Die Chronik der Unsterblichen - Das Dämonenschiff - Wolfgang Hohlbein - E-Book

Die Chronik der Unsterblichen - Das Dämonenschiff E-Book

Wolfgang Hohlbein

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Beschreibung

Band 9 der spektakulären Vampir-Serie vom Fantasy-Bestseller-Autor Wolfgang Hohlbein!

Andrej und Abu Dun suchen in einem niedergebrannten Küstendorf am Rande des ewigen Eises nach Überlebenden. Plötzlich werden sie angegriffen und von kriegerischen Nordmännern in ihr Dorf verschleppt. Kurz darauf wird das Dorf von unheimlichen Kreaturen überfallen - angeführt von dem Rabengott Odin. Der Anführer der Nordmänner bittet Andrej und Abu Dun, seinem Volk beizustehen. Und so macht sich ein kleines Heer tapferer Krieger auf, das Unvorstellbare zu vollbringen: einen Gott zu töten ...

Wolfgang Hohlbeins erfolgreicher Fantasy-Zyklus "Die Chronik der Unsterblichen" als eBook bei beBEYOND. Die weiteren Folgen:

Band 1: Am Abgrund

Band 2: Der Vampyr

Band 3: Der Todesstoß

Band 4: Der Untergang

Band 5: Die Wiederkehr

Band 6: Die Blutgräfin

Band 7: Der Gejagte

Band 8: Die Verfluchten

Band 8,5: Blutkrieg

Band 10: Göttersterben

eBooks von beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen.

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Seitenzahl: 804

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Inhalt

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Epilog

Über das Buch

Band 9 der spektakulären Vampir-Serie vom Fantasy-Bestseller-Autor Wolfgang Hohlbein! Andrej und Abu Dun suchen in einem niedergebrannten Küstendorf am Rande des ewigen Eises nach Überlebenden. Plötzlich werden sie angegriffen und von kriegerischen Nordmännern in ihr Dorf verschleppt. Kurz darauf wird das Dorf von unheimlichen Kreaturen überfallen – angeführt von dem Rabengott Odin. Der Anführer der Nordmänner bittet Andrej und Abu Dun, seinem Volk beizustehen. Und so macht sich ein kleines Heer tapferer Krieger auf, das Unvorstellbare zu vollbringen: einen Gott zu töten ...

Über den Autor

Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, lebt mit seiner Frau Heike und seinen Kindern am Niederrhein, umgeben von einer Schar Katzen und Hunde. Er ist einer der erfolgreichsten deutschen Autoren der Gegenwart. Seine Werke wurden in 47 Sprachen übersetzt und mit über zwanzig nationalen und ungezählten internationalen Preisen ausgezeichnet. Weitere Informationen unter: www.hohlbein.de.

WOLFGANG HOHLBEIN

DAS DÄMONENSCHIFF

beBEYOND

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe

© 2008 by LYX.digital, Köln

Für diese Ausgabe

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat/Redaktion: Dieter Winkler

Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven © thinkstock: Betty4240 | Colin_Hunter | CoreyFord; © shutterstock: Dm_Cherry

Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-5910-7

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

1

Selbst von der Höhe der Klippe aus war die Verheerung nicht zu übersehen. Früher einmal musste das kleine Küstenstädtchen ein beschaulicher Ort gewesen sein, an dem friedliebende Menschen ein ebenso langweiliges wie zugleich erfülltes Leben geführt hatten, ihrem Tagewerk nachgegangen waren und zu ihren Göttern gebetet hatten, ihre Kinder aufgezogen und von einer besseren Zukunft für sich und ihre Familien geträumt hatten. Wenn man die Augen schloss und dem Flüstern des Windes lauschte, meinte man noch einen Hauch dieser Zeit wahrnehmen zu können: das Lachen der Kinder, das geschäftige Hämmern der Handwerker und die Stimmen der Frauen, die sich fröhlich unterhielten oder auch stritten, das Knarren der Bootsrümpfe, die in der Dünung schwankten, und das schwere Flappen der Segel, die noch nass vom letzten Regen von den Rahen hingen. Jetzt hingegen …

Andrej öffnete die Augen, und die Vision zerplatzte wie eine Schaumblase auf einem Wellenkamm. Seit sie hier heraufgekommen waren, hatte sich der Wind gedreht, sodass die eisige Luft jetzt nicht mehr nur von Salzwasser- und Schneegeruch erfüllt war, sondern auch das schwere Miasma von verbranntem Holz, Leder und Fleisch zu ihnen heraufwehte. Dort unten waren schon lange keine spielenden Kinder mehr. Das einzige Schiff, das er sah, lag mit aufgerissenem Rumpf auf der Seite, ein sterbender hölzerner Wal, der sich mit letzter Kraft den Strand heraufgeschleppt hatte, nur um dort zu verenden, und aus dem geschäftigen Hantieren und den fröhlichen Stimmen war wohl in den letzten Augenblicken ein Chor gellender Schreie und Waffengeklirre geworden, später vielleicht auch noch ein leises Wehklagen, und möglicherweise die eine oder andere Stimme, die zu den Göttern schrie und sie um Hilfe anflehte und sie vielleicht im allerletzten Moment verfluchte, dass diese Hilfe nicht kam, der Pakt, der ohnehin nur einseitig geschlossen worden war, nicht erfüllt wurde.

»Was glaubst du, wie lange es her ist?«

Abu Duns Stimme riss Andrej unsanft in eine Wirklichkeit zurück, von der er nicht ganz sicher war, dass sie sich als besser herausstellen würde als die schrecklichen Bilder, mit denen ihn seine eigene Fantasie in den letzten Minuten geplagt hatte. Dennoch blieb er für einige weitere Augenblicke völlig reglos stehen und sah auf das verwüstete Dorf hinab, bevor er – mit einiger Verspätung und so mühevoll, als müsse er dabei alle Last der Welt bewegen – die Schultern hob und sich zu dem riesenhaften Nubier umwandte, wobei er gleichzeitig einen kleinen Schritt von der Klippe zurücktrat. »Schwer zu sagen«, antwortete er. Sein Gesicht und seine Lippen waren so steif gefroren, dass er nicht einmal mehr verständlich sprechen konnte. Und der eisige Wind tat ein Übriges, um auch noch das allerletzte bisschen Wärme aus ihm herauszureißen. Flüchtig kam ihm zu Bewusstsein, dass Abu Dun wohl sehr viel mehr unter der Kälte leiden musste als er, denn der Nubier war in einem Land geboren und aufgewachsen, in dem die Menschen nicht einmal ahnten, dass es Temperaturen wie diese überhaupt gab. Er musste sich aber auch widerwillig eingestehen, dass sein Freund und Weggefährte zumindest äußerlich weitaus besser mit den widrigen Umständen zurechtzukommen schien als er. Abu Dun hatte den schweren Mantel, dessen Stoff von der gleichen nachtschwarzen Farbe war wie sein Turban, seine Stiefel und auch sein Gesicht, um die Schultern geschlungen und sorgsam geschlossen und einen Teil seiner orientalischen Kopfbedeckung wie einen Schal vor das Gesicht geschlagen, sodass wenig mehr als ein schmaler Streifen über den Augen sichtbar war, aber anders als Andrej zitterte er nicht am ganzen Leib vor Kälte und brachte es sogar fertig, einigermaßen verständlich zu sprechen. Flüchtig rauschte der Gedanke durch Andrejs Kopf, ob der Nubier sich vielleicht mit Absicht so verhielt, um ihn zu demütigen.

»Es kann ein paar Stunden her sein … oder auch Monate. Wer will das in diesem verrückten Land sagen?«

Abu Dun runzelte zur Antwort nur die Stirn, das aber so heftig, dass sein Turban nach vorne rutschte und ihm für einen Moment die Sicht nahm. Er grunzte irgendetwas, das Andrej nicht verstand und auch gar nicht verstehen wollte, trat nun seinerseits so dicht an die Klippe heran, dass seine Stiefelspitzen eine halbe Handbreit über den Abgrund hinausragten, und beugte sich vor, um aus angestrengt zusammengekniffenen Augen nach unten zu blicken. Der Wind heulte auf, bauschte seinen Mantel und hätte jeden anderen aus dem Gleichgewicht gebracht. Andrej verspürte einen weiteren tiefen Stich von Neid, als er sah, dass der mehr als zwei Meter große Koloss nicht einmal wankte. In Gedanken rief er sich zur Ordnung. Er war nun wahrlich lange genug mit Abu Dun zusammen, um einem solchen Anblick keine besondere Aufmerksamkeit mehr zu schenken. Aber in letzter Zeit begannen seine Gedanken immer häufiger auf unguten Pfaden zu wandeln. Es musste an diesem Land liegen, dachte er nicht zum ersten Mal. Genauer gesagt: an dieser Einöde aus Wasser und Kälte, in deren Weite sich hier und da ein winziges Stückchen zumeist eisbedeckten Landes fand. Es zerrte an seinen Nerven.

»Nicht länger als ein paar Stunden«, sagte Abu Dun, als er sich wieder aufrichtete und zu ihm umdrehte.

Andrej fragte sich, woher er das wissen wollte. Der letzte Sturm (vermutlich derselbe, der ihr Schiff auf der anderen Seite der gebirgigen Landzunge auf den Strand geworfen hatte) hatte die gesamte Küste mit einem feinen Sprühregen aus Nässe überzogen, die längst zu einer steinharten, schimmernden Kruste gefroren war, die sich wie eine barmherzige Decke über den Anblick der Verheerung legte.

»Man kann das Feuer noch riechen«, sagte Abu Dun.

