Die Chronik der Unsterblichen - Der Todesstoß - Wolfgang Hohlbein - E-Book

Die Chronik der Unsterblichen - Der Todesstoß E-Book

Wolfgang Hohlbein

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Beschreibung

Band 3 der spektakulären Vampir-Serie vom Fantasy-Bestseller-Autor Wolfgang Hohlbein!

Der Scheiterhaufen brennt lichterloh, als Andrej eine junge Zigeunerin in letzter Sekunde vor dem sicheren Flammentod rettet. Noch ahnt er nicht, dass diese Begegnung sein Leben verändern wird. Alessa ist eine Unsterbliche wie er, doch sie leidet an einer mysteriösen Krankheit. Gemeinsam mit dem ehemaligen Piratenkapitän Abu Dun reist Andrej nach Bayern, um mehr über Alessas und seine eigene Herkunft zu erfahren - und stößt dabei auf schreckliche Geschöpfe ...

Wolfgang Hohlbeins erfolgreicher Fantasy-Zyklus "Die Chronik der Unsterblichen" als eBook bei beBEYOND. Die weiteren Folgen:

Band 1: Am Abgrund

Band 2: Der Vampyr

Band 4: Der Untergang

Band 5: Die Wiederkehr

Band 6: Die Blutgräfin

Band 7: Der Gejagte

Band 8: Die Verfluchten

Band 8,5: Blutkrieg

Band 9: Das Dämonenschiff

Band 10: Göttersterben

eBooks von beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen.


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Seitenzahl: 442

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Inhalt

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

1

2

3

4

5

6

7

8

9

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Über das Buch

Band 3 der spektakulären Vampir-Serie vom Fantasy-Bestseller-Autor Wolfgang Hohlbein! Der Scheiterhaufen brennt lichterloh, als Andrej eine junge Zigeunerin in letzter Sekunde vor dem sicheren Flammentod rettet. Noch ahnt er nicht, dass diese Begegnung sein Leben verändern wird. Alessa ist eine Unsterbliche wie er, doch sie leidet an einer mysteriösen Krankheit. Gemeinsam mit dem ehemaligen Piratenkapitän Abu Dun reist Andrej nach Bayern, um mehr über Alessas und seine eigene Herkunft zu erfahren – und stößt dabei auf schreckliche Geschöpfe ...

Über den Autor

Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, lebt mit seiner Frau Heike und seinen Kindern am Niederrhein, umgeben von einer Schar Katzen und Hunde. Er ist einer der erfolgreichsten deutschen Autoren der Gegenwart. Seine Werke wurden in 47 Sprachen übersetzt und mit über zwanzig nationalen und ungezählten internationalen Preisen ausgezeichnet. Weitere Informationen unter: www.hohlbein.de.

WOLFGANG HOHLBEIN

DER TODESSTOSS

beBEYOND

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe

© 2001 by LYX.digital, Köln

Für diese Ausgabe

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat/Redaktion: Dieter Winkler

Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven © thinkstock: Betty4240 | Colin_Hunter | SigridJnsson; © shutterstock: Dm_Cherry

Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-5903-9

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

1

Sie sind dort unten, auf der anderen Seite des Hügels. Vielleicht zwanzig, möglicherweise auch mehr.« Abu Duns Atem ging so ruhig, als wäre er gerade aus einem tiefen, erholsamen Schlaf erwacht. Dabei hatte er die gut hundert Meter den steilen, mit tückischem Geröll übersäten Hang hinab im Laufschritt zurückgelegt, und das mit einer Behändigkeit, die man einem Mann seiner Statur und Masse niemals zugetraut hätte. Sein Gesicht verfinsterte sich, als er fortfuhr: »Du hattest Recht. Sie verbrennen wieder Hexen.«

Andrej sagte nichts. Was auch? Er hatte gewusst, dass er Recht hatte, schon als sie den flackernden roten Widerschein des Feuers am Nachthimmel gesehen hatten, und lange bevor Abu Dun losgelaufen war, um sich mit eigenen Augen zu vergewissern, was auf der anderen Seite des Hügels geschah. Vielleicht lag es an seinen schärferen Sinnen, dass er den Gestank von brennendem Menschenfleisch lange vor dem Piraten wahrgenommen hatte. Er war dem Tod so oft begegnet, dass er seine Nähe deutlicher spürte als andere.

»Wie viele?«, fragte er nach einer Weile.

Abu Dun hob die Schultern. Mit seiner schwarzen Kleidung und dem ebenholzfarbenen Gesicht war der Nubier selbst für Andrejs scharfe Augen kaum zu erkennen. Er ahnte die Bewegung mehr, als dass er sie sah. »Ich habe zwei Scheiterhaufen gezählt«, sagte Abu Dun. »Wie viele sie daran gebunden haben, konnte ich nicht erkennen.« Er spie aus. »Diese Unmenschen! Sie nennen uns Barbaren, aber sie selbst tun Dinge, vor denen selbst der Teufel zurückschrecken würde.«

»Der Teufel vielleicht, aber du?«, fragte Andrej. »Ich war einmal auf einem Schiff, auf dem ich Dinge gesehen habe, die selbst den Teufel erschreckt hätten. Wie hieß doch gleich sein Kapitän?«

Abu Dun beantwortete die Anspielung auf seine Vergangenheit mit einem Grinsen, das seine Zähne in der Nacht fast unnatürlich weiß aufblitzen ließ. »Ich habe auch nie behauptet, besser zu sein als du«, sagte er.

»Das stimmt«, erwiderte Andrej. »Du bist der ehrlichste Pirat, den ich kenne.«

»Ich war Kaufmann«, verbesserte ihn Abu Dun.

»Nur, dass du lebende Waren verkauft hast, ich weiß.«

»Jedenfalls habe ich meine Waren pfleglich behandelt und sie nicht lebendig gebraten«, verteidigte sich Abu Dun. Er grinste erneut, und auch Andrej lachte leise, aber nur für einen ganz kurzen Moment. Zugleich fragte er sich, wieso sie eigentlich so ausgelassen waren, angesichts der unaussprechlichen Gräueltaten, die gerade auf der anderen Seite des Hügels stattfanden. Aber vielleicht war es der einzige Weg, um diese Geschehnisse überhaupt zu ertragen.

»Und?«, fragte Abu Dun nach einer Weile. »Was tun wir?«

»Was wir tun?«

Abu Dun machte eine Kopfbewegung in Richtung des roten Widerscheins am Himmel. »Gehen wir unserer Wege und tun so, als hätten wir nichts bemerkt?«

»Was sonst? Du hast es selbst gesagt: Es sind zwanzig, vielleicht sogar dreißig.«

»Dreißig Bauerntölpel und hysterische Weiber.« Abu Dun machte eine wegwerfende Geste. »Keine Gegner für uns. Sie werden weglaufen, wenn wir die ersten zwei oder drei erschlagen haben.«

»Ich verstehe!« Verbitterung lag in Andrejs Stimme. »Du meinst, wir erschlagen zwei oder drei Unschuldige, um zwei oder drei Unschuldige zu retten.«

»Du weißt sehr genau, dass das ein Unterschied ist, Hexenmeister«, antwortete Abu Dun immer noch grinsend, aber mit deutlich schärferer Stimme. »Du könntest dich ja auch in eine Fledermaus verwandeln und sie erschrecken.«

»Und ihnen damit einen Grund liefern, um noch mehr Scheiterhaufen aufzustellen«, sagte Andrej kopfschüttelnd. »Außerdem kann ich mich nicht in eine Fledermaus verwandeln, wie oft muss ich dir das noch erklären?«

»Hast du es denn je ernsthaft versucht?«, beharrte Abu Dun.

»Hast du je ernsthaft versucht, dich in einen vernünftigen Menschen zu verwandeln?« Andrej machte eine Kopfbewegung in die Richtung, in der sie ihre Pferde zurückgelassen hatten.

»Verschwinden wir. Es gibt eine Herberge, nicht weit von hier. Vielleicht finden wir dort noch ein Quartier für die Nacht.«

Abu Dun sah ihn überrascht an. Anscheinend hatte er erwartet, dass sein Freund irgendetwas unternehmen würde. Und natürlich hatte Andrej darüber nachgedacht – aber er wusste nichts über die Menschen hier, über ihre Beweggründe und Absichten. Schließlich konnte er nicht die ganze Welt retten.

»Lass uns gehen«, sagte er noch einmal.

»Ganz wie Ihr befehlt, Sahib«, grollte Abu Dun.

