Die Chronik der Unsterblichen - Der Gejagte - Wolfgang Hohlbein - E-Book

Die Chronik der Unsterblichen - Der Gejagte E-Book

Wolfgang Hohlbein

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Beschreibung

Band 7 der spektakulären Vampir-Serie vom Fantasy-Bestseller-Autor Wolfgang Hohlbein!

Malta im 16. Jahrhundert: Nach Jahren der Ruhelosigkeit und Verfolgung haben die Unsterblichen Andrej und Abu Dun auf der Mittelmeerinsel ein Zuhause gefunden. Doch die Idylle gerät in Gefahr, als die Osmanen einen Angriff auf die kleine Insel planen. Zu allem Überfluss wird die zahlenmäßig überlegene türkische Flotte von einem mächtigen Vampyr unterstützt. Gemeinsam mit den Ordensrittern müssen sich Andrej und Abu Dun erneut für eine verhängnisvolle Schlacht rüsten ...

Wolfgang Hohlbeins erfolgreicher Fantasy-Zyklus "Die Chronik der Unsterblichen" als eBook bei beBEYOND. Die weiteren Folgen:

Band 1: Am Abgrund

Band 2: Der Vampyr

Band 3: Der Todesstoß

Band 4: Der Untergang

Band 5: Die Wiederkehr

Band 6: Die Blutgräfin

Band 8: Die Verfluchten

Band 8,5: Blutkrieg

Band 9: Das Dämonenschiff

Band 10: Göttersterben

eBooks von beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen.


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EPUB

Seitenzahl: 602

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Inhalt

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

3. April 1565, auf dem ersten Hof des neuen Serails in Konstantinopel, zur Stunde des abendlichen Gebetes

4. April, Kontoskalion, Hafen von Konstantinopel, kurz nach Sonnenaufgang

22. April 1565, abends. Abu Duns Haus, auf den Klippen von Birgu

23. April 1565, später Morgen auf einem Hügelkamm südöstlich von Birgu

17. Mai 1565, zur Mittagsstunde, in der Bucht vor dem Fischerdorf Birgu

18. Mai, kurz vor Sonnenaufgang im Ordenshaus der Johanniter

19. Mai 1565, später Nachmittag im Kapitelsaal des Johanniterordens im Fort St. Angelo

20. Mai 1565, am frühen Abend in den Küstenfelsen im Süden Maltas

20. Mai 1565, nach Sonnenuntergang, in der Nähe von Zejtun

21. Mai 1565, kurz vor Sonnenaufgang in den Kasematten des Forts St. Angelo

22. Mai 1565, zur Mittagsstunde auf der provenzalischen Bastion der Befestigung von Birgu

22. Mai 1565, zur Abenddämmerung auf der Bastion der Kastilier

24. Mai 1565, am späten Nachmittag in Julias Haus

24. Mai 1565, eine Stunde später, im Ordenshaus der Johanniter

4. Mai 1565, eine Stunde nach Sonnenuntergang im Vorwerk der Festung St. Angelo

Über das Buch

Band 7 der spektakulären Vampir-Serie vom Fantasy-Bestseller-Autor Wolfgang Hohlbein! Malta im 16. Jahrhundert: Nach Jahren der Ruhelosigkeit und Verfolgung haben die Unsterblichen Andrej und Abu Dun auf der Mittelmeerinsel ein Zuhause gefunden. Doch die Idylle gerät in Gefahr, als die Osmanen einen Angriff auf die kleine Insel planen. Zu allem Überfluss wird die zahlenmäßig überlegene türkische Flotte von einem mächtigen Vampyr unterstützt. Gemeinsam mit den Ordensrittern müssen sich Andrej und Abu Dun erneut für eine verhängnisvolle Schlacht rüsten ...

Über den Autor

Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, lebt mit seiner Frau Heike und seinen Kindern am Niederrhein, umgeben von einer Schar Katzen und Hunde. Er ist einer der erfolgreichsten deutschen Autoren der Gegenwart. Seine Werke wurden in 47 Sprachen übersetzt und mit über zwanzig nationalen und ungezählten internationalen Preisen ausgezeichnet. Weitere Informationen unter: www.hohlbein.de.

WOLFGANG HOHLBEIN

DER GEJAGTE

beBEYOND

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe

© 2004 by LYX.digital, Köln

Für diese Ausgabe

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat/Redaktion: Dieter Winkler

Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven © thinkstock: Betty4240 | Colin_Hunter | sewer11; © shutterstock: Dm_Cherry

Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-5907-7

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

3. April 1565, auf dem ersten Hof des neuen Serails in Konstantinopel, zur Stunde des abendlichen Gebetes

Der Tod war ihm schon oft begegnet. In jeder nur denkbaren Form und in einer Anzahl von Formen, die sich die meisten Menschen nicht einmal vorstellen konnten und es wahrscheinlich auch nicht wollten. Seine Nähe war ihm so vertraut wie die eines heraufziehenden Unwetters, das man schon spürt, lange bevor sich Wolken am Himmel zeigen und das erste Wetterleuchten den Horizont auflodern lässt. Manchmal glich es eher dem Zittern der Erde unter dem Wüten einer Lawine, die erbarmungslos alles hinwegfegt, was sich ihr in den Weg stellt. Mitunter kam der Tod leise und fast verstohlen und überraschend oft in der Gestalt eines vertrauten alten Freundes, an dem nichts Erschreckendes war.

Noch an diesem Tag würde er zu ihm kommen.

Er wusste nur noch nicht, wie.

Häufig warnte ihn eine dunkle Ahnung, dass sich ihm der Schnitter Tod näherte. Das war eine der sonderbaren Fähigkeiten, die ihm geschenkt worden waren und von denen er bis zum heutigen Tage nicht wusste, ob sie nun Segen oder Fluch oder beides zugleich bedeuteten. Mit jedem Schritt, den sie auf den Kuppelbau auf der anderen Seite des Hofes zugingen, wurde diese Ahnung mehr und mehr zur Gewissheit.

Dazu kam vielleicht auch ein wenig Angst. Er hatte keinen Grund, den Tod zu fürchten – dazu war er ihm schon zu oft begegnet. Aber er war ein Mensch aus Fleisch und Blut und er fürchtete sehr wohl Schmerzen und Leid, die er in überreichem Maße kannte. Entgegen den Worten vieler vermeintlich tapferer Männer waren diese treuen Begleiter des Todes Gefährten, an die er sich niemals gewöhnen konnte. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er Männer verachtet, die sich damit brüsteten, dass sie weder Folter noch Tod fürchteten und körperlichem Schmerz ins Gesicht lachten. Die meisten von ihnen waren schreiend und wimmernd gestorben. Mittlerweile wusste er es besser. Erst wer den Tod am eigenen Leib erfahren hatte, konnte mit Gewissheit sagen, wie er sich im Angesicht des Sensenmannes verhalten hatte. Nur gab es nicht allzu viele Menschen, die in der Lage waren, von ihren Erlebnissen zu berichten.

Nicht viele, die so waren wie er.

Auch wenn er noch nicht wusste, dass er in weniger als einer Stunde vom Speer eines Janitscharen durchbohrt werden würde, spürte er seinen alten und unwillkommenen Freund nahen und fragte sich, wie es wohl diesmal sein würde – schnell und gnädig oder langsam und so qualvoll, dass er sich wünschen würde, endgültig sterben zu dürfen, nur, damit es vorbei war?

Andrej verscheuchte den Gedanken und tastete noch einmal nach dem falschen Bart, den er mit Zedernharz auf seine Oberlippe geklebt hatte. Er fühlte sich gut an. Andrej hatte sich lange und überaus misstrauisch in einem Stück spiegelnden Metalls betrachtet, um sich davon zu überzeugen, dass er auch so gut aussah, wie er sich anfühlte. Zusammen mit seiner Haut, die in langen Jahren unter der erbarmungslos sengenden Mittelmeersonne fast so dunkel geworden war wie die eines Muselmanen, und dem kleinen goldenen Ohrring, den er sich in das linke Ohrläppchen gesteckt hatte, gab er einen ganz passablen Türken ab. Er trug die kostbaren Seidengewänder eines hohen Beamten am Hofe des Sultans. Hinzu kam, dass er nicht nur gelernt hatte, wie ein Türke zu sprechen, sondern sich auch wie ein solcher zu bewegen – ein Unterschied, den viele Menschen wahrscheinlich nicht einmal bemerkt hätten, der aber bedeutsamer sein konnte als Schuhe, Kleidung und ein falscher Bart.

Nein, versuchte er sich selbst zu beruhigen, die Verkleidung war perfekt.

Dennoch würde ihr Unternehmen scheitern. Seine Maskerade war ebenso falsch wie die des hünenhaften nubischen Leibwächters, der einen Schritt hinter ihm ging. Er war nicht Mustafa Ibn Said – niemand Geringeres als der Stellvertreter des Großwesirs –, sondern Andrej Delãny, ein Spitzel in Diensten Jean Parisot de la Valettes, des Großmeisters der Johanniter.

Früher einmal war Andrej ein freier Mensch gewesen, jemand, der es empört abgelehnt hätte, in die Dienste eines Mannes zu treten, der unter dem Kreuz der Christenheit focht, und erst recht, sich als Spitzel und Verräter in das Lager des Feindes einzuschleichen. Aber das war in einem anderen Land gewesen, einer anderen Zeit, einem anderen Krieg und einem anderen Leben. In nicht allzu ferner Zukunft würde er seinen Namen und auch sein Leben wieder ändern müssen, ein neues Leben beginnen und in einem weiteren Krieg kämpfen, der nur einen anderen Namen hatte und unter einer anderen Fahne ausgetragen wurde, aber im Grunde immer derselbe war. Vielleicht war das die einzige wirkliche Konstante in seinem Leben, das nun schon so lange währte.