Das stimmte. Auch Andrej war der feine, durch und durch widerliche Geruch eines Feuers, in dem mehr als Holz und Stoff verbrannt waren, nicht entgangen. Trotzdem fragte er. »Bist du sicher, dass du das nicht nur sagst, weil du es dir wünschst?«

Für einen Moment wurden Abu Duns Augen noch schmaler. Andrej konnte sehen, wie eine Frage hinter seiner Stirn Gestalt annahm, Abu Dun aber beschloss, sie doch nicht laut zu stellen. Stattdessen nickte er nur.

»Dann sollten wir vielleicht nachsehen, ob es noch Überlebende gibt«, hörte er sich zu seiner eigenen Überraschung sagen.

»Bei dieser Kälte?« Abu Dun schüttelte so heftig den Kopf, dass sich sein improvisierter Schleier löste. In dem kurzen Moment, bevor er ihn wieder befestigte, konnte Andrej sehen, dass seine Lippen darunter blau gefroren waren. »Da hat jemand gründliche Arbeit geleistet, Hexenmeister. Und selbst wenn er jemanden übersehen haben sollte, muss er längst erfroren sein.«

Natürlich entsprach auch das der Wahrheit, dachte Andrej. Weder Abu Dun noch er wussten, wie kalt es wirklich war, aber er hatte in den zurückliegenden Tagen immerhin erfahren, dass es sich in diesem Teil der Welt als äußerst klug erwiesen hatte, das Gesicht nach Möglichkeit stets aus dem Wind zu drehen, wollte man nicht Gefahr laufen, dass einem die Augenlider festfroren. Wahrlich nicht zum ersten Mal fragte er sich, wie Menschen jemals auf die Idee hatten kommen können, hier zu siedeln.

Wenn es Menschen waren, die dort unten gelebt hatten. Nicht einmal dessen war sich Andrej vollkommen sicher.

»Aber du hast recht«, sagte Abu Dun plötzlich. »Wir sollten trotzdem hinuntergehen.«

»Warum?«, fragte Andrej in verwundertem Tonfall und ungeachtet der Tatsache, dass er vor einem Augenblick den gleichen Vorschlag gemacht hatte. Abu Dun musterte ihn eindringlich und schien zu überlegen, ob er antworten sollte.

»Um zu sehen, wer sie waren. Und vielleicht, wer sie umgebracht hat, und warum das geschah.«

Andrej hob zur Antwort nur die Schultern. Es schien unmöglich, aber es war tatsächlich noch kälter geworden, seit sie von Bord des gestrandeten Schiffes gegangen und hier heraufgekommen waren. Sein Gesicht fühlte sich an, als sei es zu Eis erstarrt, und er war nicht sicher, ob seine Lippen nicht einfach zerspringen würden, wenn er wieder zu sprechen versuchen würde. Er machte eine einladende Geste in Richtung des Abgrunds einen Fingerbreit hinter Abu Dun. Diesmal war er sicher, dass die Reaktion des Nubiers eindeutig erfolgte, um ihn zu ärgern. Er unternahm nämlich nicht die geringste Anstrengung, um einen halbwegs bequemen oder sicheren Abstieg zu suchen, sondern ging in die Hocke, tastete blind mit dem Fuß hinter sich in die Tiefe und begann dann zügig zu klettern. Andrejs Blick folgte seinen Bewegungen mit einem verärgerten Stirnrunzeln, bis Gesicht und Turban des Nubiers und als Letztes auch seine gewaltige Pranke hinter der Kante verschwunden waren, und er ertappte sich ohne die mindeste Spur von schlechtem Gewissen bei der schadenfrohen Vorstellung, Abu Dun könne auf dem spiegelglatt gefrorenen Felsen den Halt verlieren und gute hundert Fuß in die Tiefe fallen. Nicht dass es ihn umgebracht hätte, aber vielleicht wäre es ihm eine Lehre gewesen.

Als er sich umständlich auf die Knie ließ, um dem Nubier zu folgen, sah er, jetzt allerdings weniger schadenfroh, vor seinem geistigen Auge, wie auch er in den Abgrund stürzte.Die Felswand fiel lotrecht in die Tiefe, und sie musste selbst ohne den Panzer aus eisenhart gefrorenem und vom Wind glattpoliertem Eis unbezwingbar sein. Andrej war alles andere als ein ungeschickter Kletterer, und noch während er nach unten gesehen hatte, hatte er sich mit dem Gedanken zu trösten versucht, dass sie schon schlimmere Wände erstiegen hatten … doch das stimmte nicht. Andrej wusste hinterher nicht mehr zu sagen, wie lange er gebraucht oder wie er es überhaupt geschafft hatte, nach unten zu gelangen. Seine Finger und Zehen waren so kalt, dass er keinen Schmerz mehr spürte, der gefrorene Stein hatte Kanten so scharf wie Glas, und seine Hände hinterließen schmierige rote Abdrücke. Jeder Muskel seines Körpers schmerzte, auch wenn er sich nicht bewegte. Wahrscheinlich war er aus dem einzigen Grund nicht abgestürzt, um Abu Dun nicht die Genugtuung zu bieten, ihn an sich vorbeifallen und unten auf dem Eis zerschmettern zu sehen.

Immerhin schien der Abstieg sogar an Abu Duns Kräften gezehrt zu haben, denn als Andrej endlich neben ihm anlangte, lehnte der Nubier erschöpft an der Wand und rang keuchend nach Atem … was ihn selbstverständlich nicht davon abhielt, Andrej mit einem breiten Grinsen und einem herablassenden »Kommst du auch schon?« zu empfangen. Andrej zog es vor, die Worte nicht zu hören.

Stattdessen tat er es dem Nubier gleich, indem er sich für einen langen Augenblick mit geschlossenen Augen gegen den vereisten Fels lehnte. Sein Herz pochte, als wolle es aus seiner Brust springen. Er zitterte am ganzen Leib, und trotz der grausamen Kälte war er unter seiner gefrorenen Kleidung schweißbedeckt. In ein paar Augenblicken, dachte er missmutig, würde dieser Schweiß gefrieren und ihn zusätzlich auskühlen.

Er fuhr sich mit einer Hand wie mit einer eisbedeckten Kralle durch das Gesicht, blinzelte einige Male und ließ den Blick aufmerksam über die kleine Ansammlung verheerter Gebäude streifen. Überrascht stellte er fest, dass aus der Nähe betrachtet die Spuren gewaltsamer Zerstörung gar nicht mehr so dramatisch aussahen wie von oben. Das Dorf lag in Trümmern und war verlassen, und das allgegenwärtige Eis, die Schneewehen und das niemals endende Wehklagen des Windes, der sich an Mauerresten und Felsen brach, ließen ihn fast glauben, dass es hier niemals menschliches Leben gegeben hatte. Alles machte plötzlich einen sonderbar friedlichen Eindruck, als hätten seine Bewohner ihn nur aufgegeben und vor einem Jahrzehnt oder auch einem Jahrhundert friedlich ihre Habseligkeiten gepackt.

Vermutlich sind sie in ein wärmeres Land gezogen, fügte er in Gedanken grimmig hinzu … was für nahezu jedes Land auf der Welt galt.

»Sehen wir dort drüben nach«, sagte Abu Dun mit einer übertriebenen Geste in Richtung eines der niedergebrannten Gebäude. Andrej war sicher, dass er es ganz willkürlich ausgewählt hatte. Außerdem sprach er viel zu laut.

Andrej warf ihm einen fragenden Blick zu, den der Nubier einfach ignorierte. Er stieß sich kraftvoll von der Wand ab, schlitterte mehr auf die Ruine zu als dass er ging. Andrej folgte ihm mit einem Schulterzucken, so rasch er konnte und auf wenig elegante Art. Abu Dun hatte ihm anscheinend irgendetwas sagen wollen, aber er verstand nicht, was … und auf dem nächsten Stück Weg hatte er auch Besseres zu tun, als darüber nachzudenken, denn er musste sich konzentrieren, um sich auf den Beinen zu halten. Das, was vielleicht einmal der Dorfplatz gewesen war, war jetzt so spiegelglatt gefroren, dass Abu Dun und er sich mit albern aussehenden Bewegungen vorankämpften und Andrej auf dem letzten Stück Weg mit den Armen rudern musste, um sein Gleichgewicht zu halten. Auf dem allerletzten Stück verlor er dann doch noch den Halt und wäre gestürzt, hätte Abu Dun nicht blitzschnell die Hand ausgestreckt und ihn aufgefangen. Dabei wankte er nicht einmal, obwohl auch er auf nichts anderem als blankem Eis stand – was ihm einen eisigen Blick Andrejs eintrug. Als Abu Dun ihm auf die Beine half, beugte er sich vor und raunte Andrej zu: »Wir sind nicht mehr allein.«

Andrej ließ sich nichts anmerken, lauschte aber mit seinen scharfen Sinnen und fragte sich im nächsten Augenblick verblüfft, wieso es eigentlich erst Abu Duns Worte bedurft hatte, um ihn darauf aufmerksam zu machen: Sowohl in dem Gebäude zu ihrer Rechten als auch in dem zu ihrer Linken hielten sich Männer auf, zwei in jedem. Er konnte ihre Atemzüge hören, und nachdem er einen Moment aufmerksam gelauscht hatte, auch das rasche, erregte Schlagen ihrer Herzen. Und er konnte ihre Angst wittern. Dabei war vier zu zwei eigentlich kein schlechtes Verhältnis, dachte er. Sie konnten ja nicht ahnen, wie unsinnig es war, Männern wie ihnen in einem Hinterhalt auflauern zu wollen.

