Die Chronik der Unsterblichen - Die Blutgräfin - Wolfgang Hohlbein - E-Book

Die Chronik der Unsterblichen - Die Blutgräfin E-Book

Wolfgang Hohlbein

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Beschreibung

Band 6 der spektakulären Vampir-Serie vom Fantasy-Bestseller-Autor Wolfgang Hohlbein!

Das Rätsel ihrer Herkunft führt Andrej und Abu Dun in ein kleines ungarisches Dorf. Die Bewohner sind zutiefst verängstigt. Vor Kurzem haben sich in der Gegend mehrere grauenhafte Morde zugetragen. Gerüchten zufolge soll eine geheimnisvolle Frau dahinterstecken, die in der einsamen Ruine eines Herrenhauses wohnt und von den Menschen in ihrer Umgebung nur "Die Blutgräfin" genannt wird ...

Wolfgang Hohlbeins erfolgreicher Fantasy-Zyklus "Die Chronik der Unsterblichen" als eBook bei beBEYOND. Die weiteren Folgen:

Band 1: Am Abgrund

Band 2: Der Vampyr

Band 3: Der Todesstoß

Band 4: Der Untergang

Band 5: Die Wiederkehr

Band 7: Der Gejagte

Band 8: Die Verfluchten

Band 8,5: Blutkrieg

Band 9: Das Dämonenschiff

Band 10: Göttersterben

eBooks von beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen.


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Seitenzahl: 521

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Inhalt

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

1

2

3

4

5

6

7

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Über das Buch

Band 6 der spektakulären Vampir-Serie vom Fantasy-Bestseller-Autor Wolfgang Hohlbein! Das Rätsel ihrer Herkunft führt Andrej und Abu Dun in ein kleines ungarisches Dorf. Die Bewohner sind zutiefst verängstigt. Vor Kurzem haben sich in der Gegend mehrere grauenhafte Morde zugetragen. Gerüchten zufolge soll eine geheimnisvolle Frau dahinterstecken, die in der einsamen Ruine eines Herrenhauses wohnt und von den Menschen in ihrer Umgebung nur »Die Blutgräfin« genannt wird ...

Über den Autor

Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, lebt mit seiner Frau Heike und seinen Kindern am Niederrhein, umgeben von einer Schar Katzen und Hunde. Er ist einer der erfolgreichsten deutschen Autoren der Gegenwart. Seine Werke wurden in 47 Sprachen übersetzt und mit über zwanzig nationalen und ungezählten internationalen Preisen ausgezeichnet. Weitere Informationen unter: www.hohlbein.de.

WOLFGANG HOHLBEIN

DIE BLUTGRÄFIN

beBEYOND

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe

© 2004 by LYX.digital, Köln

Für diese Ausgabe

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat/Redaktion: Dieter Winkler

Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven © thinkstock: Betty4240 | Colin_Hunter | artyme83; © shutterstock: Dm_Cherry

Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-5906-0

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

1

Es war die bei Weitem größte Eule, die Andrej jemals gesehen hatte. In aufrechter Haltung würde sie ihm mühelos bis zum Oberschenkel reichen, und ihre Spannweite übertraf vermutlich die eines Adlers. Obwohl es sich unverkennbar nicht um eine Schneeeule handelte, war ihr Gefieder von einem so strahlenden Weiß, dass es fast schon in den Augen schmerzte, sie anzusehen. Ihr Schnabel, von dem zähflüssig rotes Blut tropfte, machte den Eindruck, als könne sie damit mühelos einem erwachsenen Mann die Hand zermalmen. Aber das war längst nicht das einzige Außergewöhnliche an dieser Eule.

Andrej kannte sich weder mit Greifvögeln im Allgemeinen noch mit Eulen im Besonderen gut aus, doch er wusste, dass diese Tiere normalerweise nicht tagsüber auf die Jagd gingen und selbst während der Nacht eher scheu waren.Diese Eule jedoch zeigte keinerlei Anzeichen von Scheu oder gar Furcht, obwohl nicht der geringste Zweifel daran bestand, dass sie Abu Dun und ihn bemerkt hatte.

Der Nubier und er befanden sich keine zehn Schritte von ihr entfernt, und sie gaben sich keine Mühe, leise zu sein oder sich gar zu verbergen. Das Tier fuhr ohne Hast fort, große Fleischbrocken aus dem Kadaver seines Opfers herauszureißen und hinunterzuschlingen. In regelmäßigen Abständen hob es den Kopf und drehte ihn mit kleinen, hektischen Rucken hin und her. Andrej konnte ein eisiges Schaudern nicht unterdrücken, als er dem Blick seiner großen, auf eigentümliche Weise klug wirkenden Augen begegnete.

Andrej war nicht sicher, ob Eulen Aasfresser waren oder nicht, aber er hatte noch niemals gehört, dass sie sich an der Leiche eines Menschen vergriffen hätten.Diesehiertat es, was daran liegen mochte, dass ihr Tisch so überreich gedeckt war.

Aus den Augenwinkeln nahm Andrej wahr, wie sich Abu Dun nach einem Stein bückte. Ohne die Eule auch nur einen Sekundenbruchteil aus den Augen zu lassen, streckte er die Hand aus und hielt den Nubier zurück. »Lass das«, mahnte er kurz angebunden.

Abu Dun sah ihn verwundert an, zuckte aber dann nur mit den Schultern und ließ den Stein fallen. »Ganz wie es Euch beliebt, oh mächtiger Herr«, sagte er spöttisch. »Aber würdet Ihr einem dummen, kleinen Mohren wie mir auch erklären, warum Ihr so plötzlich Euer Herz für Tiere entdeckt habt?«

Andrej blieb ernst. Wirklich beantworten konnte er Abu Duns Frage nicht, aber sein Gefühl sagte ihm, dass es unklug wäre, dieses Tier zu reizen. »Wann hätte ich jemals ein Tier grundlos gequält oder getötet?«, fragte er ausweichend. Um Abu Duns Antwort zu umgehen, trat Andrej rasch hinter dem Gebüsch hervor, hinter dem sie stehen geblieben waren. Der Kopf der weißen Rieseneule drehte sich ruckartig in ihre Richtung, und Andrej musste mehr Willenskraft aufbieten, um ihrem Blick standzuhalten, als er sich eingestehen mochte. Das Tier zeigte auch jetzt keine Furcht, sondern senkte nur den Schnabel, um einen weiteren Fleischfetzen aus der Schulter des halb nackten Toten zu reißen, auf dessen Rücken es saß, ohne Andrej dabei aus den Augen zu lassen.

Hinter ihm ließ sich das Geräusch zerbrechender Zweige vernehmen, als auch Abu Dun aus dem Gebüsch trat. Die Eule hob den Kopf noch ein wenig weiter. Die spitzen Federbüschel auf ihrem Kopf bewegten sich wippend. Dann spreizte sie mit einer Schnelligkeit und Eleganz die Flügel, die Andrej bei einem Vogel solcher Größe niemals für möglich gehalten hätte, und war verschwunden. Andrej versuchte, ihr mit Blicken zu folgen, aber das Tier flog direkt in die Sonne. Tränen schossen ihm in die Augen, und er musste geblendet wegsehen.