Das, und …

»Das klappt nie«, flüsterte Abu Dun, sein vermeintlicher Leibwächter. Im ersten Moment begriff Andrej den Sinn dieser Worte gar nicht, aber im nächsten empfand er ein flüchtiges, doch überaus warmes Gefühl von Dankbarkeit, dass Abu Dun ihn aus seinen Grübeleien in die Wirklichkeit zurückgeholt hatte. Eine Wirklichkeit, die kompliziert genug war, um seine gesamte Aufmerksamkeit zu beanspruchen. Ganz Unrecht hatte Abu Dun mit seinen Zweifeln nicht. Man brauchte das schwer bewachte Tor zum Zeughaus nur anzusehen, um zu wissen, dass sie geradewegs in die Höhle des Löwen marschierten.

Der mächtige Kuppelbau, der vor ihnen aufragte, war früher einmal eine christliche Kirche gewesen, die Hagia Eirene, aber von den Insignien des christlichen Glaubens war ebenso wenig geblieben wie von der andächtigen Stille, die einstmals dort geherrscht haben musste. Der Platz wimmelte von Menschen, von denen wohl die allerwenigsten friedlichen Gedanken nachhingen, denn die Stadt bereitete sich auf eine weitere Invasion vor, und das ehemalige Gotteshaus diente nun als Waffenlager des neuen Sultanspalastes von Konstantinopel. Allein dass sie das Tor des Reiches unbehelligt passiert hatten, das zum ersten der vier Höfe des Sultanspalastes führte, in dem sich die Hagia Eirene befand, grenzte für Andrej an ein Wunder.

Dazu kam seine Vorahnung, die mittlerweile zur Gewissheit geworden war.

»Vermutlich nicht«, flüsterte Andrej zurück. »Wenigstens nicht, wenn du weiter dreinschaust wie ein Kaninchen, das einer Schlange begegnet. Dann wird nämlich auf deinem Grabstein stehen, dass du an deinem ängstlichen Gesichtsausdruck gestorben bist.«

Er sah seinen vermeintlichen Leibwächter bei diesen Worten nicht an. Trotz des scherzhaften Tons, den er angeschlagen hatte, um Abu Dun aufzuheitern, war seine Stimme wenig mehr als ein Flüstern. Denn der Mann, der zu sein er vorgab, würde niemals im Plauderton – und schon gar nicht lachend – mit einem Sklaven sprechen, sondern ihm höchstens einen Befehl oder einen Tadel erteilen.

Unglückseligerweise musste er zugeben, dass der Nubier Recht hatte. Aber es gab kein Zurück. Sie waren zu weit gegangen, um einen Rückzieher zu machen. Wenn es schon galt, in selbstmörderischer Weise ihr Leben aufs Spiel zu setzen, dann konnten sie die Sache auch richtig anpacken. Also würde er wie geplant im Zeughaus des Palastes als falscher Hofbeamter im Namen des Sultans die Herausgabe der Listen zur Vervollständigung der Bestückung der Flotte verlangen. Am Nachmittag hatte sich Andrej noch für den Plan begeistern können, mittlerweile hielt er ihn nicht mehr für ganz so gelungen.

Seine Hand tastete nach dem reich verzierten Griff des Krummsäbels, den er anstelle des gewohnten Damaszenerschwertes am Gürtel trug, und zog sich dann eilig wieder zurück. Er musste besser auf sich Acht geben. Gerade solche Kleinigkeiten brachten nur zu oft selbst einen perfekt ersonnenen Plan zum Scheitern. Der Mann, den er darstellte, trug diese Waffe nur zur Zierde, nicht zur Verteidigung. Andrej beschleunigte seine Schritte und widerstand mit großer Mühe der Versuchung, sich verstohlen auf dem großen Platz umzusehen.

Sie wurden nicht aufgehalten. Niemand sprach sie an. Die wenigen Menschen, die ihren Weg unmittelbar kreuzten, traten hastig mit gesenktem Blick beiseite, da sie in ihm den hochrangigen Beamten zu erkennen glaubten, der noch kurz zuvor der rechtmäßige Besitzer der Kleider und der Waffe gewesen war, die Andrej nun trug.

Andrej hoffte, dass man die Leiche nicht so bald finden würde.

Am Eingang des ehemaligen Gotteshauses wurden sie aufgehalten und nach ihrem Begehr gefragt. Andrej beantwortete die Fragen des dunkelhäutigen Wächters, der ihn und vor allem Abu Dun mit unverhohlenem Misstrauen musterte, in genau dem überheblichen Ton, den der Soldat von einem Mann seiner Position erwartete. Sein Türkisch war nicht so perfekt, wie es ihm lieb gewesen wäre. Er sprach mit einem leichten, aber unüberhörbaren Akzent, von dem er befürchtet hatte, er könne ihn verraten. Doch zumindest diese Sorge war in dem Moment von ihm abgefallen, in dem sie an Land gegangen waren. Konstantinopel befand sich zwar fest in türkischer Hand, aber es herrschte ein wahrhaft babylonisches Sprachengewirr. Wahrscheinlich fiel man eher auf, wenn man die Sprache der Besatzer einwandfrei sprach.

Obgleich es Andrej gelang, den Mann auf genau die Art einzuschüchtern, die er beabsichtigt hatte, erfüllte dieser seine Aufgabe mit großer Gewissenhaftigkeit. Sie wurden angewiesen, am Tor zu warten und sich nicht von der Stelle zu rühren. Noch während sich der Wächter umwandte und mit schnellen Schritten davoneilte, nahm ein Dutzend Krieger unauffällig rings um sie herum Aufstellung. Andrej hatte mit nichts anderem gerechnet, denn das Gebäude, in das sie einzudringen versuchten, spielte bei der bevorstehenden Invasion eine entscheidende Rolle – vielleicht die wichtigste überhaupt.

Im Gegensatz zu vielen anderen machte Andrej nicht den Fehler, seinen Feind zu unterschätzen. Immerhin beherrschte das Osmanische Reich einen Großteil der Welt und versuchte nun mit nicht wenig Erfolg, auch noch den Rest zu unterjochen. Auch wenn es unter den Rittern und Adligen Europas als schick galt, die Muselmanen mit Verachtung zu betrachten und als Barbaren und Heiden zu bezeichnen, wusste Andrej aus eigener, leidvoller Erfahrung, dass eher das Gegenteil der Fall war. Dummköpfe eroberten keine Weltreiche.

Obwohl der Nubier in respektvollem Abstand hinter ihm Aufstellung genommen hatte, konnte Andrej dessen Unbehagen fast riechen. Das beunruhigte ihn. Normalerweise war es eher Abu Dun, der dazu neigte, unkalkulierbare Risiken einzugehen, während Andrej sich mehr in der Rolle des Warners und vorsichtigen Taktierers sah.

Langsam drehte er sich um und ließ seinen Blick scheinbar gelangweilt über den weiten, von brodelndem Leben erfüllten Hof schweifen. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen: Abu Dun stand stocksteif und mit erstarrtem Gesicht hinter ihm. Auf seiner Stirn glänzte Schweiß und seine Faust hatte sich ein wenig zu fest um den Schwertgriff in seinem Gürtel geschlossen. Er benahm sich auffällig, fand Andrej. Die Männer, die sie umgaben, waren keine Dummköpfe. Hinter dem Respekt, mit dem sie den hohen Gast behandelten, verbarg sich die Aufmerksamkeit von Soldaten, die zu den besten gehörten. Der Großwesir ließ eines der wichtigsten Gebäude Konstantinopels nicht von Dilettanten bewachen.

Es wird alles gut, versuchte er Abu Dun mit Blicken zu signalisieren. Entspann dich!

Natürlich erreichte er damit eher das Gegenteil. Und er konnte Abu Dun mit jedem Herzschlag, der verstrich, ohne dass die Wache zurückkam und sie einließ, besser verstehen. Er hätte auf seinen Gefährten hören sollen. Er hätte auf seine innere Stimme hören sollen, die vor Empörung aufgeschrien hatte, als de la Valette ihm auftrug, in der Höhle des Löwen zu spionieren. Andrej war Krieger, kein Spion. Er verachtete Spione, und er hasste Verräter.

Es war nicht so, als seien sie nicht gewarnt worden.

Ihr Unternehmen hatte von Anfang an unter keinem guten Stern gestanden. Wären sie nicht durch einen Sturm auf ihrer Reise aufgehalten worden, so hätten sie sich diese Maskerade sparen können. Erst einen Tag zuvor, viel später als geplant, hatten sie Konstantinopel erreicht und waren mit ihrem Fischerboot im Kontoskalion-Hafen im Süden der riesigenStadt vor Anker gegangen, sechs Tage zu spät! Die Flotte des Sultans war bereits am 28. März vom Bosporus her in das Goldene Horn eingelaufen, und man hatte längst damit begonnen, die Schiffe zu beladen.

Heute Morgen waren sie in der lang gezogenen Bucht gewesen, um sich die Flotte anzusehen.

Nein,verbesserte sich Andrej in Gedanken, nicht die Flotte. Eher – die Katastrophe.

