beschreiben und wundersam durch die Wüstendünen zu mäandern, bevor er sich achthundertsechzig Kilometer später in der Bucht von Benin ins Meer ergießt.

Auf rund einem Drittel der Strecke verliert sich der Fluss in einem flachen, vierhundertachtzig Kilometer langen Inlandsdelta. Aus der Luft sieht das Ganze aus wie ein Fluss, der über einen Strand ins Meer fließt. Das Wasser teilt sich in Dutzende seichter Kanäle und Bäche. Zwei Drittel des Wassers verdunsten hier, und am Ende der Dürreperiode sind weite Abschnitte des Flussbetts trocken. Wenn im Juli die ersten Regenfälle niedergehen und gewaltige Wassermassen stromabwärts fließen, füllen sich die ausgetrockneten Kanäle und Seen, und alles erblüht zu neuem Leben. Flutendes Gras und wilder Reis schießen aus dem Boden, Fische und Insekten schlüpfen, Reiher und Löffler treffen ein und gesellen sich zu Flusspferden, Krokodilen und Rundschwanzseekühen. Viehhirten treiben ihre Tiere zum Grasen an die frisch bewachsenen Flussufer. Bauern ernten Reis und Hirse.

Timbuktu liegt am oberen Ende dieses Deltas. Es ist die Kreuzung des Flusshandels und der Karawanenstraßen, der Treffpunkt »aller, die mit Kamel oder Kahn reisen«, wie ein geflügeltes Wort besagt.

In Ägypten war es die alljährliche Nil-Überschwemmung, die von alters her die Menschen ernährte. Hier in den westafrikanischen Ländern war es das fruchtbare Inlandsdelta des Niger. Schon in der Antike drangen Berichte über diese Länder bis nach Europa. Im 5. Jahrhundert v. Chr. erwähnte Herodot die Existenz eines Flusses auf der anderen Seite der Wüste, in dem es von Krokodilen wimmele und an dessen Gestade eine von schwarzen Kriegern bewohnte Stadt liege. Fünf Jahrhunderte später schrieb Plinius der Ältere über furchterregende Stämme, die dort lebten. So gebe es Aegipane, die »halb Mensch, halb Tier« seien; Troglodyten, die nicht sprechen könnten, sondern sich mit fledermausartigen Quieklauten verständigten; und kopflose Blemmyer, »deren Mund und Augen in der Brust sitzen«. Die Vorstellung dieser missgebildeten Menschen hielt sich bis ins Mittelalter. Auf der um das Jahr 1300 entstandenen Hereford-Karte sind in Afrika sowohl die Blemmyer als auch die Troglodyten abgebildet. Spätere Historiker übertrafen Plinius sogar noch und stellten Afrikaner als Menschen mit einem Auge in der Stirn oder einem einzigen riesigen Fuß dar, groß genug, um in der heißen Sonne Schatten zu spenden.

Im 7. Jahrhundert war der Weg nach Afrika für das christliche Europa von muslimischen Armeen abgeschnitten. Rund tausendzweihundert Jahre lang blieben Informationen über die Länder jenseits der Sahara auf Berichte muslimischer Händler beschränkt, die regelmäßig die Wüste durchquerten. Ihre Erzählungen waren oft sagenhaft ausgeschmückt. So staunte man in Europa etwa über riesige Goldgräberameisen, die das kostbare Edelmetall aus afrikanischen Flussbetten bargen. Die Schilderungen vom Reichtum der Region kamen jedoch nicht von ungefähr. Vor der Entdeckung des amerikanischen Kontinents stammten zwei Drittel des im Mittelmeerraum in Umlauf befindlichen Goldes aus dem Sudan. Der muslimische Geograph Al-Idrisi schrieb im 12. Jahrhundert, der König des alten Ghana sei so reich, dass er »einen dreißig Pfund schweren Klumpen Gold« besitze, »nicht gegossen oder von Werkzeugen bearbeitet, sondern nur von göttlicher Vorsehung geformt«. Im 14. Jahrhundert berichteten arabische Chronisten über den Hadsch, also die Pilgerfahrt nach Mekka, des malischen Königs Mansa Musa I. im Jahr 1325. Musa, so hieß es, sei mit einer Gesellschaft von sechzigtausend Personen, fünfhundert Sklaven und einer Reisekasse von zwei Tonnen Gold aufgebrochen und mit seinem Reichtum derart verschwenderisch umgegangen, dass er den Preis des Edelmetalls in Kairo für die Dauer einer Generation verdorben habe.