Andrej verzichtete auf eine Antwort. In den gut zehn Jahren, die er den nubischen Piraten und Sklavenhändler nun kannte, waren sie von Todfeinden zuerst zu widerwilligen Verbündeten geworden und hatten später gelernt, einander so zu nehmen, wie sie waren. Mittlerweile waren sie Freunde; aber es gab Bereiche, in denen sie niemals eine Einigung erzielen würden. Andrejs scheinbare Unverwundbarkeit gehörte dazu.

Sie sprachen selten über das Leben, das der Pirat und Sklavenhändler geführt hatte, bevor das Schicksal sie zusammengebracht hatte, aber Andrej vermutete, dass Abu Dun während seiner Zeit als Seeräuber mehr Menschen getötet hatte als so mancher Söldner, und er wich auch heute noch keinem Kampf aus. Andrej war dennoch der weit bessere Schwertkämpfer und überlegenere Taktiker. Umso weniger konnte Abu Dun verstehen, wie sehr es ihm zuwider war, die Waffe gegen einen anderen Menschen zu erheben, obwohl– aber vielleicht auch gerade weil – Andrej keinen Gegner zu fürchten brauchte. Vielleicht war er einfach zu oft gezwungen gewesen zu töten.

Sie banden die Pferde los, stiegen auf und wandten sich nach Westen, in die Richtung, in die Andrej zuvor gedeutet hatte. Als sie zehn Schritte weit gekommen waren, stieg auf der anderen Seite des Hügels ein wirbelnder Funkenschauer zum Himmel auf, und fast im gleichen Augenblick erscholl ein so gellender Schrei, dass sich etwas in Andrej zusammenzuziehen schien.

Abu Dun zischte: »Hör gut hin, Hexenmeister. Vielleicht wird dir der Klang den Geschmack des Nachtmahls versüßen, wenn du dich daran erinnerst.«

Andrej schluckte die scharfe Entgegnung hinunter, die ihm auf der Zunge lag. Abu Dun wollte ihn reizen, aber das würde er nicht zulassen. Es war Monate her, dass er das Schwert das letzte Mal gezogen hatte, und noch länger, dass das letzte Mal Blut auf der Klinge des Damaszenenschwertes gewesen war. Er war des Kämpfens müde. Das vom Krieg geschüttelte Siebenbürgen hatte er nicht verlassen, um sich in einem neuen Krieg wiederzufinden.

Nach einem Augenblick wiederholte sich der Schrei noch gellender und noch entsetzlicher, und etwas in Andrej … reagierte darauf.

Abrupt brachte er sein Pferd zum Stehen. Das Tier schnaubte unwillig, und auch Abu Dun zog hart am Zügel. »Was?«

Andrej machte eine abwehrende Handbewegung und legte den Kopf schräg, um zu lauschen. Der Schrei wiederholte sich nicht, aber nun, da er einmal darauf aufmerksam geworden war, spürte er es immer deutlicher: Es war kein Gefühl, das er wirklich mit Worten hätte beschreiben können. Aber da war plötzlich etwas Vertrautes in ihm: unersättlicher Hunger und eine Gier, die umso schlimmer war, da sie kein bestimmtes Ziel zu haben schien.

Auf der anderen Seite des Hügels war ein Wesen wie er.

Ein anderer Unsterblicher.

Oder, wie Abu Dun es ausgedrückt hätte, ein anderer Hexenmeister.

»Was hast du?«, fragte Abu Dun noch einmal. Er klang alarmiert.

Statt zu antworten riss Andrej sein Pferd in engem Bogen herum und ritt den Hügel hinauf. Auf der anderen Seite stoben keine Funken mehr, aber der Himmel glühte jetzt in einem helleren Rot, und er hörte eine schrille Stimme, die verzweifelt um Gnade flehte.

Andrej achtete ebenso wenig darauf wie die, denen dieses verzweifelte Flehen vermutlich galt. Stattdessen lauschte er in sich hinein. Die Präsenz des anderen Vampyrs war noch immer zu spüren, aber sie hatte sich verändert. Die unstillbare Gier, die so sehr Teil seines Wesens war, war zum allergrößten Teil Furcht und Entsetzen gewichen. Vielleicht war es auch die Stimme des anderen Vampyrs, die dort drüben diese gellenden Schreie ausstieß.

Das Pferd kam immer langsamer voran. Seine Hufe fanden auf dem lockeren Geröll, das diese Seite des Hanges bedeckte, kaum Halt, und es drohte immer öfter auszurutschen. Vor allem aber polterten die Steine, die das Tier lostrat, mit einem derartigen Getöse den Hügel hinab, dass er ernsthaft befürchtete, das Geräusch könnte auf der anderen Seite zu hören sein. Lange ehe sie auch nur die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, stieg Andrej aus dem Sattel und lief zu Fuß weiter. Abu Dun, der schon eine Weile vor ihm abgesessen war, eilte so leichtfüßig und lautlos neben ihm her, dass sich für einen Augenblick ein Gefühl von Neid in Andrej breit machte.

Oben angekommen ließen sie sich in die Hocke sinken und legten die letzten Meter bis zur Hügelkuppe auf Händen und Knien zurück.

Andrej erschauerte, als er des Geschehens auf der anderen Seite des Hügels ansichtig wurde.

Die Ansammlung ärmlicher strohgedeckter Hütten ein Dorf zu nennen, wäre übertrieben gewesen. Es waren weniger als ein Dutzend Gebäude, und das einzige, das aus Stein erbaut zu sein schien und ein massives Dach hatte, war die Kirche im Zentrum des Halbkreises, um den sich die übrigen Hütten gruppierten.

Der Ort war fast taghell erleuchtet.

Dutzende von Fackeln, die einfach in die weiche Erde gesteckt worden waren, verbreiteten ein flackerndes rotes Licht, und genau in der Mitte des Dorfplatzes brannte ein gewaltiger Scheiterhaufen. Wie zur Verhöhnung allen christlichen Glaubens bestand sein Mittelpunkt nicht aus einem Pfahl, sondern aus einem aus oberschenkelstarken Rundhölzern zusammengefügten Kreuz, an das eine einzelne Gestalt gebunden war. Obwohl die Flammen bereits fast so hoch wie das Kirchendach loderten und Andrej die Hitze selbst hier oben noch auf dem Gesicht zu spüren glaubte, schien sich die dunkle Gestalt im Zentrum dieser Feuerhölle noch zu bewegen. Aber vielleicht war das auch nur eine Täuschung, hervorgerufen durch das grelle Licht der Flammen, das ihm die Tränen in die Augen trieb – und seine eigene Angst.

Feuer.

Andrej hatte panische Angst vor Feuer, nicht nur, weil er seine fürchterliche Schärfe schon mehr als einmal am eigenen Leib gespürt hatte, sondern weil es zu den wenigen Dingen gehörte, die ihm wirklich gefährlich werden konnten. Feuer vermochte ihn durchaus zu töten. Aber da gab es noch etwas: Seine Angst vor Feuer war in den letzten Jahren beständig gewachsen, und zwar in einem Maße, das über das mit reiner Logik Erklärbare hinausging.

Vielleicht sah er die Erklärung dafür gerade vor sich. Er hatte irgendwann aufgehört zu zählen, wie viele Scheiterhaufen er erblickt, die gellenden Schreie wie vieler bedauernswerter Opfer er gehört hatte, die bei lebendigem Leibe verbrannt waren.

»Nun?«, flüsterte Abu Dun neben ihm. »Du hast doch nicht etwa dein Gewissen entdeckt, Hexenmeister?«

»Still!«, zischte Andrej. »Und hör endlich auf, mich so zu nennen.«

Abu Dun grinste breit, aber er hielt gehorsam den Mund, während sich Andrejs Blick weiter aufmerksam über den Dorfplatz tastete. Das Bild erfüllte ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und blanker Wut. Er hatte gewusst, was er sehen würde. Abu Dun hatte es ihm gesagt, und er hatte ein solches Szenarium schon zahllose Male erblickt. Trotzdem fiel es ihm schwer, die Fassung zu bewahren. Es kostete ihn fast seine gesamte Selbstbeherrschung, nicht das Schwert zu ziehen und den Hang hinunterzustürmen, um dem grausamen Geschehen ein mindestens ebenso grausames Ende zu bereiten.

Er tat nichts dergleichen, sondern musterte die Vorgänge mit großer Aufmerksamkeit und versuchte, sich jedes Detail einzuprägen.