Andrej war von dem, was er gesehen hatte, viel zu schockiert gewesen, um auf den Gedanken zu kommen, die Schiffe zu zählen. Aber Abu Dun hatte es getan und sich später natürlich nicht den Spaß nehmen lassen, seinem Gefährten genüsslich vorzurechnen, was sie erblickt hatten: Einhundertdreißig Rudergaleeren, dreißig Galeassen, die allein jeweils eintausend Mann transportieren konnten, und die elf größten Handelsschiffe, die sie jemals gesehen hatten, lagen dort vor Anker. Ganz zu schweigen von einer Vielzahl kleinerer Boote, die die Flotte begleiten würden.

Und doch war es weder die Zahl der Schiffe noch die der Soldaten, die darüber entscheiden würde, ob Malta, der letzte Rückzugsposten der Johanniter, in diesem Sommer erobert werden würde. Der Großmeister hatte Andrej und Abu Dun geschickt, um einen Blick in die Zukunft zu werfen. Genauer gesagt: Auf das Ausmaß an Gefahr und Zerstörung, das diese Zukunft für seinen Orden bereithielt.

Die Johanniter hätten keine Spitzel schicken müssen, um sich einen Überblick über die Größe der feindlichen Flotte oder des gegnerischen Heeres zu verschaffen. De la Valette verachtete Spionage und Verrat im Grunde seines Herzens ebenso sehr wie Andrej. Aber es gab Gerüchte. Gerüchte von neuen, vernichtenden Schusswaffen, die den Türken zur Verfügung standen. Deren Kugeln das Gewicht von fünf Männern hatten und die somit in der Lage sein sollten, selbst die gewaltigsten Mauern einer Festung zu durchschlagen. Gerüchte, die in letzter Zeit zahlreicher und beunruhigender – und vor allem glaubhafter – geworden waren, und die nicht nur Jean Parisot de la Valette, dem Großmeister der Johanniter, schlaflose Nächte bereiteten. Gab es diese neuen Geschütze wirklich, und konnten die Türken sie in ausreichender Zahl herbeischaffen, dann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Bollwerke der Ordensfestung auf Malta in Trümmern liegen würden. De la Valette hatte Andrej nach Konstantinopel geschickt – nein, verbesserte sich Andrej in Gedanken: Er hatte ihn gebeten, sich mit eigenen Augen zu überzeugen.

Das war nun geschehen, und Andrej würde keine guten Nachrichten nach Malta zurückbringen …

Die meisten Geschütze waren bereits verladen gewesen, aber Andrej hatte dennoch etliche gesehen, die gewaltig und mehr als zehn Tonnen schwer waren. Es gab nicht vieles auf der Welt, was ihm Angst machte, aber diese monströsen Ungeheuer aus Bronze, Eisen und Holz gehörten eindeutig dazu.

Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Vermutlich vergingen in Wahrheit nicht mehr als drei oder vier Minuten, bis die Wache zurückkam, aber Andrej kam es vor wie drei oder vier Ewigkeiten. Dennoch drehte er sich betont langsam herum und sah dem Wachtposten und dessen Begleiter mit einer genau berechneten Mischung aus Ungeduld und mühsam zurückgehaltenem Zorn entgegen. Abu Dun begann unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten. Andrej schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass ihr Verhalten nicht zu auffällig war. Mit einer selbstbewussten Bewegung ließ er die rechte Hand auf den Schwertgriff an seinem Gürtel sinken und trat dem Neuankömmling entgegen.

Der Fremde schien von seiner Geste nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Sein dunkles, von einem pedantisch ausrasierten Bart und sehr aufmerksamen, fast schwarzen Augen beherrschtes Gesicht zeigte nicht die geringste Regung, als er vor Andrej stehen blieb und zuerst ihn, dann den fast zwei Meter großen, schwarzgesichtigen Koloss mit einem raschen Blick musterte – einem Blick, in dem sehr wenig Respekt, aber dafür ein umso größeres Maß an Misstrauen zu erkennen war.

»Wer seid Ihr?«, fragte er knapp.

Andrej nahm die Hand vom Schwert und stellte sich mit einer graziösen Geste vor: »Ich bin Yussuf Ibn Sair.« Ein Name, den er sich in eben diesem Augenblick ausgedacht hatte, und von dem er hoffte, dass er hinlänglich überzeugend klang.»Ich bin im Auftrag des Großwesirs hier. Ich soll die Fracht- und Bestückungslisten der Flotte einsehen. Hat man Euch nicht informiert?«

»Davon ist mir nichts bekannt«, antwortete sein Gegenüber. Er klang keineswegs beeindruckt, sondern eher noch misstrauischer als zuvor. »Die Kopien der Listen sind doch schon gestern …«

»Eben wegen dieser Kopien bin ich hier«, fiel ihm Andrej ins Wort. »Es gab gewisse … Differenzen.«

»Das ist nicht möglich«, antwortete der Offizier überzeugt. »Wir haben über jedes Stück Buch geführt. Der Fehler muss andernorts passiert sein.«

»Und um genau das festzustellen, sind wir hier«, antwortete Andrej ungeduldig. »Also führt uns hinein.«

»Das werde ich nicht tun«, sagte der Türke. »Ich habe strengsten Befehl, niemanden hereinzulassen, der sich nicht ausweisen kann.«

»Vielleicht sollten wir gemeinsam zum Großwesir gehen und diese Frage erörtern«, entgegnete Andrej lächelnd. »Ich bin sicher, er wird Euren Diensteifer honorieren.« Er ließ eine Sekunde verstreichen und registrierte zufrieden, wie die Selbstsicherheit seines Gegenübers zusehends zerbröckelte. Dann hob er die linke Hand und zog mit der rechten den schweren goldenen Siegelring ab, den er am Mittelfinger trug.

»Ich weiß nicht, ob …«, begann sein Gegenüber. Andrej unterbrach ihn abermals, indem er ihm den Siegelring hinhielt.

»Das wird Euch überzeugen«, sagte er. »Ich nehme an, Ihr kennt diesen Ring?« Wenn nicht, dann sind wir jetzt so gut wie tot, fügte er in Gedanken hinzu. Dieser Siegelring war ihre einzige Hoffnung – und eine Fälschung. Allerdings eine perfekte Fälschung, nach Angaben eines gefangenen türkischen Admirals von einem jüdischen Goldschmied in Toledo gefertigt. Andrej war nicht besonders wohl dabei, seine letzte Trumpfkarte jetzt schon auszuspielen. Er hatte vorgehabt, sie für den Notfall aufzuheben, aber er hatte wohl keine Wahl.

Der Mann nahm den Ring entgegen und betrachtete ihn eingehender, als Andrej lieb war. Schließlich gab er ihn zurück und deutete ein Achselzucken an. »Ich bin sicher, der Fehler liegt nicht bei uns«, sagte er in gekränktem Ton. »Aber Ihr könnt Euch gerne selbst davon überzeugen.«

Sie verbrachten eine lange Weile im Inneren des Gebäudes, und Andrejs Bestürzung wuchs beständig. Der Beamte, in dessen Obhut sie der Offizier übergab, erwies sich als äußerst kooperativ und händigte Andrej gehorsam jedes Schriftstück und jede Liste aus, nach der er verlangte. Andrej musste sich mit immer größerer Anstrengung beherrschen, um sich sein Entsetzen nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. De la Valette hatte Schlimmes befürchtet, als er ihn dorthin geschickt hatte, aber die Lage war nicht schlimm. Sie war verheerend.

»Was ist denn los mit dir?«, flüsterte Abu Dun an seinem Ohr, als sie sich schließlich umwandten und den Rückweg antraten. Seine Stimme war kaum mehr als ein Wispern, aber Andrej fuhr erschrocken zusammen und sah sich um, als hätte er Angst, dass die Worte überall in dem großen, zum Lagerhaus umfunktionierten Raum gehört worden wären. Immerhin waren sie nicht allein. Auch vor der Tür zum Seitenschiff, in der die Schreibstube des Zeugmeisters untergebracht war, lungerte eine Wache herum, die ihre Aufgabe allerdings wesentlich weniger gewissenhaft versah als die Männer draußen am Tor.

Überall rings um sie herum waren Männer mit unterschiedlichen Aufgaben beschäftigt. Allem Anschein nach bestanden diese zumeist darin, Kisten und Ballen von rechts nach links und wieder zurück zu schleppen und den einen Stapel durch den anderen zu ersetzen. Natürlich war Andrej klar, dass das, was wie ein chaotisches Durcheinander schien, in Wirklichkeit ein präziser Arbeitsablauf nach einem wohl durchdachten Plan war. Auch das vermeintliche Sprachengewirr, das in dem ehemaligen Gotteshaus herrschte, war eine geordnete Folge von Befehlen und Kommandos, die Dutzende von Männern mit der Effizienz einer großen Maschine arbeiten ließ. Einer Maschine, die längst ins Rollen gekommen war und Malta samt allen, die darauf lebten, am Ende zermalmen musste …

»Sieht man es mir so deutlich an?«, murmelte er mit unbewegtem Gesicht, ohne sich zu Abu Dun herumzudrehen.

»Nein«, antwortete der Nubier. »Man nicht. Aber ich. Schlechte Nachrichten?«

»Mehr als schlecht«, erwiderte Andrej. »Ich habe mir die Bestückungslisten zeigen lassen.« Er atmete hörbar aus. »Wenn sie stimmen, dann ist genug Feuerkraft auf dem Weg nach Malta, um die Insel für immer von der Landkarte verschwinden zu lassen. Wir müssen sofort zurück.«

»Um was zu tun?«, fragte Abu Dun.