»Unheimliches Vieh«, murmelte Abu Dun. »Seit wann jagen Eulen tagsüber?« Auch er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und versuchte, der Eule nachzublicken, war aber vorausschauender gewesen als Andrej und beschattete die Augen mit einer Hand.

Andrej blinzelte ein paar Mal, bis die grellen Farbblitze, die seinen Blick trübten, wieder verblassten, und legte in einer unbewussten Geste die rechte Hand auf den Schwertgriff, während er sich langsam einmal im Kreis drehte und seinen Blick über das schreckliche Bild schweifen ließ, das sich ihm darbot.

Über eine Strecke von gut zwanzig Schritten folgte die vor ihm liegende Lichtung dem Lauf eines schmalen Baches, an dessen Rändern Eis und verharschter Schnee bizarre Formen bildeten und mit Raureif überzogene Büsche Spalier standen. Das Bild wurde eingerahmt von uralten knorrigen Bäumen, deren Äste sich unter der Last des frühzeitig gefallenen Schnees bogen, der das Land unter sich begrub.

Die noch vor Kurzem friedlich daliegende Waldlichtung hatte sich in ein Schlachtfeld verwandelt.

Es fiel Andrej schwer, die Anzahl der Toten zu benennen, die halb oder auch ganz nackt, auf schreckliche Weise verstümmelt, mit abgehackten Gliedmaßen und Köpfen im frisch gefallenen Schnee lagen. Es mochten vier sein oder auch fünf, und Andrej wagte nicht zu mutmaßen, welche Schrecken die unschuldig weiße Schneedecke noch verbergen mochte.

Andrej überwand nur mit Mühe den Widerwillen, den der Anblick der entstellten Körper in ihm wachrief, und ließ sich neben dem enthaupteten Mann in die Hocke sinken, an dem die Eule ihren Hunger gestillt hatte. Es fiel ihm schwer, ihn zu berühren. Andrej hatte keine Furcht vor dem Tod. Abu Dun und er verdienten sich seit mehr als einem Menschenalter ihren Lebensunterhalt als Söldner, und es gab kaum eine Spielart des Todes, die er noch nicht gesehen oder auch von eigener Hand herbeigeführt hatte. Aber das hier schien noch etwas anderes zu sein. Jemand hatte diese Menschen umgebracht, aber er hatte es nicht einfach dabei bewenden lassen, sie zu töten – diese Menschen waren regelrecht abgeschlachtet worden.

»Wann?«, fragte Abu Dun leise. Seine Schritte knirschten auf dem frisch gefallenen Schnee, als er sich Andrej näherte, und dieser Laut verlieh seiner einsilbigen Frage etwas sonderbar Unheimliches.

Andrej drehte den Toten auf den Rücken, was ihn einige Mühe kostete, da er nur eine Hand benutzen konnte, denn die andere umschloss noch immer krampfhaft den Schwertgriff, als bräuchte er einen Halt, der ihn in der Wirklichkeit verankerte. Er verzog flüchtig das Gesicht, als er erkennen konnte, was man dem Mann angetan hatte. Und das – dessen war Andrej sich nahezu sicher – während er noch am Leben gewesen war. Er musste sich zwingen, die Wunden des Mannes mit Augen zu betrachten, die nur an Tatsachen interessiert waren.

»Gestern Abend«, sagte er. »Allerfrühestens am späten Nachmittag. Und sie sind nicht hier getötet worden.«

Abu Dun antwortete nicht, was Andrej wunderte. Schließlich hatte er ihm eine Frage gestellt. Auch wenn der Nubier es zuweilen fertig brachte, einen ganzen Tag lang nicht ein einziges Wort von sich zu geben, war er im Grunde doch ein furchtbar schwatzhafter Mensch.

Andrej sah fragend hoch und fuhr fast unmerklich zusammen, als er des angespannten Ausdrucks auf Abu Duns Gesicht gewahr wurde. Sein Gefährte stand in scheinbar entspannter Haltung da, leicht nach vorn gebeugt, die rechte Hand lässig auf dem Griff des mehr als meterlangen Krummsäbels, der unter seinem schwarzen Mantel hervorragte. Aber Andrej wusste, dass diese Haltung täuschte. Der über zwei Meter große, dunkelhäutige Mann war angespannt.

»Wie viele?«, fragte er leise.

»Vier«, antwortete Abu Dun. »Vielleicht fünf. Genau hinter mir.« Er beugte sich vor, als gebe es auf der verstümmelten Brust des Toten etwas Interessantes zu entdecken. »Und hinter dir sind zwei. Auf der anderen Seite des Bachs.«

Andrej verharrte in gebückter Stellung, nickte aber fast unmerklich und lauschte gleichzeitig angespannt. Er war erschrocken, beunruhigt und verärgert zugleich. In dem Moment, in dem Abu Dun ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, spürte er die Anwesenheit der heimlichen Beobachter ebenso deutlich wie der Nubier. Seine Sinne, die viel schärfer waren als die eines jeden gewöhnlichen Menschen, hätten ihn dennoch viel eher warnen müssen. Es war nahezu unmöglich, sich an ihn heranzuschleichen – vor allem dort, mitten im Wald, wo der frisch gefallene Schnee eine lautlose Annäherung verhinderte. Dass Abu Dun ihm erst auf die Sprünge helfen musste, war ungewöhnlich und deshalb beunruhigend. Auch die Sinne des Nubiers waren mittlerweile weit schärfer als die eines normalen Menschen, doch seine Fähigkeiten reichten noch nicht an die Andrejs heran.

Andrej versuchte, diese Gedanken zu verscheuchen und sich mit der Vermutung zu beruhigen, dass ihn der Anblick der auf so brutale Weise verstümmelten Leichen abgelenkt hätte, aber im Grunde wusste er, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Und das nicht erst seit heute. Es hatte begonnen, nachdem sie Wien verlassen hatten, und verschlimmerte sich zusehends, auch wenn sich Andrej bislang beharrlich geweigert hatte, es zur Kenntnis zu nehmen.

Andrej schüttelte auch diesen Gedanken ab und schloss für einen Moment die Augen, um sich ganz auf das zu konzentrieren, was ihm sein Gehör und sein Geruchssinn mitteilten. Abu Dun hatte recht: Im Schutz der verschneiten Büsche, nur wenige Schritte hinter dem breiten Rücken des Nubiers, verbargen sich mindestens fünf Menschen, und weitere zwei auf der anderen Seite des halb erstarrten Baches. Sie waren aufgeregt. Sie hatten Angst.

Abu Dun richtete sich wieder auf und sah sich demonstrativ nach rechts und links um. »Wir können hier nichts mehr ausrichten«, sagte er mit Nachdruck.

»Der Schnee scheint alle Spuren verwischt zu haben«, bestätigte Andrej, während er ebenfalls aufstand und versuchte, den Waldrand hinter Abu Dun unauffällig mit Blicken abzutasten. Auch wenn die Anstrengungen der Männer dort, sich vollkommen lautlos zu verhalten, vergebens waren, so musste er ihnen doch zugestehen, dass sie sich gut verborgen hatten: Obwohl seine Augen die jedes anderen Menschen an Schärfe übertrafen, konnte er niemanden entdecken – allenfalls einen Schatten, der möglicherweise nicht dort hingehörte, wo er hinfiel, einen tief hängenden Ast, von dem der Schnee erst vor einem Augenblick heruntergefallen sein konnte, einen einzelnen Zweig, den eine unachtsame Bewegung geknickt hatte. Wohl niemandem außer Abu Dun und ihm wäre dies aufgefallen.