Timbuktu taucht in der europäischen Geographie erst fünfzig Jahre später auf, im Katalanischen Weltatlas, einer auf Mallorca entstandenen Karte der bekannten Welt aus dem Jahr 1375, die der Kartograph Abraham Cresques für den spanischen König anfertigte. Der Name der Stadt lautete hier »Tenbuch«. Doch von Beginn an wurde sie mit Reichtümern assoziiert, da Cresques sie direkt neben ein Bildnis von Musa gesetzt hatte, der eine schwere Goldkrone trägt und ein großes goldenes Zepter und einen gewaltigen Goldklumpen in Händen hält.

Spätere Berichte schienen Cresques’ Informationen zu bestätigen. Im Jahr 1454 erreichte ein im Dienst des portugiesischen Prinzen Heinrich des Seefahrers stehender venezianischer Kapitän die Handelsoase Waddan südlich von Tripolis. Als er nach Hause zurückkehrte, berichtete er davon, wie Kamelkarawanen Steinsalz nach »Tanbutu« und dann nach »Melli [Mali], ins Königreich der Schwarzen« brachten, wo es gegen große Mengen Goldes getauscht wurde. Im 16. Jahrhundert erschien in Europa schließlich ein Augenzeugenbericht, der die Legende vollends besiegelte.

Der Name des Reisenden war Al-Hasan ibn Muhammad al-Wazzan al-Zayyati, in Europa bekannt als Leo Africanus. Seine Biographie ist nur lückenhaft bekannt, doch nimmt man an, dass er in Granada geboren wurde und in jungen Jahren mit seiner Familie nach Fez, in Marokko, zog, wo er eine gute Erziehung genoss. Im Alter von siebzehn Jahren, also etwa zwischen 1506 und 1510, soll er einen Onkel auf dessen diplomatischer Mission in den Sudan begleitet und dabei Timbuktu besucht haben. Ein Jahrzehnt später wurde er von christlichen Korsaren gefangen genommen, die ihn nach Rom brachten, wo er von Papst Leo X. in die Freiheit entlassen und zum Christentum bekehrt wurde. Er nahm zunächst den Namen Johannis Leo de’ Medici an, der später zu Leo Africanus wurde. Leo ließ sich in Italien nieder und verfasste mehrere Bücher, doch am meisten Beachtung fand seine Beschreibung Afrikas, in der er das Leben im Sudan schilderte. Er habe den Europäern eine neue Welt erschlossen, sagte man, wie Kolumbus durch seine Entdeckung Amerikas.

In Leos Schilderung war Timbuktu eine reiche und schöne Stadt. Wenngleich die Häuser meist aus Lehm und Stroh bestanden, stand im Stadtzentrum doch »ein Tempel aus behauenen Steinen und Kalkmörtel, erbaut von einem Architekten aus Béticos [in Südspanien] … sowie ein vom selben Baumeister errichteter Palast, in welchem der König wohnt«. Mehrere Quellen speisten die Stadt mit Süßwasser, und es gab reichlich Getreide, Vieh, Milch und Butter. Salz war allerdings sehr teuer, da es aus den über achthundert Kilometer entfernten Bergwerken in der Wüste in die Stadt gebracht werden musste. Die Einwohner seien »sehr reich«, bemerkte Leo, und statt Münzen gebrauchten sie Klümpchen puren Goldes. Der König von Timbuktu unterhalte ein stehendes Heer von dreitausend Reitern sowie eine große Anzahl Fußsoldaten, die mit vergifteten Pfeile schössen. Außerdem besitze er »gewaltige Schätze in Münzen und Goldbarren«, von welchen einer tausenddreihundert Pfund wiege. Sein Hof sei »überwältigend«:

Wenn der König mit seinem Hofstaat von einer Stadt in eine andere zieht, reitet er auf einem Kamel, und die Pferde werden von Stallmeistern geführt. Kommt es zum Kampf, halten die Stallmeister die Kamele im Zaum, und die Soldaten besteigen die Pferde. Will jemand den König ansprechen, fällt er vor ihm auf die Knie, nimmt eine Handvoll Staub und streut ihn sich aufs Haupt.

Die Menschen in der Stadt besäßen ein fröhliches Wesen: »Es ist ihre Gewohnheit, zwischen zehn Uhr abends und ein Uhr in der Nacht durch die Straßen zu ziehen, zu tanzen und zu musizieren«, schrieb Leo. In der Stadt gebe es zudem viele gebildete Menschen. Dies bedeute, dass großer Bedarf an Schriften herrsche, die auf den Märkten der Stadt höher gehandelt würden als alle anderen Güter:

In Timbuktu gibt es zahlreiche Richter, Gelehrte und Priester, die der König allesamt gut bezahlt, da er gebildete Männer sehr schätzt. Viele Bücher aus der Barbarei werden verkauft, da solcher Handel einträglicher ist als andere Waren.