Wenn ich das wüsste, dachte Andrej niedergeschlagen. »Beten wäre eine gute Idee.« Jedenfalls für jemanden, der an die Kraft des Gebetes glaubte.

»Wir könnten vielleicht …«, begann Abu Dun, aber diesmal unterbrach ihn Andrej mit einer angedeuteten Geste und einem gezischten: »Jetzt nicht!«

Sie näherten sich dem Ausgang. Nach der Stunde, die sie im Halbdunkel des Zeughauses verbracht hatten, erschien ihm das Sonnenlicht, das über dem Vorplatz lag, unnatürlich grell, sodass er blinzeln musste und die Männer rechts und links der Tür nur als verschwommene Schatten erkennen konnte. Dennoch spürte er, dass ihn zumindest einer dieser Schatten anstarrte, und er hatte auch eine ziemlich konkrete Vorstellung davon, um wen es sich handelte. Sein Herz begann zu pochen. Er musste an sich halten, um seine Schritte nicht zu sehr zu beschleunigen, damit nicht auch noch der Letzte merkte, dass sie aus der ehemaligen Kathedrale flohen. Verdammt, was war nur mit ihm los?

Aber das Wunder geschah. Sie wurden weder angesprochen noch auf irgendeine andere Art zurückgehalten, verließen unbehelligt das Arsenal und passierten auch das Tor des Reiches. Sie hatten den Vorplatz der Hagia Sophia schon fast vollständig überquert, als sie hinter sich Hufschlag hörten. Es war nur ein Geräusch in einem ganzen Chor verschiedenster Laute, und doch war etwas Besonderes daran. Ein Gefühl von Endgültigkeit breitete sich in Andrej aus, das er nur zu gut kannte. Er blieb stehen, warf Abu Dun einen warnenden Blick zu und drehte sich langsam um.

Ein einzelner Reiter sprengte hinter ihnen durch das Tor. Im ersten Moment war Andrej irritiert, dann erkannte er ihn – es war der Offizier, der sie vorhin so misstrauisch kontrolliert hatte. Noch klammerte sich Andrej an den Gedanken, dass dessen Erscheinen einen ganz banalen Grund haben könnte, etwa den, dass der Dienst des Mannes endete und er in die Stadt ritt, um sich zu amüsieren. Aber natürlich war das nicht der Fall.

»Was …?«, begann Abu Dun, wurde aber erneut von Andrej mit einer Geste zum Schweigen gebracht.

»Still!«, sagte er. »Überlass mir das Reden … Und wenn irgendetwas passiert, dann rette dich«, fügte er nach einer winzigen Pause hinzu. »Kümmere dich nicht um mich. Wir treffen uns am Hafen. Wenn ich bis Sonnenaufgang nicht da bin, segelst du allein los. Umgekehrt gilt dasselbe. Die Nachricht ist zu wichtig. Der Großmeister muss erfahren, dass eine gewaltige Flotte auf dem Weg nach Malta ist. Sag ihm, dass sie genug Kanonen an Bord haben, um …«

Er brach ab, als er Abu Duns Blick registrierte. Der Nubier machte sich nicht die Mühe zu antworten. Andrej glaubte in seinen Augen allenfalls so etwas wie leise Verwunderung über seine Worte zu erkennen. Andrejs Vorschlag war vielleicht vernünftig, aber der Nubier wusste so gut wie er, dass keiner von ihnen den anderen je im Stich lassen würde – und schon gar nicht, um den Orden der Johanniter zu retten. Abu Dun war jedoch klug genug, nichts zu sagen.

Andrej drehte sich mit einem Ruck wieder herum, als er spürte, dass sich der Reiter ihnen auf Hörweite genähert hatte. Der Mann schwang sich mit einem Satz aus dem Sattel, noch bevor sein Pferd richtig zum Stehen gekommen war. Das Tier scheute unwillig und entfernte sich ein paar Schritte, während der Offizier herausfordernd auf Andrej und Abu Dun zuschritt. Sein Gesicht zeigte keine Regung, aber seine rechte Hand lag gewiss nicht zufällig auf dem Griff seiner Waffe. Sein Blick streifte Abu Dun. In seinen Augen sah Andrej gehörigen Respekt, aber den empfand jeder, der dem annähernd zwei Meter großen nubischen Koloss gegenüberstand.

»Auf ein Wort, Herr!«, rief der Offizier. Der Ton in seiner Stimme strafte seine respektvollen Worte Lügen.

»Was gibt es denn noch?«, fragte Andrej. »Wenn es um die Papiere geht, so kann ich Euch beruhigen. Der Fehler liegt ganz offensichtlich nicht bei Euch. Das werde ich auch dem Sultan berichten.«

»Dem Sultan?«

Andrej hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Aber der Fehler war gemacht und ließ sich nicht mehr zurücknehmen.

»Der Sultan ist auf einem Fest des Großwesirs in der Stadt und wünscht dort Einsicht in die Unterlagen zu nehmen«, sagte er. Eine Behauptung, die selbst in seinen Ohren nach nichts anderem klang als nach dem, was sie war: eine Ausrede, und nicht einmal eine besonders originelle.

Das Stirnrunzeln des Offiziers vertiefte sich. Er kam einen halben Schritt näher und bewegte sich zugleich ein Stück zur Seite. Er musterte Abu Dun und Andrej auf eine Art, die sie beide nur zu gut kannten. Der Ausdruck in seinem Blick war nicht mehr bloßes Misstrauen, sondern das Abwägen eines Kriegers, der seinen Gegner einzuschätzen versucht. Seine Hand hatte sich fester um seine Waffe geschlossen. Andrej sah, wie er unauffällig sein Gewicht verlagerte. Offensichtlich war er noch unschlüssig, was er tun sollte, was angesichts des schwarzgesichtigen Riesen hinter Andrej auch verständlich war.

Dennoch suchte Andrej vergebens nach einer Spur von Furcht auf dem Gesicht des Mannes. Vielleicht war er unsicher, welcher der beiden Männer vor ihm der gefährlichere war. Sollte er sich auf den äußeren Anschein verlassen und sich auf den vermeintlichen Leibwächter konzentrieren, dann würde er eine tödliche Überraschung erleben.

»Nun, Yussuf Ibn Sair«, sagte er, »das war doch Euer Name, nicht wahr?«

Andrej nickte und der Muselman setzte neu an: »Ich habe vorhin einen meiner Männer zum Palast geschickt, der aber ein vollkommener Idiot zu sein scheint. Er kann sich nicht einmal einen einfachen Namen merken. Stellt Euch vor, er behauptet, ein Mann Eures Namens sei dort gar nicht bekannt.«

Plötzlich begriff Andrej. Der Mann war nicht unschlüssig. Und er hatte auch keine Angst. Er versuchte lediglich, Zeit zu schinden. Es war nicht besonders schwer, sich vorzustellen, warum.

»Wie Ihr selbst sagt«, antwortete Andrej gelassen, »der Mann scheint unfähig zu sein. Ihr solltet ihn auspeitschen lassen.«

»Sicher«, antwortete der Offizier. »Aber stellt Euch vor, im Palast weiß auch niemand etwas von einer Überprüfung der Ladelisten.«

»Was wollt Ihr damit sagen?«, fragte Andrej scharf.

»Oh, ich glaube, das wisst Ihr genau«, sagte der Muselman ruhig. Ebenso ruhig, aber mit einer Bewegung, die große Entschlossenheit verriet, zog er seinen Krummsäbel, senkte die Spitze der Waffe aber sofort wieder. »Mir ist nicht daran gelegen, mit Euch oder Eurem Begleiter zu kämpfen. Bevor Ihr etwas tut, was mich dazu zwingt, seht Euch um.«

Andrej dachte nicht daran, den Mann auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, aber das war auch nicht nötig. Die Bewegung, die er aus den Augenwinkeln registrierte, war eindeutig. Sowohl von rechts als auch von links eilten Männer auf sie zu. Er hatte den Offizier unterschätzt, musste er sich eingestehen. Offensichtlich hatte dieser seine Männer schon unauffällig auf dem Platz verteilt, noch bevor sie das Arsenal verlassen hatten.

»Ihr wisst, dass Ihr Euch gerade um Euren Hals redet?«

Die Frage war völlig sinnlos – nichts als der verzweifelte Versuch, das Unausweichliche noch ein paar Augenblicke hinauszuzögern.

»Das mag sein, Herr«, antwortete der Offizier. »Trotzdem bitte ich Euch, mir ohne Widerstand zu folgen. Sollten sich Eure Angaben als richtig erweisen, werde ich den Mann, der mich falsch informiert hat, töten lassen und mich in aller Form bei Euch entschuldigen.«

Und wenn nicht, dann wartet der Foltermeister des Sultans auf uns, dachte Andrej bitter. Dennoch zog er die Hand unauffällig vom Schwert zurück. Er hätte den Mann so schnell töten können, dass er nicht einmal begriffen hätte, was geschah. Aber sie hatten es mit mindestens einem Dutzend Gegnern zu tun – ganz davon abgesehen, dass der Vorplatz von Menschen nur so wimmelte. Wenn auch nur ein einziger der muselmanischen Krieger das Wort ›Spion‹ aussprach, würde die Menge Abu Dun und ihn in Stücke reißen. Vielleicht standen ihre Chancen besser, wenn sie sich gefangen nehmen ließen und später einen Fluchtversuch unternahmen. Die Gefängnisse des Serails waren berüchtigt, aber sowohl Andrej als auch sein vermeintlicher Leibwächter hatten für ihre Bewacher die eine oder andere Überraschung auf Lager.