Auf der anderen Seite sah Abu Dun wirklich nicht wie ein gewöhnlicher Mann aus, und wenn sie sie dabei beobachtet hatten, wie sie die spiegelglatte Felswand heruntergestiegen waren … dann hatten sie tatsächlich einen guten Grund, sich zu fürchten.

Er signalisierte Abu Dun ein Nicken und schüttelte gleich darauf erschrocken den Kopf, als er sah, wie die Hand des Nubiers unter seinen Mantel gleiten wollte, wo er seinen gewaltigen Krummsäbel trug. Abu Dun bedeutete ihm stumm sein Einverständnis – sie waren nun schon seit so vielen Jahren zusammen, dass sie keine Worte oder Gesten mehr brauchten, um sich zu verständigen – und sie betraten das zerstörte Gebäude.

Die Illusion, sich in einem seit vielen Jahren verlassenen Ort zu befinden, erlosch, als er geduckt hinter Abu Dun durch die Tür trat. Die Hütte war unerwartet groß, hatte aber trotzdem aus einem einzigen Raum bestanden, dessen Dach von einem hölzernen Stützpfeiler so breit und hoch wie ein Schiffsmast getragen worden war. Jetzt war er auf Brusthöhe gesplittert und der Stumpf war verkohlt. Die gegenüberliegende Wand fehlte, sodass Wind und Kälte sich beständig ihren Weg in die Hütte fressen konnten. Doch der Boden unter ihren Füßen war nicht mehr so glatt wie draußen, und der alles überkrustende Panzer aus Eis nicht ganz so dick und hier und da halb durchsichtig.

Abu Dun machte eine stumme Kopfbewegung, und Andrej wünschte sich fast, sein Blick wäre ihr nicht gefolgt, als er das Kind sah.

Es lag unweit der Tür auf dem Rücken, keine drei Monate alt und vollständig nackt. Es war ein Mädchen, in einen Panzer aus gesprungenem Eis gehüllt, und Andrej konnte keinerlei Verletzungen erkennen, zumindest nicht an der Seite des Körpers, die ihm zugewandt war. Er vermutete, dass es erfroren war.

Auch Abu Dun starrte das tote Baby einen Herzschlag lang wortlos und mit steinernem Gesicht an, bevor er sich mit einem Ruck herumdrehte, um den Rest des Raumes zu untersuchen. Andrej fragte sich allerdings, was er eigentlich zu finden hoffte. Was Feuer, Feuchtigkeit und Kälte nicht zerstört hatten, das war ausnahmslos zertrümmert und in Stücke geschlagen, als hätte hier drinnen ein Sturm aus bloßer Zerstörungswut und Raserei getobt.

Als er ein leises Knacken irgendwo hinter ihnen, außerhalb des Gebäudes, hörte, reagierte Andrej äußerlich nicht im Geringsten darauf, aber er lauschte aufmerksam und erkannte die verstohlenen Schritte zweier Männer, die sich lautlos anzuschleichen versuchten. Zwei andere näherten sich von der anderen Seite.

Abu Dun ließ sich mit einem mühsamen Schnaufen in die Hocke sinken. Er begann mit den Fingern im Schnee zu graben. »Wer immer das hier getan hat, war nicht auf Beute aus. Oder ziemlich schlampig.«

Andrej trat neugierig näher, aber er musste sich vorbeugen, um zu sehen, worauf Abu Dun deutete: Er hatte eine Handvoll Goldmünzen entdeckt, die halb im Eis eingebettet lagen. Vergeblich versuchte er, eine davon mit den Fingern loszubrechen, schaffte es nicht und zog seinen Dolch unter dem Mantel hervor, um es auf diese Weise noch einmal zu versuchen, als hinter ihnen eine Stimme sagte: »Seid ihr gekommen, um den Rest der Beute zu holen?«

Abu Dun erstarrte mitten in der Bewegung, und Andrej richtete sich sehr langsam auf, wie ein Mann, der wusste, dass jede unbedachte Regung auch zugleich seine letzte sein konnte.

Hinter ihnen waren zwei Männer aufgetaucht; Krieger, wie auf den ersten Blick zu erkennen war. Beide waren wahre Riesen, selbst ohne die gewaltigen Hörnerhelme beinahe so groß wie Abu Dun. Sie trugen schwere Kettenhemden über wollenen Untergewändern und Hosen, die in pelzgefütterten Stiefeln steckten, übergroße Rundschilde und gespannte Bögen auf den Rücken. Einer von ihnen war mit einem wuchtigen, kurzen Schwert bewaffnet, der andere trug die größte zweischneidige Axt über der Schulter, die Andrej jemals gesehen hatte.

»Wenn sich einer von euch auch nur falsch bewegt, seid ihr tot«, sagte eine Stimme auf der anderen Seite des Gebäudes. Andrej warf einen flüchtigen Blick über die Schulter und war nun doch überrascht, dort nicht zwei, sondern gleich drei bewaffnete Hünen zu gewahren.

Er wandte sich wieder den beiden unter der Tür zu und machte ein fragendes Gesicht, als hätte er die Worte nicht verstanden.

Doch vergeblich. Der Bursche mit dem Schwert deutete auf Abu Dun. »Dein Freund soll aufstehen. Aber langsam.«

Andrej bedeutete Abu Dun mit einer knappen Geste zu gehorchen, und die Augen des Schwertkämpfers wurden für einen Moment groß, als sich der Nubier zu ihm herumdrehte und er zum ersten Mal sein Gesicht sah. Offensichtlich hatte er noch nie zuvor einen schwarzen Menschen erblickt. Sein Begleiter offenbar auch nicht, denn in dessen Augen blitzte für einen Moment blankes Entsetzen auf, dann tiefes Erschrecken. Im nächsten Moment hatte er sich wieder in der Gewalt, wenn auch seine Augen weiterhin furchtsam blickten. Andrej nahm sich vor, noch vorsichtiger zu sein. Ein Gegner, der Angst hatte, war doppelt gefährlich.

»Ich grüße euch«, sagte er betont langsam. »Mein Name ist Andrej. Das ist Abu Dun, wir sind –«

»Ich weiß, wer ihr seid«, unterbrach ihn der Fremde. »Legt eure Waffen ab. Ganz langsam. Es sei denn, ihr wollt gleich hier sterben.«

Andrej konnte fühlen, wie sich Abu Dun hinter ihm anspannte. »Ich glaube, ihr verwechselt uns. Wir haben nichts mit dem zu tun, was hier passiert ist.«

»Legt eure Waffen ab«, sagte der Krieger ungerührt.

Abu Dun spannte sich weiter, und Andrej drehte sich rasch zu ihm herum und warf ihm einen beschwörenden Blick zu, der nur dazu diente, von den Kriegern gesehen zu werden. »Wir sollten besser gehorchen«, sagte er, wobei er ganz bewusst die Sprache der Fremden benutzte, und weder Arabisch noch Deutsch, die beiden Sprachen, derer sie sich normalerweise bedienten. Abu Dun spielt auch jetzt perfekt mit. Er zögerte einen spürbaren Moment, indem er die fremden Krieger mit einem ebenso zornigen wie herausfordernden Blick maß, aber dann schlug er mit einer trotzigen Bewegung seinen Mantel zurück und zog den riesigen Krummsäbel aus dem Gürtel, um ihn zu Boden zu legen. Andrej verfuhr ebenso mit seinem kostbaren Damaszenerschwert.

»Jetzt binde deinem großen Freund da die Hände auf den Rücken.« Der Krieger warf ihm einige dünne Lederriemen vor die Füße. »Aber versuch keine Tricks. Ich werde die Fesseln überprüfen.«

»Glaub mir, es ist nicht so, wie es den Anschein hat«, sagte Andrej. »Wir haben nichts mit dem hier zu tun!«

Der andere starrte ihn wortlos an. Andrej ging seufzend in die Hocke, hob die Lederbänder auf und fesselte Abu Duns Hände auf dem Rücken. Er zog die Knoten so fest, wie er es gerade noch konnte, ohne die Bänder dabei zu zerreißen, und anschließend verfuhr einer der Fremden mit ihm genauso.

»Ihr seht, wir haben keinen Widerstand geleistet«, sagte Andrej, während derselbe Krieger Abu Duns Fesseln überprüfte. Ob er wohl ahnte, wie nahe er dabei dem Tode war?

Der Anführer der Nordmänner maß ihn mit einem Blick, in dem wenig mehr Wärme lag als in der weißen Einöde ringsum. »Ihr begleitet uns. Aber zuerst sagt ihr uns, wo die anderen sind.«

»Welche anderen?«

Der Mann schlug ihn, ohne Vorwarnung und so hart, dass sein Kopf in den Nacken flog und bunte Sterne vor seinen Augen tanzten. Rote Wut flammte in ihm auf, und für die Dauer eines halben Herzschlages hatte er nicht übel Lust, zuerst seine Fesseln und dann die Kehle seines Gegenübers zu zerreißen. Aber Andrej beherrschte sich im letzten Moment, verzog nur schmerzhaft das Gesicht und funkelte den blonden Hünen an. Etwas musste wohl in seinem Blick sein, womit dieser nicht gerechnet hatte, denn für einen Moment wirkte er verunsichert und hatte alle Mühe, ihm standzuhalten. Aber es gelang ihm.

»Wo sind die anderen?«, fragte er nur noch einmal.