Leos Werk wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Im Jahr 1600 erschien eine englische Ausgabe, die großes Interesse für Afrika entfachte. Möglicherweise diente sie als Quelle für Shakespeares Othello. Ganz sicher brachte die Schilderung des subsaharischen Reichtums englische Abenteurer dazu, den Portugiesen weiter die westafrikanische Küste hinab zu folgen. Im Jahr 1620 erreichte eine von dem Engländer Richard Jobson geleitete Expedition die Stadt Tenda am Gambia. Dort erzählte ihm ein Kaufmann von einer weiter flussaufwärts gelegenen Stadt namens Tomboconda, wo »die Häuser mit Gold gedeckt« seien. Jobsons Expeditionsbericht wurde 1625 von dem englischen Geistlichen und Herausgeber von Reiseschriften Samuel Purchas neu veröffentlicht, der seine Landsleute drängte, den afrikanischen Kontinent weiter zu erforschen. »Die reichsten Goldminen der Welt liegen in Afrika«, schrieb Purchas. »Ich kann mich nur darüber wundern, dass so viele kostspielige Reisen in entlegenere Regionen im Osten und Westen unternommen wurden, das in der Mitte gelegene Afrika indes unbeachtet geblieben ist.«

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte die Legende des goldenen Timbuktu einen festen Platz in der europäischen Vorstellungswelt eingenommen, obwohl noch kein Europäer die Stadt zu Gesicht bekommen hatte und der detaillierteste Augenzeugenbericht beinahe drei Jahrhunderte alt war. »Timbuktu war der Magnet, der Europa ins Herz Westafrikas zog«, wie es ein Historiker einmal formulierte.

Das Komitee der African Association verlor keine Zeit. Vier Tage nach dem Treffen in der St. Alban’s Tavern kamen die Mitglieder in Sir Joseph Banks’ Haus am Soho Square zusammen, um zu besprechen, wie man »möglichst rasch« den ersten Forschungsreisenden auf die Suche nach unentdeckten Ländern aussenden könnte – Ländern, die streng genommen natürlich nicht unentdeckt waren. Oder wie es ein afrikanischer Staatsmann im 20. Jahrhundert ausdrückte: »Es gab nichts zu entdecken, wir waren schon die ganze Zeit hier.«

*

Wer würde es wagen, die großen weißen Flecken auf den Karten der African Association zu betreten? Wer war so mutig oder leichtsinnig oder anmaßend, in Länder vorzustoßen, über deren Bewohner, Tierwelt, Klima und Krankheiten man praktisch nichts wusste und dabei sein Leben zu riskieren? Welchen Lohn könnte man einem Mann dafür versprechen, dass er, mit kaum mehr als Pistole und Sonnenschirm bewaffnet, den Blemmyern und den Troglodyten einen Besuch abstattete? Jeder sachkundige Europäer, den man 1788 gebeten hätte, ins Innere des Kontinents zu reisen, hätte dieses Unterfangen als ein Todesurteil betrachtet und wäre zu Hause geblieben. Doch die Rekruten der African Association waren nicht sachkundig. In vielerlei Hinsicht gab das den Ausschlag.

Die geographischen Hindernisse waren nicht unüberwindbar. Zugegeben, die Strecken durch die Wüste waren gesäumt mit den Skeletten von Lasttieren und Sklaven gleichermaßen, doch wie auf den Weltmeeren gab es auch in der Sahara bekannte Handelsrouten, die seit Jahrhunderten von Karawanen passiert wurden. In den Tropen könnte der Forschungsreisende von sintflutartigen Regenfällen aufgehalten werden, doch dafür gab es keine unwirtlichen Bergregionen wie in Asien, keinen undurchdringlichen Urwald wie im Amazonasbecken. Ein Reisender konnte sich über ein bestehendes Wegenetz von einem Dorf zum anderen bewegen.

