Die Chronik der Unsterblichen - Der Untergang - Wolfgang Hohlbein - E-Book

Die Chronik der Unsterblichen - Der Untergang E-Book

Wolfgang Hohlbein

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Beschreibung

Band 4 der spektakulären Vampir-Serie vom Fantasy-Bestseller-Autor Wolfgang Hohlbein!

Ein Jahr ist seit ihrem verzweifelten Kampf gegen die Werwölfe in Trentklamm bereits vergangen. Doch noch immer sind der Schwertmeister Andrej und sein Gefährte Abu Dun auf der Suche nach Puuri Dan, der weisen Zigeunerin, die angeblich mehr über die Herkunft der blutsaugenden Unsterblichen wissen soll. Während ihrer Reise geraten sie in einen gefährlichen Hinterhalt: Vier Kinder mit sonderbaren Kräften greifen die beiden an. Als Andrej und Abu Dun ihr Bewusstsein wiedererlangen, finden sie sich in einem Zigeunerlager wieder. Eine der Frauen gibt sich als Puuri Dan zu erkennen und alles scheint sich endlich zum Guten zu wenden. Doch der Schein trügt ...

Wolfgang Hohlbeins erfolgreicher Fantasy-Zyklus "Die Chronik der Unsterblichen" als eBook bei beBEYOND. Die weiteren Folgen:

Band 1: Am Abgrund

Band 2: Der Vampyr

Band 3: Der Todesstoß

Band 5: Die Wiederkehr

Band 6: Die Blutgräfin

Band 7: Der Gejagte

Band 8: Die Verfluchten

Band 8,5: Blutkrieg

Band 9: Das Dämonenschiff

Band 10: Göttersterben

eBooks von beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen.

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Seitenzahl: 576

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Inhalt

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Über das Buch

Band 4 der spektakulären Vampir-Serie vom Fantasy-Bestseller-Autor Wolfgang Hohlbein! Ein Jahr ist seit ihrem verzweifelten Kampf gegen die Werwölfe in Trentklamm bereits vergangen. Doch noch immer sind der Schwertmeister Andrej und sein Gefährte Abu Dun auf der Suche nach Puuri Dan, der weisen Zigeunerin, die angeblich mehr über die Herkunft der blutsaugenden Unsterblichen wissen soll. Während ihrer Reise geraten sie in einen gefährlichen Hinterhalt: Vier Kinder mit sonderbaren Kräften greifen die beiden an. Als Andrej und Abu Dun ihr Bewusstsein wiedererlangen, finden sie sich in einem Zigeunerlager wieder. Eine der Frauen gibt sich als Puuri Dan zu erkennen und alles scheint sich endlich zum Guten zu wenden. Doch der Schein trügt …

Über den Autor

Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, lebt mit seiner Frau Heike und seinen Kindern am Niederrhein, umgeben von einer Schar Katzen und Hunde. Er ist einer der erfolgreichsten deutschen Autoren der Gegenwart. Seine Werke wurden in 47 Sprachen übersetzt und mit über zwanzig nationalen und ungezählten internationalen Preisen ausgezeichnet. Weitere Informationen unter: www.hohlbein.de.

WOLFGANG HOHLBEIN

DER UNTERGANG

beBEYOND

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe

© 2002 by LYX.digital, Köln

Für diese Ausgabe

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat/Redaktion: Dieter Winkler

Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven © thinkstock: Betty4240 | Colin_Hunter | Denja1; © shutterstock: Dm_Cherry

Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-5904-6

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

1

Alessa stand im Wasser des Flusses, das an dieser Stelletief genug war, um ihr bis an die Kniekehlen zu reichen, und reißend genug, um kleine, schaumige Wirbel hinter ihren Beinen zu bilden. Sie hatte sich weit nach vorne gebeugt, damit sie sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht schöpfen konnte.

Ihre Haltung erfüllte Andrej mit leiser Sorge. Vermutlich war der Flussgrund mit glatt polierten Steinen bedeckt. Steine, auf denen ein einziger Fehltritt oder eine unbedachte Bewegung fast unweigerlich zu einem Sturz führen mussten. Das Wasser war nicht tief, weder dort, wo das Mädchen stand, noch weiter zur Mitte hin. Andrej konnte deutlich Steinformationen ausmachen, die in regelmäßigen Abständen aus dem Wasser ragten – offenbar eine von Menschenhand angelegte Furt, auf der man das Gewässer mit ein wenig Geschick trockenen Fußes überqueren konnte. Aber der Fluss besaß an dieser Stelle auch eine gefährliche Strömung, und Alessa war keine besonders gute Schwimmerin. Ich sollte hinunter gehen und sie warnen, dachte er, oder besser gleich …

»Andrej?« Abu Duns Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

Das Mädchen dort unten war nicht Alessa. Alessa war seit mehr als einem Jahr tot, und er sollte endlich aufhören, in jeder jungen Frau, die ihr auch nur entfernt ähnelte, die junge Unsterbliche zu sehen. Das Mädchen dort unten hatte nicht einmal Ähnlichkeit mit ihr. Es war deutlich jünger; ein Kind, das bald zur Frau werden würde. Es hatte glattes, bis auf die Schultern fallendes, rabenschwarzes Haar, während Alessa …

Andrej runzelte die Stirn. Er versuchte, sich an die Farbe von Alessas Teint zu erinnern, aber es gelang ihm nicht. Ebenso wenig, wie er sich an ihr Gesicht erinnern konnte.

»Andrej, was treibst du da? Seit wann findest du Gefallen daran, dich im Gebüsch zu verstecken, um nackten Bauernmädchen beim Baden zuzusehen?«

»Sie ist nicht nackt!«, antwortete Andrej. Nach einem Moment fügte er seufzend hinzu: »Und nenn mich nicht Andrej!«

Abu Duns ebenholzfarbenes Gesicht verzog sich zu einem spöttischen Grinsen. »Ganz wie Ihr befehlt, Herr. Oder wäre Euch Sahib lieber?« Für einen Moment wurde sein Grinsen noch breiter, dann trat er an Andrejs Seite und sah mit gespielter Konzentration zum Fluss hin. »Ihr habt Recht, oh allergnädigster Herr und Meister. Sie ist nicht nackt.«

»Andreas«, sagte Andrej, ohne auf Abu Duns Worte einzugehen. »Wir hatten uns doch geeinigt, dass ich ab sofort Andreas heiße.«

»Ganz wie Ihr befehlt, oh Bewunderungswürdiger.« Abu Dun neigte demutsvoll das Haupt und tat so, als griffe er nach Andrejs Hand, um sie zu küssen. »Und wie habt Ihr in Eurer unermesslichen Weisheit beschlossen, mich in Zukunft zu nennen, oh Herr? Marianne vielleicht? Oder Theresa?«

»Auf jeden Fall werde ich nur respektvoll von dir sprechen«, erwiderte Andrej. »Du weißt doch: Man spricht nicht schlecht über Tote.«

Abu Dun feixte unbeeindruckt weiter, und Andrej ermahnte sich, das sinnlose Spiel nicht fortzuführen. Er konnte dabei nur verlieren.

Es war mehr als einen Monat her, dass er sich entschieden hatte, nicht mehr seinen ursprünglichen Namen zu benutzen, sondern die hier zu Lande gebräuchliche Form. Fremde erweckten in diesen Zeiten, die denkbar schlecht waren, deutlich mehr Misstrauen als Neugier. Und fremden Kämpfern, die aus dem Osten kamen – der Richtung, aus der sich der Krieg in das Land hineinfraß – wurde erst recht mit Argwohn begegnet. So war Andrej aus der Rolle des Kriegers, der durch das Land zog, in die des fahrenden Händlers und Kaufmanns geschlüpft; eine Verkleidung, die ebenso einfach wie unerwartet erfolgreich gewesen war. Was Abu Dun aber nicht daran hinderte, ihn deswegen zu verspotten.

»Wir sollten das Mädchen fragen«, sagte Andrej. »Vielleicht hat es was von den Zigeunern gehört. Sie müssen hier irgendwo sein!«

Ein ganzes Jahr suchten sie jetzt schon nach der Sinti-Sippe, von der Alessa erzählt hatte, ohne ihr bisher auch nur nahe gekommen zu sein. Sie hatten fast ein Dutzend Zigeunerfamilien gefunden, aber in keiner von ihnen lebte die Puuri Dan, die Alessa erwähnt hatte. Vielleicht jagten sie einem Phantom hinterher. Und manchmal fragte sich Andrej gar, ob es Alessa je gegeben hatte.

»Und warum?«, unterbrach Abu Dun seine Gedanken. »Wieso müssen sie in der Nähe sein, Andreas?« Er sprach den Namen wie Andreasch aus, zweifellos um ihn zu ärgern. »Allein, weil Ihr es so wünscht, oh Allererleuchtetster?«

Andrej schwieg dazu. Er hätte die Frage ohnehin nicht beantworten können. Jedenfalls nicht, ohne eingestehen zu müssen, dass Abu Dun Recht hatte. Stattdessen warf er dem riesenhaften Nubier einen verärgerten Blick zu und begann, den steinigen Hang hinabzugehen, der den Waldrand vom eigentlichen Flussufer trennte. Als er aus dem Schatten der Bäume hervortrat, spürte er die Berührung des Sonnenlichtes wie das Streicheln einer zarten Hand auf dem Gesicht. Obwohl es bald dunkel werden würde, hatte die Sonne noch Kraft, und es würde wahrscheinlich lange dauern, bis die Temperaturen auch nur auf ein halbwegs erträgliches Maß sinken würden. Der Sommer war noch entfernt, doch die Tage wurden jetzt schon fast unerträglich heiß. Das Mädchen stand gewiss nicht nur dort unten im Wasser, um im Spiel herumzuplantschen.

