Die Chronik der Unsterblichen - Am Abgrund - Wolfgang Hohlbein - E-Book

Die Chronik der Unsterblichen - Am Abgrund E-Book

Wolfgang Hohlbein

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Beschreibung

Der Auftakt zur spektakulären Vampir-Serie vom Fantasy-Bestseller-Autor Wolfgang Hohlbein!

15. Jahrhundert: Die Vollstrecker der Inquisition legen ein kleines Dorf in Transsilvanien in Schutt und Asche. Allein der junge Frederic entkommt dem vernichtenden Überfall. Der Schwertkämpfer Andrej nimmt sich seiner an, und es beginnt eine abenteuerliche und gefährliche Reise quer durch Transsilvanien. Doch bald hegt Frederic einen furchtbaren Verdacht: Steht Andrej, der Mann, der fast unbeschadet durchs Feuer gehen kann und schwerste Verletzungen mühelos übersteht, mit dem Teufel im Bunde?

Wolfgang Hohlbeins erfolgreicher Fantasy-Zyklus "Die Chronik der Unsterblichen" als eBook bei beBEYOND. Die weiteren Folgen:

Band 2: Der Vampyr

Band 3: Der Todesstoß

Band 4: Der Untergang

Band 5: Die Wiederkehr

Band 6: Die Blutgräfin

Band 7: Der Gejagte

Band 8: Die Verfluchten

Band 8,5: Blutkrieg

Band 9: Das Dämonenschiff

Band 10: Göttersterben

eBooks von beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen.


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EPUB

Seitenzahl: 397

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Inhalt

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

1

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Über das Buch

Der Auftakt zur spektakulären Vampir-Serie vom Fantasy-Bestseller-Autor Wolfgang Hohlbein! 15. Jahrhundert: Die Vollstrecker der Inquisition legen ein kleines Dorf in Transsilvanien in Schutt und Asche. Allein der junge Frederic entkommt dem vernichtenden Überfall. Der Schwertkämpfer Andrej nimmt sich seiner an, und es beginnt eine abenteuerliche und gefährliche Reise quer durch Transsilvanien. Doch bald hegt Frederic einen furchtbaren Verdacht: Steht Andrej, der Mann, der fast unbeschadet durchs Feuer gehen kann und schwerste Verletzungen mühelos übersteht, mit dem Teufel im Bunde?

Über den Autor

Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, lebt mit seiner Frau Heike und seinen Kindern am Niederrhein, umgeben von einer Schar Katzen und Hunde. Er ist einer der erfolgreichsten deutschen Autoren der Gegenwart. Seine Werke wurden in 47 Sprachen übersetzt und mit über zwanzig nationalen und ungezählten internationalen Preisen ausgezeichnet. Weitere Informationen unter: www.hohlbein.de.

WOLFGANG HOHLBEIN

AM ABGRUND

beBEYOND

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe

© 1999 by LYX.digital, Köln

Für diese Ausgabe

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat/Redaktion: Dieter Winkler

Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven © thinkstock: Betty4240 | Colin_Hunter | zegers06 | ODV; © shutterstock: Dm_Cherry

Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-5901-5

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

1

Ein dünner Ast peitschte in sein Gesicht und hinterließ einen blutigen Kratzer auf seiner Wange. Die Wunde war nicht tief und würde so schnell heilen wie alle anderen Verletzungen, die er sich im Laufe seines Lebens zugefügt hatte. Der Schmerz war sowieso ohne Bedeutung – nachdem er Raqi und seine gerade erst geborene Tochter auf grausame Art verloren hatte, gab es nichts mehr, was ihn wirklich berührte. Und doch riss ihn das dünne Blutrinnsal auf seiner Wange für einen Moment aus seinen düsteren Gedanken. Andrej Delãny sah auf, unterzog seine Umgebung einer flüchtigen Musterung – und zügelte überrascht sein Pferd.

Er war zu Hause.

Er hatte geglaubt, ziellos durch das Land geritten zu sein, seitdem er sofort nach der improvisierten Beerdigung aufgebrochen war, aber dem war nicht so. Er war wieder am Ort seiner Geburt angekommen. Über den sanften Hügel, den sein Pferd hinaufgetrabt war, war er als Kind zusammen mit seinen Freunden getollt. Er erkannte die verkrüppelte, mächtige Buche, deren Äste sich wie die vielfingrigen Hände eines freundlichen Riesen in alle Richtungen reckten. Als Kind war er mehr als einmal von ihrem Wipfel gefallen, ohne sich auch nur ein einziges Mal einen Knochen zu brechen oder sich anderweitig zu verletzen.

Während er den gewaltigen Baum betrachtete, erschien ihm das immer unglaublicher – bis ihm klar wurde, dass die Buche aus der Sichtweite eines Kindes viel riesiger und Furcht einflößend gewirkt hatte, gerade recht, um seinen Freunden seinen außergewöhnlichen Wagemut zu beweisen. Der Gedanke ließ ihn erschauern. In wie viele verrückte und gefährliche Situationen hatte er sich freiwillig begeben, nur um den anderen zu beweisen, dass er der Mutigste war? Und später hatte er dann oft daraus keinen Ausweg gefunden – wie nach dem verhängnisvollen Kirchenraub in Rotthurn, als er einem sogenannten Freund aus einer verzwickten Lage geholfen hatte, obwohl dieser eigentlich keine Hilfe verdient hatte. Mit gerade erst sechzehn Jahren war er so zum Ausgestoßenen geworden, ein Verdammter, dessen Leben nun keinen normalen Verlauf mehr nehmen konnte. Die Folgen dieser Entscheidungen hatten seinen ganzen Werdegang geprägt und letztlich auch dazu geführt, dass er Jahre später seinen Sohn Marius in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zu Verwandten ins Tal der Borsã hatte bringen müssen, ohne die Aussicht, ihn je wieder besuchen zu können.

Wieso also war er hierher zurückgekommen?

Nachdem er Raqi und seine Tochter beerdigt hatte – das zweite Kind, das ihm nun wieder entrissen worden war, nachdem er schon seinen Sohn hatte weggeben müssen –, war er tagelang ziellos durch Transsilvanien geritten. Wie viele Tage es gewesen waren, hätte er nicht mehr zu sagen vermocht. Fünf, zehn oder hundert: Was machte das schon für einen Unterschied? Er hatte jedes Zeitgefühl verloren und war keiner bestimmten Richtung gefolgt, sondern hatte sich vom Zufall, der Willkür der Wegführung und dem Instinkt seines Pferdes leiten lassen – mit der einzigen Ausnahme allenfalls, dass er bewusst die Nähe von Menschen mied und sich nur gelegentlich auf irgendeinem abgelegenen Bauernhof mit Proviant versorgte.

Es konnte kein Zufall sein. Wollte er wider alle Vernunft ein Wiedersehen mit seinem Erstgeborenen erzwingen, den er nun schon vor langer, langer Zeit seinen Verwandten überlassen hatte mit der Bitte, ihn wie ihr eigen Fleisch und Blut aufzuziehen? Dieser Gedanke behagte ihm nicht, war er doch verbunden mit den allzu schmerzlichen Erinnerungen, vor denen er nun schon so lange davonlief. Da wäre es schon einfacher gewesen, dem Vorbild seines Stiefvaters zu folgen und hinauszuziehen in all jene fernen Länder und Kontinente, von denen Michail Nadasdy ihm im begeisterten Tonfall vorgeschwärmt hatte.