»Dann lass uns weiterreiten«, sagte er laut. »Bevor am Ende noch jemand auf die Idee kommt, uns mit diesem Gemetzel in Verbindung zu bringen.«

Die Worte galten weniger Abu Dun als vielmehr den Lauschenden im Gebüsch, und sie zeigten die beabsichtigte Wirkung. Abu Dun hatte sich noch nicht ganz umgedreht, als der Schnee am Waldrand schon nahezu lautlos in einer glitzernd weißen Wolke auseinanderstob und erst drei, dann fünf und schließlich sechs hochgewachsene, in zerschlissene Felle und Lumpen gekleidete Gestalten ausspie. Zugleich hörte Andrej auch hinter sich Geräusche: das Splittern von Zweigen, die die Kälte so spröde und zerbrechlich wie Glas gemacht hatte, dann das Platschen schwerer, schneller Schritte im Bach. Er hatte sich getäuscht – es waren drei Männer, nicht zwei.

Seine Hand schloss sich fester um den Schwertgriff, aber er zog die Waffe noch nicht, und auch der Nubier beließ es dabei, sich weiter aufzurichten und die Schultern zu straffen. Sie standen neun Gegnern gegenüber, die bei flüchtiger Betrachtung nicht weniger beeindruckend und furchterregend wirkten als der nubische Riese. Dieser Eindruck kam durch ihr abgerissenes und wildes Aussehen zustande – und durch die Ansammlung zwar primitiver, aber bedrohlicher Waffen, die sie mit sich schleppten. Dennoch hätte Andrej die vielfache Übermacht nicht einmal dann gefürchtet, wenn Abu Dun und er tatsächlich nur die gewöhnlichen Krieger gewesen wären, die zu sein sie vorgaben.

Die Männer waren ausnahmslos groß und kräftig gewachsen, zeigten aber deutliche Spuren von Unterernährung und Mangel. Auch ihre Kleider hatten schon bessere Zeiten gesehen und bestanden fast nur noch aus Fetzen. Diese Männer waren keine Krieger. Keiner von ihnen war ein ernst zu nehmender Gegner für Abu Dun und ihn. Andrej bezweifelte, dass auch nur einer unter ihnen jemals einen ernsthaften Kampf geführt hatte. Diese Männer spürten, dass sie Abu Dun und ihm unterlegen waren, und das machte ihnen Angst. Andrej blieb dennoch auf der Hut. Angst machte Menschen unberechenbar. Sie konnte aus Feiglingen Helden machen, aber in den meisten Fällen verwandelte sie vernünftige Männer in Dummköpfe.

Abu Dun schien die Lage ähnlich einzuschätzen, denn er entspannte sich zwar ein wenig, trat aber mit einer wohl überlegten raschen Bewegung zurück an Andrejs Seite. Im Falle eines Angriffs genügte eine kurze Drehung, und sie standen Rücken an Rücken. Auch die Hand des Nubiers blieb weiter auf dem Griff seines Krummsäbels. Andrej hoffte, dass der Gefährte nichts Unbedachtes tat. Abu Dun neigte manchmal zu drastischen Maßnahmen.

Ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten, wandte er sich an den ihm am nächsten stehenden Gegner. Der hochgewachsene, hagere Bursche mit dem schulterlangen, verfilzten Haar stand offenbar kurz vor dem Verhungern, was auch für jeden Einzelnen der anderen Männer galt.

»Wir haben mit dem, was hier geschehen ist, nichts zu tun«, begann er.

Sein Gegenüber sah ihn so verständnislos an, dass Andrej sich fragte, ob der Bursche ihn überhaupt verstanden hatte. Er wartete zwei, drei Atemzüge lang vergeblich auf eine Reaktion, dann fragte er: »Wer seid Ihr?«

»Die Fragen stelle ich, Fremder.«

Die Antwort stammte nicht von dem jungen Kerl mit dem verfilzten Haar, sondern von einer Stimme in Andrejs Rücken.

Andrej ließ einige Augenblicke verstreichen, bevor er sich umdrehte und die drei Männer musterte, die hinter ihnen aufgetaucht waren. Zwei von ihnen unterschieden sich kaum von dem jungen Kerl. Zweifellos waren sie Brüder, wirkten aber noch abgerissener als dieser. Der dritte und älteste von ihnen war vermutlich der Vater der drei anderen.

»Dann solltet Ihr Eure Frage auch stellen, guter Mann«, sagte Andrej ruhig und ohne zu lächeln.

»Es ist dieselbe wie die Eure, Fremder«, antwortete der Mann. »Wer seid Ihr, und was habt Ihr hier verloren?«

Obwohl er nicht hinsah, spürte Andrej, wie sich Abu Dun neben ihm anspannte. »Mein Name ist Andrej«, erwiderte er rasch. »Andrej Delãny. Und das ist Abu Dun, mein Weggefährte.«

»Andrej, so«, antwortete sein Gegenüber. Seine Augen wurden schmal, während ihr Blick kurz und taxierend über die hünenhafte Gestalt des Nubiers und dann – deutlich länger – über Andrejs Gesicht glitt. »Und was tut Ihr hier, Andrej Delãny?«, wollte er wissen.

Andrej hörte, wie Abu Dun die Luft einsog und zu einer Antwort ansetzen wollte, und kam ihm rasch zuvor. »Im Augenblick fragen wir uns, was hier passiert ist.« Er wies mit einer Handbewegung auf den Toten, der unmittelbar neben ihnen lag. »Und wer das getan hat.«

»Vielleicht habt Ihr das getan?«, schlug der Grauhaarige lauernd vor.

»Sicher«, antwortete Andrej. Er breitete bedauernd die Hände aus. »Ihr habt uns erwischt. Wir haben all diese Leute niedergemetzelt und dann in Stücke gehackt. Unglückseligerweise seid Ihr ein bisschen zu früh gekommen. Mein Freund hier ist nämlich ein mächtiger Zauberer aus dem Morgenland, der es gerade noch einmal schneien lassen wollte, um die Spuren unserer schändlichen Tat zu verbergen. Das erste Mal hat es nicht richtig geklappt, wie Ihr ja seht. Aber man muss ihm seinen Fehler nachsehen. Er hat nicht viel Erfahrung mit Schnee. Da, wo er herkommt, ist Schnee ziemlich selten.«

Andrej war bewusst, was für ein gefährliches Spiel er spielte, und im ersten Moment schien die Bestürzung, die sich auf dem Gesicht seines Gegenübers abzeichnete, seine Befürchtungen zu bestätigen. Dessen Miene verfinsterte sich noch weiter, und in seinen Augen blitzte blanke Wut auf.

Dann legte sich sein Zorn ebenso plötzlich wieder, wie er aufgekommen war. »Ihr habt eine flinke Zunge, Delãny«, sagte er. »Und Ihr seid entweder sehr mutig oder sehr dumm. Wir sind in der Überzahl.«

»Ich weiß«, antwortete Andrej ruhig.