»Es gibt keine anderen«, antwortete Andrej. »Ich weiß nicht, mit wem ihr uns verwechselt, aber Abu Dun und ich sind allein. Wir sind zufällig hierher gekommen und haben das verheerte Dorf entdeckt. Wir wollten nachsehen, ob es noch jemanden gibt, der vielleicht Hilfe braucht.«

In den hellen, sonderbar klaren Augen seines Gegenübers blitzte es abermals auf, und einen Moment lang glaubte Andrej, dass er ihn erneut schlagen würde. Doch stattdessen wandte er sich um und sah nachdenklich auf die festgefrorenen Münzen hinab. »Wolltet ihr nicht viel eher nachsehen, ob es hier vielleicht noch etwas zu holen gibt?«, fragte er.

»Wir sind keine Plünderer«, sagte Andrej scharf.

Der Nordmann starrte die Münzen noch einen weiteren Atemzug lang an und sah dann auf das tote Kind hinab. Ein Schatten glitt über sein Gesicht, das unter dem eisverkrusteten Bart erstaunlich jugendlich wirkte.

»Was ist hier geschehen?«, fragte Andrej leise.

Der Blonde funkelte ihn nur hasserfüllt an, beantwortete seine Frage aber nicht, sondern wandte sich nur mit einer befehlenden Geste zur Tür. »Gehen wir.«

Sie verließen das Dorf in südlicher Richtung, der blonde Hüne und sein axtschwingender Kamerad vorneweg, die drei anderen Krieger den Abschluss bildend, während Andrej und Abu Dun mit auf den Rücken zusammengebundenen Händen und mutlos hängenden Köpfen und Schultern in der Mitte der kleinen Kolonne dahintrotteten. Die halbrunde Bucht, in der das Dorf lag, war an drei Seiten von gut hundert Fuß hohen Steilklippen umgeben, wie eine nur zum Meer hin offene, natürliche Festung, die ihren Bewohnern ein Leben lang ein Gefühl trügerischer Sicherheit vermittelt haben mochte, bevor sie – vielleicht im allerletzten Moment – begriffen hatten, dass diese Festung eine Todesfalle war. Einzig ein knapp zwei Meter breiter, senkrechter Riss im Fels bot einen Ausweg, als hätte ein zorniger Gott dort das gesamte Gebirge mit einer riesigen Axt gespalten. Andrejs kundiger Blick zeigte ihm sofort, dass die schmale Klamm selbst von einem einzigen, entschlossenen Mann leicht zu halten sein musste, sogar gegen eine gewaltige Übermacht. Als sie näher kamen, gewahrte er zwar keine Leichen, wohl aber die unübersehbaren Spuren eines Kampfes. Der Boden aufgewühlt, hier und da lagen Fetzen von Kleidung oder Rüstungsteile, ein paar zerbrochene Waffen, und überall war Blut – allerdings nur auf dieser Seite der Klamm. Etliche Bewohner des Dorfes hatten wohl noch die Zeit gefunden, vor den unbekannten Angreifern zu fliehen. Sie waren nicht weit gekommen.

Bevor sie den Felsspalt betraten, blieb der Blonde noch einmal stehen und sah zu ihnen zurück. »Versucht nichts Unbedachtes dort drinnen«, warnte er. »Selbst wenn ihr uns entkommt – was ihr nicht werdet –, warten unsere Brüder auf der anderen Seite. Und wir haben ein Schiff auf dem Meer.«

Andrej schwieg, aber das schien ihrem Führer als Antwort zu genügen. Andrej aber verrieten seine Worte, dass er trotz seiner noch jungen Jahre schon ein erfahrener Krieger war. Wenn sie überhaupt einen Ausbruch hätten wagen wollen, dann dort drinnen, wo die schmale Klamm ihre Bewacher daran hindern würde, ihre Waffen zu benutzen oder sich gegenseitig zu unterstützen.

Andrej hatte nichts dergleichen vor. Weder Abu Dun noch er würden diese Fesseln tragen, wenn sie es nicht gewollt hätten.

Der Felsspalt war weitaus länger, als er erwartet hatte, und auf dem letzten Stück so schmal, dass sie nur noch hintereinander gehen konnten. Trotzdem scharrten Abu Duns breite Schultern an dem vereisten Stein. Andrej enthielt sich jeden Kommentars, aber er begriff sehr wohl, dass sie gerade durch den Höhenzug marschierten, den sie vorhin so mühsam überklettert hatten … ein Weg, der ganz gewiss umständlicher war, aber nicht annähernd so mühevoll und gefährlich wie der, den sie genommen hatten. Außerdem fanden sie so wenigstens für eine kurze Weile Schutz vor dem grausamen Wind.

Wie sich zeigte, hatte ihr Führer die Wahrheit gesagt: Auf der anderen Seite der Klamm angekommen, erwartete sie nicht nur ein kleines Lager aus einem halben Dutzend niedriger Zelte, sondern auch eine Anzahl weiterer Krieger. Sie waren nicht alle so hochgewachsen und muskulös wie die Männer, die glaubten, sie gefangen genommen zu haben, aber keiner von ihnen war klein, und sie waren nicht nur ausnahmslos gut bewaffnet, sondern trugen diese Waffen auch wie die Art von Männern, die damit umzugehen wussten.

Abu Dun sprach aus, was Andrej dachte. »Sieht so aus, als wären wir mitten in einen Krieg geraten«, sagte er auf Arabisch.

»Sprecht nicht so miteinander!«, fuhr ihn der Blonde an. »Wenn ihr reden wollt, dann in einer Sprache, die wir verstehen!«

»Verzeiht meinem Freund«, sagte Andrej hastig, bevor Abu Dun antworten konnte. Vielleicht konnte es ihnen noch von Nutzen sein, wenn ihre Bewacher glaubten, Abu Dun verstünde sie nicht. »Er spricht eure Sprache nicht.«

»Dann soll er schweigen!«, fauchte der blonde Hüne.

»Er hat sich nur gefragt, was all diese bewaffneten Männer hier tun, und ob wir vielleicht mitten in einen Krieg geraten sind, der uns nichts angeht«, sagte Andrej.

»Ein Krieg?« Der Nordmann schürzte verächtlich die Lippen. »Ja, so könnte man es nennen. Und ob er euch etwas angeht, wird sich zeigen. Und jetzt geht weiter!« Mit herrischer Geste wies er einen der Männer an, Abu Dun einen derben Stoß in den Rücken zu versetzen, und der Nubier stolperte ein paar Schritte vorwärts, verlor auf dem glatt gefrorenen Boden den Halt und fiel schwer auf die Knie. Andrej hielt erschrocken die Luft an, aber Abu Dun sagte nichts, sondern stemmte sich nur grunzend in die Höhe und wäre auf dem spiegelglatten Boden sofort wieder gestürzt, hätte ihn nicht derselbe Mann, der ihn gerade erst gestoßen hatte, jetzt gestützt. Er selbst wankte dabei nicht einmal, und Andrej fiel erst jetzt auf, dass nicht nur er, sondern auch die vier anderen sich mit geradezu übernatürlicher Sicherheit auf dem Eis bewegten.

Andrej dagegen atmete erleichtert auf, als sie das kleine Lager erreichten und unter seinen Stiefeln endlich wieder nackter Fels war, und kein Eis, dass der Wind seit hundert Jahren glatt schmirgelte.

»Setzt euch dorthin!« Der Blonde zeigte auf ein halb heruntergebranntes Feuer, das sich im Zentrum des unregelmäßigen Kreises aus kleinen Zelten befand. »Ich komme gleich zu euch.«

Sie spielten die Rolle der hilflosen Gefangenen perfekt weiter, indem sie gehorsam zum Feuer schlurften und sich so dicht an den Flammen niederließen, wie es gerade noch ging, ohne dass sie Gefahr liefen, ihre Kleidung in Brand zu setzen… was nur zum Teil ihrer Tarnung diente. Liebend gern hätte Andrej (und auch Abu Dun, dessen war er sich sicher) seine Fesseln zerrissen, um seine Hände an den Flammen wärmen zu können. Ja, er hätte sie auch in die Flammen gehalten, wenn er so, um den kleinen Preis eines flüchtigen Schmerzes, endlich wieder einmal Wärme hätte spüren können. Er konnte sich kaum noch erinnern, wann er das letzte Mal nicht gefroren hatte.

Der Blonde verschwand, aber zwei seiner Kameraden blieben demonstrativ hinter ihnen stehen, und auch die anderen Krieger kamen näher und blickten Andrej – und vor allem den riesigen Nubier – unverhohlen neugierig an, aber auch genauso offen feindselig. Andrej war es gewohnt, dass sein hünenhafter Begleiter Aufsehen erregte, wohin auch immer sie kamen; in den meisten Teilen der Welt allein durch seine Größe und seine massige Gestalt. Hier, an diesem kalten, lebensfeindlichen Fleckchen, an dem er schon vielen Männern mit stattlicher Körpergröße begegnet war, wohl eher aufgrund seiner nachtschwarzen Haut. Nur zu oft schlug ihnen Misstrauen, auch Feindseligkeit entgegen, doch meist aus Unwissenheit und Furcht. Hier jedoch … war es anders. In den Blicken dieser Männer sah Andrej blanken Hass. Mehr als eine Hand hatte sich ein wenig zu fest um den Griff einer Waffe geschlossen, mehr als ein Schwert war einen Finger breit aus der Scheide gezogen worden. Allmählich kamen ihm Zweifel, ob der Plan, sich gefangen nehmen zu lassen, um so an Informationen zu gelangen, tatsächlich aufgehen würde. Keiner dieser Männer war Abu Dun oder ihm gewachsen, nicht einmal mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen (von den Fesseln konnten sie sich ohnehin im Handumdrehen befreien), aber sie waren viele, und sie waren schwer bewaffnet. Und weder Abu Dun noch er waren unverwundbar oder tatsächlich unsterblich …

»Ich kann mich des Gefühls einfach nicht erwehren, dass wir nicht willkommen sind«, sagte Abu Dun plötzlich spöttisch und auch jetzt wieder in seiner Muttersprache. Diesmal nahm niemand daran Anstoß.