Größer war da die Gefahr, dass man dem christlichen Forscher kein freundliches Willkommen bereiten würde. Nach Jahrhunderten religiöser Konflikte verdächtigten die Muslime in Nordafrika die Europäer zu Recht, dass sie sich ihr Land und ihre Rohstoffe aneignen wollten. Für die Angehörigen der Wüstenstämme wiederum, die nach geeigneten Opfern für ihre Raubzüge suchten, waren herumziehende Ungläubige ein Geschenk des Himmels. Im Jahr 1789 schrieb der im Senegal ansässige Kaufmann Antoine Pruneau de Pommegorge: »Es ist unmöglich, Kenntnis über das Innerste des Landes zu erlangen, da man dem Weißen, der mutig genug wäre, eine derartige Reise zu unternehmen, den Kopf abschlagen würde, bevor er sein Ziel erreichte.«

Weiter im Süden herrschte größere Glaubensvielfalt, und man begegnete Nicht-Muslimen mit Toleranz. Doch lauerte auch dort Gefahr, wie ein altes Sklavenhändlersprichwort zeigt:

Beware, beware the Bight of Benin,

For few come out though many go in!

[Hüte dich vor der Bucht von Benin,

Denn wenige kommen wieder, aber viele gehen hin!]

Krankheiten und Seuchen machten Westafrika für Europäer zur tödlichen Falle. Anfang des 19. Jahrhunderts starb an der westafrikanischen Küste, dem »Grab des weißen Mannes«, jeder zweite stationierte Soldat innerhalb des ersten Jahres. Das Landesinnere stand im Ruf, in dieser Hinsicht noch viel riskanter zu sein. Handelsmissionen ins Inland wurden an afrikastämmige Kaufleute delegiert, da sie für einen Europäer so gut wie den sicheren Tod bedeutet hätten.

In der Region existierte eine derartige Vielfalt an Viren, Bakterien und Insekten, dass kein Weißer sich dagegen schützen konnte. Zu den Parasiten, die sich in die menschliche Haut gruben, gehörte der Medinawurm, dessen Larven über das Trinkwasser in den Körper gelangten und dann ins Unterhautgewebe wanderten, wo sie mehrere Monate lang heranwuchsen und bis zu einem Meter lang wurden. Sofern der Wirt diese Tortur überlebte, traten etwa ein Jahr später schmerzhafte, eitrige Geschwüre am Unterschenkel auf. Diese platzten, wenn die herangewachsenen Würmer sich ihren Weg nach draußen bahnten. Die blutsaugende Tsetsefliege wiederum übertrug die Schlafkrankheit, deren Anfangssymptome – Fieber und Gewichtsverlust – von Persönlichkeitsveränderungen und Narkolepsie gefolgt wurden, wenn die Krankheit das Gehirn befiel. Die Erkrankten starben erst nach mehreren Jahren. Auch Darmerkrankungen wie die Amöbenruhr verliefen oft tödlich.

Mit Abstand die gefährlichste Krankheit war jedoch Malaria. Der in Westafrika am weitesten verbreitete Überträger, der einzellige Parasit Plasmodium falciparum, ist zugleich der schlimmste: Bis heute sterben jedes Jahr Hunderttausende daran. Der Moskito, der die Seuche überträgt, gedeiht im menschlichen Umfeld, und seine Larve kann in einer Pfütze heranwachsen, die nicht größer als der Fußabdruck eines Tieres ist. Einmal in den Körper injiziert, gelangen die Malaria-Mikroorganismen in die Blutbahn. Dort vermehren sie sich in Zellen, die nach acht bis zwölf Tagen platzen und Zehntausende Nachkommen freisetzen, die dann die roten Blutkörperchen des Wirts befallen und sie von innen heraus auffressen. Implodiert eine Zelle, wandern sie zur nächsten, bis das Blut in großem Maßstab aufgezehrt wird. Die Opfer beginnen Galle zu erbrechen. Haut, Fingernägel und Augen nehmen eine gelbliche Färbung an. Wenn Stuhl und Urin des Patienten schwarz werden, ist der Tod nicht mehr fern.

Im Jahr 1788 wusste man über Malaria oder ihre Überträger noch nichts. Man schrieb die Erkrankung schlechter Luft zu – auf Italienisch: »mal’aria«. Chinarinde war als Heilmittel zwar bekannt, wurde jedoch nicht immer wirksam eingesetzt. Erst 1829 gelang es, das Chinin zu isolieren. Die Menschen in Westafrika besaßen eine gewisse Widerstandsfähigkeit, da sie der Krankheit bereits in ihrer Kindheit ausgesetzt waren, was auf die meisten Europäer selbstverständlich nicht zutraf.

Wie ihre Forscher, so wussten auch die Mitglieder der ambitionierten African Association nur herzlich wenig über diese Gefahren. James Bruce’ Expedition nach Äthiopien hatte bewiesen, dass Reisen nach Afrika nicht unbedingt tödlich enden mussten. Cook und andere hatten gezeigt, dass die Welt sich dem wahren Pioniergeist nicht widersetzt. Warum sollte eine Afrikareise schwieriger sein als eine Umseglung des Great Barrier Reef? Für einen Mann mit dem richtigen Charakter und der nötigen robusten Konstitution, gesegnet mit Zuversicht und etwas Glück, musste eigentlich alles möglich sein.