»Was soll das Gerede, Vater? Lass uns diesen Heiden erschlagen und …«

Andrej wandte sich um, und der Langhaarige verstummte mitten im Wort, als ihn sein Blick traf. Abu Dun machte sich nicht einmal die Mühe, sich zu ihm umzuwenden.

»Halt den Mund, Stanik«, seufzte der Grauhaarige. Er verdrehte die Augen und fuhr, an Andrej gewandt, fort: »Verzeiht meinem Sohn, Andrej. Er ist kein schlechter Kerl. Aber es sind schlimme Zeiten, und Muselmanen …« Er hob die Schultern. »Ihr versteht?«

Es verging kein Tag, an dem Abu Dun und er nicht auf die eine oder andere – fast immer unangenehme – Art daran erinnert wurden. Andrej schüttelte trotzdem den Kopf. »Nein«, sagte er.

Ganz wie du meinst, schien der Blick seines Gegenübers zu sagen. Laut antwortete er: »Ich bin Ulric. Das da sind meine Söhne.« Er machte eine flatternde Handbewegung und schränkte mit einem angedeuteten Lächeln ein: »Die meisten jedenfalls. Habt Ihr irgendetwas beobachtet oder jemanden gesehen?«

»Nein«, entgegnete Andrej. »Nur eine Eule.«

»Aber es war eine außergewöhnlich große Eule«, fügte Abu Dun hinzu.

Ulric ignorierte ihn. »Das ist bedauerlich«, sagte er. In Andrejs Ohren klang das so, als hätte er hinzufügen wollen: Für euch. Ulric zuckte kurz mit den Achseln, blickte Abu Dun und Andrej eine weitere Sekunde lang durchdringend an und entspannte sich dann sichtlich. Zugleich begann er, auf der Stelle zu treten.

»Wir wissen, dass Ihr nichts mit dem Tod dieser Leute zu tun habt«, bekannte er. »Wir beobachten Euch schon seit Stunden.«

Andrej gelang es nur mit Mühe, den Impuls, einen Blick in Abu Duns Gesicht zu werfen, zu unterdrücken. Auch der Nubier rührte keinen Muskel, aber er wusste ebenso gut wie sein Gefährte, dass Ulric log. Selbst wenn Andrej für eine kurze Weile unaufmerksam gewesen war, war es unmöglich, dass diese Männer sie beobachtet haben sollten, ohne dass einer von ihnen etwas davon bemerkt hätte. »Dann gibt es ja keinen Grund für Eure Söhne, uns zu bedrohen«, folgerte er.

Ulrics Blick war zu entnehmen, dass er eine eigene Ansicht darüber hatte, wer in dieser Situation wen bedrohte. Er trat wieder unruhig auf der Stelle. Doch was Andrej im ersten Moment für ein Zeichen von Nervosität gehalten hatte, rührte eher daher, dass er durch den Bach gewatet war und seine zerschlissenen Stiefel dem eiskalten Wasser keinen nennenswerten Widerstand entgegensetzen konnten. »Nein, vermutlich nicht«, gab er zu, nachdem er gerade lange genug gezögert hatte, um Andrejs Misstrauen neue Nahrung zu geben. Er hob die Schultern. »Es sind unruhige Zeiten. Man weiß nicht, ob man Fremden trauen soll oder nicht.«

»Wie wahr«, erwiderte Andrej. Er lächelte, spürte aber, dass sein Lächeln nur um weniges wärmer ausfiel als das Wasser, das sich in Ulrics Schuhen gesammelt haben musste. Einen Augenblick lang befürchtete er, die Lage könne außer Kontrolle geraten. Obwohl nicht nur Abu Dun und er selbst, sondern auch Ulric und seine Söhne sich bemühten, keinerlei unvorsichtige Bewegungen zu machen, die ihre Gegner hätten provozieren können, spürte Andrej doch, dass jederzeit etwas geschehen konnte. Er konnte nicht erwarten, dass dieser Mann Wildfremden wie ihm und Abu Dun vertraute – schon gar nicht in Zeiten wie diesen, wie Ulric betont hatte. Aber dahinter steckte mehr. Ulric und seine Söhne mochten über ihre Anwesenheit überrascht sein, aber der Anblick der Toten traf sie offensichtlich nicht unvorbereitet.

Einen Moment lang erwog er, Ulric mit dieser Vermutung zu konfrontieren, entschied sich aber dann dagegen. Das alles ging sie nichts an. Abu Dun und er hatten anderes zu tun. Sie hielten sich schon viel zu lange hier auf.

»Wir suchen keinen Streit mit Euch, Ulric«, begann er vorsichtig. »Abu Dun und ich waren auf dem Weg nach Fahlendorf. Wir haben die Toten nur durch Zufall entdeckt.«

»Fahlendorf?« Ulric runzelte die Stirn. »Die Straße dorthin verläuft fast vier Meilen weiter westlich. Mir scheint, Ihr seid ein gutes Stück vom Weg abgekommen.« Ulrics Misstrauen war deutlich zu spüren.

»Jemand erklärte uns, dass der Weg durch den Wald kürzer sei«, antwortete Andrej – was der Wahrheit entsprach.

»Dann hat es dieser Jemand nicht besonders gut mit Euch gemeint«, erwiderte Ulric. Er wies in die Richtung, aus der Abu Dun und Andrej gekommen waren. »Dieser Pfad führt nirgendwo hin. Nur immer tiefer in den Wald hinein. Und Ihr habt die Toten wirklich ganz zufällig gefunden?«

Andrej nickte. Ihn beschlich das Gefühl, einen Fehler zu machen.

»Das ist aber seltsam«, fuhr Ulric fort. »Wo Eure Pferde doch hinter diesen Bäumen dort stehen, bestimmt fünfzig Schritte entfernt.« Er sah Andrej dabei lauernd an und wartete einen Herzschlag lang auf eine Antwort. Dann fuhr er fort: »Ich frage mich, wie man etwas ganz zufällig entdecken kann, das man gar nicht sehen kann.«

Andrejs Selbstbeherrschung ließ ihn einen Moment lang im Stich, sodass er Ulric einen ratlosen Blick zuwarf. Was sollte er antworten? Dass Abu Dun und er die Toten gerochen hatten? Das wäre die Wahrheit gewesen, aber die Wahrheit war nicht immer das, was zu äußern am klügsten war.

Abu Dun kam ihm zuvor. »Ich habe Wasser gesucht, um die Pferde zu versorgen. Und um ein … äh … menschliches Bedürfnis zu verrichten.«

»Er lügt«, sagte Stanik kühl.

Ulrics Blick verharrte auf Andrejs Gesicht und veränderte sich nach und nach. Er kam zu einem Entschluss. »Ja, so muss es wohl gewesen sein«, sagte er in amüsiertem Ton, ohne deutlich zu machen, wem diese Antwort nun galt: Abu Duns wenig glaubhafter Behauptung oder dem schnellen Urteil seines Sohnes.

»Wenn die Angelegenheit damit geklärt ist …«, begann Andrej.