»Sie glauben, wir gehören zu denen, die das Dorf niedergebrannt haben«, antwortete Andrej in derselben Sprache. Er seufzte. »Ich kann es ihnen nicht einmal wirklich übel nehmen. Wenn das ihre Leute waren, oder Freunde, dann haben wir wahrscheinlich Glück, dass wir überhaupt noch leben.«

»Und ich hätte auch nichts dagegen, wenn es noch eine Weile so bliebe«, fügte Abu Dun hinzu. »Vielleicht noch zwei- oder dreihundert Jahre … oder vier. Man soll ja nicht gierig werden.«

In diesen Worten verbarg sich eine Frage, die Andrej mit einem unmerklichen Kopfschütteln beantwortete. »Das scheinen mir vernünftige Menschen zu sein«, antwortete er. »Wäre es anders, dann hätten sie uns sofort getötet. Lass uns noch eine Weile abwarten. Wenn sie begreifen, dass wir nichts mit dem Überfall zu tun haben, werden sie uns freilassen. Vielleicht können sie uns helfen.«

Abu Dun machte ein zweifelndes Gesicht, schwieg aber. Verstohlen zerrte Andrej prüfend an seinen Fesseln. Das Leder ächzte hörbar; eine Winzigkeit mehr, und es würde zerreißen. Erschrocken stellte er seine Anstrengungen ein. Ein Vorteil, von dem ihre Feinde wussten, war keiner mehr. Das spöttische Glitzern in Abu Duns Augen, mit dem dieser ihn bedachte, entging ihm keineswegs.

Der blonde Riese kam nach wenigen Augenblicken zurück. Sein Gesicht war finster wie eh und je, aber trotzdem hatte sich etwas in seinem Blick geändert. Andrej konnte den Unterschied nicht wirklich in Worte fassen, hatte aber das sichere Gefühl, dass er nicht ganz so unversöhnlich war, wie noch kurz zuvor. Er blieb eine geraume Weile vor ihnen stehen und betrachtete erst Abu Dun, dann Andrej, bevor er sie damit überraschte, sich mit untergeschlagenen Beinen zu ihnen ans Feuer zu setzen. Er legte einige trockene Zweige nach und hielt die Finger über die Flammen. Trotz der frischen Nahrung schlugen sie kaum höher, doch der bloße Anblick reichte aus, um Andrej zu wärmen. Feuer gehörte zu den wenigen Dingen, die Abu Dun und ihm wirklich gefährlich werden konnten … aber vielleicht war Verbrennen nicht einmal der schlechteste Tod, den er sich wünschen konnte.

Bei diesem Gedanken musste Andrej lächeln.

»Was ist so erheiternd, Andrej?«, fragte sein Gegenüber.

»Oh, nichts«, antwortete Andrej. »Ich habe mich nur gerade etwas gefragt.«

»Und was?«

»In meiner Heimat gibt es eine alte Sitte«, erwiderte Andrej, »nach der man einem zum Tode Verurteilten einen letzten Wunsch gewährt. Ist das bei euch auch so?«

»Solange er nicht darin besteht, dass man ihm das Leben schenkt oder ihn laufen lässt …«

»Solltet ihr beschließen, Abu Dun und mich zu töten«, sagte Andrej lächelnd, »dann bitte ich darum, verbrannt zu werden. Lebend.«

»So leicht werden wir es euch nicht machen«, erwiderte der Blonde. »Vielleicht ganz am Ende, wenn ihr lange genug darum gebettelt habt.«

Abu Dun hatte sich nicht gut genug in der Gewalt, um ein erschrockenes Zusammenfahren und einen eisigen Seitenblick in Andrejs Richtung ganz unterdrücken zu können, aber sein Gegenüber blickte Andrej so aufmerksam an, dass er nichts davon bemerkte.

»Ihr werdet uns nicht töten«, sagte Andrej ruhig.

»Jedenfalls nicht schnell«, fügte der Blonde hinzu.

»Aber du weißt, dass wir nichts mit dem Überfall auf dein Dorf zu tun haben«, fuhr Andrej ungerührt fort.

»Und was macht dich da so sicher?«, wollte der Nordmann wissen. Seine Augen wurden schmal.

»Der simple Umstand, dass wir noch am Leben sind«, antwortete Andrej. »Würdet ihr wirklich glauben, dass wir irgendetwas damit zu tun haben, dann hättet ihr uns auf der Stelle getötet.« Oder es wenigstens versucht.

Der blonde Riese schwieg eine Weile. Sein Blick wurde noch durchdringender, doch Andrej konnte ihm ansehen, dass es ihm nicht gelang, in seinem Gesicht zu lesen. Er ließ Andrejs Behauptung unbeantwortet und fragte stattdessen: »Dein Freund und du, woher kommt ihr? Aus Grünland?«

»Gegen dieses beschauliche Fleckchen Erde ist jedes andere Land grün«, sagte Andrej belustigt. »Na ja … bis auf Abu Duns Heimat, vielleicht. Ich stamme aus Siebenbürgen, und Abu Dun kommt aus einem Land, das sich Nubien nennt. Ich nehme nicht an, dass du von einem von beidem je gehört hast?«

Der verständnislose Blick seines Gegenübers war Antwort genug. »Und wie kommt ihr hierher?«, fragte er.

Andrej seufzte. »Das ist eine lange Geschichte.«

»Erzähle sie ruhig«, antwortete der Blonde. »Ich mag lange Geschichten, und ich habe Zeit … wenigstens bis zum nächsten Sonnenaufgang.« Er lachte leise, als verberge sich in diesen Worten ein Scherz, den Andrej nicht begreifen konnte, doch der Blick seiner wasserklaren Augen blieb durchdringend, forschend und misstrauisch. Andrej begann sich darunter immer unwohler zu fühlen. »Viel mehr interessiert uns die Frage, wie wir nach Hause kommen. Ich fürchte, wir sind ein wenig …«, er tat so als müsse er nach den richtigen Worten suchen, »… vom Weg abgekommen.«

»Und wie genau kommt ihr nun hierher?«, wollte der hochgewachsene Krieger wissen. »Diese Insel ist klein. Kaum jemand kennt sie. Und noch weniger kommen ganz zufällig hier vorbei.«

Das war eine wichtige Information, fand Andrej. Sie waren also auf einer Insel. Endlich wieder auf einer verdammten, gottverfluchten Insel! Er unterdrückte nur mit Mühe ein Seufzen. »Wir hatten ein Schiff. Der Sturm hat uns gestern Nacht an Land geworfen. Nachdem er sich gelegt hatte, sind wir von Bord gegangen, und dann haben wir das niedergebrannte Dorf gesehen. Was danach geschehen ist, weißt du.« Der Blonde blickte fragend, und Andrej fügte mit einem angedeuteten Lächeln hinzu: »Ihr habt uns beobachtet.«

Sein Gegenüber zog abschätzig die linke Augenbraue hoch – so hoch, dass sie fast unter dem Ansatz seiner verfilzten blonden Haare verschwand – enthielt sich aber einer Antwort. »Wo sind die anderen?«, fragte er nur.

»Ich habe gesagt, es gibt keine anderen, und –«

»Der Rest der Mannschaft«, unterbrach ihn der Nordmann. »Du hast gesagt, ihr wäret mit einem Schiff gekommen.«

»Es gibt keine Mannschaft«, knurrte Andrej. »Nur Abu Dun und mich.«

»Dann muss es ein ziemlich kleines Schiff gewesen sein«, erwiderte der Blonde in einem Ton, der Andrejs Worten jegliche Glaubwürdigkeit absprach. »Wo ist es?«

Andrej sah nach oben und war im ersten Moment erstaunt, die Sonne nicht dort vorzufinden, wo er sie erwartet hatte. Sie schien sich in all der Zeit kaum von der Stelle bewegt zu haben. Aber um sich zu orientieren, war er nicht nur auf seine Augen angewiesen. Nach einem kurzen Moment deutete er in die Richtung, in der die Fenrir halb zerschmettert und mit gebrochenem Mast auf dem Eisstrand lag.

»Dort, gleich hinter dem Bergrücken.«

Der Nordmann sah nachdenklich und zweifelnd in die angegebene Richtung, hob aber dann nur die Schultern und stand mit einer geschmeidigen Bewegung auf. »Ich werde einen Mann hinschicken, der nachsieht. Wenn es dort kein Schiff gibt, töten wir euch.«

»Du beharrst also darauf, dass es eine weise Idee war, uns kampflos gefangen nehmen zu lassen«, sagte Abu Dun. Andrej schätzte, dass es eine gute Stunde her war, seit man sie in das winzige Zelt verfrachtet und den Eingang hinter ihnen geschlossen hatte. Dieser bestand nur aus einer Zeltplane und dünnen Lederschnüren, aber der Stoff war dünn genug, dass sie die Schatten der beiden breitschultrigen Krieger erkannten, die vor dem Zelt standen. Es waren die ersten Worte, zu denen der Nubier sich herabließ, seit man sie vom Feuer weggebracht hatte. Den Rest der Zeit hatte er in beleidigtem Schweigen verbracht.