Andrej hatte sich dem Fluss bis auf weniger als fünf Schritte genähert, als das Mädchen seine Anwesenheit bemerkte. Dessen Reaktion fiel jedoch anders aus, als Andrej erwartet hatte. Die meisten Menschen, auf die er und Abu Dun trafen, reagierten misstrauisch, wenn nicht erschrocken oder gar mit offener Feindseligkeit auf ein unbekanntes Gesicht. Gastfreundschaft wurde auch in diesem Land hochgehalten, aber, das hatten Abu Dun und er schmerzlich erfahren müssen, einem Fremden Obdach zu gewähren und ihm zu vertrauen, das war nicht dasselbe. So hatten sie es schon mehr als einmal vorgezogen, unter freiem Himmel zu nächtigen, statt in einem Haus, dessen Bewohner keinen Hehl daraus machten, dass sie die Gäste lieber gehen als kommen sahen.

Das schwarzhaarige Mädchen jedoch zeigte keine Furcht. Als es auf das Geräusch seiner Schritte aufmerksam wurde, fuhr es hoch und sah für einen kurzen Moment gleichermaßen verlegen wie ertappt aus. Dann jedoch erschien ein neugieriges Funkeln in seinen Augen und ein Lächeln auf seinem Gesicht, in dem Andrej vergeblich nach einer Spur von Scheu suchte.

»Oh!«, sagte es schließlich. »Ich habe Euch gar nicht kommen hören.«

Mehr noch als sein Aussehen, machte die Stimme des Mädchens Andrej klar, dass er tatsächlich noch ein Kind vor sich hatte. Elf, allerhöchstens aber zwölf Jahre alt, vermutlich sogar jünger. Sein Körper, der unter dem vollkommen durchnässten Kleid deutlich zu erkennen war, zeigte schon die ersten weiblichen Rundungen, aber sein Gesicht, und vor allem seine Stimme, gehörten eindeutig einem Kind.

Andrej wurde sich der Tatsache bewusst, dass er das Mädchen seit einer geraumen Weile anstarrte. Rasch räusperte er sich und knüpfte – wenn auch mit einiger Verspätung – an ihre Worte an. »Das habe ich bemerkt. Du solltest vorsichtiger sein.«

»Vorsichtiger?«

»Nicht alle Fremden, denen man begegnet, sind unbedingt vertrauenswürdig«, erklärte Andrej und zweifelte gleich darauf an seinem Geisteszustand. Gerade noch hatte er selbst bedauert, wie wenig Vertrauen unter den Menschen herrschte, und jetzt bediente er sich der Argumente derer, denen diese bitteren Gedanken galten.

Das Mädchen schüttelte aber auch jetzt nur den Kopf, und sein Lächeln wurde noch herzlicher. »Ihr seht nicht aus wie jemand, vor dem ich mich fürchten müsste. Und Euer großer Freund dort hinten auch nicht.«

Andrej wandte kurz den Blick und sah, dass Abu Dun mit einigem Abstand und sehr langsam herankam. Eigentlich, dachte er, sieht Abu Dun durchaus aus wie jemand, vor dem man sich fürchten sollte. Er trug zwar ebenso wenig wie Andrej eine Waffe – zumindest nicht sichtbar –, aber dank seiner riesigen, massigen Gestalt, seiner ganz in Schwarz gehaltenen Kleidung – und noch dazu mit einem riesigen Turban ausgestattet, der ihn noch gewaltiger erscheinen ließ – sah er alles andere als Vertrauen erweckend aus.

»Du hast natürlich Recht«, beeilte er sich zu sagen. »Wir sind einfach nur zwei müde Reisende, die auf der Suche nach einem Gasthof oder einem anderen Schlafplatz sind. Kannst du uns sagen, wo das nächste Dorf liegt?«

Das Mädchen machte eine vage Kopfbewegung zum anderen Flussufer. »Dort. Ist nicht sehr weit. Eine halbe Stunde zu Fuß. Viel weniger zu Pferde.«

Andrej blinzelte. »Woher weißt du, dass wir Pferde dabeihaben?«

»Ihr tragt Reithosen«, antwortete das Mädchen. »Und ich kann Eure Tiere riechen. Ihr Geruch haftet Euch noch an.«

Nun war Andrej wirklich überrascht. Er hatte sich in den zurückliegenden Jahren so sehr daran gewöhnt, über die scharfen Sinne eines Raubtiers zu verfügen, dass es ihm selbstverständlich erschien, riechen zu können, ob und wann jemand im Sattel gesessen hatte, was seine letzte Mahlzeit gewesen war, oder ob er in der vergangenen Nacht keusch gewesen war.Einem normalen Menschen war das allerdings nichtmöglich.

»Das stimmt«, gab er überrascht zu. »Unsere Pferde sind oben im Wald. Du hast … sehr scharfe Sinne.«

»Das sagt meine Mutter auch immer«, antwortete das Mädchen lachend, gleichzeitig schüttelte es so heftig den Kopf, dass seine nassen Haare gegen seine Schultern klatschten.

Und für einen unendlich kurzen Moment veränderte es sich. Für jene, weniger als einen Atemzug währende Spanne, in der Andrej sein Gesicht eingerahmt von wehendem nassem Haar und unzähligen, stiebenden Wassertröpfchen sah, die im Gegenlicht der untergehenden Sonne wie Rubinstaub leuchteten, war es nicht mehr das Gesicht eines Kindes. Auch nicht das einer Frau oder überhaupt eines Menschen. Die Züge des Mädchens hatten sich nicht wirklich verändert, und doch wirkten sie plötzlich … schärfer, härter, bösartiger … Wen hatte er da vor sich? Ein Ding, das vorgab, ein Mensch zu sein?

Andrej blinzelte, und die Illusion verschwand so rasch wie sie gekommen war. Vor ihm stand ein elf- oder zwölfjähriges Mädchen, das sein Erschrecken bemerkt zu haben schien, denn es sah ihn mit verwirrtem Blick an, fuhr aber trotzdem fort: »Aber es stimmt nicht. Ich liebe Pferde und verbringe fast mehr Zeit im Stall als sonst wo. Deshalb kenne ich ihren Geruch so gut.«

»Das ist … sehr interessant«, murmelte Andrej. Es fiel ihm schwer, überhaupt zu sprechen, und er war auch nicht sicher, ob er die Worte des Mädchens richtig verstanden hatte. Sein Herz raste. Alles in ihm befand sich in Aufruhr. Er spürte, wie seine Finger zu zittern begannen, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Aus aufgerissenen Augen starrte er das Mädchen an. Er suchte nach etwas in ihrem Blick.

Nichts. Er hatte sich getäuscht. Seine Nerven hatten ihm einen bösen Streich gespielt, wie so oft in letzter Zeit. Dieses Kind war ein Kind, nichts anderes.

Dennoch schloss er für einen Moment die Augen und lauschte in sich hinein. Er tastete mit seinen geheimen Sinnen nach der Seele seines Gegenübers, jenen unsichtbaren und unheimlichen Kräften, die er selbst kaum besser verstand als Abu Dun oder die wenigen anderen Menschen, denen er sein Geheimnis jemals offenbart hatte; jenes Geheimnis, das für ihn Segen und Fluch zugleich war. Aber er fühlte nichts.

»Herr?«

Andrej öffnete die Augen, blinzelte ein paar Mal und zwang schließlich ein verunglücktes Lächeln auf seine Züge. »Es ist nichts«, beteuerte er. »Entschuldige, wenn ich dich erschreckt habe. Ich war in Gedanken. Du brauchst dich nicht zu fürchten.«

»Aber das tue ich nicht«, versicherte das Mädchen. Es schüttelte wieder den Kopf, diesmal aber, ohne dass sich seine Züge veränderten. »Mein Vater hat mir gezeigt, wie man sich verteidigt, wenn es sein muss.«

»Dann scheint mir dein Vater kein sehr kluger Mann zu sein«, sagte Abu Dun, der mittlerweile ganz herangekommen war und den letzten Teil des Gesprächs mit angehört hatte. Andrejs sonderbares Benehmen schien ihm ebenfalls nicht entgangen zu sein, denn er sah ihn mit einer Mischung aus Neugier und leiser Besorgnis an, fuhr aber dann, sich an das Mädchen wendend, fort: »Er hätte dir lieber beibringen sollen, wie man rechtzeitig wegläuft.«

»Weglaufen? Aber wozu? Wenn ich der Meinung gewesen wäre, dass Ihr mir Übles wollt, dann hätte ich Euch längst getötet.« Die Hand des Mädchens verschwand hinter seinem Rücken und kam mit einem kurzen, zweischneidig geschliffenen Dolch wieder zum Vorschein. »Ich habe eine Waffe. Hier, seht Ihr?«

Abu Duns Gesicht verdüsterte sich. »Ich muss mich korrigieren«, sagte er. »Dein Vater ist ein Dummkopf.«

»Das sagt meine Mutter auch manchmal«, kicherte das Mädchen. »Aber nur, wenn er es nicht hört.«

»Interessant«, murmelte Andrej. »Aber jetzt müssen wir weiter. Ich danke dir, dass du uns den Weg gewiesen hast.« Ruckartig drehte er sich um und machte dabei eine fast herrische Handbewegung in Abu Duns Richtung. »Komm!«

Der Nubier sah ihn verblüfft an, zuckte dann aber nur die Achseln und folgte ihm. Als sie einige Schritte gegangen waren fragte er: »Was ist los?«

»Nichts«, antwortete Andrej ausweichend. »Es ist nur …«

»Ihr Haar?«

»Dieses Mädchen«, gestand Andrej, »ist mir unheimlich. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr.«

Abu Dun sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein. »Ist sie …?«

»Nein, das nicht«, unterbrach ihn Andrej so scharf und erschrocken, als fürchte er, dass etwas Schreckliches geschehen müsste, wenn Abu Dun den Gedanken ausspräche, den er nicht einmal zu denken wagte. »Sie ist nur ein Mädchen. Und ich mag sie nicht, das ist alles.«

Darauf antwortete Abu Dun nicht. Aber sein Schweigen war beredt genug. Andrej beschleunigte seine Schritte. Er hatte Abu Dun nicht ganz die Wahrheit gesagt. Das Mädchen war ihm nicht unheimlich.