Andrej hatte anfangs nicht viel mit dem alten Haudegen anfangen können. Als Michail Nadasdy aus Alexandria nach Transsilvanien zurückgekehrt war, der alte Herumtreiber, der Frau und Stiefkinder schmählich im Stich gelassen hatte, und sich dann, wie aus einer plötzlichen Laune heraus, als Vater und Lehrer aufspielen wollte, da hatte er ihn regelrecht gehasst. Nach einigen Monaten schlimmer Szenen und trotziger Verweigerung hatte Andrej schließlich einsehen müssen, dass sein Widerstand nicht nur aufreibend, sondern auch sinnlos war: Michail war tatsächlich ein weiser und stets geduldiger Lehrer, der es aufs Trefflichste verstand, seine durch die vielen abenteuerlichen Reisen gewonnene Lebenserfahrung und Kampfkunst an ihn weiterzugeben.

Wenn er zurückblickte, musste er gestehen, dass es fast so etwas wie der Anfang seines bewussten Lebens gewesen war, als sich Michail seiner angenommen hatte. Der einzige Wermutstropfen war, dass sie schon kurz nach Michails Rückkehr das Dorf fast fluchtartig hatten verlassen müssen: seine Mutter, Michail und er selbst. Aus einem Grund, den er bis heute noch nicht ganz verstanden hatte, waren dem Weltreisenden nicht nur Neid und Ablehnung entgegengeschlagen, sondern auch ein abgrundtiefer Hass, der sich schließlich in einer blutigen Gewalttat entladen hatte, bei dem Gott sei Dank niemand ernsthaft zu Schaden gekommen war. Noch in derselben Nacht hatten sie all ihre Habseligkeiten zusammengepackt und waren Hals über Kopf in die Berge aufgebrochen, wo sie für die nächsten Jahre unter vielen Entbehrungen ein sehr einfaches Leben geführt hatten. Er war der Einzige gewesen, der noch recht lange zu gelegentlichen Besuchen ins Dorf aufbrach und von einem Onkel oder einer Tante heimlich etwas zugesteckt bekam – allen voran von Barak, der nie einen Hehl daraus gemacht hatte, dass er die Vertreibung von Andrejs Familie missbilligte.

Aber es hatte auch noch einen anderen Anfang gegeben, später, nachdem er Michail und seine Mutter verlassen hatte, um in die Welt hinauszuziehen – und um mit seinen sechzehn Jahren dann doch nur bis Rotthurn zu kommen und durch den Kirchenraub für immer und alle Zeiten gebrandmarkt zu werden. Einsam und verwirrt hatte er sich auf den Rückweg zu dem einfachen Haus seiner Mutter gemacht. Auf dem Weg dorthin, mitten in abgelegenem Berggebiet, war er auf Raqi gestoßen. Auch sie war auf der Flucht gewesen. Zusammen hatten sie bei seiner Mutter und Michail Unterschlupf gefunden, bis einer nach dem anderen von ihm gegangen war.

Kurz nachdem Raqi zu ihnen gestoßen war, hatte es angefangen. Zuerst waren es nur merkwürdige Geräusche gewesen und Fußspuren, die sich in den kärglichen Boden eingegraben hatten, auf dem sie ihre Hütte errichtet hatten. Später dann war es zu hinterhältigen Angriffen durch Unbekannte gekommen, derer sie nie hatten habhaft werden können.

Inzwischen waren sie alle tot. Seine Mutter hatten sie erwischt, als sie ihren kleinen Kräutergarten gejätet hatte. Bevor Michail und er, durch einen schrecklichen Tumult angelockt, den hinter einen Hügel gelegenen Garten erreicht hatten, war es schon zu spät gewesen. Mit groben Steinen und spitz zulaufenden Holzlatten war seine Mutter fast zu Tode geprügelt worden – die Täter hatten sie nie ausfindig machen können.

Von den Folgen des Angriffs hatte sich seine Mutter nie erholt. Wenige Wochen danach war sie an ihren Verletzungen elendiglich zugrunde gegangen. Nur zwei Jahre später war Michail Nadasdy nach einem heimtückischen Attentat an den Folgen eines Schwerthiebs nach tagelangem Siechtum in seinen Armen verblutet. Raqi war dagegen auf natürliche, aber nicht minder entsetzliche Weise im Kindbett gestorben – und mit ihr seine Tochter, die kaum das Tageslicht erblickt hatte, bevor sie der Herr zu sich geholt hatte.

Es hatte in dieser Zeit nicht einen Tag, nicht eine Stunde gegeben, in der er nicht daran gedacht hätte, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Er hatte keine Angst vor dem Tod. Ganz im Gegenteil; der Tod erschien ihm wie ein sanfter alter Freund, der alle Sorgen und alle Trauer von ihm nehmen würde. Denn wie er es auch drehte und wendete: Er hatte die Menschen, die ihm auf der ganzen Welt am meisten bedeuteten, mit eigenen Händen beerdigt. Nur ihm war die Gnade des Todes bisher nicht zuteil geworden.

Was also hatte ihn hierher geführt? Ein Instinkt, wie er manche Tiere dazu brachte, an den Ort ihrer Geburt zurückzukehren, um dort zu sterben? War er es Raqi schuldig, ihr zu folgen und seinem Leben ein Ende zu setzen? Oder vielleicht ein noch viel, viel älteres Gefühl – Einsamkeit?

Andrej zögerte lange, bevor er sich endgültig zum Weiterreiten entschied. Er hatte nichts zu verlieren. Borsã, der Ort seiner Geburt, lag auf der anderen Seite des Hügels, unmittelbar am Ufer des Brasan, an dessen Wassern sich die Bauernburg erhob. Konnte man sich dort noch an ihn erinnern, oder war es zu lange her, seit er, Michail Nadasdy und seine Mutter das Dorf verlassen hatten? Als er viele Jahre später Marius hierher gebracht hatte, war er kurz nach Einbruch der Nacht angekommen und – um von niemandem als Andrej Delãny und damit als einer der angeblichen Kirchenräuber von Rotthurn enttarnt zu werden – kurz vor Sonnenaufgang wieder aufgebrochen.

Doch gerade weil das so war, hatte er auch nichts zu verlieren. Ihn beunruhigte mehr und mehr die Frage, warum er hierhergekommen war. War es wirklich nur der Instinkt eines Vaters und die Sorge um sein Kind gewesen, das Erbe seiner tierischen Vorfahren, wie Michail Nadasdy es immer genannt hatte, ohne dass er jemals wirklich verstand, was damit gemeint war. Möglicherweise irgendeine … Ahnung? Delãny wollte lächeln, doch es misslang ihm. Sprich niemals abfällig über deine Ahnungen, wisperte Michail Nadasdys Stimme in seinem Kopf. Wer weiß, vielleicht sind diese Botschaften ein Teil von uns, der Dinge sieht, die dem Rest verborgen bleiben …

Aber vielleicht war nichts davon der Grund, aus dem er hier war. Dennoch blieb es dabei: Es konnte nichts schaden, wenn er die paar Meter weiterritt und einen Blick auf das unter ihm liegende Borsã warf. Er schnalzte mit der Zunge, um das Pferd zum Weitertraben zu bewegen. Michail Nadasdy hatte ihn gelehrt, um wie vieles besser ein Pferd gehorchte, wenn man es mit viel Liebe und Geduld dazu erzog, auf gesprochene Befehle zu gehorchen, statt ihm mit der Peitsche den Gehorsam einzuprügeln, und er hatte nicht lange gebraucht, um zu begreifen, wie viel Weisheit in diesem Rat steckte – nicht nur in Bezug auf Pferde.