Ulric schnitt ihm mit einer unwilligen Bewegung das Wort ab. »Wartet dort drüben bei den Bäumen«, forderte er ihn mit einer Geste in Richtung des Waldrands hinter ihnen auf. »Wir reden später miteinander.«

Wieder spürte Andrej, wie sich Abu Dun neben ihm anspannte. Er brachte sich mit einem ebenso raschen wie zufällig wirkenden Schritt genau zwischen Ulric und den Nubier. Gern hätte er den Blickkontakt zwischen ihnen unterbrochen, was allerdings daran scheiterte, dass Abu Dun ihn um Haupteslänge überragte.

»Wir wollten ohnehin eine Rast einlegen«, sagte er rasch.

»Sicher.« Ulrics Stimme klang nun vollends eisig. Er wedelte ungeduldig mit der Hand und trat wieder unbehaglich auf der Stelle. Seine Füße mussten mittlerweile höllisch schmerzen, dachte Andrej. Er gönnte es ihm.

Zu seiner Erleichterung beließ es auch Abu Dun bei einem abschließenden finsteren Blick, während sie sich umwandten und die wenigen Schritte zum Waldrand zurücklegten.

Sie blieben nicht allein. Nicht nur Stanik, sondern auch die vier anderen schlossen sich ihnen an und bildeten einen Halbkreis zwischen ihnen und dem Waldrand – gerade nahe genug, um sie hören zu können (sollten sie so unvorsichtig sein, in normaler Lautstärke miteinander zu sprechen) und gerade weit genug, um nicht eingreifen zu können, falls Andrej und Abu Dun aufspringen und ihre Waffen ziehen sollten. Noch ungeschickter konnten sie sich nicht benehmen.

Nicht, dass Andrej das beruhigt hätte. Wenn er schon die Wahl hatte, dann zog er es im Allgemeinen vor, sich mit einem halbwegs intelligenten Gegner auseinanderzusetzen.

Er suchte sich eine Erhebung im Schnee, von der er hoffte, dass sich darunter ein Baumstumpf oder ein Felsen verbarg und kein steif gefrorener Leichnam, ließ sich darauf nieder und sah zu, wie sich Abu Dun mit untergeschlagenen Beinen neben ihm in den Schnee sinken ließ. Es erstaunte ihn, dass Abu Dun immer noch schwieg. Im Vergleich zu früher war er ruhiger geworden, aber darauf war nicht unbedingt Verlass.

»Was hältst du von dieser Sache?«, fragte er in normaler Lautstärke, aber in Abu Duns Muttersprache Arabisch.

Abu Dun sah ihn nicht an, als er antwortete. »Was soll ich davon halten? Es sind unruhige Zeiten, wie dein neuer Freund sich ausdrücken würde.«

»Mein neuer Freund?«

Abu Dun deutete mit dem Kinn auf Ulric, sah Andrej aber immer noch nicht an, sondern starrte auf einen Punkt in den Baumwipfeln auf der anderen Seite des Baches. Unwillkürlich folgte Andrej seinem Blick und runzelte im nächsten Moment überrascht die Stirn, als er die riesige weiße Eule sah, die – nahezu unsichtbar – in den verschneiten Ästen saß und den Kopf mit kleinen ruckartigen Bewegungen hin und her drehte, um dem Geschehen auf der Lichtung unter sich zu folgen. Das Tier benahm sich wirklich sonderbar.

Abu Dun und er waren nicht die Einzigen, denen das eigenartige Verhalten der Eule aufgefallen war. Stanik raffte eine Hand voll Schnee zusammen, knetete ihn eine Weile, bis der Ball zu einer schmutzigen Kugel aus Eis geworden war, die er nach der Eule schleuderte – mit großer Wucht, aber geringer Treffsicherheit. Der Eisklumpen traf nicht einmal den Baum, auf dem das Tier saß.

Abu Dun lachte leise, und der Langhaarige fuhr mit einer zornigen Bewegung herum und funkelte ihn an. »Schweigt!«, fauchte er den Nubier an. »Und sprecht in einer Sprache, die wir verstehen können!«

»Ganz wie Ihr befehlt, Herr«, sagte Abu Dun und neigte spöttisch das Haupt. »Aber würdet Ihr einem unwissenden Mohren die große Gnade erweisen, ihm den Sinn Eurer zweifellos weisen Worte zu erklären? Ich meine: Was soll ich nun tun? Schweigen – oder in einer Sprache sprechen, die Ihr versteht? Nebenbei bemerkt … wie schweigt man in Eurer Sprache?«

Staniks Gesicht verfinsterte sich weiter, und Andrej legte Abu Dun rasch beruhigend die Hand auf den Unterarm. »Bitte verzeih meinem Kameraden«, sagte er, an den langhaarigen Burschen gewandt. »Ich glaube, er ist sich des Ernstes der Lage nicht bewusst.«

»Auf einen von uns beiden trifft das sicher zu«, stellte Abu Dun fest, nun aber wieder auf Arabisch und wohlweislich so leise, dass Stanik die Worte selbst dann nicht verstanden hätte, wenn er in dessen Muttersprache gesprochen hätte.

Andrej seufzte. Er betete, dass wenigstens einer der beiden Kampfhähne vernünftig genug war, die Sache nicht auf die Spitze zu treiben. Zu seiner Überraschung war es Ulrics Sohn und nicht der Nubier, der sich schließlich mit sichtlicher Mühe zu einem Lächeln zwang und sich sogar ein wenig entspannte. Einen Herzschlag lang starrte er Abu Dun noch herausfordernd und unsicher zugleich an, dann drehte er sich um und sah wieder zu der Eule hin. »Unheimliches Vieh«, murmelte er. »Sie ist vom Teufel besessen, wenn Ihr mich fragt. Oder Schlimmeres.«

Auch Andrej sah noch einmal zu der weißen Rieseneule – sie hatte sich nicht gerührt und mittlerweile auch aufgehört, den Kopf zu bewegen. Jetzt hockte sie auf dem Baum wie eine kunstvolle Skulptur aus weißem Marmor. Das einzig Lebendige an ihr schienen die Augen zu sein, aus denen sie Ulrics Sohn durchdringend und ohne zu blinzeln anstarrte. Andrej konnte Staniks Reaktion durchaus verstehen. Auch er hätte sich unter dem Blick dieser unheimlichen Augen unwohl gefühlt. An diesem Tier war irgendetwas … nicht geheuer.

Ohne es zu wollen, ja fast ohne es zu merken, lauschte er auch mit den Sinnen zu der Eule hinauf, die Stanik nicht zur Verfügung standen und von deren Existenz er nichts ahnte – aber da war nichts. Dieses Tier war einfach nur ein Tier, das sich ein wenig sonderbar benahm, das war alles.

Mit großer Anstrengung riss er seinen Blick von der Eule los und sah wieder zu Ulric und den beiden anderen hin.

Sie hatten den Toten mittlerweile gänzlich herumgedreht und vom Schnee befreit. Ulric hatte sich auf ein Knie herabsinken lassen und untersuchte den kopflosen Torso. Nach einer Weile stand er auf, ging zu einem zweiten Toten und verfuhr mit ihm genauso und schließlich auch mit einem dritten. Endlich richtete er sich wieder auf, klopfte sich den Schnee von der Hose und stampfte ein paarmal mit den Füßen auf, wobei er schmerzhaft das Gesicht verzog.