Das Mädchen machte ihm Angst.

Sie hatten gerade einmal den halben Weg den Hang hinauf zurückgelegt, als sie erneut seine Stimme vernahmen: »Ihr Herren?«

Am liebsten wäre Andrej einfach weitergegangen. In Anwesenheit des Nubiers jedoch wäre ihm dieses Eingeständnis seiner eigenen Schwäche unangenehm gewesen, und so blieb er widerwillig stehen und drehte sich zu dem Mädchen um. »Was ist denn noch?«

Das Mädchen war aus dem Fluss herausgetreten und stand am Ufer. Seltsam: Im roten Gegenlicht der Sonne sah es so aus, als wären seine Kleider bereits wieder getrocknet, und auch sein Haar klebte nicht mehr nass am Kopf.

»Ich habe es mir überlegt«, sagte es. »Ich glaube, ich werde Euch doch töten.«

Andrej presste die Lippen aufeinander, und Abu Dun zog die Stirn in Falten. »Du solltest vorsichtig mit solchen Scherzen sein«, grollte er. »Nicht jeder ist so geduldig wie wir. So etwas könnte dir eine gehörige Tracht Prügel einbringen.«

»Ich scherze nie«, antwortete das Mädchen. »Und meine Geschwister auch nicht.«

Die Hand, die eben noch den Dolch gehalten hatte, deutete an Andrej vorbei zum Waldrand hinauf. Alarmiert fuhr er herum.

Und hätte um ein Haar laut aufgeschrien.

Über ihnen waren drei weitere schmächtige Gestalten aus dem Unterholz getreten. Drei Knaben, von denen zwei kaum älter sein konnten als das Mädchen. Der Dritte aber war annähernd so groß wie Andrej, und vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Alle drei waren ähnlich gekleidet wie das Mädchen – ihre Schwester, wenn sie die Wahrheit gesagt hatte. Sie trugen dünne Sandalen und einfache, sackleinene Hemden, die anstelle eines Gürtels nur von groben Stricken zusammengehalten wurden. Alle drei hatten dasselbe pechschwarze Haar. Andrej schauderte, als er der Kälte in ihren Augen gewahr wurde.

»Was zum Teufel bedeutet das?«, murmelte Abu Dun.

Andrej schüttelte langsam den Kopf. »Nichts Gutes.«

Der hünenhafte Nubier schlug seinen Mantel zurück und legte vorsorglich die Hand auf den Griff des Krummsäbels, den er darunter trug. Langsamer, deutlich langsamer als zuvor, setzten sie sich wieder in Bewegung. Andrejs Herz begann wieder zu rasen. Es waren nur Kinder, aber irgendetwas stimmte hier nicht.

Der älteste der drei Jungen, von dem Andrej annahm, dass er zugleich auch den Anführer darstellte, löste sich von seinem Standort und kam ihnen entgegen, während sich die beiden anderen nach rechts und links entfernten. Andrej musste sich nicht umsehen, um zu wissen, dass sich auch das Mädchen von seinem Platz fortbewegt hatte und ihnen folgte. Kein Zweifel: Diese vier Kinder waren dabei, sie einzukreisen.

Doch waren es wirklich Kinder?

Plötzlich blieb der ältere der Jungen stehen und zog etwas hinter seinem Rücken hervor. Andrej riss ungläubig die Augen auf, als er erkannte, dass es sich um ein schlankes, mehr als einen Meter langes Schwert handelte, das in einer reich verzierten Scheide aus schwarzem Leder steckte. Auch die Klinge war mit kunstvollen Gravuren verziert, und die Blutrinne hatte die Form einer gewundenen Schlange. Andrej wusste das.

Schließlich war es sein Schwert.

»Guten Tag, die Herren«, sagte der Junge. Seine Stimme war so weich und kindlich wie die seiner Schwester, aber es lag etwas darin, das Andrej schaudern ließ. Ebenso wie der Ausdruck in seinem Gesicht. Es war nichts Sichtbares. Der Junge hatte ein fein geschnittenes, fast hübsches Antlitz, aber unter dieser schönen Maske war noch etwas. Etwas Grässliches, Lauerndes.

»Wie kommst du an dieses Schwert?«, fragte Andrej scharf.

Der Junge lächelte. »Es gehört Euch, vermute ich? Eine wirklich prachtvolle Waffe. Schade nur, dass Ihr sie nicht mehr brauchen werdet.«

Er warf das Schwert mit einer achtlosen Bewegung ins Gras. Seine Augen wurden schmal. »Ein toter Mann benötigt keine Waffe mehr, oder?«

»Das reicht jetzt!«, zischte Abu Dun. »Treibt es lieber nicht zu weit, oder ich verpasse euch die schlimmste Tracht Prügel eures Lebens!«

»Ach?«, antwortete der Junge. »Tust du das, schwarzer Mann?« Er kicherte.

Abu Dun starrte ihn einen Moment lang drohend an, dann löste sich sein Blick vom Gesicht des Jungen und suchte misstrauisch den Waldrand über ihm ab. Andrej wusste, wonach er Ausschau hielt: Eine verräterische Bewegung, Schatten, die sich im Dickicht verbargen … irgendeinen Hinweis auf den Hinterhalt, den er zweifellos vermutete. Was sonst sollte das irrsinnige Benehmen dieser Kinder zu bedeuten haben, wenn nicht die Ablenkung von etwas anderem, sehr viel Gefährlicherem?

Andrej konnte das Gefühl nicht begründen, aber er wusste plötzlich, dass dies kein Hinterhalt war. Keineswegs hatten sie es mit einer Räuberbande zu tun, die sich auf die Lauer gelegt hatte und ihre eigenen Kinder als Köder benutzte. Die Gefahr ging einzig von diesen vier Kindern aus.

»Ich bitte dich, hör mit dem Unsinn auf, Junge«, sagte er. »Ihr habt euren Spaß gehabt, aber nun muss es gut sein.« Als der Junge nicht antwortete, ging Andrej weiter und bückte sich nach dem Schwert. Er rechnete damit, dass er und die drei anderen versuchen würden, ihn daran zu hindern, doch er kehrte unbehelligt an Abu Duns Seite zurück und befestigte die Waffe an seinem Gürtel.

»Jetzt fühlt Ihr Euch gewiss stärker, wie?«, fragte der Junge spöttisch.

Andrej antwortete nicht, sondern legte die Hand auf den Schwertgriff und drehte sich langsam um die eigene Achse. Die Kinder hatten sie mittlerweile umringt und waren in drei oder vier Schritten Abstand stehen geblieben. Sie sahen aufmerksam zu ihnen auf, und auf ihren Gesichtern war nicht die mindeste Spur von Furcht zu erkennen.

Dafür machte sich umso mehr davon in Andrejs Herzen breit, als ihm lieb war. Fast verzweifelt lauschte und witterte er in den Wald hinein, aber dort war niemand. Er hätte es gespürt, hätte sich dort oben jemand versteckt. Die Angst, die immer heftiger in seinen Eingeweiden wühlte, wurde eindeutig von diesen vier Kindern verursacht. Von Kindern?

»Jetzt ist es aber endgültig genug!«, rief Abu Dun wütend. Mit einer einzigen Bewegung schlug er seinen Mantel vollends zurück und riss das Schwert aus der Scheide. Gleichzeitig trat er auf den Jungen zu. »Nimm die Beine in die Hand und lauf, so schnell du kannst, du ungehobelter Bengel, oder …«

»Oder?«, unterbrach ihn der Junge. »Wirst du dein großes Messer nehmen und mich damit schneiden?« Grinsend legte er den Kopf in den Nacken und bot Abu Dun seine Kehle dar. »Nur zu, schwarzer Mann. Versuch es ruhig.«

Abu Dun war verblüfft stehen geblieben, und sein Blick wanderte von dem Jungen zu der Klinge in seiner Hand. Der Kleine spielte ein gefährliches Spiel. Natürlich würde Abu Dun ihm nicht die Kehle durchschneiden, ganz gleich, wie sehr ihn der Knabe reizte, aber der Nubier war auch nicht zimperlich und würde nicht zögern, ihm eine Lektion zu erteilen, die er lange Zeit nicht vergessen würde.

Abu Dun zögerte. Ein gequälter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Abwechselnd starrte er das Schwert und den Jungen an, dann wieder das Schwert und noch einmal den Jungen – und schließlich ließ er die Waffe mit einem Laut sinken, der wie ein erstickter Schrei klang.

»Siehst du, schwarzer Mann?«, sagte der Junge lächelnd. »Du kannst es nicht. Eine Waffe allein nutzt gar nichts. Man muss auch bereit sein, sie zu benutzen. Wie ich zum Beispiel.«

Damit trat er ganz dicht an Abu Dun heran, riss den Dolch des Nubiers aus dessen Gürtel und zog ihm die Klinge in aller Seelenruhe über die rechte Hand. Der Nubier schrie gellend auf und starrte fassungslos auf den klaffenden, heftig blutenden Schnitt, der auf seinem Handrücken prangte.