Es war Abu Dun, der die Katastrophe auslöste.

Er zog seine Waffe, aber der Offizier reagierte schneller, als Andrej erwartet hatte, und stieß seine Klinge in Abu Duns Richtung.

Allerdings war er nicht schneller als Andrej.

Dessen Hand bewegte sich rascher, als das menschliche Auge wahrnehmen konnte. Er verschwendete keine Zeit damit, seine eigene Klinge zu ziehen, sondern trat nach dem Krummsäbel des Offiziers und schmetterte ihn nur einen Augenblick, bevor sich dessen Spitze in Abu Duns Körper bohren konnte, zur Seite. Gleich darauf vollführte er eine halbe Körperdrehung, und sein linker Fuß traf den Muselmanen mit der Wucht eines Hammerschlages unter dem Kinn. Der Offizier stolperte mit einem schmerzerfüllten Grunzen zurück, ließ seinen Säbel fallen und brach in einer langsamen Bewegung in die Knie. Andrej führte die begonnene Drehung zu Ende und riss Abu Dun dabei mit sich.

Schlagartig brach rings um sie herum die Hölle los. Alarmrufe gellten auf. Die Menschen in ihrer unmittelbaren Nähe versuchten hastig, sich in Sicherheit zu bringen, während die herbeieilenden Soldaten ihre Waffen zogen.

Andrej wirbelte Abu Dun herum, bevor dieser auf die Idee kommen konnte, den Helden zu spielen, und stieß ihn so grob vor sich her, dass dieser um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte. Andrejs Hand hinterließ einen schmierigen Blutfleck auf Abu Duns Schulter, denn das Schwert des Muselmanen hatte sein Fleisch bis auf die Knochen aufgerissen. Die Wunde blutete heftig und schmerzte unerträglich. Trotzdem ließ er Abu Dun nicht los, sondern ergriff ihn noch fester und stieß ihn auf das Pferd des Muselmanen zu. Das Tier scheute, versuchte nach ihm zu beißen und wäre zweifellos einfach davongesprengt, wäre es nicht in der aufgewühlten Menschenmenge eingekeilt gewesen.

Mit seinem Verhalten rettete dieses Pferd ihnen am Ende sogar das Leben.

Andrej wich den zuschnappenden Zähnen aus, packte die Zügel und riss den Kopf des Tiers mit solcher Gewalt herum, dass der Hengst gequält aufschrie und mit den Hinterläufen austrat. Seine wirbelnden Hufe trafen zwei, drei Männer und fegten sie von den Füßen. Daraufhin brach rings um sie herum Panik aus. Die Menschen versuchten in blinder Todesangst ihr nacktes Leben zu retten und stoben in alle Richtungen davon. Einige der heranstürmenden Soldaten wurden einfach niedergetrampelt. Auch die anderen kamen nicht mehr schnell genug voran. Die beiden Gefährten hatten einen winzigen Vorsprung, und das musste reichen.

Andrej schwang sich in den Sattel, zerrte den völlig verstörten Abu Dun zu sich herauf auf den Rücken des Tiers, das unter dem gewaltigen Gewicht des Nubiers fast in die Knie ging, und zog das Pferd herum. Es scheute und weigerte sich, dem unbekannten Herrn zu gehorchen, aber Andrej brach seinen Willen mit blanker Gewalt. Das Pferd schrie vor Schmerz auf, als die Trense in das empfindliche Fleisch in seinem Maul schnitt, warf den Kopf zurück, drehte sich aber gehorsam auf der Stelle und sprengte los. Die sie umgebenden Menschen stoben auseinander, um nicht umgerissen zu werden. Einige Männer stürzten und brachten weitere zu Fall. Dann tat sich eine Gasse in der Menge auf, durch die Andrej das Pferd lenkte.

Die Panik der Menge diktierte ihren Fluchtweg, aber zu ihrem Glück führte dieser vom Waffenarsenal weg, und das allein zählte.

Andrej rammte dem Tier erbarmungslos die Absätze in die Flanken und beugte sich gleichzeitig tiefer über seinen Hals. Etwas traf ihn in die Seite und explodierte in einer Wolke aus feurigem Schmerz, der sich von seinem Knie bis in die Rippen hinaufzog. Er spürte, wie warmes, klebriges Blut an seinem Bein hinablief. Metall blitzte. Ein Schwert hieb nach ihnen und verfehlte sein Gesicht nur um Haaresbreite. Dann war plötzlich das Schlimmste vorbei. Rings um sie herum flüchteten noch immer Menschen in heller Aufregung, aber die Menge war nicht mehr so dicht und das Pferd gewann an Tempo.

Andrej hielt auf eine der großen Straßen zu, die vom Platz fortführten, und zwang das Tier so brutal um die Biegung, dass es erneut protestierend aufschrie und um ein Haar gestürzt wäre. Hinter ihm keuchte Abu Dun vor Schreck auf, vielleicht auch vor Schmerz. Andrej wusste nicht einmal, ob sein Freund vielleicht ebenfalls verwundet worden war, aber ihm blieb keine Zeit, nach ihm zu sehen. Es war noch nicht vorbei.

Auch die Straße vor ihnen war voller Menschen, die erschrocken und verwirrt stehen blieben, als sie das Pferd mit den zwei ungleichen Reitern auf sich zugaloppieren sahen. Einige versuchten, zur Seite zu springen, aber die meisten blieben einfach stehen. Ein Mann starrte ihnen sogar mit einem Ausdruck grimmigen Trotzes entgegen. Anstatt zur Seite zu gehen, versperrte er ihnen mit einem demonstrativen Schritt den Weg.

Andrej schluckte einen Fluch hinunter, riss das Pferd herum und preschte geduckt durch ein niedriges Tor auf einen von Säulengängen umschlossenen Hof, aus dem kein Weg hinausführte. Mit einem weiteren Fluch (diesmal in seiner Muttersprache, was ihn wohl endgültig verraten hätte, wäre jemand in der Nähe gewesen, um ihn zu hören) riss er das Pferd erneut herum, fiel mehr von dessen Rücken, als dass er abstieg, und konnte gerade noch zugreifen, als Abu Dun nun tatsächlich aus dem Sattel fiel. Das Pferd machte einen Satz zur Seite und raste mit einem protestierenden Wiehern davon. Schwer atmend sah Andrej sich um.

Sie befanden sich im Vorhof einer verfallenen Basilika, die zwar mitten in der Stadt liegen mochte, aber den Eindruck machte, als sei sie seit Menschengedenken verlassen. Etliche der riesigen Säulen, die das Dach stützten, waren zerborsten. Unkraut und ungehindert wucherndes Buschwerk hatten längst angefangen, das Terrain zurückzuerobern, das ihnen der Mensch abgetrotzt hatte.

»Was war denn das?«, fuhr ihn Abu Dun an. »Seit wann laufen wir davon?«

Im ersten Moment verstand Andrej nicht, was Abu Dun meinte. Dann breitete sich ein Ausdruck der Fassungslosigkeit auf seinem Gesicht aus. »Vielleicht, seit ich zu dem Entschluss gekommen bin, noch ein bisschen länger leben zu wollen«, antwortete er. »Möchtest du dich mit der gesamten türkischen Armee anlegen?« Er machte eine auffordernde Geste. »Nur zu! Ich glaube, sie läuft gerade draußen zusammen und sucht nach uns.«

»Was nicht geschehen wäre, wenn du auf mich gehört hättest«, knurrte Abu Dun.

Mit dieser Bemerkung hatte der Nubier Recht, sie kam aber zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Abu Dun hatte schon beim Anblick der Flotte argumentiert, dass sie mehr als genug gesehen hätten und sich lieber auf den Rückweg machen sollten, solange sie es noch konnten. Es war zweifellos ein Fehler gewesen, nicht auf ihn zu hören, aber es nutzte nichts, über begangene Fehler zu jammern.

Für einen kurzen Augenblick befanden sie sich in Sicherheit, aber das konnte nicht lange währen. Die Soldaten mussten längst zur Verfolgung ausgeströmt sein, und draußen auf der Straße hatten unzählige Menschen gesehen, durch welches Tor sie geritten waren. In Kürze würde es dort von Verfolgern nur so wimmeln. Abu Dun würde seinen Kampf bekommen. Eher, als ihm lieb war.

Andrej sah sich gehetzt um. Er spielte mit dem Gedanken, die zusammengesunkene Mauer zu seiner Rechten als Leiter zu benutzen, um auf das Dach und von dort aus auf eines der benachbarten Gebäude zu gelangen, verwarf diese Idee aber sofort wieder. Von den höher gelegenen Mauern und Türmen der Hagia Sophia aus wären sie dort oben leicht zu entdecken. Und sie durften sich auf keinen Kampf einlassen. Sie brauchten ein Versteck!

Hastig setzte er sich in Bewegung, kletterte über einen Schuttberg hinweg und erblickte eine offen stehende Tür, die in das Dunkel der verlassenen Basilika hineinführte. Abu Dun wie ein willenloses Kind hinter sich herzerrend, stürmte er hindurch und prallte schmerzhaft gegen eine Wand. Nachdem sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte Andrej, dass sie vom Regen in die Traufe geraten waren. Im blassen Dämmerlicht sah man deutlich die Fußabdrücke, die sie in der fingerdicken Staubschicht auf dem Boden hinterlassen hatten!