Abu Duns Schätzung war ziemlich präzise gewesen. Es mussten knapp dreißig Personen sein, die rings um den Scheiterhaufen herum Aufstellung genommen hatten – Männer, Frauen und Alte; selbst einige Kinder waren gekommen, um sich an dem grausigen Schauspiel zu weiden. Aber es waren nur sehr wenige Männer; eine Hand voll, denen Andrej selbst über die Entfernung hinweg ansah, dass sie in keiner guten Verfassung waren. Diesem Dorf musste es ergangen sein wie so vielen, durch die sie in den letzten Jahren gekommen waren: Nahezu alle waffenfähigen Männer waren zum Kriegsdienst gezwungen worden, und die Zurückgebliebenen kämpften verzweifelt ums Überleben.

Im Moment zerstreuten sie sich allerdings damit, dem qualvollen Tod der vermeintlichen Hexe zuzusehen.

Andrej schloss die Augen und lauschte konzentriert in sich hinein. Die fremde Präsenz war noch immer da. Sie schien sogar zugenommen zu haben. Vermutlich war es also nicht die Gestalt auf dem Scheiterhaufen, deren Nähe er spürte.

»Also?«, drängte Abu Dun. »Was willst du jetzt tun?«

Andrej hob die Hand, um ihn zum Verstummen zu bringen, aber er führte die Bewegung nicht zu Ende.

Die Kirchentür hatte sich geöffnet, und ein Mann in schwarzer Priesterrobe trat heraus. Ihm folgten zwei weitere Gestalten, die in eine merkwürdige Uniform gehüllt waren: Topfhelme, Kettenhemden und kurze Röcke aus Lederstreifen, die mit blitzenden Kupfernieten beschlagen waren. Sie trugen Breitschwerter. Ihrer Aufmachung nach zu urteilen, stammten die beiden aus einem anderen Jahrhundert. Dennoch waren sie vielleicht die Einzigen im Ort, um die er sich Gedanken machen musste, sollte es zu einem Kampf kommen. Seine Hand schloss sich um den Schwertgriff, ohne dass er sich der Bewegung auch nur bewusst gewesen wäre.

Die beiden Bewaffneten zerrten eine dritte Gestalt zwischen sich her, deren Handgelenke mit langen Seilen gefesselt waren. Sie trug ein einfaches, schmutzstarrendes Gewand, und das lange Haar hing ihr wirr in die Stirn, sodass Andrej ihr Gesicht nicht erkennen konnte.

»Was haben die vor?«, murmelte Abu Dun.

Genau das fragte sich Andrej auch. Zweifellos war die gefesselte Gestalt das nächste Opfer, das für den Scheiterhaufen vorgesehen war – aber die Hitze des brennenden Reisigstapels war so gewaltig, dass sich ihm niemand auf mehr als fünf Schritte nähern konnte, ohne sich selbst zu verbrennen. Feuer dieser Intensität pflegten sich in ihrer Wut rasch selbst zu verzehren, aber Andrej schätzte, dass es noch eine Weile dauern würde, bis die Flammen weit genug heruntergebrannt waren, um sich dem Pfahl zu nähern. Sie hatten also Zeit.

Andrej beobachtete stirnrunzelnd, wie die beiden Bewaffneten langsam auf den Scheiterhaufen zugingen, wobei sie sich immer weiter voneinander entfernten. Die Stricke in ihren Händen hielten sie dabei straff gespannt, sodass ihr unglückseliges Opfer gezwungen wurde, mit weit ausgebreiteten Armen zwischen ihnen auf den Scheiterhaufen zuzustolpern. Als es die Hitze des Feuers spürte, bäumte es sich verzweifelt auf und warf den Kopf in den Nacken, und Andrej erkannte zum einen, dass es sich um eine Frau handelte, und zum anderen –

»Maria!«

Andrej riss in der gleichen Bewegung das Schwert aus der Scheide, in der er aufsprang und losstürmte. Immer wieder Marias Namen schreiend, raste er den Hang hinab, fuhr wie ein Wirbelsturm unter die völlig verblüfften Dorfbewohner und stieß zwei oder drei Männer, die sich ihm in den Weg stellen wollten, einfach zu Boden. Die anderen wichen erschrocken vor ihm zurück, und Andrej stürmte weiter auf den Scheiterhaufen zu. Er wusste nicht, ob Abu Dun ihm folgte, aber es war auch nicht von Bedeutung.

Einer der beiden Bewaffneten hatte ebenfalls von ihm Notiz genommen. Er ließ den Strick um Marias Handgelenk nicht los, und er hörte auch nicht auf, sie auf den Scheiterhaufen zuzuzerren, aber er fuhr trotzdem zu Andrej herum und riss dabei mit der linken Hand das Schwert aus dem Gürtel. Andrejs Waffe vollführte eine blitzartige, halbkreisförmige Bewegung, und das Schwert des Soldaten wirbelte davon; zusammen mit der Hand, die es hielt. Der Mann starrte seinen eigenen Armstumpf aus hervorquellenden Augen an, dann begann er, in hohen, schrillen Tönen zu kreischen, und sank auf die Knie, und Andrej stürmte in unvermindertem Tempo an ihm vorbei und griff seinen Kameraden an.

Der Mann hatte das Seil losgelassen und sein eigenes Schwert gezogen, das er nun mit beiden Händen hielt, und er erwies sich als weitaus wendiger als sein Kamerad. Andrej musste dreimal zuschlagen, bis er ihn überwand. Mit dem dritten Hieb enthauptete er den Mann.

Noch bevor der plötzlich kopflose Leichnam zu Boden sank, wirbelte Andrej herum, war mit einem einzigen Satz bei dem Priester und stieß ihm das Schwert bis ans Heft in die Brust. Der Mann starb schnell, aber Andrej erkannte an dem Ausdruck in seinen Augen, dass es kein gnädiger Tod war. Er starb in der festen Überzeugung, dem Satan gegenüberzustehen, und Andrej hoffte inständig, dass er ihm nach seinem Ableben auch wirklich begegnen würde, falls es so etwas wie ein Jenseits tatsächlich gab.

Er riss das Schwert aus der Brust des Sterbenden, fuhr herum und war mit zwei gewaltigen Sätzen bei Maria, die zu Boden gesunken war und sich vor Angst und Schmerz krümmte.

Aber es war nicht Maria. Sie sah ihr nicht einmal ähnlich. Das Mädchen war allerhöchstens sechzehn und hatte strähniges rotblondes Haar, und sein Gesicht war vermutlich hübsch, wenn man sich den Schmutz, die zahlreichen blauen Flecke und Prellungen und die nässenden Brandblasen wegdachte. Ihre Augen waren riesig und fast schwarz vor Furcht, und obwohl sie Andrej direkt anblickten, war er sicher, dass sie ihn nicht sah.

Trotzdem sagte er: »Du musst keine Angst mehr haben. Du bist in Sicherheit. Niemand wird dir etwas tun.«

Er bekam keine Antwort. Der Blick des Mädchens blieb weiter auf etwas Unfassbares gerichtet, das sich in unendlicher Entfernung zu befinden schien. Andrej richtete sich auf, drehte sich um und ergriff sein Schwert fester.

Nicht, dass es notwendig gewesen wäre. Ganz wie Abu Dun vorausgesagt hatte, waren die Dorfbewohner in heller Panik davongerannt; spätestens in dem Moment, in dem sie gesehen hatten, wie er die beiden Soldaten erschlug. Zwei oder drei reglose Körper, deren genauen Zustand Andrej im Licht des Feuers nicht beurteilen konnte, gehörten wohl den wenigen, die entweder dumm genug oder zu langsam gewesen waren, Abu Dun aus dem Weg zu gehen, und er hörte entfernte Schreie und hastige Schritte.

Abu Dun selbst kam ohne sonderliche Eile auf ihn zu, und hätte es hinter Andrejs Stirn nicht noch immer gewütet, dann hätte er vielleicht den Anblick bemerkt, den sein Freund bot. Denn der hünenhafte Nubier schleifte eine reglose Gestalt hinter sich her, die er kurzerhand am Fußgelenk gepackt hatte.

Der Ausdruck auf Abu Duns Gesicht war fast noch schwärzer als seine Haut, und er spießte Andrej mit Blicken regelrecht auf.