Andrej riss sein Schwert aus der Scheide und spürte gleichzeitig, wie nutzlos diese Maßnahme war. Der Junge zeigte sich auch nicht im Geringsten beeindruckt, sondern bedachte ihn nur mit einem verächtlichen Blick, wandte sich um und ließ den Dolch fallen.

»Ihr seid langweilig«, beschwerte er sich. »Fällt Euch nichts Besseres ein?«

»Du wirst gleich sehen, was mir alles einfällt, du kleine Kröte!«, brüllte Abu Dun. Mit einem einzigen Satz war er bei dem Jungen, riss ihn in die Höhe und schüttelte ihn so wild, dass die Zähne aufeinander schlugen. Der Junge keuchte vor Schmerz und Schreck, und Abu Dun ließ ihn wieder los, wich zurück und starrte bestürzt auf seine eigenen Hände. Seine Rechte blutete noch immer, aber nicht sehr heftig. Der Schnitt, den ihm der Junge zugefügt hatte, war nicht besonders tief.

Allmählich wurde Andrejs Furcht von nackter Panik abgelöst. Er war unendlich weit davon entfernt zu verstehen, was hier vor sich ging, aber die Bedrohung, die von diesen vermeintlichen Kindern ausging, hing in der Luft wie übler Gestank. Es war keine Gefahr irgendeiner natürlichen Art.

Andrej ließ das Schwert sinken. Einen Moment lang blickte er die Waffe noch unschlüssig an, dann schob er sie in die Scheide zurück und versuchte, den Blick des Jungen einzufangen.

»Ich weiß nicht, wer ihr seid, oder was ihr seid«, begann er ruhig. »Aber wir sollten damit aufhören. Wir sind nicht wie die anderen, mit denen ihr es bisher vielleicht zu tun gehabt habt, glaubt mir.«

»Das stimmt«, sagte der Junge gehässig. »Ihr wimmert, statt euch zu wehren.«

»Das könnten wir«, antwortete Andrej ernst. »Glaub mir, wir haben Möglichkeiten, uns zu wehren, die du dir nicht einmal vorstellen kannst. Aber ich will dich nicht verletzen und deine Geschwister auch nicht.«

»Verletzen?« Der Junge lachte schrill. »Du kannst mich nicht verletzen, alter Mann. Niemand kann das. Niemand kann uns wehtun, weißt du?« Wieder lachte er böse. Dann fuhr er sich mit dem Handrücken über den Mund. Abu Dun hatte ihn so derb hin und her geschüttelt, dass seine Nase zu bluten begonnen hatte. Offensichtlich hatte er es bisher noch gar nicht bemerkt, denn nun blickte er den schmierigen Fleck auf seinem Handrücken überrascht an.

»Ich blute«, murmelte er. Dann begann er zu schreien: »Du hast mir die Nase blutig geschlagen! Schlagt sie tot! Schlagt die Schweine tot!«

Andrej spannte sich, als die vier Kinder gleichzeitig auf sie losstürmten. So wenig wie Abu Dun hatte er bisher wirklich begriffen, wer sie waren, und vor allem, was sie waren. Und so wenig wie der Freund wusste er, was er tun sollte. Das mit Abstand stärkste Gefühl, das er neben seiner Furcht empfand, war Verwirrung.

Es waren das Mädchen und einer der beiden jüngeren Knaben, die sich auf ihn stürzten, während ihre beiden Brüder Abu Dun attackierten. Der Araber allein war schwerer als diese vier Kinder zusammen. Unbewaffnet konnten sie also nicht einmal den Hauch einer Bedrohung darstellen. Unglückseligerweise war zumindest das Mädchen nicht unbewaffnet. Es hatte noch seinen Dolch, und im Gegensatz zu seinem Bruder dachte es auch nicht daran, die Waffe fortzuwerfen.

Andrej blickte den Jungen, der sich mit beiden Armen an seine Knie geklammert hatte, um ihn zu Fall zu bringen, noch verstört an, da hörte er auch schon das Reißen von Stoff. Im gleichen Moment spürte er den grässlichen Schmerz, als sein Rücken vom Nacken bis hinunter zu den Nieren aufgeschlitzt wurde. Andrej brüllte vor Qual, kippte nach vorn und versuchte sich noch im Fall zu drehen, um nicht aufs Gesicht zu stürzen und einem weiteren heimtückischen Angriff hilflos ausgeliefert zu sein.

Es gelang ihm nicht. Er fiel auf die Seite. Aber es war dennoch ein glücklicher Sturz, denn der Junge, der sich an sein Bein geklammert hatte, wurde davongeschleudert und landete in einem Gebüsch. Und auch das Mädchen setzte nicht sofort nach, um die Sache zu Ende zu bringen, sondern ließ ihren Arm sinken und blickte ihn nachdenklich an. Andrej konnte nicht sehen, was sie ihm an Verletzungen zugefügt hatte, aber dem Schmerz nach zu urteilen, musste die Wunde schlimm genug sein, um jeden normalen Menschen kampfunfähig zu machen, wenn nicht zu töten. Vermutlich hatte sie ihn gar nicht kurzerhand ausschalten wollen, sondern wünschte zuzusehen, wie er sich quälte und dabei allmählich verblutete.

Andrej schloss für einen Moment die Augen und konzentrierte sich darauf, den Schmerz in seinem Rücken abzuschalten. Dann rollte er mit einem übertrieben qualvollen Stöhnen herum. Erst jetzt brachte er die Blutung zum Stillstand und befahl dem zerrissenen Fleisch in seinem Rücken, sich wieder zusammenzufügen. Die Heilung setzte augenblicklich ein. Doch obwohl keine lebenswichtigen Organe verletzt worden waren, war die Wunde groß, und es würde mehrere Minuten dauern, bis er wieder gänzlich genesen war.

Doch genau in diesem Moment schien das Mädchen den Entschluss gefasst zu haben, dass es an der Zeit war, das grausame Spiel zu beenden. Es sprang vor.

Andrej hatte genügend Messerattacken erlebt, um zu erkennen, dass der Stich genau auf sein Herz zielte, und es wäre ihm trotz seiner Verletzung ein Leichtes gewesen, den Arm schützend vor die Brust zu legen und den Angriff abzuwehren.

Doch er tat es nicht.

Nicht, dass er es nicht konnte. Da waren keine unsichtbaren Fesseln, die ihn hielten, kein übermächtiger Wille, der den seinen blockierte.

Er tat es nicht, und das schwarzhaarige Mädchen stieß ihm die Messerklinge direkt ins Herz.

Andrej entfuhr ein entsetztes Röcheln. Kurz starrte er das Messer, das aus seiner Brust ragte, mit der gleichen Fassungslosigkeit an, mit der Abu Dun zuvor seine eigenen Hände betrachtet hatte, dann wurde es schwarz um ihn.

Er starb. Allerdings nur in dem Maß, in dem es einem Geschöpf wie ihm möglich war. Und so dauerte es nicht lange, bis das Leben in seinen Körper zurückkehrte. Und wie immer war das Erwachen eine Qual. Der Schmerz war nicht das Schlimmste. Er war im Laufe seines Lebens so oft verletzt worden, dass es ihm kaum noch etwas ausmachte. Aber die seelische Folter, die damit einherging, schien von Mal zu Mal unerträglicher zu werden. Er hatte die Schwelle berührt – wie oft nun schon? –, und er hatte gespürt, was dahinter lag: Das Versprechen eines allumfassenden Friedens und immerwährender Ruhe, nach der er sich mehr sehnte als nach allem anderen. Diesmal war er der Schwelle so nahe gekommen wie nie zuvor. Nahe genug, um das verlockende Flüstern dahinter zu hören und das Licht zu spüren, das auf ihn wartete.

Und wieder war er zurückgerissen worden. Vielleicht war das seine Strafe: Diesen ewigen Frieden stets nur erahnen, ihn aber niemals erlangen zu dürfen.

Andrej öffnete die Augen und drehte vorsichtig den Kopf. Er konnte nicht allzu lange bewusstlos gewesen sein, denn der Kampf, den sich Abu Dun mit den vier Kindern lieferte, war noch immer in vollem Gange. Abu Dun keuchte vor Anstrengung und blutete aus mehr als einem halben Dutzend – allerdings ausnahmslos harmloser – Wunden.

Andrej begriff, dass sich Abu Dun in höchster Gefahr befand. Die vier Kinder attackierten den riesigen Nubier ohne Unterlass, schlugen nach ihm, versuchten ihn zu treten und zerkratzten ihm mit den Fingernägeln Gesicht und Hände. Und Abu Dun tat nicht das Geringste, um sich zu wehren! Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, die vier der Reihe nach niederzuschlagen, auch ohne sie dabei schwer zu verletzen. Aber er unternahm nicht einmal den Versuch, sich zu verteidigen. Stattdessen beschränkte er sich so gut es eben ging darauf, den Hieben, Tritten und Fauststößen auszuweichen. Und obwohl er dabei eine schier unglaubliche Behändigkeit an den Tag legte, wurde er oft genug getroffen. Nicht nur von Fäusten, Füßen und Ellbogen, sondern auch von dem Messer, das das Mädchen immer noch schwang. Früher oder später würde sie es nicht bei einem harmlosen Schnitt oder einem kleinen Stich bewenden lassen.