»Nein«, antwortete Andrej. »Nicht weise. Nur klug.«

»Das ist ein Unterschied, nehme ich an«, sinnierte Abu Dun. »Aber ich vergaß, ein dummer Mohr wie ich kann das ja nicht verstehen.«

Andrej war nicht nach den Scherzen des Nubiers zumute. »Was hättest du an meiner Stelle getan?«, fragte er scharf, schärfer sogar, als er beabsichtigt hatte. »Sie getötet? Alle fünf?«

»Jetzt«, erwiderte Abu Dun mit einer Kopfbewegung auf die gedrungenen Schatten der beiden Krieger, »müssen wir vielleicht sehr viel mehr Männer töten.«

»Es wird nicht nötig sein«, antwortete Andrej, zwar überzeugt, aber nur noch mühsam beherrscht. Dieses Land aus Wasser und Eis bekam Abu Dun offenbar genauso wenig wie ihm. Sehr betont fügte er hinzu: »Sie werden uns nichts antun. Sie sind vernünftige Männer.«

Abu Dun machte ein abfälliges Geräusch. »Dein Wort in Gottes Ohr.«

»Gott?«, vergewisserte sich Andrej mit gespielter Überraschung. »Nicht Allah?«

»Allah«, antwortete Abu Dun nachdrücklich, »wird auf diesen Unsinn ganz gewiss nicht hören.«

Andrej funkelte ihn an, doch bevor ihr Disput vollends entgleiten – und vollends absurd werden – konnte, näherten sich Schritte, und ein dritter Schemen erschien zwischen denen ihrer beiden Schattenwächter. Die ledernen Schnüre, die die geteilte Zeltbahn zusammenhielten, wurden mit einer einzigen, gekonnten Bewegung gezogen, und ein vor Kälte gerötetes Gesicht lugte zu ihnen herein.

»Kommt!«, sagte der blonde Krieger.

Andrej und Abu Dun tauschten einen gleichermaßen fragenden wie alarmierten Blick, erhoben sich aber gehorsam und traten wortlos aus dem winzigen Zelt heraus. Die Szene, die sich ihren Augen bot, hatte sich kaum verändert. Mehr als ein Dutzend Krieger stand noch immer in einem lockeren Dreiviertelkreis um sie herum und starrte sie an, und auch das Feuer brannte kaum höher als zuvor. Nicht einmal die Sonne schien auf ihrer Wanderung über das Firmament weitergekommen zu sein. Wie viel Zeit war tatsächlich vergangen, seit sie hier draußen waren?, fragte sich Andrej. Dieses Land verwirrte offensichtlich nicht nur seine Gedanken, sondern auch sein Zeitgefühl.

»Setzt euch!« Der Tonfall dieser Worte machte die einladende Geste des Nordmannes zu nichts anderem als einem Befehl. Andrej gehorchte schweigend und rutschte genau wie Abu Dun so nahe an das spärliche Feuer heran, wie er konnte. Der Blonde nahm ihnen gegenüber Platz, an der gleichen Stelle und in derselben Haltung wie vorhin, um sie dann lange abschätzend anzusehen – erst Andrej, dann Abu Dun, dann wieder Andrej. Endlich brach er das unbehagliche Schweigen.

»Du hast mich belogen, Andrej.«

»Wieso?«, fragte Andrej. »Habt ihr die Fenrir nicht gefunden?«

»War das der Name aus Schiffes?« Der Blonde lächelte knapp und beantwortete seine eigene Frage dann mit einem Kopfnicken. »Doch, wir haben sie gefunden. Ein prachtvolles Schiff – jedenfalls war sie das einmal, bevor ihr sie zuschanden gefahren habt. Aber ein geschickter Handwerker kann sie sicher wieder reparieren.« Seine Augen wurden so schmal wie sein Blick stechend. »Wo ist der Rest der Mannschaft?«

»Es gibt keinen«, antwortete Andrej. »Ich dachte, das hätte ich bereits gesagt.«

»Das hast du«, gab der Nordmann eisig zurück. »Und ich glaube dir nicht. Du willst mir nicht erzählen, dass ihr zu zweit eine ausgewachsene Drakkar gefahren habt?«

»Und wenn doch?«

»Dann bist du entweder der unverschämteste Lügner, dem ich je begegnet bin, oder ein Dämon«, antwortete der Nordmann. »Niemand kann eine Drakkar allein über das Meer steuern.«

»Ich war nicht allein«, erinnerte Andrej ihn. »Abu Dun hier ist der beste Seemann, den ich kenne. In seiner Jugend war er ein gefürchteter Pirat.«

»In seiner Heimat, deren Namen ich nicht einmal aussprechen kann«, vermutete der Blonde.

Andrej nickte.

»Wir haben euch beobachtet«, fuhr der Blonde fort, nachdem er eine geraume Weile in unbehaglichem Schweigen versunken ins Feuer gestarrt hatte. »Ihr seid die Klippe herabgeklettert, wie es kein Mensch vermag.«

»In meiner Heimat, deren Namen du vermutlich genauso wenig aussprechen kannst«, sagte Andrej mit einem flüchtigen Lächeln, »war ich früher ein gefürchteter Bergsteiger.«

Der Blonde blinzelte, sah ihn verdutzt an – und lachte plötzlich. »Du gefällst mir, Andrej. Ich weiß nicht, wer oder was du wirklich bist, aber du gefällst mir. Selbst wenn du ein Dämon sein solltest.«

»Also glaubst du nicht mehr, das wir etwas mit dem Überfall zu tun haben?«, vergewisserte sich Andrej.

»Nein«, antwortete der Nordmann.

»Dann sind ja wohl auch diese albernen Fesseln nicht mehr nötig«, sagte Abu Dun, wobei er sich vollkommen akzentfrei der Sprache des Blonden und seiner Brüder bediente, reckte ächzend die Schultern und zerriss in derselben beiläufigen Bewegung die Lederbänder, die seine Hände auf den Rücken fesselten. Es zischte leise, als er sie ins Feuer warf. Andrej tat dasselbe, wenn auch nicht ganz so theatralisch. Die Augen des Blonden weiteten sich.

»Du bist uns gegenüber im Vorteil, mein Freund«, sagte Andrej. »Du kennst unsere Namen. Wir nicht den deinen.«

Es dauerte einen kurzen Moment, bis der Blonde seine Fassung zurückerlangte. Dann lachte er wieder, aber es klang nicht ganz echt, und Andrej spürte nicht nur Unsicherheit, sondern auch Furcht. Er mied bewusst ihren Blick. »Mein Name ist Björn. Das da ist Thure, mein kleiner Bruder.« Er deutete auf den Riesen mit der Axt, der nicht nur deutlich größer war als er, sondern auch um etliche Jahre älter aussah. Er setzte sich unaufgefordert zu ihnen und rang sich sogar ein dünnes Lächeln ab, legte seine gewaltige Streitaxt aber griffbereit über die Knie. Vielleicht war das Wort Freund etwas vorschnell gewesen.

»Björn«, wiederholte Andrej, »und Thure. Und woher kommt ihr?«

»Du stellst viele Fragen.«

»Immerhin wisst ihr eine Menge über uns. Zum Beispiel, dass wir nicht aus Grünland kommen. Ihr auch nicht, vermute ich. Aber woher seid ihr?«

»Aus Björndall«, antwortete der Blonde. »Es ist die Nachbarinsel. Eine halbe Tagesreise von hier entfernt, mit einem schnellen Schiff und im Frühjahr.«

Im Frühjahr? Andrej bezweifelte, dass er damit ein milderes Wetter meinte, aber diese Frage erschien ihm im Moment auch nicht wichtig. »Und ihr seid mit dem Dorf dort hinter der Klippe befreundet«, vermutete er.

»Nein«, erwiderte Björn. »Es ist ganz im Gegenteil noch nicht sehr lange her, dass wir im Krieg miteinander gelegen haben.«

»Aha«, sagte Abu Dun mit gewichtiger Miene. »Das ergibt Sinn.«

»Tatsächlich«, fügte Thure hinzu, und seine gewaltige Pranke strich beinahe liebkosend über die Schneide der Axt, die in seinem Schoß lag, »haben wir das Dorf niedergebrannt.«

Andrej blinzelte verstört, und auch Abu Dun schaute verständnislos. »Warum?«, fragte er.

»Weil sie unsere Feinde waren«, antwortete Björn, als wäre das Erklärung genug. Andrej beschloss, nicht weiter nachzubohren. Thure streichelte weiter seine Axt, legte plötzlich die Stirn in Falten und hob den Daumen, um ihn näher zu betrachten. Er blutete.

»Ich will dich bestimmt keinen Lügner nennen, Björn«, begann Andrej vorsichtig.

»Aber du glaubst mir nicht«, sagte Björn ruhig.

»Dieses Dorf hat erst vor wenigen Stunden gebrannt«, sagte Abu Dun. »Und da ist das tote Kind«, fügte Andrej noch hinzu.

»Es liegt seit vielen Jahren dort«, erwiderte Björn. »Seine Mutter hat es fallen lassen, als unsere Krieger das Haus gestürmt haben. Ich bedauere das. Wir wollten die Männer töten, nicht die Frauen und Kinder.«

»Und ihr habt es einfach dort liegen lassen?«, fragte Abu Dun entsetzt. »Warum?«

»Zur Warnung«, erwiderte Thure kühl. Er steckte den Daumen in den Mund und lutschte daran; ein Anblick, der etwas in Andrej weckte, das er hastig niederkämpfte. »Damit jeder sieht, welches Schicksal denen droht, die uns herausfordern.«

»Aber es hat dort gebrannt«, beharrte Abu Dun. »Heute.«

Thure warf seinem Bruder einen vielsagenden Blick zu. Björn nickte betrübt, ohne aber Andrej aus den Augen zu lassen. »Ja«, sagte er. »Das Schiff, das ihr auf dem Strand gesehen habt, gehörte meinem Bruder.«

Andrej sah zu Thure, und Björn hob die Schultern. »Ich habe eine Menge Brüder. Unser Vater war ein fleißiger Mann.«

»Dann seid ihr hergekommen, um nach ihm zu suchen«, vermutete Andrej.