Oben auf dem Hügel hielt er noch einmal an. Das Borsã-Tal lag unter ihm, wie er es erwartet hatte. Und zumindest aus dieser großen Entfernung heraus betrachtet, schien es ihm fast, als sei die Zeit stehen geblieben.

Nichts hatte sich verändert. Der Wehrturm ragte düster und majestätisch aus den kristallklaren Wassern des ruhiges Flussarms empor, ein uraltes Monument, dessen charakteristische Linien die Zeit glatt geschliffen, aber nicht gebrochen hatte. Im Gegenlicht, im Schein der rötlich glühenden Nachmittagssonne, wirkten seine Mauern fast schwarz. Andrej glaubte dennoch, die eine oder andere Veränderung zu erkennen: Hier und da war ein Schaden ausgebessert, eine abgebrochene Zinne erneuert, ein Dachstuhl der hölzernen Nebengebäude verändert worden. Nichts davon hatte die Bauernburg mit dem zentralen Turm jedoch wirklich verändert. Der Wehrturm stand so unberührt und trutzig da, wie er schon vor zweihundert Jahren dagestanden hatte und wie er wohl auch noch nach weiteren zweihundert Jahren dastehen würde.

Der Turm wird den Türken wahrscheinlich nicht wichtig genug sein, um ihn irgendwann einmal zu schleifen, dachte Andrej spöttisch. Auch die hölzerne Brücke, die vom Nebenarm des Flusses zu dem kleinen Ort an seinem Ufer führte, stand noch wie in den Tagen seiner Kindheit – als wäre sie für die Ewigkeit gebaut. Dabei hatten sie schon in seiner Kindheit heimlich Wetten darauf abgeschlossen, wie lange es noch dauern mochte, bis der nächste heftige Sturm sie endgültig davonblies.

Er ritt weiter und ließ seinen Blick nun auch über Borsã schweifen. Im Gegensatz zur Bauernburg hatte sich der Ort stark verändert. Er war nicht einmal viel größer geworden, aber die Gassen waren nun befestigt, und viele Häuser hatten richtige Dächer aus Holzschindeln, statt mit Stroh und Ästen gedeckt zu sein. Borsã war offensichtlich zu bescheidenem Wohlstand gekommen.

Was es verloren hatte, das waren seine Bewohner. Das fiel Delãny erst auf, als er den Weg vom Hügel hinab schon zu mehr als der Hälfte zurückgelegt hatte. Nirgendwo in den wenigen Gassen Borsãs rührte sich etwas. Aus keinem Kamin kräuselte sich Rauch. Selbst die Pferdekoppeln, die er von hier aus sehen konnte, waren leer.

Er ließ sein Pferd wieder anhalten. Sein Herz schlug ein wenig schneller – nicht aus Furcht, sondern infolge leichter Anspannung –, und er senkte die Hand auf die Waffe an seiner Seite, um die grauen Stofffetzen zu entfernen, mit denen er den Griff umwickelt hatte, damit das exotische Sarazenenschwert nicht zu viele neugierige Blicke auf sich zog oder gar die Aufmerksamkeit von Dieben erregte.

Andrej glaubte eigentlich nicht wirklich, dass er die Waffe brauchen würde. Borsã wirkte wie ausgestorben, aber über dem Ort lag nicht der Geruch von Tod und Verwesung. Am Himmel kreisten keine Aasvögel, und er konnte zumindest aus der Entfernung keine Spuren eines Kampfes erkennen.

Es musste eine andere Erklärung für diese vollkommene Abwesenheit von Leben geben. Alle Dorfbewohner mochten auf den Feldern sein, im Wald, um Holz zu schlagen, oder zum Fischen an den großen Weihern, die hinter den Hügeln lagen und seinen Blicken somit entzogen waren. Vielleicht hatten sie sich auch in der Bauernburg versammelt, um dort ein Fest zu feiern.

Und dazu hatten sie alle ihre Hunde und Katzen, Schweine und Ziegen, Pferde und Kühe mitgenommen? Wohl kaum. Es musste einen anderen Grund dafür geben, dass alles Leben aus Borsã geflohen zu sein schien.

Delãny hörte auf, sich den Kopf über etwas zu zerbrechen, worauf er sowieso keine Antwort finden würde, und ließ das Pferd ein wenig schneller traben. Am Fuße des Hügels schwenkte er nach links und ritt – mit schlechtem Gewissen – ein kurzes Stück über einen frisch umgepflügten Acker, bis er den festgestampften Teil der Straße erreichte, der gut zwanzig Meter vor der eigentlichen Ortschaft begann.

Er wurde wieder langsamer. Die Stille schlug ihm wie eine Wand entgegen, und mit jedem Schritt, den er dem Ort näher kam, schien sich ein immer stärker werdender, erstickender Druck auf seine Seele zu legen.

Es war die Last der Erinnerung, die er spürte. Dies war der Ort seiner Kindheit, der Platz, an dem er aufgewachsen war, wo er gehen und reiten gelernt hatte, wo er Freundschaften geschlossen hatte – aber es war zugleich auch der Ort einer verletzenden Schmach und tiefen Enttäuschung. Nachdem er in noch sehr jungen Jahren in Zusammenhang mit dem Kirchenraub ins Gerede gekommen war – an dem er selbst tatsächlich nicht teilgenommen hatte –, war er noch einmal ins Dorf gekommen. Er hatte nicht geahnt, dass man ihn mittlerweile in ganz Transsilvanien gesucht hatte, dass die Pfaffen nichts Besseres zu tun gehabt hatten, als ihn landauf, landab als Kirchenschänder und frechen Dieb zu diffamieren.

Die Dorfbewohner hatten ihn nicht gerade freundlich empfangen. Mit Schimpf und Schande hatten sie ihn die Dorfstraße hinuntergejagt, hinein in einen gleißend heißen Tag, dessen Helligkeit mit unglaublicher Brutalität in seine äußerst lichtempfindlichen Augen stach. Sie hatten mit Steinen und Kot nach ihm geworfen, ihn einen Ketzer und Teufelsanbeter genannt. Er hatte damals nicht gewusst, was mit ihm geschah – und eigentlich wuste er es ja auch heute noch nicht! –, er hatte einfach nur Angst gehabt. Er hatte geweint, geschrien, seine Freunde angebettelt, doch endlich auf ihn zu hören, Freunde, die plötzlich zu Feinden geworden waren, weil sie glaubten, dass er ein Gotteshaus geschändet hatte. Heute verstand er sie. Er hegte keinen Groll mehr gegen sie. Aber das linderte nicht den Schmerz, den die Erinnerung mit sich brachte.

Er dachte an seinen Großonkel Barak, und ein flüchtiges warmes Gefühl breitete sich in seinem Inneren aus. Barak war vielleicht der Einzige gewesen, der damals zu ihm gehalten hatte; möglicherweise nicht einmal aus Freundschaft oder auch nur aus Sympathie, sondern aus ererbter Loyalität seinem Dorf gegenüber. Aber ganz gleich, warum – Barak hatte er es jedenfalls zu verdanken, dass er damals nicht auf der Stelle gesteinigt, sondern nur aus Borsã gejagt worden war. Er bedauerte, ihn seither nicht wenigstens noch ein einziges Mal wiedergesehen zu haben.

Ein Geräusch ließ ihn aufmerken. Etwas hatte geklappert – vielleicht nur der Wind, der mit einer losen Dachschindel oder einem Fensterladen spielte. Bestimmt nur der Wind. Trotzdem beschloss Delãny, dem Geräusch nachzugehen.

Es wiederholte sich nicht, aber er hatte sich die Richtung gemerkt, aus der es gekommen war. Wie erwartet fand er nichts außer einem lockeren Fensterladen, der sich knarrend im Wind bewegte und gelegentlich gegen den Rahmen schlug.