Andrej sah dem grausamen Spiel noch einen Augenblick lang zu, dann fasste er einen Entschluss. Wäre er allein gewesen, dann hätte er einfach die Augen geschlossen und sich tot gestellt, bis diese mörderische Kinderbande verschwunden war. Aber es ging nicht nur um ihn. Jetzt, da sie ihn für tot hielten, konzentrierten sich die vier Angreifer ganz auf Abu Dun, und anders als Andrej würde der Nubier tot bleiben, wenn er es einmal war. Er musste ihm helfen, auch wenn das, was er dazu tun musste, so schlimm war, dass ihm allein bei dem Gedanken daran übel wurde.

Wie um Andrejs letzte Zweifel zu vertreiben, sprang das Mädchen in diesem Moment vor und stieß mit dem Messer zu. Mit einer hastigen Bewegung wollte Abu Dun dem Angriff ausweichen, aber er war nicht schnell genug. Tief grub sich die Klinge in seine Wade, und der Nubier sank keuchend auf die Knie. Sofort trat einer der beiden kleineren Jungen von hinten an ihn heran und schmetterte ihm einen Stein auf den Schädel. Abu Duns überdimensionaler Turban nahm dem Hieb zwar die größte Wucht, sodass er ihm vermutlich nicht den Schädel zertrümmert hatte, aber er reichte aus, um ihm auf der Stelle das Bewusstsein zu rauben. Haltlos kippte er nach vorn. Das war der Augenblick, in dem Andrej aufsprang und das Schwert aus dem Gürtel riss.

»Aufhören!«, schrie er.

Die Faust mit dem zweischneidigen Dolch und mehrere mit Steinen bewaffnete Hände, die bereits zum entscheidenden Schlag erhoben waren, erstarrten mitten in der Bewegung. Die Kinder wandten sich in seine Richtung.

»Ich dachte, du bist tot«, entfuhr es dem älteren Jungen.

»Das dachte ich auch«, pflichtete ihm seine Schwester bei. »Ich war sogar sicher, dass er tot ist … Er ist zäh, das muss man ihm lassen.«

»Ihr solltet jetzt wirklich damit aufhören«, sagte Andrej ernst. »Ihr könnt mich nicht töten, aber ich euch schon. Zwingt mich nicht, es zu tun.«

»Uns töten?« Der Junge deutete auf Andrejs Schwert. »Damit?«

Während er sprach, kamen er und seine Schwester langsam näher, und plötzlich blitzte auch in seiner Hand ein kurzer, gefährlich scharfer Dolch. Die beiden jüngeren Brüder, noch immer mit faustgroßen Steinen bewaffnet, rührten sich nicht von der Stelle.

»Nein, nicht damit«, erwiderte Andrej und zielte weiter mit dem Schwert auf den Jungen. Das vertraute Gewicht der Klinge aus hundertfach gefaltetem Damaszener-Stahl gab ihm Sicherheit. Er wollte es nicht tun. Großer Gott, er konnte doch keine Kinder töten, ganz egal, wie bösartig und gefährlich sie auch waren. Aber er hatte keine Wahl. Wenn er es nicht tat, starb Abu Dun.

Andrej presste die Kiefer so fest aufeinander, dass seine Zähne knirschten, schloss die Augen und griff mit seinen Vampyrkräften nach der Seele des Jungen, um dessen Lebensenergie auszusaugen und sie seiner eigenen hinzuzufügen.

Nichts geschah.

Ungläubig riss Andrej die Augen wieder auf. Die beiden Angreifer kamen immer näher, die Dolche zum Zustoßen bereit erhoben, aber sie bewegten sich mit äußerster Vorsicht. Zumindest das Mädchen schien zu spüren, dass Andrej tatsächlich nicht war wie all die anderen, die sie möglicherweise schon getötet hatten.

Er konzentrierte sich und versuchte es wieder. Doch wo seine tastenden Fühler nach der Seele des Jungen suchten war nichts. Nur Leere. Und eine unvorstellbar grausame Kälte.

Andrej wich einen halben Schritt zurück, löste den Blick vom Gesicht des Jungen und konzentrierte sich auf dessen Schwester.

Auch diesmal geschah nichts. Seine Gedanken griffen ins Leere, landeten im Nichts, weil es in diesen Kindern nichts gab. Es war, als hätten sie keine Seele, sondern …

Der Stein, den der Junge schleuderte, traf ihn zielsicher und mit solch verheerender Wucht am Schädel, dass er spürte, wie der dünne Schläfenknochen über seinem rechten Auge brach. Andrej ließ das Schwert fallen, brach mit einem erstickten Keuchen in die Knie und hob die Hände an den Kopf. Die beiden Älteren sprangen gleichzeitig vor und stießen zu. Der Dolch des Mädchens bohrte sich in seine Kehle, der des Jungen tief in sein Herz.

Andrej kippte zur Seite. Der Schmerz war nicht so schlimm, wie er erwartet hätte, aber sein Herz schlug nicht mehr, und sein Rachen füllte sich rasch mit seinem eigenen Blut.

Während Andrej das letzte bisschen Kraft, das er noch in seinem Körper fand, darauf verwandte, sich zusammenzukrümmen und schützend die Arme über den Kopf zu heben, sausten die Messerklingen wieder auf ihn herab, dann Steine und wieder beißender, glatter Stahl und dann nichts mehr.

Es dauerte lange, bis er wieder zu sich kam.

Kälte und Dunkelheit hüllten ihn ein, und die rechte Seite seines Gesichts glühte vor Hitze. Er hörte das Knistern von Holz und aus der Entfernung das Schnauben und Hufscharren von Pferden, die unruhig zu sein schienen, Stimmen, ab und an Gelächter … Selbst seine normalen menschlichen Sinne hätten ihm verraten, dass er sich in einer Art Lager befand und dicht bei einem Feuer lag. Als er versuchte, sich zu bewegen, stellte er fest, dass er an Händen und Füßen gefesselt war. Er öffnete die Augen und starrte direkt auf die Spitze eines Dolches, die auf sein Gesicht zielte. Darüber blickte ihn ein dunkles, sehr misstrauisches Augenpaar an.

»Das ist nicht notwendig«, sagte Andrej. »Ich bin nicht dein Feind.«

»Das wird sich zeigen.« Die Messerklinge hob sich lediglich ein Stück, aber das misstrauische Flackern in den Augen blieb. Andrej dachte daran, sich aufzusetzen – er lag so nahe beim Feuer, dass sich eine unangenehme Hitze auf seinen Wangen ausbreitete, zudem in sehr unbequemer Haltung –, blieb aber dann doch liegen. Das Gesicht, das auf ihn herabsah, wirkte trotz aller Vorsicht durchaus freundlich, aber er wollte keine unbedachte Reaktion hervorrufen.

»Wer bist du?«, fragte er.

Die Messerklinge entfernte sich noch ein bisschen weiter von seinem Gesicht. »Niemand, den du zum Feind haben willst, glaube mir.«

Andrej unterdrückte ein Lächeln. Er erkannte jetzt, dass der Bursche, der neben ihm kniete, sehr jung, ja, fast noch ein Kind war. Der grimmige Ausdruck, den er auf sein Gesicht gezwungen hatte, ließ ihn sonderbarerweise noch jünger erscheinen, und alles Misstrauen in seinen Augen konnte nicht über den freundlichen Ausdruck hinwegtäuschen, der normalerweise darin wohnte. Wer oder was auch immer dieser Bursche war – er war Andrej auf Anhieb sympathisch.

»Nein, das will ich wirklich nicht«, antwortete er. »Ich möchte eigentlich niemanden zum Feind haben, wenn ich es mir recht überlege, weißt du?« Er bewegte sich ein wenig. »Hast du etwas dagegen, wenn ich mich aufsetze? Es ist nicht sehr bequem so.«

Zögernd ließ der Junge die Hand mit dem Messer sinken, dann nickte er. »Meinetwegen, aber mach keine Dummheiten. Und frag erst gar nicht – ich werde dich ganz bestimmt nicht losbinden.«

Das war auch nicht nötig. Andrej hatte längst mit den Fingerspitzen über seine Fesseln getastet und festgestellt, dass die Stricke zwar fest, aber mit einem herkömmlichen Knoten zusammengebunden waren. Abu Dun hatte ihm schon vor Jahren gezeigt, wie man eine solche Fessel mit ein paar geschickten Bewegungen und einem entschlossenen Ruck abstreifen konnte. Andrej spielte den Enttäuschten, während er sich – umständlicher als nötig – aufsetzte und ein kleines Stück vom Feuer wegrutschte. Zugleich sah er sich verstohlen um.

Wie erwartet befand er sich in einem Lager, in dem gleich mehrere Feuer brannten. Die flackernden roten Inseln aus Licht vertieften die Dunkelheit noch, sodass selbst er nur Schatten und vage Umrisse wahrnehmen konnte. Immerhin erkannte er, dass das Lager deutlich größer war, als er im ersten Moment angenommen hatte. Er sah eine Anzahl von Zelten und einige schwere, hohe Wagen mit fast mannsgroßen Rädern. In einigen wenigen brannte Licht, die meisten aber waren dunkel. Der Himmel war bewölkt, sodass der Mond nicht zu erkennen war, aber Andrej spürte, dass Mitternacht längst vorüber sein musste. Weit entfernt gewahrte er eine improvisierte Pferdekoppel, auf der mindestens zwei Dutzend Tiere untergebracht waren.

»Wo bin ich hier?«, fragte er. »Abgesehen davon, dass ich bei Leuten bin, die ich nicht zu Feinden haben möchte?«

Er konnte sehen, wie schwer es seinem Gegenüber fiel, ihn weiter grimmig anzustarren. »In unserem Lager.«

»Und wer seid Ihr?«, präzisierte Andrej seine Frage. »Bin ich unter Freunden oder Feinden?«

»Das kommt ganz auf dich an«, erwiderte sein Gegenüber. Anscheinend liebte er es, sich kryptisch auszudrücken.