»Ihr solltet die nassen Stiefel ausziehen«, riet ihm Andrej. »Besser, Ihr geht auf nackten Füßen nach Hause als in durchnässten Stiefeln. Eure Zehen könnten erfrieren.«

»Ich weiß«, antwortete Ulric mit einem angedeuteten Lächeln. »Aber es ist nicht sehr weit.« Er wandte sich mit veränderter Stimme an seinen Sohn. »Sie sind es. Niklas und seine beiden Söhne. Und wahrscheinlich alle seine Knechte.«

Staniks Gesicht wirkte plötzlich wie versteinert. Er sagte nichts.

»Kanntet Ihr diese Männer?«, fragte Andrej.

»Ja«, antwortete Ulric. Allein die Art, wie er dieses eine Wort betonte, machte Andrej klar, dass er sie nicht einfach nur gekannt hatte. »Und wir kennen auch ihre Mörder«, fügte Ulric nach einer kurzen Weile hinzu.

Andrej verkniff sich die Frage, die Ulric mit dieser Antwort zweifellos provozieren wollte. Stattdessen stand er auf, klopfte sich in einer Nachahmung von Ulrics Bewegung den Schnee von der Hose und machte eine Kopfbewegung zu Abu Dun hin. »Wenn das so ist, dann habt Ihr doch sicher nichts dagegen, wenn wir uns verabschieden. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«

»Ihr wollt noch heute nach Fahlendorf?«, fragte Ulric.

Andrej nickte. »Ja.«

»Das ist in der Tat ein weiter Weg«, sagte Ulric in nachdenklichem Ton. »Wer auch immer Euch zu dieser Abkürzung geraten hat, hat Euch einen bösen Streich gespielt. Ihr müsst den ganzen Weg zurück und dann der Straße nach Norden folgen. Das werdet Ihr vor Einbruch der Dunkelheit nicht mehr schaffen.«

»Dann wird es eine lange und kalte Nacht für uns«, erwiderte Andrej kühl. Nachdenklich blickte er auf Ulrics durchnässte Stiefel hinab. »Und ich nehme an, es gibt kein Gasthaus auf dem Weg nach Fahlendorf?«

»Keines, das Muselmanen aufnimmt«, warf Stanik feindselig ein. Andrej ignorierte ihn, und Ulric tat das, was er offenbar immer tat, wenn sein ältester Sohn ungefragt das Wort ergriff: Er verdrehte die Augen.

»Wir können Euch nicht viel bieten«, sagte er. »Gewiss nicht den Luxus, den Männer wie Ihr zweifellos gewohnt seid. Aber es ist nicht weit bis zu unserem Haus, und wir haben ein Dach und ein warmes Feuer – und wenn Ihr mit dem zufrieden seid, was einfache Bauern wie wir haben, auch etwas zu essen.«

»Und das alles gegen einen bescheidenen Obolus, nehme ich an?«

Ulric grinste. Offensichtlich war ihm die Idee bisher noch gar nicht gekommen, aber ebenso unverkennbar gefiel sie ihm. »Einen sehr bescheidenen«, sagte er.

Stanik sog hörbar die Luft ein. »Vater! Du willst doch nicht im Ernst diesen Heiden unter unserem Dach …«

»Schweig!«, unterbrach ihn Ulric. Sein Blick ließ den Andrejs keine Sekunde los. »Nun, Andrej Delãny – was sagt Ihr?«

Offenbar war er der Meinung, Andrej ein Angebot unterbreitet zu haben, das dieser nicht ausschlagen konnte.

»Warum eigentlich nicht?«, fragte er.

Abu Dun grunzte. »Aber wir …«

»… wollen gewiss diese Nacht nicht im Schnee verbringen«, fiel ihm Andrej ins Wort. Er warf Abu Dun einen fast beschwörenden Blick zu, der weder Ulric noch dessen Söhnen entgehen konnte, aber das war ihm gleichgültig. Abu Duns ohnehin nicht besonders duldsame Miene verfinsterte sich weiter, aber er hob nur die Schultern.

Andrej wandte sich wieder an den Grauhaarigen. »Wir nehmen Eure Einladung gerne an«, sagte er.

Ulric nickte, als habe er nichts anderes erwartet, und wandte sich mit einer entsprechenden Geste an seine Begleiter. »Gehen wir. Heute ist es zu spät, um die Toten zu bergen. Wir kommen morgen wieder und sorgen dafür, dass sie ein … christliches Begräbnis bekommen.«

Täuschte sich Andrej, oder hatte er ganz kurz gezögert und Abu Dun mit einem raschen, verächtlichen Blick gestreift, bevor er das Wort christlich ausgesprochen hatte?

Andrej beschloss, den Gedanken vorerst nicht weiter zu verfolgen und nickte Abu Dun nur kurz auffordernd zu. Als er sich umdrehte, streifte sein Blick noch einmal die Bäume auf der anderen Seite des Baches.

Die Eule saß noch immer vollkommen reglos in den verschneiten Ästen, aber nun starrte sie eindeutig ihn an.

2

Wie sich zeigte, hatte Ulric die Wahrheit gesagt, sowohl was die Entfernung zu seinem Haus als auch dessen Einfachheit anging. Sie mussten einen längeren Fußmarsch zurücklegen, bevor sie Ulrics Heim erreichten. Das Haus war zwar unerwartet groß, aber sehr schlicht. Es lag auf einer großen Lichtung am Ufer desselben Baches, an dem sie die Toten gefunden hatten. An dieser Stelle war er breiter und nicht so reißend, sodass er fast zur Gänze zugefroren war. Ohne den Schnee, der in der vergangenen Nacht fast kniehoch gefallen war, hätte Andrej einen kleinen Gemüsegarten sehen können. Der windschiefe Zaun, der knapp ein Drittel der Lichtung zwischen dem Wald und dem zugefrorenen Bach abteilte, hätte den zertrampelten Morast eines Schweinegeheges markiert. Vielleicht hätte das Gebäude sogar recht ansehnlich gewirkt oder zumindest halbwegs einladend. So aber hatte Andrej im ersten Moment Mühe, es überhaupt zu sehen. Unter dem frisch gefallenen Schnee, der die Luft nicht nur mit einer unwirklichen Ruhe erfüllte, sondern auch die Konturen der Dinge verwischte und alle Linien sonderbar weich erscheinen ließ, hätten die niedrigen Gebäude auch eine Reihe flacher Erdhügel oder eine Ansammlung großer Zelte sein können. Es waren drei Kamine zu erkennen, aber nur aus einem kräuselte sich dünner hellgrauer Rauch in den nahezu wolkenlosen Himmel, dessen Farbe den Schnee ringsum noch heller erstrahlen ließ.

»Hier also lebt Ihr?«, fragte Andrej. Er hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, nachdem sie eine gute halbe Stunde in nahezu vollkommenem Schweigen durch den Wald gewandert waren.