Da er nun schon einmal hier war, konnte er das Haus auch genauer in Augenschein nehmen. Er stieg aus dem Sattel, schob die Tür vorsichtig mit der linken Hand auf und trat ein, die Rechte auf dem Griff des kostbaren Sarazenenschwertes, dem einzigen wertvollen Besitz, den sein Stiefvater von seinen abenteuerlichen Reisen mit nach Hause gebracht hatte.

Einen Moment lang glaubte er ein rasches Huschen in den Schatten vor sich wahrzunehmen; ein erschrockenes Seufzen, das Tappen federleichter eilender Schritte. Und er glaubte, etwas zu spüren – die Anwesenheit eines oder mehrerer Menschen, die ihn heimlich und misstrauisch beäugten.

Delãny blieb stehen, zog das Schwert zwei Finger weit aus der Scheide und versuchte, die Dämmerung vor sich mit Blicken zu durchdringen. Gleichzeitig lauschte er konzentriert.

Die Schatten blieben Schatten, und er hörte auch nichts mehr. An diesem mit Erinnerungen überladenen Ort durfte er seinen Sinnen nicht trauen – vielleicht gaukelte ihm sein Gedächtnis etwas vor, was nicht da war.

Er durchsuchte das Haus, schnell, aber gründlich. Der Eindruck, den er schon von Weitem gehabt hatte, bestätigte sich: Die Bewohner dieses Hauses waren keine armen Leute, und es mussten andere sein als die, die er hier als Hausbewohner in Erinnerung hatte. In der Truhe der Hausfrau befanden sich zwei Kleider – was bedeutete, dass sie drei besaß, wenn sie nicht nackt auf die Straße gegangen war. Und ihr Mann, der wohl das Tischlerhandwerk ausgeübt haben mochte, verfügte über eine wohlsortierte Werkstatt. Wenn er die Möbel, mit denen das Haus ausgestattet war, selbst gebaut hatte, dann war er in seinem Beruf ein Meister gewesen.

Delãny schüttelte ärgerlich den Kopf, als ihm klar wurde, dass er mehr und mehr in der Vergangenheitsform von diesen Leuten zu denken begann. Noch hatte er keinen Beweis dafür, dass sie tot waren, ja, dass ihnen überhaupt etwas zugestoßen war.

Er verließ das Haus, untersuchte auch noch das benachbarte und stieg schließlich wieder in den Sattel. Es hatte keinen Sinn, Stunden damit zuzubringen, das ganze Dorf zu durchkämmen; er würde zu keiner anderen Erkenntnis gelangen als zu der, die er schon besaß: Es war niemand da. Die einzige Spur von Leben, auf die er gestoßen war, war eine halb verhungerte Katze gewesen, die ihn aus den Schatten heraus angemaunzt hatte, vielleicht in der irrigen Hoffnung, einen Leckerbissen von ihm zu ergattern.

Er musste in die Bauernburg, um sich dort nach Möglichkeit Klarheit über den Verbleib der Dorfbewohner zu verschaffen.

Sein Pferd in Richtung der Holzbrücke zu lenken, die zu der auf der Felsinsel gelegenen Bauernburg inmitten des ruhigen Flussarms hinüberführte, verlangte ihm noch mehr Überwindung ab, als es ihn gekostet hatte, in den Ort zu reiten. Er hatte Angst davor, auch hier niemanden zu finden. Andererseits – wenn sich die Dorfbewohner vor irgendeiner Gefahr hatten in Sicherheit bringen wollen, dann ganz gewiss hier. Er hoffte, seinen Sohn Marius im Kreise seiner Verwandten wohlbehütet vorzufinden, aber irgendetwas in ihm fürchtete sich davor, dass diese Hoffnung in jähes Entsetzen umschlagen könnte, wenn er weiterritt und auf eine grausige Wahrheit stieß, die vielleicht besser unentdeckt blieb.

Delãny sah an sich herab. Er war auf die landesübliche Art gekleidet: Sandalen und Kniestrümpfe, ein Untergewand und darüber einen Überwurf aus Leinenstoff mit Schlüsselloch-Ausschnitt, der von einer einfachen Fibel zusammengehalten wurde, und ein einfaches Haarband, das seine wilde Mähne bändigte. Die Schärpe, die er trug, hatte er vor vielen Jahren auf einem Markt erstanden – Raqi hatte viele Talente gehabt, aber das Schneidern hatte nicht dazugehört –, und sie verdeckte ganz bewusst den Waffengurt, den er zusammen mit dem Schwert von Michail geerbt hatte. Nein, er war nicht auffällig gekleidet und konnte bei einigem guten Willen als der Bewohner eines der etwas weiter entfernten Nachbardörfer durchgehen. Zudem hatte er sich in den letzten Jahren so stark verändert, dass ihn selbst der alte Barak wohl nicht mehr erkannt hätte – auch dann nicht, wenn er ihm direkt gegenüber gestanden hätte.

Das war ihm wichtig, denn es war ihm durchaus klar, dass er auch nach all den Jahren hier immer noch nicht willkommen geheißen werden würde, wenn man ihn erkannte. Er galt nach wie vor als Kirchenschänder und Dieb und musste sich vorsehen, dass er nicht unversehens zur Zielscheibe einer Hetzjagd wurde, bei der er durchaus zu Tode kommen konnte: Die Menschen in Transsilvanien waren nicht gerade als zimperlich bekannt, wenn es darum ging, Ketzern oder vermeintlichen Langfingern den Garaus zu machen.

Und in ihren Augen war er eine Mischung aus beidem.

Je näher er der Brücke kam, desto unruhiger wurde er. Die Wand aus Stille, die Borsã umgab, setzte sich auch hier fort. Sie schien sogar noch massiver geworden zu sein. Es schien Andrej fast, als müsse er gegen einen körperlichen Widerstand ankämpfen. Selbst das Pferd ging im unnatürlich langsamen Schrittempo über die Brücke – vielleicht spürte das Tier ja etwas, was er noch nicht wahrnehmen konnte. Ein seltsames Gefühl breitete sich in ihm aus, fast so etwas wie eine Vorahnung, dass er nur Fremde auf der Bauernburg vorfinden würde. Falls überhaupt jemanden – denn noch nicht einmal das stand ja fest.

Er erreichte die Insel und kurz darauf das Tor. Es stand weit offen. Nichts rührte sich.

Delãny stieg aus dem Sattel, tätschelte dem Pferd, das immer nervöser – oder womöglich ängstlicher? – wurde, beruhigend den Hals und ging mit langsamen Schritten weiter. Das niedrige Torgewölbe warf das Geräusch seiner Schritte verzerrt zurück, und in den Ecken und Winkeln flüsterten Schatten Geschichten aus längst vergangenen, düsteren Zeiten – erzählten aber auch von kommendem Schrecken, der noch nicht wirklich Gestalt angenommen hatte.

Delãny schüttelte den Gedanken ab und ging schneller. Er hatte genug mit den Problemen der Gegenwart zu tun. Das Vergangene war vergangen, und das Kommende war sowieso nicht mehr aufzuhalten.

Er betrat den kleinen Innenhof mit seinen einfachen hölzernen Nebengebäuden und drehte sich mit in den Nacken gelegtem Kopf einmal um seine Achse. Die jahrhundertealten Mauern der Bauernburg ragten lotrecht um ihn auf, hoch genug immerhin, um für einen nicht allzu entschlossenen Heerestrupp ein unüberwindbares Hindernis zu sein. Der Himmel war nur ein verwaschener Fleck trüber Helligkeit, die keine wirkliche Substanz zu haben schien, und das war auch gut so: Über die Jahre waren seine Augen immer lichtempfindlicher geworden, weshalb er helle Tage mied und im Sommer am liebsten in der Morgen- oder Abenddämmerung unterwegs war.