Auch jetzt wieder zögerten die beiden Brüder und tauschten einen verstohlenen Blick, bevor Björn antwortete. »Nein. Oder doch, ja.«

»Und was davon stimmt jetzt?«, fragte Abu Dun.

Björn lächelte ohne Wärme. »Das soll nicht euer Problem sein. Es tut mir leid, wenn wir … vielleicht etwas grob zu euch waren. Wir –«

»Ihr habt uns für die Mörder eures Bruders gehalten«, fiel ihm Andrej ins Wort und schüttelte den Kopf. »Ich kann eure Reaktion verstehen. So manch andere hätten uns auf der Stelle getötet und sich erst dann gefragt, ob es die Richtigen getroffen hat.«

Björn maß ihn mit seltsamem Blick, und Andrej spürte deutlich, dass seine Worte die Wahrheit nur streiften. Und dass da noch etwas war – etwas sehr Wichtiges –, von dem sie nichts wussten.

Und das sie wahrscheinlich auch nichts anging.

»Ja, vielleicht«, antwortete Björn schließlich. »Dennoch müssen wir dich und deinen Freund in aller Form um Vergebung bitten. Es ist nicht die Art meines Volkes, so mit Fremden umzugehen. Können wir etwas tun, um es wieder gutzumachen?«

»Etwas zu Essen wäre nicht schlecht«, sagte Abu Dun, bevor Andrej antworten konnte. Björn gab einem der Männer hinter sich einen Wink. Der Krieger eilte davon, und Björn wandte sich mit einem fragenden Blick an Andrej.

»Ihr seid hier gestrandet.«

»Wortwörtlich«, sagte Andrej und machte ein betrübtes Gesicht. »Und wir befinden uns tatsächlich auf einer Insel?«

»Auf der es nichts gibt außer einem verlassenen Dorf und Felsen«, bestätigte Björn. »Und euer Schiff liegt zerstört auf dem Strand. Wir können euch mitnehmen.«

»Auf eure Insel?«, fragte Abu Dun misstrauisch.

»Dort gibt es ein Dorf, in dem leben immerhin Menschen«, erwiderte der Nordmann gelassen. »Wir haben kein Schiff, um euch in eure Heimat zu bringen, und es wäre auch zu weit, doch ihr könnt bei uns bleiben, bis ein anderes Schiff vorbeikommt, das euch mitnimmt.« Dann zuckte er mit den Schultern. »Oder bis wir euer Schiff repariert haben … wenn es tatsächlich wahr ist, dass ihr es zu zweit steuern könnt.« Nun, da er Björn und seine Begleiter ein wenig näher kennengelernt hatte, kam Andrej dieses Angebot überraschend großzügig vor, aber er nickte trotzdem und machte ein angemessen erfreutes Gesicht. »Das ist vermutlich besser, als hier darauf zu warten, dass ein Schiff vorbeikommt.«

Hatte er etwas Falsches gesagt? Die Worte hatten scherzhaft klingen sollen, doch in Thures Augen blitzte Misstrauen auf.

»Meine Männer und ich haben hier noch zu tun«, fuhr Björn fort, als wäre nichts gewesen. »Doch sobald wir die Insel komplett abgesucht haben, fahren wir zurück.« Er deutete mit dem Kopf auf das Zelt, in dem Abu Dun und er bisher gefangen gewesen waren. »Ihr könnt dieses Zelt haben. Esst, trinkt und ruht euch aus. Wir suchen unterdessen weiter nach meinem Bruder und seiner Familie. Die Insel ist nicht sehr groß. Es wird nicht allzu lange dauern.«

Andrej dachte an das Blut, das er im Schnee vor der Klamm gesehen hatte. Seine innere Stimme riet ihm zu schweigen, aber trotzdem sagte er leise: »Du weißt, dass ihr sie nicht finden werdet.«

Björn schwieg, aber Thure hakte nach: »Wieso?«

»Weil sie tot sind«, antwortete Abu Dun.

»Wenn sie Glück hatten und die Götter gnädig mit ihnen gewesen sind«, murmelte Björn düster. Als Abu Dun etwas erwidern wollte, gebot er ihm herrisch zu schweigen. »Auch ich habe das Blut gesehen und die Kampfspuren. Ich bin nicht blind und ich bin nicht dumm. Aber ich kann meinem Vater nicht unter die Augen treten und ihm vom Tod seines jüngsten Sohnes berichten, ohne diese Insel von einem Ende zum anderen abgesucht zu haben.«

Andrej verstand. Dennoch ahnte er, dass der Nordmann weiterhin etwas vor ihnen verbarg. »Wir können euch bei der Suche helfen. Wie es aussieht, haben Abu Dun und ich im Moment ohnehin nichts zu tun.«

»Das ist sehr freundlich von dir, aber diese Insel ist gefährlich«, antwortete Björn. »Jedenfalls für den, der sich hier nicht auskennt. Ich möchte nicht, dass dir oder deinem Freund etwas zustößt. Aber ich danke dir für dein Angebot.«

»Wie du willst. Dann nehmen Abu Dun und ich dein Angebot an und ziehen uns zurück. Weckt uns, wenn die Sonne aufgeht.«

Björn starrte ihn verblüfft an, blinzelte – und dann begannen er und sein Bruder schallend zu lachen.

2

Als Andrej die Augen aufschlug, war das Zelt noch immer von braunem Zwielicht erfüllt, und es war ihm unmöglich zu sagen, wie viel Zeit vergangen war, seitdem er eingeschlafen war. Dann blickte er in Abu Duns Gesicht, das missmutig auf ihn herabsah.

»Und ich dachte, du wärst ein gebildeter Mann, der alle Geheimnisse dieser Welt kennt«, sagte der Nubier.

Andrej fühlte sich noch viel zu verschlafen, um den Sinn seiner Worte entschlüsseln zu wollen. Unsicher stemmte er sich hoch, gähnte ungeniert und bedachte Abu Dun mit einem ärgerlichen Blick. »Wieso weckst du mich?«, fragte er. »Ich dachte, ich könnte endlich einmal wieder eine ganze Nacht ungestört durchschlafen … oder ist es etwa schon Morgen?«

»Nein«, antwortete der Nubier.

»Dann lass mich in Ruhe, bis die Sonne aufgeht«, knurrte Andrej, ließ sich wieder zurücksinken und drehte sich in eines der warmen Felle ein, die Björns Männer ihnen gebracht hatten. Seltsamerweise wollte sich der Schlaf nicht wieder einstellen, obwohl er sehr erschöpft war und kaum mehr als ein paar Stunden geruht haben konnte. Nach einer Weile gab er auf, schlug das Fell zurück und setzte sich. Abu Dun starrte ihn weiter mit griesgrämiger Miene an.

»Was?«, fauchte Andrej.

»Weißt du, was das Schlimme ist, Hexenmeister?«, fragte Abu Dun.

»Nein«, erwiderte Andrej. »Aber du wirst es mir bestimmt gleich sagen, Pirat. Ob ich es hören will oder nicht.«

»Dass ich dir durchaus zutraue, bis zum nächsten Sonnenaufgang durchzuschlafen«, sagte Abu Dun eisig.

»Und was wäre daran so schlimm, wenn –«, begann Andrej, brach stirnrunzelnd ab und fragte dann vorsichtig: »Wie lange habe ich geschlafen?«

»Beinahe sechzehn Stunden. Und vierzehn davon hast du laut genug geschnarcht, um das Eis von den Bergen zu sprengen.«

»Aha«, sagte Andrej verwirrt. »Dann ist es schon Morgen.«

»Nein«, beharrte Abu Dun. »Die Sonne geht erst in einem Monat unter. Und in zwei oder drei wieder auf. Vielleicht auch in vier … so genau habe ich das nicht verstanden.«

Andrej schwieg lange. Jetzt wurde ihm klar, warum sich die Sonne vorhin scheinbar nicht bewegt hatte. Und nun verstand er auch, warum Björn vorhin so schallend gelacht hatte.

»Wie weit sind sie mit ihrer Suche?«, fragte er, nur um das Thema zu wechseln, denn seine Begriffsstutzigkeit war ihm peinlich. Eine Dämmerung, die vier Wochen dauerte?

»So weit, wie ich es erwartet habe«, antwortete Abu Dun. »Und sie auch, wenn du mich fragst. Aber sie suchen nicht nur nach ihrem Bruder. Ich vermute, sie verschweigen uns etwas.«

»Wie kommst du darauf?«

Abu Dun hob die mächtigen Schultern. »Nenn es ein Gefühl«, sagte er. »Oder Instinkt. Ich erkenne, wenn mich jemand belügt. Oder mich im Dunkeln lässt.«

Obwohl Andrej bereits gestern dasselbe Gefühl gehabt hatte, sagte er: »Das mag sein, aber es geht uns nichts an. Ob diese Leute Streit mit ihren Nachbarn hatten oder ein anderes Geheimnis nicht mit uns teilen wollen, es interessiert mich nicht. Alles, was zählt, ist, dass sie ein Schiff haben, mit dem wir von hier wegkommen.«

»Und wenn sie Piraten sind, oder Mörder?«, fragte Abu Dun.