»Maria, wie?«, grollte er. »Daher also dein plötzlicher Sinneswandel.«

»Ich habe gedacht …«

»Du hast gedacht«, unterbrach ihn Abu Dun wütend, »dass einer von deiner Art in Gefahr wäre, nicht wahr? Was ist jetzt mit deiner hehren Gesinnung? Wie war das doch gleich? Wir haben nicht das Recht, Unschuldige zu töten, um Unschuldige zu retten? Sind die Leute hier plötzlich weniger unschuldig, nur weil diesmal einer von deiner eigenen Art in Gefahr war?«

»Du hast recht«, sagte Andrej leise. »Es tut mir leid. Aber ich … ich konnte plötzlich nicht anders. Ich dachte, es wäre Maria.«

»Deine Maria«, antwortete Abu Dun böse, »ist vermutlich seit zehn Jahren tot. Und wenn nicht, dann will sie nichts von dir wissen. Begreif das endlich!«

Andrej musste sich mit aller Macht beherrschen, um den Piraten nicht anzugreifen. Rasende Wut verschleierte seinen Blick, und das Schwert in seiner Hand schien sich fast gegen seinen Willen heben zu wollen, um nach der Kehle des Piraten zu züngeln.

Dann, so schnell, wie sein Zorn gekommen war, verschwand er auch wieder, und er fühlte sich so erbärmlich, als hätte er sein Ansinnen laut ausgesprochen. Abu Dun schien zu ahnen, was in ihm vorging.

»Wir sollten von hier verschwinden«, sagte er. »Sie sind zwar weg, aber wenn sie ihren ersten Schrecken überwunden haben, könnten sie auf den Gedanken kommen, sich zusammenzurotten und uns als neues Brennmaterial für ihren Scheiterhaufen zu benutzen.«

»Hast du etwa Angst?«, fragte Andrej spöttisch.

»Nein«, antwortete Abu Dun. »Aber ich bin nicht versessen darauf, noch ein paar Schädel einzuschlagen. Es langweilt mich. Die beiden einzigen richtigen Gegner hast du ja für dich beansprucht.«

Andrej blieb ernst. »Wer ist das?«, fragte er mit einer Geste auf den Mann, den Abu Dun am Fuß hinter sich herzerrte.

Abu Dun sah mit gespielter Überraschung auf den Bewusstlosen herab, dann runzelte er die Stirn, als müsse er angestrengt nachdenken. »Oh, das«, sagte er dann. »Das habe ich gefunden. Willst du es haben?«

»Nur, wenn es sprechen kann«, antwortete Andrej. »Lebt es noch?«

»Das werden wir gleich herausfinden«, sagte Abu Dun. Er grinste, ließ den Fuß des Bewusstlosen los und beugte sich über ihn. Andrej konnte nicht erkennen, was er tat, aber es verging nur ein kurzer Moment, bis der Mann die Augen aufschlug und prompt zu schreien begann. Abu Dun versetzte ihm eine schallende Ohrfeige, und die Schreie des Mannes verstummten.

»Schlag ihn nicht tot«, mahnte Andrej absichtlich so laut, dass ihr Gefangener es hören musste. »Wenigstens noch nicht. Ich will mit ihm reden.«

Abu Dun machte ein enttäuschtes Gesicht, erhob sich aber gehorsam und wich einen Schritt zurück, und Andrej nahm seinen Platz ein. Auf dem Gesicht des Mannes machte sich vorsichtige Erleichterung breit, und er versuchte, sich aufzurichten. Andrej versetzte ihm einen Fußtritt, und er sank japsend vor Schmerz wieder zurück.

»Bleib liegen«, sagte er drohend. »Du wirst mir jetzt ein paar Fragen beantworten, hast du mich verstanden? Wenn ich mit deinen Antworten zufrieden bin, dann lassen wir dich vielleicht am Leben.«

Der Mann wimmerte nur und versuchte davonzukriechen, und Andrej versetzte ihm einen weiteren Fußtritt. »Ob du mich verstanden hast?«

»Ja, Herr«, japste der Mann. »Bitte, ich … sage Euch alles, was Ihr wissen wollt, aber bringt mich nicht um!«

»Wie ist dein Name?«, fragte Andrej. Als der Mann nicht sofort antwortete, holte er aus, als wollte er ihn noch einmal treten, und der Mann krümmte sich und hob furchtsam die Hände vor das Gesicht.

»Radic, Herr«, stammelte er. »Ich … ich bin Radic.«

»Radic, gut. Du lebst hier?«

»Ja«, antwortete Radic hastig. Sein Blick irrte immer wieder zwischen Andrejs Gesicht und seinem Fuß hin und her. Er wimmerte. Der plötzliche Gestank bewies Andrej, dass er sich vor Angst besudelt hatte.

»Wer waren die Leute, die ihr da verbrannt habt?«, fragte Andrej. »Und warum habt ihr das getan?«

»Zigeuner, Herr«, sagte Radic hastig. »Es waren Zigeuner. Aber sie waren auch Hexen. Hexen und Teufelsanbeter. Alle.«

»Alle?«, fragte Andrej. »Wie viele waren es denn?«

»Fünf, Herr«, sagte Radic. »Fünf und das Mädchen. Fünf haben wir verbrannt, und das Mädchen wäre die Letzte gewesen. Sie war die Schlimmste von allen. Sie hat den bösen Blick, und sie muss mit dem Teufel gebuhlt haben, weil…«

Andrej versetzte ihm einen Fußtritt, diesmal so hart, dass er spüren konnte, wie mehrere Rippen brachen. Radic kreischte vor Schmerz, und Abu Dun warf Andrej einen warnenden Blick zu.

»Hör auf zu wimmern, du Memme«, sagte Andrej kalt. »Was soll das heißen, sie waren mit dem Teufel im Bunde? Wer hat euch das gesagt?«

»Vater Carol«, antwortete Radic keuchend. »Unser Pater. Der, den Ihr erschlagen habt.«

»Ich hätte gute Lust, dasselbe mit dir zu tun«, zischte Andrej. »Und mit dem Rest von …«

»Wieso hat er gesagt, dass sie Hexen sind?«, mischte sich Abu Dun ein. Er bedachte Andrej mit einem tadelnden Blick, ehe er sich wieder an Radic wandte. »Welche Beweise hatte er dafür?«

»Jeder weiß, dass die Zigeuner schwarze Magie ausüben«, antwortete Radic. Trotz des Zitterns in seiner Stimme klang es fast trotzig. »Seit drei Jahren werden unsere Ernten immer schlechter. Im letzten Winter mussten wir schon hungern. Und jedes Mal waren die Zigeuner vorher bei uns.«

»Oh, und du meinst nicht, das könnte an den strengen Wintern oder den verregneten Sommern liegen?«, fragte Andrej böse. »Oder vielleicht daran, dass es kaum noch genug Männer im Dorf gibt, um die Arbeit auf den Feldern zu tun?«

Radic sah zu ihm hoch. Er verstand nicht einmal, wovon Andrej sprach.

»Und welche Beweise hatte euer Vater Carol für seine Anschuldigungen?«, fragte Abu Dun. »Ich meine, es gab doch sicherlich eine Gerichtsverhandlung?«

»Wir haben über sie Gericht gehalten«, bestätigte Radic. »Überall verbrennen sie Hexen. Die Kirche hat das Recht dazu, denn sie handelt im Namen Gottes.«

»Hoffentlich weiß euer Gott auch etwas davon«, sagte Abu Dun böse.

»Herr?«, fragte Radic verständnislos.

»Wie hast du das gemeint, sie wäre die Schlimmste von allen?«, fragte Andrej mit einer Geste auf das Mädchen.

»Sie hat sich verraten!«, antwortete Radic. »Gestern Abend, als sie ihre Kunststücke aufgeführt haben, da haben es alle gesehen! Sie war ungeschickt und hat sich mit dem Messer geschnitten. Eine wirklich schlimme Wunde. Aber heute Morgen war sie verschwunden! Das muss Teufelswerk sein!«

»Ich verstehe«, sagte Andrej finster. »Und deshalb habt ihr sie kurzerhand der Hexerei bezichtigt und auf den Scheiterhaufen geworfen. Ihr habt fünf Menschen bei lebendigem Leibe verbrannt, nur weil ihr Zeuge von etwas geworden seid, das ihr nicht versteht? Ich frage mich, wer hier vom Teufel besessen ist.«

»Gib es auf«, sagte Abu Dun. »Ich glaube nicht, dass er versteht, was du meinst. Soll ich ihn töten?«

»Nein«, antwortete Andrej. »Ich habe eine bessere Idee.«

Er ließ sich vor Radic in die Hocke sinken, hob das Schwert und fuhr sich mit der scharfen Klinge über den Handrücken. Radic ächzte, als er die klaffende Wunde sah, die der Stahl hinterlassen hatte. Und er ächzte noch einmal und lauter, als die Wunde schon nach einem Augenblick aufhörte zu bluten und sich wenige Sekunden später wie durch Zauberei wieder schloss.