»Also, wenn ich die Wahl habe, fällt mir die Entscheidung nicht schwer.« Andrej zog eine Grimasse und rückte ein kleines Stückchen weiter vom Feuer weg. Die Hitze begann allmählich wirklich unangenehm zu werden. »Verrätst du mir wenigstens deinen Namen?«, fragte er.

»Ich bin Rason«, antwortete der Bursche. »Und jetzt hör auf, so viele Fragen zu stellen. Ich bringe dich gleich zu jemandem, der dir alles sagen wird, was du wissen musst.« Er beugte sich so überraschend vor, dass Andrej die Bewegung um ein Haar als Angriff missverstanden und entsprechend reagiert hätte. Ein Dolch blitzte auf, und Andrejs Füße waren frei. »Komm.«

Andrej erhob sich und stampfte ein paar Mal mit den Füßen auf, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen.

»Rason, soso. Und was ist mit meinem Freund?«

»Der Muselmann?« Rason grinste, und Andrej war klar, dass er dieses Wort bewusst gewählt hatte. In der Dunkelheit schimmerten seine Zähne fast unnatürlich weiß. »Der ist ein bisschen zerrupft, aber es geht ihm gut, glaube ich. Er wartet auf dich.«

Irgendwo in der Dunkelheit nahe der Pferdekoppel wurden plötzlich Stimmen laut. Andrej verstand die Worte nicht, aber es klang wie ein Streit. Er sah einen Moment lang mit gerunzelter Stirn in die Richtung, aus der der Lärm kam, dann wandte er sich wieder zu Rason um.

»Mach mich los«, verlangte er. »Das ist albern. Und ziemlich unbequem.«

»Warum sollte ich das tun?«

»Du hast doch selbst gesagt, dass es meine Entscheidung ist, ob wir Freunde oder Feinde sind«, antwortete Andrej. »Nun, ich habe gerade entschieden, dass wir keine Feinde sind.«

Diesmal grinste Rason nicht. Er sah eher erschrocken aus. Einige Herzschläge lang schien er über die Worte nachzudenken, dann trat er zu Andrejs Überraschung hinter ihn und durchtrennte auch die Stricke um seine Handgelenke. Verblüfft starrte Andrej den schwarzhaarigen Burschen an, während er damit begann, seine Unterarme zu massieren.

»Wie du gesagt hast«, bemerkte Rason. »Es ist deine Entscheidung.«

»Ich werd nicht schlau aus dir«, murmelte Andrej. »Und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das deine Absicht ist.«

Ein Grinsen schlich sich in Rasons Gesicht. Er schob den Dolch unter die breite Schärpe, die er anstelle eines Gürtels trug, und machte eine einladende Geste. »Wollen wir hier herumstehen bis es hell wird, oder willst du stattdessen deinen Freund sehen?«

Andrej kapitulierte. Ob Rason nun einfach dumm war oder ihn auf den Arm nahm, das Ergebnis blieb dasselbe: Sie verschwendeten ihre Zeit. Wortlos setzte er sich in Bewegung und warf Rason dabei einen fragenden Blick zu.

Das Lager wurde gebildet aus zwei ineinander liegenden Kreisen, von denen der äußere aus Zelten, der Pferdekoppel und einer Anzahl hölzerner Gestelle bestand, auf denen Felle und Decken zum Trocknen aufgespannt worden waren, und der innere aus gut einem Dutzend der schweren vierrädrigen Karren, die Andrej schon gesehen hatte. Die Nacht hatte fast alle Farben ausgelöscht, doch Andrejs überscharfe Augen verrieten ihm, dass die meisten Fuhrwerke kunterbunt sein mussten.

Und plötzlich wusste er, wo er war. Verblüfft blieb er stehen. »Ihr seid Zigeuner!«

Auch Rason hielt mitten im Schritt inne und sah ihn stirnrunzelnd an.

»Entschuldige«, sagte Andrej rasch. »Ich weiß, ihr hört dieses Wort nicht gern, aber …«

Rason unterbrach ihn mit einer Geste. »Jedermann nennt uns so, also warum nicht auch du? Ich wundere mich nur über dein Erstaunen. Wo ihr doch so lange nach uns gesucht habt.«

»Woher weißt du das?«

Der ernste Ausdruck verschwand schlagartig von Rasons Gesicht und machte wieder dem gewohnten Grinsen Platz. »Weißt du denn nicht, dass wir Zigeuner über das Zweite Gesicht verfügen?«, fragte er. »Natürlich nur die von uns, die nicht den Bösen Blick haben.«

»Oh ja«, antwortete Andrej. »Das hatte ich fast vergessen.«

Sie gingen weiter. Rason führte ihn an den Wagen vorbei, fast bis ans andere Ende des Lagers, wo es einen besonders großen, allerdings sehr schlicht gehaltenen Karren gab, der anstelle der üblichen vier über sechs Räder verfügte. Hinter einem schmalen, vergitterten Fenster in der Tür, zu der eine dreistufige Trittleiter hinaufführte, flackerte dunkelgelbes Licht. Im Schatten auf der anderen Seite des Wagens verbargen sich mindestens zwei Personen. Andrej konnte ihre Atemzüge hören und auch das Geräusch von Metall, das an Stoff oder Leder scheuert. Anscheinend waren Rasons Leute doch nicht so vertrauensselig, wie er selbst den Anschein zu erwecken versuchte.

»Dein Freund ist im Wagen.« Rason deutete zur Tür. »Ich warte hier draußen.«

»Zusammen mit deinen Kameraden, nehme ich an.« Die Worte taten Andrej bereits Leid, bevor er sie ausgesprochen hatte. Mittlerweile war er überzeugt davon, dass diese Leute ihm nichts Böses anhaben wollten. Er lächelte, um dem Gesagten wenigstens etwas von seiner Schärfe zu nehmen, dann ging er rasch die drei Stufen hinauf und betrat den Wagen.

Der warme Schein zweier fast heruntergebrannter Kerzen und ein verwirrendes Gemisch aus unterschiedlichsten Gerüchen empfingen ihn. Es duftete nach Kräutern und Öl, aber auch nach gebratenem Fleisch und frischem Obst. Ganz schwach mischte sich etwas Säuerliches, nicht sehr Angenehmes, darunter. Wer immer diesen Wagen bewohnte, legte entweder keinen besonderen Wert auf Reinlichkeit, oder er war sehr alt.

Die beiden einzigen Personen jedoch, die Andrej erblickte, waren Abu Dun und ein weiterer Sinti, der kaum älter sein konnte als Rason. Die beiden unterhielten sich, als Andrej eintrat, unterbrachen ihr Gespräch aber sofort und wandten sich zu ihm um. Andrej nickte dem jungen Mann flüchtig zu, dann konzentrierte er sich ganz auf Abu Dun.

Der Nubier bot einen Anblick, von dem Andrej nicht sagen konnte, ob er nun Mitleid erregend oder lächerlich war. Er hatte seinen schwarzen Kaftan und auch das Hemd ausgezogen und saß, nur mit seinen schwarzen Pluderhosen und Halbstiefeln bekleidet, auf der einen Seite eines niedrigen Tischchens, auf dem außer den beiden Kerzen ein bauchiger Weinkrug und zwei Becher standen. Seine gewaltigen Muskelpakete glänzten im Licht der beiden Kerzen wie frisch geöltes Leder, aber Andrej sah auch die zahllosen Kratzer, Schrammen und Schnitte, die Abu Dun davongetragen hatte. Die meisten waren bereits verschorft, was ihm sagte, dass er selbst tatsächlich ungewöhnlich lange ohne Bewusstsein gewesen sein musste. Sowohl um Abu Duns Unterarme als auch um seinen Bauch spannten sich saubere, straff angelegte Verbände. Ein weiterer Wickel nahm die Stelle des obligatorischen schwarzen Turbans ein. Den ungewöhnlichsten Anblick aber bot seine Nase. Ohnehin alles andere als klein, war sie nun unförmig und fast auf das Doppelte ihrer ursprünglichen Größe angeschwollen.

»Oh Allah, ein Wunder ist geschehen!«, rief Abu Dun. »Und ich dachte schon, du wolltest bis zum Frühjahr durchschlafen.« Er sprach mit hörbar schwerer Zunge. Der Becher Wein, den er in der verbundenen Rechten hielt, schien nicht der erste zu sein.

»Wie geht es dir?«, fragte Andrej ernst.

Der junge Sinti, der zusammen mit Abu Dun am Tisch saß, leerte seinen Weinbecher in einem einzigen Zug und stand auf, um zu gehen.

»Bleib doch!«, bat Andrej. »Ich würde gern mit jemandem reden.«

»Das kannst du doch mit mir«, meinte Abu Dun.

»Mit jemandem, der nüchtern ist«, erklärte Andrej. »Und bei dem ich mich bedanken kann.«

»Es … es ist besser, wenn ich draußen warte«, antwortete der Zigeuner. Er hatte ein ebenso offenes Gesicht wie Rason, aber anders als bei diesem, spürte Andrej eine gewisse Zurückhaltung – und auch einen Hauch von Furcht. So ließ er die Hand, die er bereits ausgestreckt hatte, um ihn zurückzuhalten, wieder sinken und trat einen Schritt zur Seite, um dem Sinti Platz zu machen. Stirnrunzelnd blickte er ihm nach, dann ging er zum Tisch und ließ sich Abu Dun gegenüber auf einen Stuhl sinken.