Aber es war zu spät, um umzukehren. Der Hof hinter ihnen füllte sich mit schweren, stampfenden Schritten, die von einem Chor aufgeregt durcheinander rufender Stimmen und dem Klirren von Metall begleitet wurden. Ihre Verfolger waren da.

Andrej wandte sich nach rechts, zerrte Abu Dun weiter mit sich und stürmte so schnell durch den staubbedeckten Gang, wie er es in der herrschenden Dunkelheit wagte. Sie erreichten eine Kreuzung, wandten sich aufs Geratewohl nach links und erblickten eine Treppe, die in noch tiefere Finsternis hinabführte. Sie rasten, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinunter, wobei Andrejs verletztes Bein mit grellen Schmerzen, die in immer rascherer Folge durch seinen Körper pulsierten, protestierte. Er ignorierte die Pein und bemühte sich, noch schneller zu laufen.

Als er daraufhin das Gleichgewicht verlor, ließ er notgedrungen Abu Duns Hand los und stürzte, sich immer wieder überschlagend, kopfüber die Treppe hinab. Er hörte Abu Duns erschrockenen Aufschrei und hatte gerade noch Zeit, daran zu denken, dass ihre Verfolger nun endgültig wussten, wo sie nach ihnen suchen mussten, falls sie die Fußspuren im Staub bisher übersehen haben sollten. Dann prallte er mit fürchterlicher Wucht gegen ein Hindernis. Für einen Moment versank die Welt in einem schwarzen Strudel, der sich auf dem Grund seiner Gedanken auftat. Alles wurde unwirklich und leicht.

Wie durch ein Wunder verlor er nicht das Bewusstsein. Nachdem er die Augen geschlossen und in sich hineingelauscht hatte, stellte er fest, dass ein zweites, beinahe noch größeres Wunder geschehen war: Er hatte sich keine nennenswerte Verletzung zugezogen. Ihm tat alles weh, aber er konnte sich bewegen und spürte, wie sein Körper bereits damit begann, das verwundete Bein zu heilen. Unter normalen Umständen wäre die Wunde binnen einiger Minuten verheilt gewesen, aber er konnte seinem Körper die Energie, die er für die Regeneration brauchte, nicht geben. Nicht jetzt.

Umständlich richtete er sich auf, ignorierte Abu Dun, der besorgt an ihm herumtastete, und versuchte, sich in der Dunkelheit zu orientieren. Selbst seinen Augen, die, ebenso wie die des Nubiers, ungleich schärfer waren als die eines gewöhnlichen Menschen, fiel es schwer, die nahezu vollkommene Finsternis zu durchdringen. Immerhin war das ein winziger Vorteil für sie. Ihre Verfolger würden dort unten buchstäblich blind sein. Aber sie waren nicht mehr weit. Über ihnen waren die Stimmen und Schritte der Männer lauter geworden. Sie waren ihnen auf der Spur.

Die Treppe endete vor einer nur knapp anderthalb Meter hohen, uralten Tür, die schräg in rostigen Angeln hing. Das Schloss schien schon vor einem halben Menschenalter herausgefallen zu sein, doch jemand hatte es für nötig gehalten, die Tür mit einer schweren Eisenkette zu versehen, die mit einem großen Vorhängeschloss gesichert war. Was immer sich dahinter befand, schien von enormem Wert zu sein.

Oder ausgesprochen gefährlich.

Andrej jedenfalls hatte vor, es herauszufinden. Er schob Abu Dun mit dem linken Arm aus dem Weg und wieder zwei Stufen weit die Treppe hinauf und ließ seine Waffe mit aller Gewalt auf die Kette herabsausen.

Das rostige Eisen zerbarst wie Glas. Auch Andrejs Schwert brach dicht über dem Griff ab, aber die Kette rasselte wie eine Ankerkette zu Boden – mit einem Lärm, der noch auf der anderen Seite der Stadt zu hören sein musste, dachte Andrej erschrocken. Die Tür sprang auf, als sich Andrej mit der Schulter dagegen warf.

Um ein Haar wäre dies seine letzte Bewegung gewesen.

Die Treppe setzte sich unmittelbar hinter der Tür fort. Die oberste Stufe war nicht mehr vorhanden und der Rest der Treppe führte in deutlich steilerem Winkel als zuvor weiter nach unten. Sie schien in einem gewölbten, niedrigen Gang zu enden, aus dem graues Zwielicht heraufsickerte. Was er sah, waren die kläglichen Überreste von Tageslicht, das irgendwo in weiter Entfernung seinen Weg unter die Erde gefunden hatte. Dort unten musste es einen Ausgang geben.

Er dirigierte Abu Dun mit sanfter Gewalt durch die Tür und war kurz versucht, die Kette von innen wieder vorzulegen, verwarf diesen Gedanken aber gleich wieder. Die Spur, die sie hinterlassen hatten, war nicht zu übersehen, und wie stabil die Kette war, hatte er gerade selbst feststellen können. Ihre Verfolger würden weniger Zeit brauchen, um die Tür aufzubrechen, als er, um sie zu verriegeln. Andrej zog sie zu, so gut er konnte, und stürmte dann dicht hinter Abu Dun die ausgetretenen Steinstufen hinab.

Die Treppe war lang. Der Gang, den sie schließlich erreichten, musste sich tief unter den Kellergewölben der Häuser befinden, womöglich unter den Fundamenten der Stadt selbst. Er war so niedrig, dass selbst Andrej, der im Gegensatz zu Abu Dun kein Riese war, nur gebückt gehen konnte. Der Boden klebte vor Schmutz. Die Luft roch modrig und war von alles durchdringender Feuchtigkeit getränkt. Hinter ihnen wurden wieder Stimmen laut. Waren ihre Verfolger schon auf der Treppe?

Andrej beschleunigte seine Schritte und stieß Abu Dun, dessen Zögerlichkeit er nicht verstand, schließlich einfach vor sich her, bis sie das Ende des Gangs erreicht hatten und der Nubier so abrupt stehen blieb, dass Andrej auf ihn prallte. Abu Dun gelang es zwar, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, aber er stolperte ungeschickt einen Schritt zur Seite. Auch Andrej prallte zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Wand neben der Tür. Er registrierte es kaum.

Der Anblick, der sich ihm bot, verschlug ihm die Sprache.

Das Licht, das sie heruntergelockt hatte, sickerte durch Dutzende schmaler Schlitze, die sich hoch unter der Decke eines gewaltigen Kuppelsaals befanden, dessen Abmessungen sie nur ahnen konnten. Getragen wurde diese Decke von mehr als mannsdicken steinernen Säulen, die sich in mehreren Reihen nebeneinander erhoben. Es mussten Hunderte sein.

»Das … ist unglaublich«, murmelte Abu Dun. »Von so etwas habe ich noch nie gehört.«

Die Akustik dieses sonderbaren Raums verzerrte seine Stimme zu einem gespenstischen Flüstern, aber Andrej konnte das Zittern darin nur zu gut hören. Auch er hatte etwas Derartiges noch niemals zuvor zu Gesicht bekommen. Der Raum erfüllte ihn mit dem Gefühl, klein und bedeutungslos zu sein. Gewiss hatte er schon in größeren Räumen gestanden, aber noch niemals in einem unterirdischen Raum, der die Abmessungen einer kleinen Burg hatte.

Dann hörte er das Plätschern von Wasser. Plötzlich wusste er, wo sie waren.

»Die Zisternen«, sagte er. »Das müssen die Zisternen sein.«

»Zisternen?«, wiederholte Abu Dun in zweifelndem Ton.

Andrej stieß sich von der Wand ab und trat ganz dicht an den Rand des schmalen Simses heran, der die gewaltige Wasserfläche begrenzte, die er nun erkennen konnte. Seine Augen gewöhnten sich allmählich an das blasse graue Licht, das wie leuchtender Staub in keilförmigen Streifen durch die wattige Dunkelheit vor ihnen schnitt. Wenn man längere Zeit auf das Muster aus Hell und Dunkel blickte, wurde einem schwindlig – es war ein perfektes Versteck. Selbst Andrej hatte Mühe, dort unten etwas zu erkennen. Für ihre Verfolger – selbst wenn sie Fackeln oder Lampen mitgebracht haben sollten – musste es nahezu unmöglich sein.

Aufmerksam ließ er seinen Blick nach rechts und links schweifen und entdeckte nach kurzem Suchen genau das, worauf er gehofft hatte: Nicht weit von ihrem Standort entfernt führten drei schmale gemauerte Stufen zur Wasseroberfläche hinab. Ein schmales, mittels einer rostigen Kette an einem eisernen Ring an der Wand befestigtes Boot lag da. Um ihr Glück perfekt zu machen, lagen im Heck des Bootes zwei lange Stangen, mit denen man es von der Stelle staken konnte.

»Dorthin!«

Ohne Abu Duns fragende Blicke zu beachten, stürmte er los, stieg in das Boot und balancierte mit weit ausgestreckten Armen zum Heck, um sich nach einer der Stangen zu bücken. Der Nachen schwankte bedrohlich, als auch Abu Dun hineinstieg. Sein gewaltiges Körpergewicht war fast zu viel für den altersschwachen Kahn. Das leise Klirren von Metall verriet Andrej, dass es Abu Dun gelungen war, die Kette zu lösen. Er ergriff eine der Stangen und ließ sie ins Wasser hinab. Als das Ende der Stange endlich den Grund berührte, musste sich Andrej vorbeugen, um sie überhaupt noch halten zu können. Das Wasser musste an die vier Meter tief sein.