»Wie du siehst, gibt es durchaus noch mehr Menschen mit denselben Kräften«, Andrej sah ihn scharf an. »Und ich kann dir versichern, dass das noch lange nicht alles ist.«

Radic starrte aus riesigen Augen auf Andrejs Hand. »Was … was seid Ihr?«, stammelte er.

»Ich bin nicht mit dem Teufel im Bunde, wenn du das meinst«, antwortete Andrej. »Ich bin etwas Schlimmeres. Etwas, das du dir nicht einmal vorstellen kannst. Ich werde dich nicht töten. Noch nicht. Aber eines Tages werde ich kommen, und dann wirst du Rechenschaft über dein Leben ablegen müssen. Du bist noch jung. Du hast noch Zeit, es wieder gutzumachen. Aber denke daran, ich bin kleinlich, und ich sehe alles. Und wenn du über uns oder das, was hier geschehen ist, auch nur mit einem Menschen sprichst, dann werde ich wiederkommen und deine Seele fressen. Hast du das verstanden?«

Radic nickte, und Andrej lächelte ihm zu und versetzte ihm einen Fausthieb vor die Schläfe, der ihn augenblicklich das Bewusstsein verlieren ließ. Dann stand er auf.

»Beeindruckend.« Abu Dun klatschte spöttisch in die Hände. »Überaus beeindruckend. Aber auch ziemlich dumm. Was sollte das?«

»Mir war danach«, sagte Andrej finster. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Ihm war danach gewesen, dem Kerl die Kehle aufzuschlitzen.

»Und du glaubst, du hättest ihn damit geläutert?«

»Wahrscheinlich nicht«, gestand Andrej. »Aber wenn sie das nächste Mal eine Hexe verbrennen, dann wird er nicht der Erste sein, der es gutheißt.«

»Wahrscheinlich wird er die Fackel halten«, grollte Abu Dun. Er schüttelte den Kopf. »Können wir jetzt gehen? Ich meine, bevor sie zurückkommen und uns einen Becher Wein und Kuchen zu unserem Plauderstündchen kredenzen.« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung des Mädchens. »Deine neue Freundin können wir ja mitnehmen.«

»Gleich«, murmelte Andrej. Er drehte sich langsam im Kreis. Ohne das brennende Kreuz auf dem Platz hätte das Dorf einen fast friedlichen Anblick geboten. Ein armes, aber sauberes Dorf, voller einfacher, aber arbeitsamer und ehrlicher Menschen, die ein gottesfürchtiges Leben führten und zur Kirche gingen, und die dann und wann zur Kurzweil ein paar Menschen verbrannten …

»Gleich«, sagte er noch einmal. »Gibst du mir eine von diesen Fackeln?«

2

Sie waren nach Westen geritten, hatten aber nicht an der Herberge Halt gemacht, in der Andrej eigentlich hatte übernachten wollen, sondern waren ein gutes Stück davor von der befestigten Straße abgewichen und in die dichten Wälder eingedrungen, die das Bild in diesem Teil des Landes bestimmten.

Andrej war noch niemals dort gewesen und wusste sehr wenig über diese Gegend, und so überließ er es Abu Duns Instinkt, den Weg für sie zu finden; eine Entscheidung, die sich als durchaus richtig herausstellte. Eine ganze Weile waren sie durch die nahezu vollkommene Dunkelheit der Wälder geritten, und gerade als Andrej angefangen hatte, sich zu fragen, ob er Abu Dun vielleicht doch überschätzt hatte, wurde es vor ihnen hell. Licht, das sich auf still daliegendem Wasser brach, schimmerte durch die Bäume. Wenige Augenblicke später standen sie am Ufer eines ruhigen Sees, der so groß war, dass sein jenseitiges Ufer mit der Nacht verschmolz.

»Ich glaube, hier sollten wir rasten«, sagte Abu Dun.

»Eine gute Wahl«, pflichtete ihm Andrej bei. »Wir haben Glück, dass wir diesen Platz gefunden haben.«

»Das hat nichts mit Glück zu tun.« Abu Dun machte ein verächtliches Geräusch. »Ich bin Nubier, Hexenmeister. Wir können Wasser wittern.«

»Das dachte ich mir«, antwortete Andrej. »Deshalb habe ich auch darauf verzichtet, mich in eine Fledermaus zu verwandeln und davonzufliegen, um mir ein gemütliches Plätzchen zu suchen.«

Er glitt aus dem Sattel, drehte sich einmal im Kreis, um die Umgebung abzusuchen – als hätte er etwas sehen können! Der Wald war selbst für seine übermenschlich scharfen Augen undurchdringlich – und sah dann nach Osten, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Der Himmel war auch dort pechschwarz. Jetzt. Sie hatten den Feuerschein der brennenden Kirche noch lange gesehen, länger eigentlich, als die zunehmende Entfernung es hätte möglich machen dürfen. Andrej nahm an, dass die Flammen auf die benachbarten Gebäude übergegriffen, vielleicht sogar das ganze Dorf verschlungen hatten. Bei diesem Gedanken empfand er nicht das geringste Bedauern.

Er wandte sich wieder zu seinem Pferd um und streckte die Arme aus, um dem Mädchen beim Absteigen zu helfen. Es hatte die ganze Zeit wortlos und wie erstarrt hinter ihm gesessen, und es reagierte auch jetzt nicht. Sein Blick war noch immer in eine schreckliche Leere gerichtet, und Andrej fragte sich, ob es jemals wieder daraus zurückfinden würde.

»Warte.« Abu Dun trat mit zwei schnellen Schritten neben ihn, hob das Mädchen ohne die geringste Anstrengung vom Pferd und setzte es behutsam zu Boden.

»Kümmere dich um sie«, sagte er grob. »Ich bereite das Lager.«

Andrej nickte dankbar. Abu Dun war nicht glücklich darüber, dass sie das Mädchen mitgenommen hatten, obwohl es genau genommen sein Vorschlag gewesen war. Natürlich hätten sie das Mädchen unmöglich zurücklassen können; das wäre sein sicheres Todesurteil gewesen. Dennoch war sie schon jetzt eine Last für sie, und falls die Dörfler Hilfe holen würden und sie schnell verschwinden müssten – was wahrscheinlich war –, dann würde sie mehr als nur eine Last sein.

»Komm mit!«, sagte er. »Die Zigeunerin reagierte immer noch nicht, und Andrej nahm sie bei der Hand und führte sie die wenigen Schritte zum Wasser hinunter. Sie folgte ihm willenlos. Wenigstens etwas.

Er setzte das Mädchen direkt am Wasser ab, ging zu seinem Pferd zurück und kramte ein halbwegs sauberes Tuch aus der Satteltasche. Nachdem er wieder zum See zurückgegangen war und es ins Wasser getaucht hatte, begann er vorsichtig, zuerst die Hände und dann das Gesicht der Zigeunerin vom gröbsten Schmutz zu reinigen. Darunter kam ein Mädchen zum Vorschein, das in wenigen Jahren durchaus zu einer Schönheit heranwachsen konnte.

Andrej spürte, wie sich ein schon fast vergessen geglaubtes Gefühl in ihm regte. Wie lange war es her, dass er keine Frau mehr gehabt hatte? Monate?

Zehn Jahre, dachte er bitter. Seit er Maria verloren hatte.

Natürlich hatte er seither Frauen gehabt. Dutzende, vermutlich Hunderte. Aber das war nicht dasselbe. Andrej war ein körperlich junger Mann in den besten Jahren. Er suchte Frauen für eine Nacht oder die kurze Zeit, die sie das unstete Leben an einem Ort bleiben ließ. Es waren Frauen, die aus einer Laune heraus oder nach einem Becher Wein zu viel das Lager mit ihm teilten; oft genug auch für Geld.

Dieses Mädchen war etwas anderes. Sie war wie er. Ein Wesen von seiner Art. Das Blut, das in ihren Adern floss, war dasselbe wie seines.

Und sie war jung genug, um seine Tochter sein zu können, wenn nicht gar seine Enkelin.