Nichts rührte sich. Es war, als stünde er in einem Grab, das für Riesen gemacht worden war.

War es das? fragte sich Delãny schaudernd. Es mochte eine mögliche Erklärung sein: Die Bewohner des Dorfes konnten sich vor einem anrückenden feindlichen Heer in den Wehrturm geflüchtet haben, wo sie und die Verteidiger dann gemeinsam ihr Schicksal ereilt hatte.

Aber dann hätte er Spuren eines erbitterten Kampfes vorfinden müssen. Der Hof war jedoch leer; und viel aufgeräumter und sauberer, als er es jemals gewesen war, als Andrej noch hier gelebt hatte.

Delãny drehte sich mit einer entschlossenen Bewegung um und ging auf den Wehrturm zu. Die große zweiflügelige Tür war nur angelehnt, und als er sie öffnete, knarrte sie noch genauso wie in seiner Jugend. Er trat hindurch, senkte die Lider und gab seinen Augen damit Gelegenheit, sich an das ewige Zwielicht zu gewöhnen, das in dem großen Raum mit den viel zu kleinen Fenstern herrschte. Er hatte keine Angst, dadurch verwundbar zu sein – seine Sinne würden ihn zuverlässig vor jeder Gefahr warnen. Er hörte leise, undeutliche Geräusche: die Laute, die eine große Halle von sich gibt, wenn man ganz still dasteht und lauscht – das Heulen des Windes, der durch ein offen stehendes Fenster eindrang, das Prasseln einer Fackel, etwas, das ein Stöhnen sein mochte, vielleicht aber auch nur das Knarren von Holz. Der Geruch eines Feuers lag in der Luft, und noch etwas, was ihm auf furchtbare Weise vertraut vorkam.

Als er die Augen öffnete, fand er seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt.

Hier waren die Toten, nach denen er gesucht hatte. Sie lagen säuberlich aufgereiht auf den Fliesen vor dem großen Kamin; viele, nicht annähernd so viele, wie es hätten sein können, aber trotzdem viele. Die meisten waren jung; Männer in einem Alter, in dem auch er gewesen war, als er den Wehrturm von Borsã das letzte Mal gesehen hatte, aber es gab auch ein paar Alte unter ihnen und zwei oder drei, die kaum dem Kindesalter entwachsen waren.

Wie es aussah, hatte es keinen wirklichen Kampf gegeben. Einige schienen sich gewehrt zu haben – an dem einen oder anderen Schwert klebte Blut, hier und da sah er eine blutige Hand, ohne dass diese eine Verletzung aufwies, einen dunklen, eingetrockneten Fleck auf einem Hemd. Doch der Kampf konnte nicht lange gedauert haben, und offensichtlich hatten sich nur sehr wenige daran beteiligt.

Die meisten schienen regelrecht hingerichtet worden zu sein. Man hatte ihnen die Kehlen durchgeschnitten. Zwei junge Männer waren enthauptet worden.

Während Delãny langsam an der Reihe nebeneinanderliegender Leichname vorbeiging, ergriff ihn ein Gefühl unbeschreiblichen Grauens. Er war ein Meister des Schwertkampfes. Michail Nadasdy hatte ihn alles gelehrt, was er im Land der Sarazenen gelernt hatte, und am Schluss war er besser gewesen als sein Lehrer: Aber er hatte, von ein paar üblen Schlägereien abgesehen, im Grunde noch nie wirklich gekämpft. Er hatte das Kämpfen gelernt, aber das Töten …?

Ganz am Ende der Reihe von gut dreißig Toten blieb er stehen. Der Anblick des letzten Leichnams erschütterte ihn ganz besonders – obwohl er allen Grund gehabt hatte, diesen Mann in der grauen Priesterkutte zu hassen. Dieser verfluchte Dummschwätzer war als Mönch ins Dorf gekommen, als Andrej vielleicht zehn Jahre alt gewesen war, und hatte später die Dorfbewohner so lange gegen seine Familie und vor allem gegen Michail Nadasdy aufgehetzt, bis sie allesamt aus dem Dorf gejagt worden waren. Bei ihm hatten sich die Schlächter nicht darauf beschränkt, ihm die Kehle durchzuschneiden. Seine Augen waren ausgestochen; sein Körper wies zahlreiche Schnittwunden auf, die nicht dem Zweck gedient hatten, zu töten, sondern nur dem, Schmerz zuzufügen, und selbst am Ende waren seine Peiniger nicht so barmherzig gewesen, ihn mit einem schnellen Schnitt von seiner Qual zu erlösen. Die klaffende Wunde in seiner Kehle hatte nicht geblutet. Er war schon tot gewesen, als man sie ihm zugefügt hatte. Stattdessen hatte man ihn mit Händen und Füßen an den Boden genagelt, so dass er langsam verblutet war.

»Großer Gott!« flüsterte Delãny. »Was ist hier geschehen?«

Er drehte sich einmal um die eigene Achse und ließ seinen Blick in die Runde schweifen; das Töten und Morden, das hier stattgefunden hatte, erschreckte ihn tief, aber noch schlimmer empfand er die Ungewissheit, die berechtigte, fast panische Sorge um Marius, seinen Sohn. Er hatte ihn hier, im Schutz des Dorfes, zurückgelassen, in der sicheren Erwartung, es könne ihm im Borsã-Tal nichts Ernsthaftes zustoßen: Das war offensichtlich ein kapitaler Fehler gewesen.

Er musste ihn finden; jetzt und sofort.

Wie zur Antwort hörte er wieder diesen sonderbaren Laut – und diesmal war er sicher, dass es sich um ein Stöhnen handelte! Es kam von oben, vom Ende der Treppe, oder von den wenigen Gemächern, die sich daran anschlossen.

Delãny fuhr herum, stürmte die Treppe hinauf und zog im Laufen sein Schwert. Eine der Türen war nur leicht angelehnt, und die Dämmerung dahinter schien noch blasser als das schwache Licht in der Halle. Er sprengte die Tür mit der Schulter auf, stürmte hindurch – und prallte entsetzt zurück.

Der Raum war leer – bis auf eine geschnitzte Truhe und das übergroße Bett, in dem zu seiner Zeit der Dorfschulze geschlafen hatte. Jetzt saß eine gebeugte, langhaarige Gestalt mit schwarzem Bart und rotfleckigem Hemd darin, halb aufgerichtet und mit ausgebreiteten Armen, zugleich aber leicht nach vorne gesunken. Sie konnte nicht ganz zusammensinken, denn jemand hatte ihre Hände in einer perfiden Kreuzigungshaltung an das Kopfteil des Bettes genagelt. Der abgebrochene Schaft eines Speeres ragte aus ihrer Seite.

Und doch war es nicht der Anblick dieser neuerlichen Grausamkeit, die Andrej für eine Sekunde regelrecht erstarren ließ.

Es war das Gesicht. Unter all dem Blut und Dreck, unter dem dicht wuchernden Bart und dem tief eingegrabenen, unsäglichen Schmerz verbargen sich Züge, die er … kannte.