Dennoch blieb Ulric stehen und sah ihn fast bestürzt an. »Es ist sicher nicht die Art von Unterkunft, die Männer wie Ihr gewohnt seid«, sagte er. Er machte eine Geste zu dem rauchenden Kamin hinauf. »Aber wir haben einen warmen Platz am Feuer für Euch, und meine Frau ist eine gute Köchin.«

Andrej antwortete nicht, sondern bedeutete Ulric nur mit einem knappen Nicken weiterzugehen. Sie legten die restliche Wegstrecke in schärferem Tempo zurück. Es bereitete Ulric jetzt sichtlich Mühe, sich überhaupt noch fortzubewegen. Er hatte während des gesamten Weges keinen Laut der Klage hören lassen, aber seine Füße mussten mittlerweile zu Eisklumpen gefroren sein. Andrej hätte es nicht überrascht, wenn der alte Mann wirklich ein paar Zehen einbüßen müsste.

So ungastlich Ulrics Zuhause auch von außen wirken mochte, innen war es warm, trocken und überraschend hell. Sie gelangten in einen großen Raum, der gleichzeitig als Wohn- und Schlafraum und als Küche zu dienen schien, wie es bei einfachen Gebäuden und Bauernhöfen in diesem Teil des Landes üblich war. Der Geruch nach Vieh und nassem Holz, das viel zu früh zum Feuern verwendet worden war, lag in der Luft, und von irgendwoher glaubte er auch, das unwillige Muhen einer einzelnen Kuh zu vernehmen. Er hörte weder das Grunzen von Schweinen noch das Gackern von Federvieh, auch roch er keine Pferde oder Ziegen. Abu Dun und er tauschten einen raschen Blick der Verständigung, während sie hintereinander durch die niedrige Tür traten. Was auch immer dieses Gebäude darstellte – ein Bauernhof war es jedenfalls nicht.

»Sucht Euch einen warmen Platz am Feuer«, forderte Ulric sie auf, während er atemlos vorauseilte und eine schmale Treppe im hinteren Teil des Raumes ansteuerte, die so steil in die Höhe führte, dass Andrej nicht sicher war, ob es sich nicht eher um eine breite Leiter handelte. Schon auf halbem Wege versuchte er, sich den linken Stiefel auszuziehen, wodurch sein Gang zu einem grotesk anmutenden Hüpfen wurde. So etwas machte er nicht zum ersten Mal, dachte Andrej. Auch der Rest seiner Söhne, Knechte, oder was auch immer sie waren, durchschritt erstaunlich schnell den großen Raum und verschwand hinter einer Tür. Schon nach wenigen Augenblicken waren Abu Dun und er allein – abgesehen von Stanik, der sich mit finsterem Gesicht und vor der Brust verschränkten Armen an die Wand neben dem Eingang lehnte und sie wütend musterte.

Andrej bedauerte es mittlerweile, Ulrics Einladung gefolgt zu sein, aber nun war es zu spät, um einen Rückzieher zu machen. In spätestens einer Stunde würde die Sonne untergehen, und er verspürte wenig Lust, die halbe Nacht im Sattel bei Temperaturen zu verbringen, die schon das Luftholen zur Qual machten.

Darüber hinaus lag neben all dem Qualm und Tiergestank noch ein anderer Geruch in der Luft, der Andrej schier das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ – der Geruch von gebratenem Fleisch und frisch gedünstetem Gemüse, ganz schwach nur, aber doch intensiv genug, dass es Andrej einige Mühe kostete, seinen Magen nicht hörbar knurren zu lassen.

Abu Dun hatte weitaus weniger Hemmungen. Schnaubend platzierte er seine gewaltige Körpermasse vor dem großen Ziegelofen in der Mitte des Raumes, streckte die Hände in Richtung der trockenen Wärme aus und wandte sich zugleich mit einem übertriebenen Stirnrunzeln an Stanik. »Irre ich mich, oder hat dein Vater etwas von Essen gesagt?«, fragte er.

Staniks Blick wurde noch finsterer. Er faltete die Arme halb auseinander, als ob er sich jeden Moment wütend auf den Nubier stürzen wollte, ließ sich aber dann wieder mit Kopf und Schultern gegen die Wand sinken und begnügte sich damit, Abu Dun trotzig anzufunkeln. »Könnt Ihr denn dafür bezahlen?«, fragte er herausfordernd.

»Wenn du das Geld eines Mohren nimmst …« Abu Dun hob mit einem breiten Grinsen die Schultern, während Stanik aussah, als treffe ihn jeden Moment der Schlag.

Andrej seufzte lautlos. Er sparte es sich, irgendetwas zu Abu Dun zu sagen – das hätte die Lage nur weiter verschlimmert. Dabei hatte Stanik großes Glück, dem ehemaligen Sklavenhändler und Piraten nicht einige Jahrzehnte früher begegnet zu sein. Damals hätte Abu Dun ihm allein für die Blicke, die er ihnen zuwarf, das Genick gebrochen.

»Wir können bezahlen«, sagte Andrej in einem Ton, von dem er zumindest hoffte, dass Stanik ihn als versöhnlich empfand. »Und wir sind deinem Vater auch äußerst dankbar, dass er so freundlich war, uns einen Platz unter eurem Dach anzubieten. Der Winter kommt früh in diesem Jahr. Und ich glaube, er wird sehr hart.«

Stanik presste die Lippen zu einem dünnen, blutleeren Strich zusammen, aber er schwieg. Er hatte den Wink verstanden, und wenn schon nicht die Furcht vor Abu Duns gewaltigen Muskeln und Andrejs Schwert, so hielt ihn doch zumindest der Respekt vor seinem Vater davon ab, die beiden unwillkommenen Gäste weiter zu provozieren. Er beließ es dabei, Abu Dun noch einen Moment lang anzufunkeln, dann senkte er mit einem Ruck die Arme und stapfte wütend davon. Die lieblos gezimmerte Brettertür, durch die er verschwand, war zu leicht, um sie hinter sich zuzuwerfen, aber es gelang ihm immerhin, den Eindruck zu erwecken, er habe es getan.

Abu Dun blickte ihm kopfschüttelnd nach. »Was für ein Idiot«, sagte er.

»Das ist er«, stimmte ihm Andrej zu. »Aber er ist vor allem ein junger Idiot.«

»Und ich ein alter?«, fragte Abu Dun argwöhnisch.

»Du benimmst dich auf jeden Fall nicht wie ein weiser alter Mann«, antwortete Andrej zurückhaltend. »Warum reizt du diesen Dummkopf?«

»Weil es mir Spaß macht?«, schlug Abu Dun vor.

»Hast du das nötig?«

»Nein«, gab Abu Dun zurück. »So wenig wie dieses …« Er sah sich um. »… Loch hier.«

Andrej hätte ihm gerne widersprochen, aber er konnte es nicht. Sie hatten sicherlich schon in schlimmeren Löchern übernachtet, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, wann und wo das gewesen war. »Warst du versessen darauf, die Nacht im Sattel zu verbringen?«, fragte er.

»Nein«, erwiderte Abu Dun. »Genauso wenig wie du. Aber darum geht es nicht. Was tun wir eigentlich hier?«

»Vielleicht will ich herausfinden, wer diese Leute umgebracht hat«, sagte Andrej.

»Warum?«

»Weil es nicht das erste Mal wäre, dass man einen heimatlosen Söldner und einen friedlichen Pilger aus dem Morgenland für etwas verantwortlich macht, mit dem sie rein gar nichts zu tun haben.«

Abu Dun blieb ernst. »Ich will nicht in etwas hineingezogen werden«, sagte er.

»Ich auch nicht«, antwortete Andrej.