Andrej verscheuchte seine Gedanken und konzentrierte sich wieder darauf, ihr Gesicht zu reinigen. Was er sah, gefiel ihm nicht. Die Prellungen und Brandblasen hatten bereits zu heilen begonnen, aber längst nicht in dem Ausmaß, in dem sie hätten heilen müssen. Außerdem fühlte er, dass sie Fieber hatte. Hohes Fieber.

Er tauchte das Tuch noch zweimal ins Wasser, bis er mit dem Ergebnis seiner Bemühungen so zufrieden war, wie er es unter den gegebenen Umständen sein konnte, und warf das Stück Stoff anschließend fort. Er hatte das Gefühl, dass es besudelt war; als hafte etwas von dem, was man diesem Kind angetan hatte, nun an dem Blut und Schmutz, die das Tuch aufgenommen hatte.

Langsam hob er die Hand, zögerte noch einmal und legte sie dann auf die Stirn des Mädchens. Sie war heiß, und er konnte spüren, wie schnell ihr Puls ging.

Andrej schloss die Augen. Wenn er ihr doch nur helfen könnte! Wie viele Leben hatte er genommen, auf genau diese Art, nur durch eine Berührung mit der Hand? Warum war es so leicht, etwas zu nehmen, und so unmöglich, auf die gleiche Weise zu geben?

Nach einer Weile zog er die Hand wieder zurück und hob die Lider. Der Blick des Mädchens war noch immer leer. Es hatte mit den Lippen zu zittern begonnen, aber in seinen Augen stand weiterhin das Entsetzen.

»Glaubst du, dass sie sich jemals wieder erholt?«

Andrej schrak leicht zusammen und sah über die Schulter hoch. Er hatte nicht gehört, dass Abu Dun hinter ihn getreten war, aber das überraschte ihn nicht. Trotz seiner Größe und Massigkeit vermochte sich der ehemalige Pirat so lautlos zu bewegen wie eine Katze.

»Ich weiß es nicht«, sagte Andrej ehrlich. »Ich weiß nicht, was sie ihr angetan haben.«

»Ich dachte immer, außer einem Stich ins Herz oder Feuer kann euch nichts umbringen«, sagte Abu Dun. Er grinste, aber Andrej spürte auch, dass diese Worte bitterernst gemeint waren.

»Das dachte ich bisher auch.« Andrej betrachtete besorgt das Gesicht der jungen Zigeunerin, und Abu Dun sagte:

»Hätten ihre Wunden nicht längst heilen müssen?«

»Sie ist noch sehr jung«, antwortete Andrej ausweichend. »Vielleicht ist sie noch nicht lange …«

»So wie du?« Abu Dun war immerhin rücksichtsvoll genug, das Wort Vampyr nicht zu benutzen. »Hast du vergessen, was Radic erzählt hat? Gestern Abend hat sie sich geschnitten, und die Wunde war am Morgen verheilt.«

»Vielleicht ist sie morgen wieder gesund«, antwortete Andrej. Allerdings fehlte seiner Stimme jegliche Überzeugungskraft.

»Ich kann kein Feuer machen«, sagte Abu Dun. »Aber wir haben noch etwas kaltes Fleisch. Bist du hungrig?«

»Nein«, antwortete Andrej. »Aber vielleicht möchte sie etwas essen.« Er wandte sich an das Mädchen. »Hast du Hunger?«

Wie erwartet gab es keine sichtbare Reaktion. Aber Andrej glaubte, ein schwaches Flackern in ihrem Blick zu bemerken. Wie ein winziger, fast schon im Ersterben begriffener Funke in der erkaltenden Asche eines Feuers.

»Wahrscheinlich braucht sie einfach nur Ruhe«, antwortete Andrej. »Schlaf ist manchmal die beste Medizin.«

»Ich könnte auch etwas von dieser Medizin gebrauchen«, sagte Abu Dun. »Aber vorher sollten wir uns unterhalten.«

Das hatte Andrej befürchtet. Er wollte nichts weniger, als dieses Gespräch führen, aber er kannte Abu Dun zur Genüge. Er würde ihm nicht entgehen, nur weil er das Gespräch hinauszögerte.

Indem er so tat, als müsse er sich davon überzeugen, dass mit der Zigeunerin auch wirklich alles in Ordnung war, gewann er noch einige Augenblicke. Dann stand er auf und folgte Abu Dun.

Sie entfernten sich ein paar Schritte – als ob es nötig gewesen wäre, außer Hörweite des Mädchens zu gelangen. Andrej war sehr sicher, dass sie nichts von dem sah oder hörte, was um sie herum geschah.

»Und?«, fragte er, als Abu Dun stehen blieb.

»Was – und? Diese Frage wollte ich dir gerade stellen«, sagte Abu Dun. »Was denkst du, sollen wir jetzt tun? Dir ist klar, dass sie spätestens nach Tagesanbruch anfangen werden, nach uns zu suchen, oder?«

»Hast du vergessen, wessen Idee es war, die Hexenverbrennung zu stören?«

»Ich hatte dabei nicht im Sinn, wie der Leibhaftige aufzutreten und möglichst allen zu beweisen, dass ihr Aberglaube vielleicht nicht ganz so unbegründet ist. Und ich hatte auch nicht vor, den ganzen Ort niederzubrennen. Um ganz ehrlich zu sein, hatte ich etwas Zurückhaltenderes vor.«

»Ich weiß«, sagte Andrej. »Gut, du hast Recht. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe die Beherrschung verloren. Sobald ich eine passende Rute gefunden habe, werde ich mich ein bisschen kasteien.«

»Darf ich das übernehmen?«, fragte Abu Dun grinsend. Dann wurde er sofort wieder ernst. »Du hast sie nie vergessen, nicht wahr?«

»Maria?« Andrej schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Ich weiß nicht, ob ich dich verstehen kann«, sagte Abu Dun leise. »Ich habe niemals erfahren, was es heißt, jemanden zu lieben. Aber wenn ich mir dich ansehe, dann bin ich froh darüber.«

»Du weißt nicht, was du redest«, erwiderte Andrej.

»Ich weiß, dass du besessen bist«, sagte Abu Dun. »Wie lange ziehen wir jetzt schon durch die Welt und suchen nach ihr? Zehn Jahre? Wie oft hast du geglaubt, sie gefunden zu haben? Zehnmal? Hundertmal? Und wie oft hast du dich selbst gequält, wenn du zugeben musstest, dass sie es doch nicht war? Heute Abend hättest du uns beide fast umgebracht, nur weil du geglaubt hast, dieses Mädchen wäre Maria.«

»Niemand zwingt dich, bei mir zu bleiben«, antwortete Andrej spröde. »Du kannst gehen.«

»Wie einfach!« Abu Dun wurde böse. »Aber das wäre feige, und Abu Dun ist kein Feigling, der einen Freund im Stich lässt, wenn dieser ihn am meisten braucht.«

Andrej wollte auffahren, aber sein Zorn war nicht stark genug, weil er aus dem Verstand kam, nicht aus dem Gefühl. Statt den Piraten anzubrüllen, flüsterte er leise: »Du hast Recht, Abu Dun. Du weißt nicht, was es heißt, einen Menschen zu lieben.«

Für endlose Augenblicke standen sie einfach schweigend da und starrten einander an, und schließlich drehte sich Abu Dun um und ging davon. Auch Andrej blieb nur noch einen Moment stehen, ehe er zum Waldrand zurückging und sich gegen einen Baum lehnte. Er schloss die Augen. Für Abu Dun oder jeden anderen zufälligen Beobachter musste es so aussehen, als ob er schlafe, aber hinter seiner Stirn jagten sich die Gedanken immer schneller.

Abu Duns Worte hatten ihn mehr aufgewühlt, als er zugeben wollte, und seine Gedanken kehrten gegen seinen Willen zu jener schrecklichen Nacht vor zehn Jahren zurück. Er wehrte sich mit aller Macht gegen die Bilder, die in seinem Geist Gestalt annehmen wollten, aber es war ein Kampf ohne Aussicht auf Erfolg. Es hatte in den letzten zehn Jahren kaum einen Tag gegeben, an dem er sich nicht an die entsetzlichen Minuten erinnert hatte. Die Bilder hatten sich unauslöschlich und für alle Zeiten in sein Bewusstsein eingebrannt.