Er war älter geworden, natürlich, aber nicht so alt, wie er hätte sein müssen. Falten und Runzeln bedeckten sein Gesicht, und vielleicht war auch die eine oder andere Narbe neu hinzugekommen. Aber es war, unmöglich oder nicht, ganz eindeutig …

»Barak?« hauchte Andrej fassungslos. Schon der bloße Klang dieses Namens schien der pure Hohn. Und doch öffnete die sterbende Gestalt beim Klang ihres vertrauten Namens das eine verbliebene Auge, das ihr nicht ausgestochen worden war, und sah zu ihm hin.

»Andrej?«

Es konnte nicht sein, dass er ihn nur am Klang seiner Stimme wiedererkannt hatte, nicht nach so langer Zeit!

Andrej näherte sich langsam dem Bett. Eisige Schauer liefen ihm über den Rücken, als er sah, wie grässlich sie Barak zugerichtet hatten. Er hatte nicht gewusst, dass ein menschlicher Körper imstande war, solche Qual auszuhalten.

Er trat an das Bett heran und wollte das Schwert zurückstecken, aber Barak schüttelte den Kopf – es schien Andrej das einzige Körperteil, das er überhaupt noch bewegen konnte – und er behielt das Sarazenenschwert in der Hand.

»Endlich«, stöhnte Barak. »Es ist gut … dass du es bist, der gekommen ist … ich habe so lange … gewartet.«

»Gewartet?« wiederholte Andrej verwirrt. »Aber …«

»Ich habe gehofft, dass jemand … zurückkehren würde«, flüsterte Barak. »Aber … es hat … so lange … gedauert. Erlöse … mich.«

Und endlich verstand Andrej. Ihm war jetzt klar, wieso Barak ihn sofort erkannt hatte: Er musste darum gefleht haben, dass jemand kam, um ihn zu erlösen. Und er musste gewusst haben, dass es nur jemand aus seiner Vergangenheit sein konnte, der nicht erschlagen unten in der Eingangshalle lag. Wahrscheinlich waren ihm ständig Gesichter und Namen aus seinem langen Leben durch den Kopf geglitten – auf der Suche nach einem Erlöser seiner Schmerzen.

Er hatte auf ihn oder einen der anderen Dorfbewohner gewartet. Und er hatte Andrej erkannt, weil er ihn für den Tod hielt, der ihn von seiner Qual erlösen würde. War es nur das, was er für alle seine Freunde war? Der Tod?

»Erlöse mich«, murmelte Barak.

Andrej zwang sich, Barak einer genaueren Betrachtung zu unterziehen, und sei es nur aus der völlig unmöglichen Hoffnung heraus, ihn doch noch retten zu können.

Er konnte es nicht. Die Nägel, mit denen sie Barak an das Bett genagelt hatten, waren so dick wie ein Finger und bis ans Heft in seine Hände und das Holz getrieben. Der Zimmermann war nicht sehr behutsam gewesen. Mehrere von Baraks Fingern waren gebrochen. Wenn er versucht hätte, die Nägel herauszuziehen, hätte allein der Schmerz den Mann umgebracht.

Noch schlimmer war die Wunde an seiner Seite. Die Speerspitze war zur Gänze in seinen Leib eingedrungen. Von Michail Nadasdy hatte Andrej eine Menge über die menschliche Anatomie gelernt. Er wagte sich nicht einmal vorzustellen, was der geschliffene Stahl in Baraks Körper angerichtet hatte.

Und er verstand immer weniger, warum Barak überhaupt noch lebte. Es war nicht nur sein Alter, das geradezu unglaublich erschien – er musste annähernd hundert sein! –, da war noch etwas: Der Überfall auf die Bauernburg war länger her als nur ein paar Stunden, das hatte ihm schon der Leichengeruch draußen in der Halle verraten. Gestern, vielleicht vorgestern war es geschehen.

»Gott im Himmel, Barak, wie lange …?«

»Zu lange«, stöhnte Barak. »Erlöse mich, Andrej, ich flehe dich an!«

Andrej zog sein Schwert. Es hätte noch so viel gegeben, was er Barak hätte fragen wollen, so viel, was er wissen musste. In allererster Linie ging es ihm um das Schicksal seines Sohnes. Und dann um die Frage, wer für das alles hier verantwortlich war, warum es geschehen war – und warum ausgerechnet Barak als einziger noch lebte.

Er stellte nicht eine dieser Fragen. Jede Minute, die er Barak zwang, weiter am Leben zu bleiben, war wie eine Ewigkeit in der Hölle. Er schloss nur noch einmal die Augen und lauschte in sich hinein, suchte nach etwas – der Gewissheit, dass er richtig handelte, wenn er Barak tötete, dass es kein Mord sein würde, sondern eine Erlösung, wie er sie seinem alten Gönner schuldig war.

Das Schicksal hatte Barak einen besonders üblen Streich gespielt. Er verfügte über die fast schon sprichwörtliche Zähigkeit der Delãnys und das unglaubliche Durchhaltevermögen ihrer Familie, das ihn geradezu zwang, sein Leben nicht einmal in dieser verzweifelten Situation einfach aufzugeben. Es war eine erstaunliche Lebenskraft in ihm, die ihn länger hatte leben lassen als all seine Altersgenossen im Dorf, und die ihn nun dazu zwang, die Qualen der Hölle Tage zu ertragen statt nur Stunden.

Andrej hob das Sarazenenschwert und stieß Barak die Klinge fast bis ans Heft in die Brust.

Das Leben blieb noch eine einzelne, endlose Sekunde in den Augen des uralten Mannes. Dann brach es. Baraks Kopf sank nach vorn auf seine Brust, und über seine Lippen strömte ein letzter Atemzug wie ein erleichtertes Seufzen.

Andrej senkte das Schwert, und hinter ihm sagte eine Stimme: »Das war sehr tapfer von Euch, Herr.«

Erschrocken fuhr er herum und sah sich einem vielleicht zwölf- oder dreizehnjährigen Knaben mit blassem Gesicht und schulterlangem rötlichen Kraushaar gegenüber.

»Er hat mich angefleht, ihn zu erlösen, und ich … ich wollte es auch tun. Aber ich hatte nicht den Mut. Ich war feige.«

»Es hat nichts mit Feigheit zu tun, wenn man einen Freund nicht töten kann«, antwortete Andrej. Er senkte sein Schwert. »Wer bist du?«

»Frederic, Herr«, antwortete der Junge. Sein Blick begegnete dem Andrejs offen und vollkommen ohne Scheu. »Frederic Delãny vom Borsã-Tal. Und Ihr?«

Da er sich Barak gegenüber schon als Andrej zu erkennen gegeben hatte, war es wenig sinnvoll, sich nun mit einem anderen Namen vorzustellen. Das hätte das Misstrauen des Jungen geweckt. »Mein Name ist Andrej Delãny«, antwortete er.

»Delãny?« Die Augen des Jungen leuchteten einen Moment lang auf, aber die Erleichterung machte fast augenblicklich Misstrauen und durchaus begründeter Vorsicht Platz. »Ich erinnere mich jetzt. Es muss ein paar Jahre her sein, dass ich Euch gesehen habe, wie Ihr im frühen Morgengrauen das Dorf verlassen habt. Ihr habt Marius hierher gebracht, und die Frauen haben sich erzählt, Ihr wärt ein entfernter Verwandter von ihm – aber ein Delãny: Nein, das könnt Ihr nicht sein.«

Delãny schloss einen schmerzhaften Herzschlag lang die Augen. Marius. Er hatte seine Gründe gehabt, seine Vaterschaft nicht an die große Glocke zu hängen. Und es war ihm auch lieber gewesen, dass bis auf ein paar Eingeweihte im Dorf niemand wusste, dass er seinen Sohn weggeben hatte, weil er ihn hier sicherer geglaubt hatte als in den Bergen, in den sich gleichermaßen rätselhafte wie bedrohliche Vorfälle gehäuft hatten – die mit dem Mord an Michail und seiner Mutter geendet hatten. Abgesehen davon brauchte niemand zu wissen, dass er Andrej Delãny war, der Mann, den man mit dem Kirchenraub in Rotthurn in Verbindung brachte.