»Sie kommen«, sagte Abu Dun überflüssigerweise. Mit einem Satz, der das Boot abermals bedrohlich ins Schwanken brachte, war er neben Andrej, ergriff die zweite Stange und rammte sie mit solcher Kraft nach unten, dass das Wasser hoch aufspritzte.

Abu Dun hatte Recht. Ihre Verfolger schienen bereits unmittelbar hinter ihnen zu sein – oder war es nur die verwirrende Akustik des unterirdischen Gewölbes?

Mit aller Kraft stemmten sich Andrej und Abu Dun gegen die Stangen. Das kleine Boot zitterte wie ein störrischer Esel und rührte sich nicht von der Stelle, als würde es von einer unsichtbaren Kraft gehalten. Dann aber kam es mit einem solchen Ruck frei, dass Andrej beinahe kopfüber ins Wasser gefallen wäre. Während er sich vorsichtig wieder aufrichtete, begann sich das Boot schwerfällig auf der Stelle zu drehen, bis der Bug genau auf den Gang, durch den sie heruntergekommen waren, deutete. Andrej stellte mit vorsichtiger Erleichterung fest, dass von den sie verfolgenden Türken noch nichts zu sehen war. Aber ihre stampfenden Schritte waren nahe, zu nahe.

»Wieso Zisterne?«, fragte Abu Dun. »So eine große Zisterne gibt es nicht.« Er keuchte vor Anstrengung, aber seine Neugier – oder sein Unglaube – waren mindestens so groß wie seine Angst. Andrej konnte diese Reaktion durchaus verstehen. Auch ihm verschlug die Größe dieses unterirdischen Saals schier den Atem.

»Hier schon«, antwortete er. »Ich habe davon gehört, es aber, ehrlich gesagt, selbst nicht geglaubt.« Er schüttelte den Kopf und stemmte sich dann ebenfalls gegen den Staken. »Jedenfalls nicht, dass sie so groß sind.«

»Sie?«, wiederholte Abu Dun zweifelnd.

»Es sind mehrere«, bestätigte Andrej. Er sparte es sich, Abu Dun darüber aufzuklären, dass mehrere in diesem Fall vierzig bedeutete.

Er machte eine Kopfbewegung in das Dunkel zwischen den Säulen hinein. »Angeblich sind sie durch unterirdische Kanäle miteinander verbunden. Wenn wir einen davon finden, sind wir gerettet. Vollkommen unmöglich, dass sie uns dort aufspüren!«

Als hätte ein boshaftes Schicksal nur auf dieses Stichwort gewartet, stürmten in diesem Moment die ersten Verfolger in das Gewölbe. Andrej machte einen erschrockenen Satz, als er die dunklen Uniformen ihrer Verfolger erkannte. Es waren nicht einfache Soldaten wie die, mit denen sie es auf dem Vorplatz zu tun gehabt hatten, sondern Janitscharen – die Elitetruppen des Sultans.

»Schneller!«, keuchte er.

Abu Dun stemmte sich mit noch größerer Kraft gegen die Stange, um das Boot von der Stelle zu bekommen. Hinter ihnen sausten die Janitscharen heran. Etwas krachte. Ein heller, peitschender, geradezu bösartiger Laut. Das Geräusch hallte in dem unterirdischen Gewölbe wider wie ein Kanonenschuss. Im gleichen Augenblick streifte ein heißer Luftzug Andrejs Gesicht. Aus der Säule unmittelbar vor ihnen schlugen Funken. Etwas heulte auf und schlug mit einem hellen Platschen ins Wasser.

Andrej wandte den Kopf und sah, dass der Janitschar, der auf sie geschossen hatte, auf ein Knie herabgesunken und damit beschäftigt war, seine Hakenbüchse hastig neu zu laden. Er fasste neuen Mut. Dieser Soldat schien der Einzige zu sein, der mit einer Feuerwaffe ausgerüstet war. Seine Kameraden trugen Schwerter, Schilde und Speere. Nicht dass Andrej diesen Waffen keinen Respekt entgegenbrachte – erst recht nicht in den Händen solch hervorragend ausgebildeter Krieger – aber Feuerwaffen flößten ihm eine Heidenangst ein. Er fürchtete sie nicht, er hasste sie regelrecht. Sie widersprachen seinem Sinn für Gerechtigkeit und Anstand. Ein Mann konnte damit über hundert Schritte Distanz hinweg getötet werden, ohne dass er auch nur ahnte, woher der Schuss kam, oder er eine Chance hatte, ihm auszuweichen. Sollte ihn irgendwann einmal der Tod endgültig ereilen, dann, so vermutete er, würde es durch Schießpulver geschehen.

Wie um ihn eines Besseren zu belehren, schleuderte einer der Janitscharen jetzt seinen Speer. Die Waffe überwand die Distanz, die das Boot schon vom Sims trennte, fast ebenso schnell wie zuvor die Kugel, aber mit deutlich mehr Zielgenauigkeit. Andrej versuchte erst gar nicht, ihr auszuweichen, sondern drehte nur im letzten Moment den Oberkörper und schlug den Speer mit der bloßen Hand beiseite. Das Ergebnis war eine weitere, bis auf den Knochen reichende Schnittwunde, aus der das Blut spritzte. Andrej wankte, fiel stöhnend auf die Knie und presste die verwundete Hand gegen die Brust. Vor Schmerz wurde ihm übel. Ein zweiter Speer raste heran und klatschte eine Handbreit neben dem Boot ins Wasser. Andrej registrierte wie durch einen erstickenden, dunkelroten Nebel hindurch, wie sich drei der Janitscharen ohne zu zögern ins Wasser warfen und mit erschreckendem Geschick und großer Schnelligkeit auf sie zuzuschwimmen begannen.

Er kippte nach vorn, fing seinen Sturz mit der unversehrten Hand ab und versuchte, Schmerz und Übelkeit zurückzudrängen und sich auf seine verwundete Hand zu konzentrieren. Die Blutung ließ bereits nach. Sein einzigartiger Organismus hatte schon damit begonnen, den Schaden zu reparieren. Andrej wusste, dass es kaum eine Stunde dauern würde, bis von dem Schnitt nicht einmal mehr eine Narbe zu sehen sein würde. Aber sie hatten keine Stunde. Sie hatten nicht einmal eine Minute. Er musste seinen Körper zwingen, die Heilung zu beschleunigen. Dafür würde er später einen hohen Preis zahlen müssen, aber das spielte jetzt keine Rolle.

Neben ihm zog Abu Dun mit einem Mal die Stange ins Boot zurück, wodurch sich ihre ohnehin erbärmliche Geschwindigkeit noch weiter verringerte, ließ sich auf die Knie sinken und wartete, bis die beiden schwimmenden Soldaten das Boot fast erreicht hatten. Dann griff er mit beiden Händen zu, packte sie bei den Helmen und zog sie, anscheinend ohne die geringste Mühe, aus dem Wasser heraus, um sie kraftvoll mit den Köpfen aneinander zu schlagen. Einer der Männer erschlaffte augenblicklich in seiner Hand. Der andere stieß einen gurgelnden Schrei aus und begann zu zappeln. Abu Dun ließ die beiden wieder los – ein Fischer, der mit seiner Beute nicht zufrieden war und sie ins Wasser zurückwarf – und griff erneut nach seiner Stange. Die beiden Krieger gingen unter, während ein weiterer Speer herangeflogen kam, eine Handbreit neben dem Nubier den Rand des Bootes traf und Splitter aus dem Holz riss.

Währenddessen konzentrierte sich Andrej mit aller Macht auf seine verletzte Hand. Ein nagender Schmerz pulsierte in ihr. Zugleich aber spürte er, wie der Blutstrom endgültig versiegte und sich zerschnittenes Fleisch und zerfetzte Haut wieder zusammenzufügen begannen. Schließlich hörte der Schmerz schlagartig auf. Seine Hand war vorerst noch taub und nutzlos, aber er lief wenigstens nicht mehr Gefahr, zu viel Blut zu verlieren.

Als er sich aufrichtete, hatte Abu Dun die Stange bereits wieder ergriffen und stemmte sich mit seiner ganzen Kraft dagegen, um das Boot in Fahrt zu bringen. Zwei Janitscharen hatten ihren Wagemut schon mit dem Leben bezahlt, aber annähernd ein halbes Dutzend weiterer Männer war ihrem Beispiel gefolgt und näherte sich ihnen rasend schnell. Ein kurzer Blick zurück zum Ufer zeigte Andrej auch, dass der Janitschar mit der Hakenbüchse seine Waffe wieder geladen hatte.

Andrej war noch niemals von einer Kugel getroffen worden. Er wusste nicht, was sie ihm antun würde. Wahrscheinlich nichts Schlimmeres als ein Schwert, ein Speer oder eine der zahlreichen anderen Waffen, mit denen er im Laufe seines langen, kriegerischen Lebens Bekanntschaft gemacht hatte. Möglicherweise war die unvernünftige Angst, die er vor allen Schusswaffen empfand, bloß die Reaktion auf eine Ahnung. Sagte man nicht, dass manche Menschen wussten, auf welche Art sie zu Tode kommen würden?