Sie hatten Draculs Burg verlassen und waren zum Waldrand geeilt, wo Maria auf sie warten wollte. Aber Maria war nicht da gewesen. Stundenlang war Andrej durch den Wald geirrt, hatte ihren Namen gerufen und sich an die immer verzweifelter werdende Hoffnung geklammert, dass sie vielleicht am falschen Ort gesucht hatten, dass Maria sich in der Dunkelheit vielleicht verirrt haben könnte …

Was wirklich passiert war, hatten das erste Licht des neuen Tages und Abu Duns Talent als Fährtensucher offenbart. Sie hatten Spuren gefunden, die eine eindeutige Geschichte erzählten. Maria war am vereinbarten Treffpunkt gewesen, aber jemand war gekommen und hatte sie gewaltsam entführt. Tagelang waren sie diesen Spuren gefolgt, bis sie sich schließlich verloren hatten.

Und das war für zehn Jahre das letzte Lebenszeichen von Maria gewesen. Sie waren kreuz und quer durch das Land gezogen, und es war ganz genau so gewesen, wie Abu Dun gerade behauptet hatte: Er hatte ein Dutzend Mal geglaubt, sie gefunden zu haben, und die Erkenntnis, dass es nicht Maria war, war jedes Mal eine größere Enttäuschung gewesen als zuvor. Vielleicht hatte Abu Dun Recht, und sie war längst tot oder lebte jetzt in einem weit entfernten Land und hatte vergessen, dass es ihn gab, und ganz bestimmt hatte er Recht, wenn er sagte, dass er sich nur selbst quälte. Aber er konnte sie einfach nicht vergessen. Vielleicht gab es in seinem Leben nur Platz für diese eine Liebe, und möglicherweise …

Neben ihm ertönte ein Stöhnen, gefolgt von einem halb erstickten Schluchzen. Andrej fuhr zusammen und sprang in die Höhe.

Die Zigeunerin war aus ihrer Starre erwacht. Sie war auf die Seite gesunken und hatte sich zusammengerollt wie ein schlafendes Baby, aber sie zitterte am ganzen Leib und schluchzte ununterbrochen, und als Andrej bei ihr ankam und die Hand nach ihr ausstreckte, schrie sie auf und schlug nach ihm.

Andrej fing ihren Schlag ab und hielt ihre Hand fest, aber sehr vorsichtig, um ihr nicht wehzutun. Sie schlug auch mit der anderen Hand nach ihm und traf ihn zweimal hart im Gesicht, bevor es ihm gelang, auch ihr zweites Handgelenk zu packen und festzuhalten. Im nächsten Moment rammte sie ihm das Knie mit solcher Wucht in den Unterleib, dass ihm die Luft wegblieb.

Andrej ächzte, drehte sich halb auf die Seite, um einem weiteren harten Tritt zu entgehen, und presste die Zigeunerin mit seinem ganzen Körpergewicht zu Boden. Er war ungleich stärker als sie, und dennoch kostete es ihn seine ganze Kraft, sie auch nur halbwegs im Zaum zu halten.

»Hör doch auf!«, schrie er. »So beruhige dich doch! Wir wollen dir nichts tun!«

Als Antwort riss sie ihre linke Hand los und versuchte, ihm die Augen auszukratzen. Andrej drehte hastig den Kopf zur Seite, sodass sie ihm nur die Wange zerschrammte. Wütend packte er ihr Handgelenk und hielt es diesmal mit deutlich größerer Kraft fest. Die Zigeunerin bäumte sich so überraschend und mit solcher Kraft auf, dass er beinahe umgeworfen worden wäre. Andrej fluchte, presste ihre Hände und Schultern auf den Boden und benutzte sein Knie, um ihre strampelnden Beine zu blockieren. Sie hob den Kopf und versuchte, ihn zu beißen, und Andrej drehte hastig das Gesicht weg, bevor er ein Ohr einbüßte.

Hinter ihm lachte Abu Dun leise. »Braucht Ihr Hilfe, Sahib?«, fragte er spöttisch.

Andrej schluckte einen Fluch hinunter, bugsierte sich in eine Position, in der er das zappelnde Bündel unter sich zuverlässig festhalten konnte, ohne dabei ein Auge, ein Ohr oder irgendwelche anderen Körperteile zu verletzen, und pressteihre Hände mit noch größerer Kraft gegen den Boden.

Die Zigeunerin tobte noch einige Sekunden weiter, dann erschlaffte sie plötzlich, als hätte der jähe Ausbruch von Gewalt all ihre Energie aufgezehrt. Im ersten Moment befürchtete Andrej schon, sie könne wieder in jenen Zustand dumpfen Brütens zurückfallen, in dem sie bisher gewesen war, aber ihr Blick blieb klar. Und auch die Angst war noch immer in ihren Augen.

»Hast du dich jetzt beruhigt?«, fragte er. »Du brauchst keine Angst zu haben. Wir sind deine Freunde.«

»Du … du tust mir weh«, antwortete das Mädchen.

»Wenn du mir versprichst, nicht wieder auf mich loszugehen, dann lasse ich dich los«, antwortete Andrej. »Einverstanden?«

Die Zigeunerin zögerte für sein Empfinden eine Winzigkeit zu lange, bevor sie endlich nickte. Dann aber tat sie es, und Andrej ließ vorsichtig ihre Hände los und stand auf. Sofort richtete sie sich in eine sitzende Position auf, sah sich hastig nach allen Seiten um und rutschte dann weit genug zurück, um sich an einen Baum lehnen zu können. Sie zog angstvoll die Knie an den Körper und schlang die Arme um den Leib. Vielleicht glaubte sie ihm ja, dachte Andrej, aber das änderte nichts daran, dass sie noch immer halb von Sinnen vor Furcht war. Erneut ergriff ihn ein kalter Zorn auf die Menschen, die ihr das angetan hatten, aus keinem anderen Grund als dem, dass sie etwas verkörperte, was sie nicht verstanden.

»Wie ist dein Name, Kind?«, fragte er.

»Alessa«, antwortete die Zigeunerin.

»Alessa. Ein hübscher Name. Ich bin Andrej, und das da ist Abu Dun.« Er lächelte flüchtig, als Alessa in Abu Duns Richtung sah und bei seinem Anblick erneut zusammenzuckte. »Keine Angst. Er sieht nur bedrohlich aus. Dir wird er nichts tun. Wir sind deine Freunde.«

Alessas Blick wanderte unsicher von einem zum anderen. Sie hatte immer noch Angst. Vielleicht würde sie den Rest ihres Lebens in Angst verbringen. Und ihr Anblick gefiel ihm auch in anderer Hinsicht nicht. Sie sah nicht gut aus. Weit über die Spuren der Verletzungen hinaus, die man ihr zugefügt hatte, wirkte sie … krank. Und das war eigentlich unmöglich. Wesen wie sie wurden nicht krank. Niemals.

»Sag es ihr«, verlangte Abu Dun auf Arabisch, seiner Muttersprache, die Andrej in den letzten Jahren von ihm gelernt hatte. »Sag ihr, was passiert ist.«

»Hältst du das für klug?«, erwiderte Andrej in derselben Sprache.

»Hältst du es für klug, sie zu belügen und ihr in ein paar Tagen zu erzählen, dass ihre ganze Familie umgebracht worden ist?«, fragte Abu Dun.

»Erinnerst du dich, was passiert ist?«, fragte er leise und wieder direkt an Alessa gewandt.

Im ersten Moment reagierte sie gar nicht, sondern starrte ihn nur aus Augen an, die noch dunkler geworden zu sein schienen. Dann nickte sie ganz sacht.

»Sie sind alle tot, nicht wahr? Sie haben sie alle umgebracht. Sag es. Du brauchst mich nicht zu schonen.«

»Du hast es doch nicht etwa mit ansehen müssen?«, fragte Andrej entsetzt.

Alessa verneinte. »Ich habe ihre Schreie gehört«, sagte sie. »Und irgendwie … konnte ich fühlen, wie sie starben. Mich haben sie sich bis zum Schluss aufgehoben. Wenn Ihr nicht gekommen wärt, dann hätten sie mich auch getötet.« Ihre Stimme wurde bitter. »Ich weiß nicht, ob ich Euch danken soll. Vielleicht wäre ich besser tot.«

»Unsinn!«, sagte Andrej. »Du bist noch jung. Du hast dein Leben noch vor dir. Der Schmerz wird vergehen.«

Er kam näher, blieb aber nach ein paar Schritten wieder stehen, als Alessa mit neu erwachender Furcht zu ihm hochsah. »Aber jetzt erzähl uns, was geschehen ist«, bat er.