»Ich … gehöre zu einem fernen Zweig der Familie. Einem sehr kleinen.« Mit einer Geste auf seinen toten Großonkel fügte er hinzu: »Barak hat mich erkannt.«

Frederic nickte mit nachdenklichem Gesicht. »Barak hat Euch erkannt«, bestätigte er. »Und Ihr habt seinen Namen genannt, als Ihr hereingekommen seid … Aber das hat doch überhaupt nichts zu bedeuten.«

»Es ist mir nicht wichtig, für wen du mich hältst«, sagte Delãny barsch und voller Unruhe. »Sag mir lieber, wo Marius ist. Ich muss sofort zu ihm.«

»Marius?« echote Frederic. »Ich … ich … weiß nicht.« Als er Andrejs drohenden und mittlerweile vor Sorge fast irrsinnigen Gesichtsausdruck sah, zuckte er zusammen, als ob er geschlagen worden wäre. »Ich … ich«, stotterte er.

»Ja?« fragte Andrej leise. Irgendetwas tief hinten in seiner Kehle zog sich in Erwartung einer schlechten Nachricht so schmerzhaft zusammen, dass er kaum noch Luft bekam. »Was weisst du, Bursche? Spuck es aus.«

Frederic verzog ängstlich das Gesicht und tat so, als dächte er angestrengt nach. »Marius ist nicht hier«, sagte er schließlich. »Vor einer Woche oder so … sie haben ihn nach Kertz gebracht. Er sollte dort aushelfen.«

Andrej spürte eine Welle der Erleichterung und Hoffnung durch seinen Körper jagen. »Ist das auch wirklich wahr?«, bohrte er nach.

Frederic nickte eifrig. »Aber ja, Herr«, sagte er. »So wahr ich hier stehe. So und nicht anders ist es gewesen.«

Delãny atmete ein paar Mal tief durch. Es dauerte einen Moment, bevor er sich so weit beruhigte, dass er weitersprechen konnte. »Du fragst dich, wer ich bin. Und das fragst du zu Recht, nach alldem, was hier passiert ist. Ich denke, du hast ein Recht auf eine vernünftige Antwort.«

Der Junge legte den Kopf schief und nickte. »Das wäre nicht schlecht«, bekannte er.

»Nun gut«, sagte Andrej. »Du sollst die Wahrheit wissen. Ich war lange nicht mehr hier. Viele Jahre. Ich wusste nicht einmal, dass Barak noch am Leben ist. Ich bin gekommen, um … ihm einen Freundschaftsbesuch abzustatten.«

»Da habt Ihr Euch einen schlechten Zeitpunkt ausgesucht, Herr«, sagte Frederic düster. Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht auch einen guten. Wäret Ihr zwei Tage eher gekommen, dann wärt Ihr jetzt wohl auch tot.«

»Was ist passiert?«

Frederic setzte zu einer Antwort an, doch dann wanderte sein Blick wieder zu Barak hin, und sein Gesicht verdüsterte sich. Bisher hatte sich der Junge erstaunlich gut in der Gewalt gehabt angesichts dessen, was er erlebt und mit angesehen hatte, aber nun begannen sich seine Augen mit Tränen zu füllen.

»Gehen wir nach draußen«, schlug Andrej vor. »Dort redet es sich besser.«

Frederic widersprach nicht, sondern drehte sich rasch um und verließ mit schnellen Schritten nicht nur das Zimmer, sondern eilte auch, ohne zu zögern, die Treppe hinunter. Andrej wollte dem Jungen die Möglichkeit geben, sich ein wenig zu beruhigen, und unterdrückte deshalb in letzter Sekunde den Ausruf, mit dem er ihn eigentlich hatte aufhalten wollen. Stattdessen warf er einen letzten Blick auf Barak und nahm in Gedanken von ihm Abschied; erst dann drehte er sich um und folgte dem jungen Delãny, der die schmale Treppe bereits so schnell hinuntergeeilt war, als sei ihm der Leibhaftige auf den Fersen. Bevor Frederic durch die Tür aus seinem Blickfeld verschwand, warf er Andrej einen ängstlichen Blick zu und für einen grotesken Moment hatte Delãny das Gefühl, als wollte der Junge etwas vor ihm verbergen.

Die Treppe hinabzusteigen war viel schlimmer, als er geglaubt hatte. Andrej hatte die ganze Zeit über die Toten im Blick und jetzt, nachdem er Barak getötet hatte, kam ihm das Schicksal jedes einzelnen von ihnen noch viel monströser vor als vorhin, als ihn der erste Schock kaum Einzelheiten hatte erkennen lassen. Wahrscheinlich würde er den Anblick der vielen unschuldig Erschlagenen, die unter ihm den Raum füllten, sein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen. Zudem schlug ihm der süßlich-herbe Verwesungsgestank auf die Lungen, und er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Aber das war schließlich kein Wunder: Der Turm hatte sich in eine riesige Gruft verwandelt. Vielleicht würde er ihn nie wieder betreten können, ohne diese schrecklichen Bilder vor Augen zu haben.

Er hatte die Halle schon halb durchquert, als ihm eine Kleinigkeit auffiel, eine kaum wahrnehmbare Ähnlichkeit bei einem der Toten, die mit von ihm abgewandten Gesichtern und verkrümmten Körpern nahe der Mauer lagen … sein Herz setzte ein paar Schläge aus, und als es wieder einsetzte, schien es ihm bis zum Hals zu schlagen.

Der Schock der Erkenntnis traf ihn den Bruchteil einer Sekunde später: Es war Marius, sein Sohn, der sich eigentlich in Kertz aufhalten sollte. Aber … das konnte doch gar nicht sein! Hatte Frederic gelogen, hatte er ihm verschweigen wollen, dass sein Sohn tot war …?

Mit zwei, drei schnellen Schritten war Andrej bei dem Toten, starrte voller Entsetzen auf ihn hinab. Er konnte es einfach nicht fassen. Marius’ Haut wirkte blass und fast durchsichtig, wie die einer wertvollen Porzellanpuppe, aber bis auf den Holzpflock, der seine Brust durchbohrt hatte und in seinem Herzen stak, und Bissspuren an seinem Hals, schien er vollkommen unverletzt zu sein. Seine gebrochenen Augen starrten anklagend ins Nichts, beinahe so, als habe er seinen Mörder gekannt und sich nicht vorstellen können, dass er die grausige Tat vollbringen würde.

Andrej spürte, dass seine Augen feucht wurden. Er begriff es nicht. So viel Leid. So viel Entbehrung. So viel Verzicht. Nur, um seinen Sohn zu schützen, dieses letzte Bindeglied zu seiner Familie, zu Raqi, die nun schon seit Wochen tot war, gestorben, als sie ihr zweites Kind zur Welt hatte bringen wollen. Er hatte einen Bogen um Borsã gemacht, er hatte sich ferngehalten von seiner Vergangenheit, alte Fäden abgeschnitten – nur um nicht ruchbar werden zu lassen, dass Marius sein Sohn war, um ihn nicht der Schande auszusetzen, mit einem Mann in Verbindung gebracht zu werden, der als Kirchenschänder und Dieb galt.