An Freiwilligen mangelte es nicht. Nur wenige Tage nach ihrem ersten Treffen hatte das Komitee der African Association in Simon Lucas und John Ledyard bereits zwei passende Anwärter gefunden. Lucas, Sohn eines Londoner Weinhändlers, war als Junge nach Cádiz geschickt worden, um den Beruf seines Vaters zu erlernen, war jedoch von einer berüchtigten Piratenbande gefangen genommen worden, den Salé-Korsaren, die ihn als Sklaven an den Königshof von Marokko verkauften. Dort blieb er drei Jahre lang. Nach seiner Freilassung diente er als britischer Diplomat und blieb weitere sechzehn Jahre in Marokko, bis er 1785 als Orientexperte am Königshof nach England zurückkehrte. Er bot seine Dienste unter der Bedingung an, dass ihm das Komitee für die Dauer seiner Mission weiterhin sein Gehalt zahlte.

Im Juni 1788 war Lucas jedoch krank, sodass die Ehre der ersten Reise dem zweiten Anwärter der Gesellschaft zufiel, dem siebenunddreißigjährigen Amerikaner Ledyard. Auch Ledyard empfahl sich für das Unternehmen, wenngleich auf vollkommen andere Weise. Offenbar war jeder, der ihm persönlich begegnete, von seinem durchdringenden Blick und seiner offenen Art ganz hingerissen. Er war »ein außergewöhnlicher Mann«, notierte Beaufoy, der »von Jugend an das unstillbare Verlangen verspürt zu haben scheint, unbekannte oder zu wenig bekannte Regionen des Erdballs zu erkunden«.

Ledyard war in Hartford, Connecticut, aufgewachsen und hatte schon früh einen Hang zum Abenteuer an den Tag gelegt, als er aus dem neugegründeten Dartmouth College entwischte und in einem sieben Meter langen Einbaum zweihundertvierzig Kilometer auf dem Connecticut River flussabwärts fuhr. Danach sagte er Dartmouth auf immer Lebewohl und schloss sich einem Überseehändler an, der ihn mit nach Europa nahm. Dort heuerte er 1775 als Marinesoldat an, weil er sich erhoffte, mit Kapitän Cook bekannt gemacht zu werden. Cook nahm ihn denn auch zu seiner dritten und letzten Weltumseglung mit, auf der sich Ledyard als erster Europäer tätowieren ließ, wie bisweilen behauptet wird. Nach seiner Rückkehr desertierte er dann lieber, als in der Royal Navy gegen sein eigenes Land kämpfen zu müssen, und zog sich zurück, um ein Buch über seine Reise zu schreiben, das zu einem Bestseller wurde.

Mitte der achtziger Jahre lebte er in Paris, wo er sich mit John Paul Jones und Thomas Jefferson anfreundete. Jefferson, damals noch US-Botschafter in Paris, war von Ledyard ebenso beeindruckt wie alle anderen: Er sei »ein Mann von Geist, kenntnisreich und von furchtlosem Mut und Tatendrang«, schrieb er. Jefferson schlug vor, Ledyard solle über St. Petersburg, Kamtschatka und den Nootka-Sund eine Überlandroute von Europa nach Amerika finden, und konnte seinen Freund Joseph Banks als Geldgeber dafür gewinnen. Der Entdecker brach in die sibirische Einöde auf und gelangte bis nach Jakutsk, bevor er auf Geheiß Katharinas der Großen als Spion verhaftet wurde. Er wurde ausgewiesen und bezahlte seine Reise nach London mit einem auf Banks’ Namen ausgestellten Scheck. Im Juni 1788 erschien er völlig zerlumpt an dessen Tür am Soho Square 32.

Er kam genau zur rechten Zeit. Ohne Umschweife unterbreitete ihm Banks »ein Abenteuer, das fast so gefährlich war wie jenes, von dem er gerade zurückgekehrt war« – in Afrika. Der mittellose Ledyard zeigte sich interessiert, und Banks schickte seinen potenziellen Anwärter zu Beaufoy, um dessen Meinung einzuholen. Wie zu erwarten, überzeugte er auch diesen rasch, wie aus Beaufoys Aufzeichnungen hervorgeht:

Ich war beeindruckt von seiner männlichen Erscheinung, seiner breiten Brust, seiner offenen Art und seinen rastlosen Augen. Ich breitete die Karte Afrikas vor ihm aus und