»Wie geht es dir?«, fragte er noch einmal.

Abu Dun trank einen gewaltigen Schluck Wein und griff nach dem Krug, um seinen Becher neu zu füllen, bevor er antwortete. »Gut! Es braucht schon etwas mehr als ein paar vorlaute Bälger, um Abu Dun umzubringen. Jedenfalls geht’s mir nicht so schlimm, wie ich aussehe.«

Er nahm einen weiteren Schluck, und Andrej runzelte missbilligend die Stirn. Abu Dun war den Freuden des Weines nie abgeneigt gewesen, und auch Andrej wusste einen guten Schluck dann und wann zu schätzen. Aber jetzt war nicht der Moment dazu.

»Was übrigens nicht dein Verdienst ist«, fügte Abu Dun hinzu, nachdem er einen weiteren Becher mehr als zur Hälfte geleert hatte. »Vielen Dank auch für deine Hilfe.«

Die Bemerkung ärgerte Andrej. »Ich bitte untertänigst um Vergebung«, antwortete er spitz. »Ich war abgelenkt. Das ist unverzeihlich, ich weiß, aber ich war gerade mit dem Sterben beschäftigt.«

Abu Dun stürzte den Rest seines Weins hinunter, griff nach dem Krug und sah Andrej aus verschleierten Augen an. »Wo wir gerade beim Sterben sind … wieso lebst du eigentlich noch?«

»Wie?«

Abu Dun deutete auf Andrejs Brust. »Du hattest einen Dolch im Herzen, wenn ich mich nicht irre. Hast du mir nicht immer erzählt, ein Stich ins Herz würde selbst dich umbringen?«

»Vielleicht hab ich ja nicht die Wahrheit gesagt«, knurrte Andrej. Gleichzeitig ermahnte er sich zur Mäßigung. Abu Dun hatte völlig Recht. Neben offenem Feuer war ein gezielter Stich ins Herz eine von wenigen Möglichkeiten, einen Vampyr wirklich zu töten. Und er hatte gespürt, wie der Dolch in sein Herz eindrang und es zerschnitt. Ja, wieso lebte er eigentlich noch?

In etwas versöhnlicherem Ton sagte er: »Ich weiß es nicht.«

»Aber ich«, verkündete Abu Dun triumphierend.

»Du?«

Abu Dun genoss Andrejs Überraschung. »Man muss die Waffe stecken lassen, weißt du? Nicht herumdrehen oder besonders tief hineinstoßen oder sonst irgendwas, einfach nur stecken lassen. Der Stahl verhindert, dass sich die Wunde schließt, und das Blut fließt aus deinem Herzen heraus. Schneller, als deine Zauberkräfte es ersetzen können. Es dauert eine Weile, aber am Ende verblutest du. Wie ein ganz normaler Mensch.«

»Woher weißt du das?«, fragte Andrej.

Abu Dun grinste breit, schenkte sich nach und nahm einen tiefen Zug. Er schwieg. Andrej starrte ihn zornig und verwirrt zugleich an. Er kannte Abu Dun gut genug, um zu wissen, dass der Nubier seine Rolle viel zu sehr genoss, um mit etwas anderem als rätselhaften Andeutungen rauszurücken.

Nachdenklich griff er nach dem Becher, den der junge Sinti stehen gelassen hatte, roch daran und schenkte sich schließlich ebenfalls aus dem Krug ein, den er Abu Dun fast mit Gewalt entreißen musste. Der Wein hatte einen vollen, exotischen Geschmack, und er war so schwer, dass Andrej Abu Duns schleppende Sprechweise sofort verstand. Ihm selbst hätte wahrscheinlich ein einziger Becher gereicht, um seine Sinne zu betäuben. So nippte er nur kurz an dem Getränk und nutzte die Zeit, um sich aufmerksam umzusehen.

Die beiden Kerzen erfüllten das Wageninnere mit mehr Schatten als Licht, sodass er nur vage Umrisse erkennen konnte. Es gab einen niedrigen Diwan, der mit zahllosen bunt bestickten Decken und Kissen belegt war, und an den Wänden hingen Bilder, Stickereien und geschnitzte Heiligenfiguren. Der Raum war deutlich kleiner, als Andrej beim Anblick des Wagens vermutet hätte, und es dauerte eine ganze Weile, bis er die Umrisse einer Tür in der rückwärtigen Wand entdeckte. Offensichtlich führte sie zu einem zweiten Raum.

Andrej lauschte. Nicht nur mit seinen menschlichen Sinnen. Er hätte gespürt, wenn außer ihnen noch jemand im Wagen gewesen wäre. Und für einen Moment schien es, als nehme er etwas in dieser Richtung wahr. Doch dann kam er zu dem Schluss, dass er sich geirrt haben musste. Sie waren allein.

»Abu Dun, ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt«, sagte er schließlich ruhig. »Wo sind wir hier? Was sind das für Leute? Und wieso haben sie uns geholfen?«

»Das fragst du sie am besten selbst«, kicherte Abu Dun.

»Was zum Teufel …?«

In diesem Moment wurde die Tür des zweiten Raums geöffnet, und eine schmale, gebeugte Gestalt trat ein. Andrej fuhr so erschrocken zusammen, dass er etwas von seinem Wein verschüttete. Blutrot glitzerten die Tropfen auf der fleckigen Tischplatte, und sein Herz begann zu hämmern.

Was er sah, konnte unmöglich sein. Bei der Person, die hereingekommen war, handelte es sich offensichtlich um eine Frau, obwohl sie so gebückt ging, dass er ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Aber sie hätte nicht da sein dürfen! Er hätte es spüren müssen, dass außer ihnen noch jemand im Wagen war. Und doch nahm er die Anwesenheit der Alten noch nicht einmal jetzt wahr, da er sie mit eigenen Augen sah!

Er wollte aufstehen, aber die alte Frau schüttelte den Kopf und kam mit schlurfenden Schritten näher. Erst, als sie den Tisch erreicht hatte, wurde ihr Antlitz vom flackernden Lichtschein der Kerzen erhellt, und Andrej erblickte die Züge des ältesten Menschen, dem er jemals begegnet war.

Obwohl ihr Haar, das ihr in langen, dünnen Strähnen ins Gesicht und bis weit auf die Brust fiel, noch immer von satter, schwarzer Farbe war, schätzte Andrej ihr Alter auf mindestens hundert Jahre. Ihr Gesicht war eine Landschaft aus Runzeln und so tiefen Falten, dass sie wie Messerschnitte wirkten. Die Lippen waren nicht mehr als solche auszumachen, und in dem eingefallenen Mund waren wahrscheinlich schon seit Jahrzehnten keine Zähne mehr. Ihr Gesicht musste in jungen Jahren voll gewesen sein, doch jetzt stachen die Jochbeine durch die trockene Pergamenthaut über ihren hohlen Wangen hervor, und die scharfe Hakennase musste im Laufe ihres Lebens gleich mehrmals gebrochen gewesen sein.

Das Schlimmste aber waren die Augen. So wenig, wie Andrej einen Lebensfunken in der alten Frau spürte, so wenig konnte er irgendetwas in den trüben, grauen Spiegeln ihrer Seele sehen. Die alte Zigeunerin war blind.

»Hast du mich jetzt lange genug angestarrt, Andrej Delany?«, fragte die Greisin. Ihre Stimme war so dünn und trocken wie die Haut auf ihren Händen.

»Du … kennst meinen Namen?«, fragte Andrej stockend. Er hatte Mühe, überhaupt zu sprechen. Irgendetwas ging von dieser blinden Zigeunerin aus, das ihn frösteln ließ.

»Dein Freund da hat ihn mir verraten.« Eine dürre Klaue deutete auf Abu Dun. »Er hat mir auch verraten, dass du mir eine Menge Fragen stellen willst. Also hör auf, mich anzustarren. Ich weiß selbst, wie hässlich ich bin. Mit einhundertundacht Jahren muss man nicht mehr schön sein. Jetzt gieß mir einen Becher Wein ein, und dann frage, was du zu fragen hast.«

»Fragen?« Andrej warf Abu Dun einen verwirrten Blick zu, erntete aber nur ein weiteres, schadenfrohes Grinsen.

»Ich nehme doch an, dass du etwas von mir wissen willst«, bestätigte die Alte. »Warum sonst habt ihr so lange nach mir gesucht?«

»Nach dir?« Andrej sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. »Du bist …«

»Ich bin Anka«, sagte die Zigeunerin.

Die Puuri Dan hatte sich gesetzt – nicht auf den mit Kissen und Decken überladenen Diwan, wie Andrej erwartet hatte, sondern auf einen Stuhl, den Abu Dun auf ihr Geheiß hin herbeigeholt hatte – und ihre Bitte um Wein wiederholt. Erst, nachdem sie einen gewaltigen Schluck von dem starken Getränk zu sich genommen hatte, wandte sie sich wieder in Andrejs Richtung, und ein Lächeln erschien auf ihrem vom Alter gezeichneten Gesicht.

»Manchmal bedaure ich es, nicht sehen zu können«, sagte sie.

Andrej war froh, dass sie es nicht konnte. Er war nicht nur vollkommen überrascht, sondern noch immer auf eine Art beunruhigt und alarmiert, die sich nur schwer in Worte fassen ließ. Tief im Innern spürte er eine Furcht, die ebenso unerklärlich wie quälend war.

»Bitte entschuldige, Anka. Vermutlich waren wir einfach schon so lange auf der Suche, dass ich gar nicht mehr damit gerechnet habe, euch noch irgendwann zu finden«, sagte er schließlich.