Doch damit, das begriff er erst jetzt, hatte er alles Lebendige, alles Fröhliche und alles Glück aus seinem Leben ferngehalten, er hatte die Chance verstreichen lassen, seinen Sohn aufwachsen zu sehen, sich an seinem Heranwachsen zu erfreuen – für nichts weiter als eine vage Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die nun endgültig zerstört war.

Andrej hielt es nicht länger neben der Leiche seines Sohnes aus. Das Gefühl von Verwirrung und Schmerz wurde übermächtig und drohte, den Damm einzureißen, den sein Verstand angesichts Raqis Tod errichtet hatte, um ihn nicht endgültig in Verzweiflung und Irrsinn abdriften zu lassen. Warum verbreiteten die Körper derer, die man im Leben geliebt hatte, im Tode so großen Schrecken?

Als er die Tür des Wehrturmes hinter sich schloss, musste sich Andrej erst einmal dagegen lehnen. Er hatte das Gefühl, seine Beine würden jeden Augenblick ihren Dienst verweigern. Sein Magen fühlte sich an, als hätte ein Riese seine Faust hineingedrückt und seine Eingeweide von rechts nach links gedreht. Er übergab sich.

Frederic stand ein wenig abseits auf dem Hof. Er rührte sich nicht von der Stelle. Offensichtlich hatte er begriffen, dass Andrej Marius gefunden hatte. »Ich wollte … ich hatte Angst … ich wusste ja nicht, wie Ihr darauf reagiert, wenn ich Euch die Wahrheit sage.«

»Schon gut«, stieß Andrej mühsam hervor. Er ging auf Frederic zu – der wich zuerst zwei Schritte zurück, als fürchte er, Andrej wollte seine Wut und seinen Schmerz an ihm auslassen – und legte dann fast sanft seinen Arm auf die Schultern des Jungen. »Gehen wir«, sagte er. »Lassen wir den Toten ihren Frieden.« Und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Später werden wir zurückkommen und sie beerdigen.«

Gemeinsam verließen sie den Hof in Richtung Brücke. Als sie das Tor durchquerten und Frederic Andrejs weißen Hengst sah, blieb er stehen und riss erstaunt die Augen auf.

»Seid Ihr ein Edelmann, Herr?«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Andrej, ohne den dunklen Schleier, der sich über seine Gedanken gelegt hatte, zerreißen zu können.

»Weil nur Edelleute ein so kostbares Pferd besitzen«, antwortete Frederic.

Andrej lächelte voller Schmerz. In gewissem Sinne war der Hengst ein Abschiedsgeschenk von Michail Nadasdy – der dritte oder vierte Nachkomme jenes prachtvollen Tieres, das sein Stiefvater aus einem fernen Land namens Arabien mitgebracht hatte.

»Nein«, antwortete er. »Ich bin kein Edelmann.«

»Dann seid Ihr reich?«

»Mein Schwert und dieses Ross sind alles, was ich besitze«, antwortete Andrej. »Möchtest du es reiten?«

Frederics Augen weiteten sich. »Dieses Pferd?«

»Warum denn nicht dieses Pferd?« Andrej hob Frederic in den Sattel, ohne seine Antwort auch nur abzuwarten. Der Junge strahlte.

Delãny griff den Hengst am Zügel. Während er das wertvolle Tier langsam den Weg in Richtung Borsã zurückführte, schweiften seine Gedanken ab. So hatte er sich all die Jahre über das Wiedersehen mit seinem Sohn Marius vorgestellt: Ihn auf sein Pferd zu setzen und gemeinsam mit ihm loszuziehen, um die nähere und weitere Entfernung zu erkunden, und ihm die Plätze zeigen, die ihm im letzten Drittel seiner Kindheit ans Herz gewachsen waren.

Ein paar Schritte weiter richtete er sich fragend an Frederic: »Und jetzt erzähle, was hier geschehen ist. Wer hat das getan? Die Türken? Eine Räuberbande? Oder ein Fürst, der Machtpolitik mit dem Abschlachten von Menschen verwechselt?«

»Nein, Herr«, antwortete Frederic. Seine Stimme war plötzlich ganz leise. Sie zitterte.

»Vergiss den Herrn«, sagte Andrej. »Mein Name ist Andrej.« Er nickte Frederic so freundlich zu, wie er das in diesem Moment fertigbrachte. »Immerhin sind wir Verwandte – wenn auch nur weit entfernte.«

Vielleicht nicht einmal so weit entfernt, wie der Junge annehmen mochte. Es war gut möglich, dass er der Nachzügler aus der Familie eines seiner Onkel war – oder der Erstgeborene eines Cousins. Und doch verkniff sich Andrej die Frage, wie Frederics Vater geheißen hatte. Irgendwie war in Borsã ohnehin jeder mit jedem verwandt. Und wie es aussah, war dieser Junge sowieso der einzige aus der Familie, der noch am Leben geblieben war.

»Andrej, gut«, sagte Frederic wenig überzeugt. Sein Blick wanderte nach Süden, suchte die dunstigen Berggipfel am Horizont ab. Ein eigenartiger Ausdruck erschien in seinen Augen, an denen Andrej erst jetzt auffiel, dass ihre Farbe auf verblüffende Weise den klaren Fluten des Brasan ähnelte. Andrej fühlte sich schuldig, weil er diesem Jungen zumutete, all das Grauenhafte noch einmal zu durchleben.

»Sie kamen vor zwei Tagen«, sagte er. »Abends, mit dem letzten Licht des Tages. Es waren viele … bestimmt so viele Männer, wie Ziegen in unserer Herde sind.«

»Und wie viele Ziegen umfasst eure Herde?« fragte Andrej, erntete aber nur ein verständnisloses Achselzucken als Antwort. Frederic konnte nicht zählen – nur wenige hier konnten das.

Es spielte auch keine Rolle. Es mussten schon viele gewesen sein, wenn es ihnen gelungen war, dieses Massaker anzurichten – auch wenn sich die Männer des Dorfes aus irgendeinem Grund kaum gewehrt hatten.

»Soldaten?« fragte er.

»Ja«, antwortete Frederic. »Männer mit Waffen. Kostbare Waffen, solche, wie Ihr … wie du eine trägst. Ein paar hatten Rüstungen. Aber es waren auch Mönche dabei. Und ein Papst.«

»Ein was?«

»Ein … Kardinal?« schlug Frederic schüchtern vor.

Andrej lächelte und bedeutete ihm, weiterzusprechen. Er wollte den Jungen nicht noch mehr in Verlegenheit bringen. Klar war, dass ein höherer kirchlicher Würdenträger nach Borsã gekommen war – und warum auch nicht? Die Dorfbewohner hatten stets ein gutes Verhältnis zur Kirche gepflegt. Zu Andrejs Zeiten war Borsã eines der wenigen Dörfer in der Umgebung, das einen eigenen Mönch hatte.

Der damals den ersten Stein nach ihm geworfen hatte.

»Am Anfang waren sie freundlich«, fuhr Frederic fort. »Sie baten um Unterkunft für eine Nacht und ein Gespräch mit dem Dorfältesten, und natürlich haben sie beides bekommen. Bis spät in die Nacht konnte man das Lachen und Singen vom Turm herab hören. Aber im Dorf gingen Gerüchte um, von Kriegern und Mönchen, die durch das Land zögen und auf der Suche nach einem Zauberer seien.«

»Einem Zauberer?« Delãny blieb stehen und sah Frederic zweifelnd an, aber der Junge schüttelte nur um so heftiger den Kopf.

»Ich sage die Wahrheit. Ein mächtiger Hexenmeister, der mit dem Satan persönlich im Bunde sei, heißt es.«