Mit einem Kopfschütteln verdrängte er diese bedrückenden Gedanken, zog die Stange aus dem Wasser und schlug sie einem der heranschwimmenden Janitscharen so wuchtig an den Schädel, dass der Mann lautlos versank. Ein anderer beging den Fehler, nach der Stange greifen zu wollen, um sie Andrej aus den Fingern zu reißen. Andrej stieß zu und drückte den völlig überraschten Krieger kurzerhand unter Wasser. Als das zappelnde Gewicht am Ende der Stange aufhörte, sich zu wehren, half Andrej Abu Dun dabei, das Boot weiterzustaken. Noch zwei oder drei kräftige Stöße mit den Stangen, und das Boot war in dem Gewirr aus steinernen Säulen und Schatten verschwunden. Keiner der Janitscharen würde es wagen, ihnen so weit zu folgen. Das Wasser war eiskalt. Selbst ein geübter Schwimmer würde es nur kurze Zeit darin aushalten. Allmählich begann er wieder Hoffnung zu schöpfen. Sie hatten es tatsächlich geschafft! Sie waren …

Ein dumpfer Schlag traf Andrej zwischen den Schulterblättern. Blitzartig verließen ihn seine Kräfte. Die Stange entglitt seinen Händen und klatschte ins Wasser. Andrej sank langsam auf die Knie und kippte zur Seite. Warmes Blut lief seine Brust herab und tränkte die kostbaren Seidengewänder mit schwerer, dunkler Nässe, während Andrej verständnislos auf die drei Finger lange, rasiermesserscharfe Zunge aus Stahl starrte, die aus seiner Brust ragte. Er hatte sich getäuscht. Er spürte weder Schmerzen noch Furcht, nur Empörung darüber, dass er sich so geirrt haben sollte. Es war keine Feuerwaffe, die ihn tötete. Es war ein Speer. Ein einfacher Speer, den einer der zurückgebliebenen Janitscharen mit unglaublicher Treffsicherheit über die große Entfernung hinweg geschleudert hatte.

»Andrej?«, keuchte Abu Dun. »Andrej, was ist? Bei Allah!« Die beiden letzten Worte hatte er geschrien.

Aber das hörte Andrej schon nicht mehr.

4. April, Kontoskalion, Hafen von Konstantinopel, kurz nach Sonnenaufgang

Er wusste nicht, ob Stunden, Jahre oder Ewigkeiten vergangen waren, in denen er durch eine Unendlichkeit aus Leid und Hoffnungslosigkeit geglitten war; körperlos über einem Abgrund schwebend, der weder Anfang noch Ende hatte.

Noch während er die Augen öffnete und in das Halbdunkel blinzelte, das ihn umgab wie die vertraute Wärme des Mutterleibes ein neugeborenes Kind, wurde ihm klar, dass er der letzten Grenze diesmal so nahe gewesen war wie selten zuvor. Vielleicht hatte er sie sogar zum ersten Mal wirklich überschritten, statt sie nur zu berühren, und gesehen, was sich dahinter befand, statt es nur zu ahnen.

Der Gedanke erfüllte ihn mit eisigem Entsetzen. Wenn das, was er gesehen hatte, der Tod war, dann existierte die Hölle wirklich, aber sie bestand nicht aus Feuer und es gab dort auch keine Teufel, die die armen Seelen der Sünder quälten. Dort gab es nichts als eine endlose Leere, in der man mit seinem Schmerz und seinem Kummer allein war.

Doch vielleicht war es auch nur eine Fiebervision gewesen.

Andrej klammerte sich mit aller Macht an diesen Gedanken. Sein Körper war so schwer verwundet worden wie selten zuvor. Auch wenn er schon unzählige Wunden überstanden hatte, die gewöhnliche Menschen das Leben gekostet hätten, war er nicht wirklich unsterblich. Er hatte all seine Energie und seine übermenschlichen Kräfte aufbieten müssen, um die schweren Verletzungen und den großen Blutverlust zu überwinden. War es da ein Wunder, dass ihn sein Geist mit Halluzinationen und bösen Trugbildern narrte?

Das war die Erklärung. So musste es einfach sein – alles andere wäre zu entsetzlich und hätte die Grundfesten all dessen erschüttert, woran er je geglaubt hatte. Es war unmöglich, dass auf der anderen Seite nur dieser entsetzliche Abgrund aus Einsamkeit und Leere wartete.

Andrej schob den Gedanken mit einiger Mühe von sich und konzentrierte sich mit noch mehr Mühe auf seine augenblickliche Situation. Das beigefarbene Licht, das ihn umgab, war nicht gleichmäßig, sondern von unterschiedlicher Tönung und Intensität. Der Boden, auf dem er lag, bewegte sich sacht hin und her. Er registrierte ein Durcheinander unterschiedlicher gedämpfter Geräusche, die ihm verrieten, dass er sich am Wasser befinden musste. Vermutlich eher auf dem Wasser, wenn er den schwankenden Untergrund in Betracht zog.

Seine Gedanken bewegten sich so träge, als wäre er betrunken. Er wusste weder wo er war noch wie er dorthin gekommen war, wenn er auch ein paar Mal aus seiner Ohnmacht zurück in einen Dämmerzustand geglitten war, in dem er seine Umgebung schemenhaft wahrgenommen hatte. Sie waren lange durch das uralte Kanalsystem gefahren, das sich unter den Fundamenten Konstantinopels erstreckte, aber er konnte nicht sagen, ob die Fahrt Stunden oder vielleicht auch Tage gedauert hatte. Er erinnerte sich an Kälte und Dunkelheit, die sich mit der noch tieferen Dunkelheit und der grausameren Kälte in seinen Gedanken zu verbinden trachteten. Abu Dun hatte ihn schließlich aus dem Boot gehoben und zurück ans Tageslicht getragen. Aber wie sie in den Hafen und gar auf das Boot gekommen waren, wusste er nicht.

Andrej bewegte sich vorsichtig. Es ging besser, als er befürchtet hatte, aber er empfand immer noch einen leichten Schmerz im Rücken. Ein Gefühl dumpfer Betäubung hatte die gesamte untere Hälfte seines Körpers ergriffen. Ein neuer, entsetzlicher Gedanke stieg in ihm auf: Was, wenn eine der Verletzungen, die er seinem Körper immer wieder zumutete, einmal nicht mehr vollständig ausheilte? Was, wenn er eines Tages entstellt sein Dasein fristen musste – zu einem jämmerlichen Leben verurteilt, das Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende währen würde?

Er verscheuchte auch diesen Gedanken – ein weiteres Kapitel in dem dicker werdenden Buch seiner Ängste –, öffnete die Augen und hob vorsichtig die rechte Hand, um nach der Decke, die über seinem Gesicht lag, zu greifen. Seine über rauen Stoff tastenden Fingerspitzen verrieten ihm, dass er in nasses, verwittertes Segeltuch eingehüllt war. Jemand hatte ihn mit einer Plane zugedeckt; vielleicht, weil man ihn für tot hielt. Aber wer?

Es gab nur eine Möglichkeit, die Antwort herauszufinden.

Andrej griff auch mit der anderen Hand nach oben und versuchte, die Plane behutsam zur Seite zu ziehen. Offensichtlich stellte er sich dabei nicht besonders geschickt an, denn schon im nächsten Moment erhielt er einen derben Stoß in die Seite und eine leise Stimme warnte ihn:

»Nicht so auffällig! Rühr dich nicht! Ich komme gleich zu dir.«

Er war nicht sicher – es war schwer, eine Stimme zu erkennen, die in gehetztem Flüsterton sprach – aber er glaubte zumindest, sie als die Abu Duns ausgemacht zu haben. Also ließ er sich zurücksinken und fasste sich in Geduld. Schließlich hörte er Schritte auf den hallenden Planken. Dann fiel ein Schatten über die Plane und der Stoff wurde zurückgeschlagen. Das Gesicht, das darüber zum Vorschein kam, wirkte übernächtigt und bleich, obwohl es pechschwarz war, die Augen waren blutunterlaufen und von einer Mischung aus Sorge und vorsichtiger Erleichterung erfüllt. Es war Abu Dun.

»Also doch«, stöhnte Andrej. »Na ja, irgendwann musste das ja passieren.«

Abu Dun zog die Augenbrauen zusammen. »Was?«

»Ich bin in der Hölle, oder?«

»Bis jetzt noch nicht, aber bald, wenn du noch lauter sprichst«, sagte Abu Dun. Er senkte die Stimme noch weiter. »Ein Mann, der mit dem Tod ringt, hat wohl kaum eine so kräftige Stimme, meinst du nicht auch?« Er grinste flüchtig, wurde augenblicklich wieder ernst und sprach laut weiter: »Bleib ganz ruhig liegen. Versuch nicht zu reden. Ich hole dir Wasser.«

Andrej begriff. Die Worte galten offensichtlich nicht ihm, sondern anderen Zuhörern. Wenn sie sich auf dem Boot befanden, auf dem sie Konstantinopel erreicht hatten, dann waren noch drei weitere Männer an Bord – einfache Fischer, deren Dienste sie eine knappe Tagesreise entfernt in Anspruch genommen hatten, und die nicht wussten, wer sie wirklich waren. Wenn sie es wussten, dann hatte der Beutel mit Goldstücken, den Andrej ihnen gegeben hatte, ihre Neugier ebenso nachhaltig gestillt, wie er ihr Misstrauen besänftigt hatte. Gewissenlose Männer, die ihr Volk und ihre Überzeugung für eine Hand voll Münzen verkauften, und die Andrej normalerweise zutiefst verachtet hätte, ohne die ein Unternehmen wie das ihre aber nicht möglich gewesen wäre.