»Beeindruckend«, spottete Anka.

»Was?«

»Dieser wohlfeile Satz«, antwortete Anka. »Kannst du auch mit mir sprechen wie mit einem normalen Menschen?«

»Er meint, dass wir ziemlich lange nach euch gesucht haben«, sprang Abu Dun ein. »Und bisher vergeblich.«

»Nun habt ihr mich ja gefunden.« Anka trank einen weiteren Schluck Wein. Ihre blinden Augen fixierten Andrej auf eine Art, die ihn schaudern ließ. Ein einzelner Tropfen Wein glitzerte auf ihren eingefallenen Lippen. Er sah aus wie Blut. »Ihr kommt aus dem Osten, nicht wahr?«

»Siebenbürgen«, bestätigte Andrej. Seine Gedanken überschlugen sich. Er hatte die Wahrheit gesagt, als er behauptet hatte, die Hoffnung schon fast aufgegeben zu haben, die Puuri Dan und ihre Sippe jemals zu finden. Tausendmal hatte er sich ausgemalt, wie es sein würde, wenn er ihr endlich gegenüberstand, dem vielleicht einzigen Menschen auf der Welt, der ihm sagen konnte, wer er wirklich war. Zumindest sollte dieser Moment etwas Erhabenes haben, dachte er.

»Siebenbürgen?«, wiederholte Anka. Sie nickte. »Seid ihr dort auf Alessa getroffen?«

»Alessa?« Andrej sah überrascht zu Abu Dun. Der ehemalige Sklavenhändler neigte zur Redseligkeit, wenn er trank, und in dieser Nacht hatte er eindeutig zu viel getrunken.

»Ich weiß, dass sie tot ist«, sagte Anka. »Dein Freund hat’s mir erzählt. Nicht freiwillig. Zürne ihm nicht oder denke, er wäre so redselig. Ich hab’s an der Art gespürt, wie er ihren Namen ausgesprochen hat.«

»Es tut mir Leid«, sagte Andrej aufrichtig. »Ich wollte nicht, dass du es auf diese Weise erfährst.«

»Wie sonst?«, fragte Anka. »Schonender?« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht notwendig. Wenn man so alt geworden ist wie ich, dann gewöhnt man sich daran, dass Menschen sterben. Fast alle, deren Geburt ich miterlebt habe, sind schon lange tot.«

»Aber Alessa war …«

»Alessa«, unterbrach ihn die alte Frau hart, »war nicht meine Tochter. Nur ein Mädchen, das ich gekannt habe. Und mehr war sie auch nicht für dich, Unsterblicher.«

Andrej versteifte sich. »Das stimmt nicht«, sagte er mit Nachdruck. »Sie war etwas Besonderes.«

»Weil sie der erste Mensch war, der so war wie du«, sagte Anka. »Und deshalb glaubst du, sie wäre etwas Besonderes gewesen? Wahrscheinlich glaubst du auch, du wärest in sie verliebt gewesen!«

»Das war ich.«

»In ein Mädchen, das du nur ein paar Stunden lang gekannt hast?« Anka machte eine abwehrende Geste. »Eure Bekanntschaft hat darin bestanden, dass sie in deinen Armen gestorben ist, du Narr.«

»Abu Dun, du redest zu viel«, zischte Andrej. Er hatte nur geflüstert, aber Anka verfügte über das scharfe Gehör der Blinden und mischte sich ein.

»Ich höre auch Dinge, die nicht ausgesprochen werden«, sagte sie. »Meistens sind das die interessanteren. Red dir nur weiter ein, dass du dieses dumme Ding geliebt hast. Und? Sie ist tot, oder etwa nicht? Hat der Tod für euch Unsterbliche mehr Gewicht, als für andere Menschen?«

Andrej horchte auf. »Euch Unsterbliche?«, wiederholte er ungläubig.

»Du hast richtig gehört.« Anka nickte zufrieden. »Ich gehöre nicht zu euch.«

»Aber du bist doch …«

»Sehr alt«, unterbrach ihn Anka. »Gott hat mir ein langes Leben geschenkt, das ist wahr. Ich bin einhundertundacht Jahre alt, und wenn ich die nächste Wintersonnenwende noch erlebe, sogar einhundertundneun. Aber viel mehr Jahre werden es wohl nicht mehr werden. Und das ist gut so.«

»Gut?«, wiederholte Abu Dun. »Was soll gut daran sein, sterben zu müssen?«

»Es gibt nur eine endliche Anzahl von Dingen, die du tun kannst, Sarazene«, antwortete die Zigeunerin. »Und nur eine endliche Anzahl von Dingen, die du erleben kannst. Irgendwann fängt alles an, sich zu wiederholen, und aus Aufregung wird am Schluss Gewohnheit. Wenn Gott gewollt hätte, dass wir unendlich lange leben, dann hätte er’s auch so eingerichtet.«

»Bei manchen hat er es getan«, sagte Andrej leise.

Ankas blinde Augen wandten sich wieder in seine Richtung. »Wer sagt dir, dass es Gottes Wille war, Unsterblicher?«

»Ich hatte gehofft, dass du mir diese Frage beantworten könntest«, erwiderte Andrej.

»Dann muss ich dich enttäuschen«, sagte Anka. »Wenn ihr nur deshalb den langen Weg auf euch genommen habt, dann habt ihr ihn umsonst gemacht. Dein Freund aus dem Morgenland hat mir alles erzählt, was in jener Nacht geschehen ist. Und was Alessa dir erzählt hat, das war auch schon fast alles, was ich dir darüber erzählen könnte.«

»Aber Alessa hat …«

»… im Fieber gesprochen. Demselben Fieber, das ihre Familie dahingerafft hat. Du hast dieses Fieber auch gehabt, nicht wahr?«

»Ich? Nein. Ich war nie krank«, antwortete Andrej.

»Niemals? Auch nicht als Kind?« Anka wiegte nachdenklich den Kopf. »Du wirst es vergessen haben. Es beginnt immer mit einem Fieber. Fast alle sterben daran. So wie Alessa.«

»Und meine ganze Familie«, murmelte Andrej nachdenklich.

»So, so«, machte Anka.

»Ich habe sie nie kennen gelernt«, erklärte Andrej. »Man hat es mir nur erzählt. Sie sind alle am Fieber gestorben, als ich noch ein Säugling war.«

»Und du hast als Einziger überlebt«, fuhr Anka fort. »So fängt es immer an. Eine Linie endet, damit einer von ihnen länger leben kann. Aber länger leben bedeutet nicht ewig.«

»Du weißt also doch etwas darüber«, stellte Andrej fest.

»Wenn man so lange lebt wie ich, dann erfährt man viel«, antwortete Anka. »Und die Puuri Dan sind die Bewahrerinnen des alten Wissens.«

»Wissen über Menschen, die so sind wie ich?«

»Vampyre, meinst du?« Anka lachte, als hätte sie sein Erschrecken gesehen. »Sprich das Wort ruhig aus. Oder fürchtest du dich davor?«

»Vielleicht«, gestand Andrej.

»Wenn ja, dann tust du gut daran«, sagte Anka. Ihre Stimme wurde spröde. »Ich weiß, was ihr seid. Wozu ihr am Ende werdet. Die wenigen von euch, die den Weg so weit gehen wie du. Ich weiß, womit ihr euch eure Unsterblichkeit erkauft. Es ist gestohlenes Leben. Wie viele Menschen mussten schon sterben, damit dein Leben andauert, Andrej? Du hast die Stimme und den Geruch eines jungen Mannes, aber wie alt bist du wirklich? So alt wie ich, oder doppelt so alt?«

»Ich bin nicht viel älter, als ich aussehe«, antwortete Andrej.

»Eine wahrlich erhellende Antwort«, sagte die blinde Frau spöttisch.

Abu Dun lachte. »Dreißig, würde ich sagen, kaum älter.«

»Und wie viele Leben hast du genommen, um so alt zu werden?«, fragte Anka. Sie kicherte, trank einen weiteren Schluck Wein und lachte dann schrill. »Oh, wusstest du das nicht? Habt ihr einmal damit angefangen, euch von gestohlenem Leben zu nähren, dann könnt ihr nie wieder damit aufhören.«

Ein weiterer Schluck Wein hinterließ eine Spur aus winzigen roten Tröpfchen auf ihren Lippen und ein feines Rinnsal auf ihrem Kinn. Für einen Moment sah es so aus, als wäre sie der Vampyr in diesem Raum. »Also sag mir: Wie viele Leben hast du schon genommen, um deines zu behalten?«

»Ich habe getötet, das ist richtig«, gestand Andrej. »Aber nur, um mich zu verteidigen. Ich habe nie jemanden getötet, der es nicht verdient hätte.«

»Und wer hat dich zum Richter über jene gemacht, die den Tod verdient haben?«, fragte Anka böse.

»Sie selbst«, antwortete Abu Dun an Andrejs Stelle. Er hatte Mühe, seine Zunge unter Kontrolle zu halten, aber sonderbarerweise schien das seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. »Jeder Einzelne von ihnen, altes Weib, indem sie das Schwert gegen ihn erhoben haben.«

»Das mag sein«, erwiderte Anka ungerührt. »Doch wie lange wird das so bleiben? Weitere dreißig oder vierzig Jahre? Hundert? Sag mir, Andrej, wird denn immer im richtigen Moment ein Mensch zur Stelle sein, der den Tod verdient hat, weil er dir nach dem Leben trachtet? Wann wirst du die erste Ausnahme machen?«

»Niemals!«, antwortete Andrej. »Ich würde eher sterben, bevor ich einen Unschuldigen töte.«