»Dann werfen wir sie über Bord und nehmen ihr Schiff«, antwortete Andrej ernsthaft. Er gähnte noch einmal ausgiebig. »Und jetzt lass uns etwas essen. Ich bin hungrig.«

Sein Magen knurrte zustimmend, und das war der letzte Beweis, dass Abu Dun die Wahrheit sprach und er tatsächlich viele Stunden geschlafen hatte.

Draußen bot sich ihren Augen erneut die immer gleiche Szenerie. Die Sonne hing so unverrückbar an ihrem Platz, als hätte sie jemand dort oben am Firmament festgenagelt. Von Björn und seinem Bruder war nichts zu sehen, doch das Feuer brannte zum ersten Mal so hoch, dass es sie wärmte, als sie daran Platz nahmen. Einer der Männer kam heran und brachte ihnen unaufgefordert Essen und einen Krug, von dem Andrej mutmaßte, dass er Wasser enthielt, als er den gewaltigen Schluck sah, den Abu Dun daraus nahm, der aber in Wahrheit ein klebrig-süßes und starkes Bier enthielt.

Erst als sie zu Ende gegessen hatten und Abu Dun sich mit einem wohligen Rülpsen auf die Ellbogen zurücksinken ließ, gesellte sich einer der beiden Brüder zu ihnen. Thure, der wie üblich seine gewaltige Streitaxt über der Schulter trug (ungefähr so lässig, wie es ein anderer Mann vielleicht mit einer Angel getan hätte), hatte Schild und Helm abgelegt. Andrej fiel jetzt auf, dass er so groß war wie Abu Dun, und beinahe ebenso breitschultrig.

»Ich hoffe, ihr habt gut geschlafen«, begann er, nachdem er sich im Schneidersitz auf der anderen Seite des Feuers niedergelassen hatte.

»Sehr gut«, antwortete Andrej. »Und ich bin zum ersten Mal froh, dass Abu Dun nicht getan hat, was ich von ihm verlangt habe.«

»Und das wäre?«

»Mich bis Sonnenaufgang durchschlafen zu lassen.«

Thure blinzelte zu der trüben Sonnenscheibe über ihnen hinauf und lächelte dann dünn – doch sein Blick blieb ernst. »Ihr kennt unser Land nicht«, stellte er fest.

»Gibt es denn überhaupt jemanden, der es kennt?«, fragte Andrej. »Außer euch selbst, meine ich?«

»Nicht viele«, räumte Thure ein. »Dieses Land ist hart und wild. Nicht viele haben den Mut, hier zu leben. Aber erzählt mir lieber von euch. Woher kommt ihr? Wer seid ihr, und was hat euch zu uns geführt?«

»Ein Sturm, und wir haben gewiss nicht darum gebeten«, sagte Abu Dun, bevor Andrej Gelegenheit zu einer Antwort fand.

Thure musterte ihn abschätzend. »Ihr seid mit einem Schiff unseres Volkes gekommen. Erzählt mir, wie es in euren Besitz geraten ist.«

Diesmal war es Andrej, der Abu Dun zuvorkam. Thure schien es darauf anzulegen, den Nubier zu reizen, und Abu Dun war immer ein Mann gewesen, der eine Provokation gerne aufnahm. »Das ist wirklich eine lange Geschichte«, sagte er hastig. »Und eigentlich möchte ich nicht darüber reden.«

»Ich habe von der Fenrir gehört«, fuhr Thure im Plauderton fort, als habe er Andrejs Worte nicht gehört. »Aber es handelt sich dabei doch nicht um das berüchtigte Schiff gleichen Namens, oder?«

»Wäre es klug, uns diese Frage zu stellen, wenn es so wäre?«, grollte Abu Dun.

»Aber sie kann es nicht sein«, beharrte Thure, scheinbar zu sich selbst. »Man sagt, ihre Besatzung bestünde aus Dämonen.«

»Vielleicht sind wir ja welche«, sagte Abu Dun.

»Nicht solche«, entschied der Nordmann. »Schon die Erwähnung ihres Namens reicht aus, um Angst und Schrecken zu verbreiten.«

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Andrej leise. »Das wird sie nie wieder.«

»Dann ist es gut.« Plötzlich lachte Thure. »Wahrscheinlich ist es sowieso nur eine Geschichte, mit der man Kinder und Weiber erschreckt.« Er wechselte das Thema. »Ihr wollt also zurück in eure Heimat. Nach Süden. Dann habt ihr einen weiten Weg vor euch.« Er grinste schadenfroh. »Und diesmal solltet Ihr aufpassen, nicht wieder in die falsche Richtung zu segeln. Sehr viel weiter nach Norden geht es nicht.« Er deutete in eine Richtung, von der Andrej annahm, dass es sich um Norden handelte. Ganz sicher war er nicht. Wie sollte er sich auch am Stand einer Sonne orientieren, die sich nicht bewegte? »Dort liegt nur noch Isenland. Und dahinter das Ende der Welt. Es würde euch dort nicht gefallen.«

»Wie ist es dort?«, fragte Andrej.

»Kalt«, antwortete Thure. Abu Dun machte ein betroffenes Gesicht, aber Andrej sah ein verräterisches Funkeln in Thures Augen. Er grinste breit.

»Wenn du jemanden auf den Arm nehmen willst, mein Freund«, sagte Andrej mit gutmütigem Spott, »dann solltest du dir nicht gerade einen Mann wie Abu Dun aussuchen, der mehr wiegt als ein Walross.«

»He!«, beschwerte sich Abu Dun. Andrej lachte. Nach einem Moment stimmte auch Thure in dieses Lachen ein, und die Spannung zwischen ihnen löste sich endlich.

»Wo ist dein Bruder?«, fragte Andrej dann. »Noch unterwegs, um nach den Vermissten zu suchen?«

»Er wird bald zurück sein«, bestätigte Thure. »Die Insel ist groß, aber nicht so groß. Sobald er wieder hier ist, brechen wir auf.«

»Wie weit ist es in eure Heimat?«, wollte Abu Dun wissen.

»Nicht weit«, erwiderte Thure. »Wenn uns der Wind günstig gesonnen ist, müssten wir bis Sonnenaufgang dort sein.«

Abu Dun riss die Augen auf, und Thure freute sich, den Nubier wieder einmal erfolgreich aufs Glatteis geführt zu haben. »Nicht allzu weit«, grinste er spöttisch. »An einem guten Tag, mit günstigem Wind. Einem normalen Tag.«

»Da stellt sich ja dann nur noch die Frage, was bei euch normal ist«, grollte Abu Dun. Dann legte er den Kopf schief. »Verrätst du mir ein Geheimnis?«

»Und welches?«

Abu Dun deutete auf einen Krieger, der in scharfem Tempo über den abschüssigen Hang herangeeilt kam. »Welcher Zauber ist das? Ich habe Mühe, mich auf dem glatten Eis auf den Beinen zu halten. Und das nicht einmal im Laufen, sondern im Stehen.«

Thure lachte, streckte aber dann das Bein aus, sodass Abu Dun und Andrej seine Stiefelsohlen sehen konnten. Der Nordmann hatte eine Anzahl spitzer Nägel hindurchgetrieben, die ihm auch auf dem glatten Untergrund sicheren Halt geben mussten.

»Oh«, murmelte Abu Dun. »So einfach ist das.«

»So einfach ist das«, bestätigte Thure, »wie die meisten –« Er verstummte mitten im Satz, als er den näher kommenden Mann erkannte. Sein Lächeln erlosch, und seine Miene zeigte Besorgnis.

»Was hast du?«, fragte Andrej alarmiert.

»Das ist Sven«, antwortete Thure. »Er war bei meinem Bruder!«

Er sprang auf, um dem Mann entgegenzurennen. »Bleibt hier!«

Natürlich dachte Abu Dun nicht daran, zu gehorchen, sondern sprang ebenfalls auf die Beine und wäre ihm unverzüglich gefolgt, hätte Andrej nicht rasch die Hand ausgestreckt und ihn zurückgehalten. »Nicht. Das geht uns nichts an. Wenn sie unsere Hilfe brauchen, werden sie es uns wissen lassen.«

Abu Duns Gesicht zeigte Zweifel, aber nach einem Moment ließ er sich – widerstrebend – wieder ans Feuer sinken. Andrej beobachtete gespannt, wie Thure den Mann erreichte und heftig gestikulierend mit ihm zu reden begann. Der Krieger deutete immer wieder in die Richtung, aus der er gekommen war. Auch die übrigen Nordmänner näherten sich den beiden; die meisten im Laufschritt, und etliche hatten ihre Helme aufgesetzt und ihre Waffen gezogen.

»Das sieht nach Ärger aus«, sagte Abu Dun.

Andrej nickte nur.

Die Unterhaltung der Männer wurde immer lebhafter, und plötzlich fuhr Thure herum und ergriff seine Streitaxt mit beiden Händen. Eine weitere Gestalt war am oberen Ende des Hanges aufgetaucht: Björn, der mit wehendem Mantel und im Laufschritt aus der Felsenklamm sprintete, durch die auch sie gestern gegangen waren. Nur einen halben Steinwurf hinter ihm brachen drei weitere Krieger aus dem Schatten, Riesen mit wehenden Fellmänteln, wuchtigen runden Schilden, Schwertern und Äxten. Abu Dun hat recht gehabt, dachte Andrej. Es sah nach Ärger aus.