Sie blickte stumm zu Abu Dun. Andrej konnte sie sogar verstehen. Auf jeden, der Abu Dun nicht kannte, machte der Nubier einen beeindruckenden und oft genug Furcht einflößenden Eindruck. An die zwei Meter groß, massig gebaut, mit seiner ebenholzfarbenen Haut und stets ganz in Schwarz gekleidet, kam er vielen vermutlich wie der Leibhaftige vor. Als Andrej ihn kennen gelernt hatte, da war diese Einschätzung nicht einmal vollkommen falsch gewesen. Aber das war lange her. Abu Dun war noch immer ein gefährlicher Mann – vor allem für seine Feinde – aber er hatte sich geändert: Er betrachtete nicht mehr jeden als Feind, der nicht sein Freund war.

»Warum haben sie euch das angetan?«, fragte nun auch er.

»Sie haben behauptet, wir wären Hexen«, antwortete Alessa zögernd. »Zuerst … zuerst haben sie uns in ihrem Dorf willkommen geheißen und uns sogar gestattet, unsere Zelte am Stadtrand aufzuschlagen. Aber dann … dann fingen sie an zu reden. Mit Fingern auf uns zu zeigen und zu tuscheln. Der Pfaffe war der Schlimmste. Du hast ihn erschlagen, nicht wahr?«

Andrej nickte. Er war überrascht, dass Alessa es überhaupt bemerkt hatte.

»Wir haben uns nichts dabei gedacht«, fuhr Alessa fort. »Die Leute sind immer so, überall wo wir hinkommen. Zuerst treiben sie Handel mit uns und lassen uns Kunststücke vorführen, dann fangen sie an zu reden, und am Ende jagen sie uns davon.« Sie lachte bitter. »Weißt du, woher das Wort kommt, mit dem sie uns bezeichnen? Zigeuner?«

Andrej schüttelte wahrheitsgemäß den Kopf, und auch Abu Dun hob nur die Schultern.

»Aus dem Deutschen«, sagte Alessa. »Es heißt so viel wie ziehende Gauner. Und mehr sind wir auch nicht für sie.«

Andrej sah ihr deutlich an, wie Bitterkeit und die Erinnerung an das Geschehene sie zu überwältigen drohten, und um sie abzulenken, fragte er hastig: »Kommt ihr von dort? Aus dem Deutschen?«

Alessa nickte. »Wir waren dort«, sagte sie. Sie schluckte einige Male, um die Tränen niederzukämpfen. »Den ganzen vergangenen Winter über. Auch da haben sie mit Fingern auf uns gezeigt und uns davongejagt. Aber sie haben uns wenigstens nicht verbrannt.«

»Und warum hier?«, wollte Abu Dun wissen. »Was ist vorgefallen?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Alessa. »Gestern Abend haben sie uns plötzlich gefangen genommen und uns den Prozess gemacht.«

Andrej tauschte einen fragenden Blick mit Abu Dun. Warum log sie?

»Einfach so?«, fragte er. »Ohne besonderen Grund?«

»Der Pfaffe hat einige Dorfbewohner zum Schloss geschickt, und zwei Soldaten sind zu uns gekommen«, sagte Alessa – womit sie seine Frage ganz eindeutig nicht beantwortete. »Ihr habt die beiden gesehen.«

»Zum Schloss?« Abu Dun klang alarmiert. »Wo liegt dieses Schloss?«

»Nicht weit von hier.« Alessa machte eine Geste. »Auf der anderen Seite des Sees. Wäre es hell, könnten wir es von hier aus sehen.«

»Oh«, machte Andrej.

»Sind dort noch mehr Soldaten?«, fragte Abu Dun.

»Ich weiß nicht«, antwortete Alessa. »Wir waren nicht dort. Aber ich glaube schon.«

»Weiter«, sagte Andrej rasch. »Sie haben euch also den Prozess gemacht. Unter welcher Anklage?«

Alessa schwieg. Ihr Blick verriet, wie sehr es hinter ihrer Stirn arbeitete.

»Du traust uns immer noch nicht«, stellte er fest.

»Doch! Das ist es nicht, aber …«

»Das kann ich verstehen«, fuhr Andrej mit einem Nicken fort. »Ich an deiner Stelle würde nicht anders reagieren, glaube ich. Aber ich habe etwas, um dich zu überzeugen.«

Er zog seinen Dolch. Die Augen der Zigeunerin weiteten sich erschrocken. Statt ihr etwas anzutun, nahm Andrej das Messer jedoch in die linke Hand und zog die Klinge mit einer kraftvollen Bewegung über seinen Unterarm. Alessa keuchte und schlug erschrocken die Hand vor den Mund. Dann wurden ihre Augen noch größer, als sie sah, wie sich die Wunde binnen weniger Herzschläge wieder schloss. Für einen Moment war noch eine dünne, weiße Narbe zu sehen, doch auch diese verschwand.

Andrej steckte den Dolch ein und wischte sich das Blut vom Unterarm.

»Aber … aber das …«, stammelte Alessa. Sie starrte ihn an, dann bekreuzigte sie sich.

»Du siehst, ich kenne dein Geheimnis«, sagte Andrej. »Ich kenne es sehr gut. Ich bin wie du.«

»Dann … dann bin ich nicht die Einzige?«, murmelte Alessa. »Es gibt noch mehr Menschen wie mich?«

»Nicht sehr viele«, antwortete Andrej. Alessas Blick irrte zu Abu Dun, und Andrej schüttelte rasch den Kopf.

»Er gehört nicht dazu. Nur ich. Ich habe einige andere getroffen, aber nur wenige.« Und die meisten hatte er getötet. »Du bist nicht allein, Alessa.«

»Soll das heißen, du bist noch nie einem anderen Vam …«, begann Abu Dun, stockte und verbesserte sich: »… einem anderen Menschen wie dir begegnet?«

Alessa sah unsicher zu ihm hoch. Andrej war sicher, dass ihr das halbe Wort, dass Abu Dun um ein Haar ausgesprochen hätte, keineswegs fremd war.

»Ich … ich bin noch nicht … noch nicht lange … so«, sagte sie stockend.

Nun war Andrej an der Reihe, überrascht zu sein. Und alarmiert. »Was soll das heißen, du bist noch nicht lange so?«

Das Mädchen hob die Schultern. Ihr Blick verharrte für einen Moment auf Andrejs nun wieder unversehrtem Unterarm, als wären die Antworten auf alle Fragen dort zu lesen.

»Erst seit dem letzten Frühjahr«, sagte sie. »Ich war krank. Viele von uns sind krank geworden. Fast die Hälfte unserer Familie hat den Winter nicht überlebt, und auch ich habe eine Woche mit schwerem Fieber gelegen. Ich wäre fast gestorben. Aber nachdem ich wieder gesund war, da … da war ich so. Es hat mir große Angst gemacht.«

»Und die anderen aus deiner Familie?«

»Ich war die Einzige, die das Fieber überlebt hat«, antwortete Alessa. »Niemand weiß …« Sie brach ab, starrte einen Moment an Andrej vorbei ins Leere und verbesserte sich dann: »… wusste davon. Nur meine Mutter und Anka, die Puuri Dan unserer Sippe.«

Andrej blickte sie fragend an.

»Unsere heilige Frau. Jede Sintifamilie hat eine Puuri Dan. Die Alten bewahren das Wissen.«

Andrej musste sich beherrschen, um das Mädchen nicht mit Fragen zu überschütten. Plötzlich war er sehr aufgeregt. Wissen! Was hätte er darum gegeben, endlich zu erfahren, wer er war, was er war, und vor allem, wie er dazu geworden war. Aber er zügelte seine Neugier und sagte nur: »Rede weiter, Kind.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, sagte Alessa. »Sie waren sehr erschrocken. Anka hat mir eingeschärft, mit niemandem zu reden und mein Geheimnis für mich zu behalten, und das habe ich getan. Ich war sehr vorsichtig. Niemand hat etwas bemerkt. Aber gestern Abend …« Sie begann zu weinen. »Es war meine Schuld. Wenn ich mich nicht mit dem Messer geschnitten hätte, dann wären die anderen jetzt noch am Leben.«

Andrej legte ihr mitfühlend die Hand auf die Schulter. Ihr Herz klopfte wie rasend, und er konnte selbst durch den Stoff ihres Kleides hindurch spüren, dass ihre Haut glühte. Ihr Fieber musste noch gestiegen sein.

»Mach dir keine Vorwürfe«, sagte er. »Früher oder später musste es passieren. Es ist nicht deine Schuld.«