Abu Dun setzte zu einem Widerspruch an, aber Andrej fuhr mit einem Kopfschütteln und leicht erhobener Stimme fort: »Wir sind weit weg vom Krieg, Abu Dun. Zu weit, als dass ein halbes Dutzend erschlagener Männer im Schnee niemandem auffallen würden, aber nicht weit genug, als dass man uns nicht nur allzu gern die Schuld daran geben würde.«

»So weit können wir gar nicht reiten«, sagte Abu Dun. »Was ist los mit dir, Hexenmeister? Wirst du auf deine alten Tage vorsichtig?«

»Vielleicht ist mir nur daran gelegen, meine alten Tage auch noch zu erleben«, entgegnete Andrej mit schneidender Stimme.

Abu Dun blinzelte, und auch Andrej staunte für einen Moment über die Schärfe seiner eigenen Stimme.

Abu Dun war klug genug, nichts mehr zu sagen, aber sein Blick sprach Bände. Andrej hielt ihm noch einen Moment lang trotzig Stand, ehe er sich mit einem Ruck wegdrehte und ebenso wie sein Gefährte die Hände in Richtung des Ofens ausstreckte, um die Wärme aufzusaugen.

Eine ungute Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Andrej fragte sich, was mit ihm los war. Etwas war mit ihm geschehen, als er in den Katakomben Wiens auf Frederic getroffen war. Was immer es war – es war noch lange nicht zu Ende.

Ulrics Frau, die jung genug wirkte, um seine Tochter sein zu können – und unter all dem Schmutz und Grind auf ihrem Gesicht vermutlich sogar ganz hübsch war, servierte ihnen etwas zu essen. Andrejs Nase hatte ihn nicht getäuscht: Die Mahlzeit war einfach, aber köstlich, und es reichte, um selbst Abu Duns gewaltigen Appetit zu stillen. Ulric und seine fünf Söhne – bei den drei anderen Männern, die mit ihnen draußen auf der Lichtung gewesen waren, handelte es sich um Knechte, wie Andrej im Laufe des Gesprächs erfuhr – gesellten sich nach und nach zu ihnen, und sie redeten über dies und das, ohne dass Andrej viel mehr als die Vornamen besagter Söhne erfuhr, die zu merken er sich nicht die Mühe machte.

Ulric klagte, dass der frühe und ungewöhnlich harte Wintereinbruch nicht nur ihn und seine Familie, sondern alle Bauern in diesem Teil des Landes in den Ruin zu treiben drohte.

Es wäre ein völlig harmloses Gespräch unter Fremden gewesen, die einander nicht viel zu sagen hatten und nicht genau wussten, ob sie dem anderen mit Respekt oder Misstrauen begegnen sollten, hätte nicht die ganze Zeit über eine fast greifbare Spannung in der Luft gelegen.

Als sie fertig gegessen hatten, erhob sich Abu Dun und ging nach draußen, um einem menschlichen Bedürfnis nachzukommen, wie er es ausdrückte. Andrej nickte nur, aber Ulric erweckte für einen Moment den Eindruck, als wolle er ihn zurückhalten. Er tat es nicht, blickte dem Nubier aber mit unverkennbarer Besorgnis hinterher und wandte sich dann mit einem missbilligenden Stirnrunzeln an Andrej.

»Euer Freund ist ein mutiger Mann«, sagte er, »aber er sollte dennoch nicht allein nach draußen gehen.«

»Ich denke, Abu Dun ist bei dem, was er da draußen zu erledigen hat, lieber allein«, antwortete Andrej mit einem flüchtigen Lächeln. »Ich würde es jedenfalls nicht wagen, ihn dabei zu stören.«

Ulric blinzelte überrascht.

»Abu Dun wirkt manchmal ein bisschen schroff, aber es gibt keinen Grund, ihn mehr zu fürchten als mich«, fuhr Andrej fort. Er lächelte, behielt aber Ulric bei diesen Worten scharf im Auge, und auch die Reaktion seiner Söhne entging ihm keineswegs. Nicht eine Silbe, die er geäußert hatte, war zufällig oder ohne Bedacht dahingesagt, und zumindest Ulric und sein ältester Sohn hatten ihn sehr wohl verstanden.

»Ich weiß«, sagte Ulric, nachdem er ihn einige Augenblicke lang durchdringend, aber vollkommen ausdruckslos angestarrt hatte. »Dennoch wäre es mir lieber, zuerst mit Euch zu reden.«

»Warum nicht?«, antwortete Andrej achselzuckend. Wenn sich Abu Dun nicht allzu weit vom Haus entfernt hatte, würde er sowieso jedes Wort verstehen, das gesprochen wurde.

Ulric druckste noch einen Moment lang herum und deutete dann mit einer Kopfbewegung auf das Damaszenerschwert an Andrejs Seite. »Ihr tragt Schwerter«, sagte er.

»Tut das nicht jedermann?«, fragte Andrej.

»Nicht hier«, gab Ulric zurück. »Ihr wart im Krieg?«

»In dem einen oder anderen«, antwortete Andrej. Den letzten haben wir beendet, fügte er in Gedanken hinzu.

Ulric blickte weiter konzentriert auf den kunstvoll verzierten Schwertgriff, und Andrej konnte ihm regelrecht ansehen, wie sorgsam er sich seine nächsten Worte zurechtlegte. »Seid Ihr … Söldner?«, fragte er schließlich.

»Ja«, antwortete Andrej geradeheraus. Er hatte diese Frage erwartet. Mit leicht erhobener Stimme und bevor Ulric weitersprechen konnte, fuhr er fort: »Aber wir sind nicht auf der Suche danach, unsere Dienste einem neuen Herrn zur Verfügung zu stellen.«

»Die wir uns vermutlich auch gar nicht leisten könnten«, fügte Ulric betrübt hinzu. »Wollt Ihr vielleicht trotzdem hören, wer die Männer waren, deren … Leichen Ihr heute im Wald gefunden habt?«

Das unmerkliche Zögern in seiner Stimme entging Andrej nicht, und er beantwortete die Frage auch nicht direkt. »Ihr habt diese Männer gekannt?«

»Sie waren …« Wieder zögerte er fast unmerklich. »… gute Nachbarn von uns. Und wir wissen auch, wer sie getötet hat. Und warum.«

»Und jetzt wollt Ihr Rache«, vermutete Andrej.

»Ich habe Euch gefragt, ob Ihr Söldner seid, nicht käufliche Mörder«, antwortete Ulric scharf. »Ihr habt Recht: Ich kannte diese Männer, und sie waren mehr als nur Nachbarn, sie waren auch unsere Freunde. Aber es geht nicht um Rache. Ich fürchte um die Sicherheit meiner Familie. Ich will nicht, dass meinen Söhnen und meiner Frau dasselbe Schicksal widerfährt.«

»Und Euch?«

Ulric machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich habe so oder so nicht mehr allzu lange zu leben. Das Leben meiner Söhne hingegen beginnt erst.«

Andrej fragte sich, wie lange Ulric wohl gebraucht hatte, um sich diese Worte zu überlegen, und ob er wohl wusste, wie unsinnig sie in seinen Ohren klangen. Er schwieg.

Nachdem Ulric eine Weile vergeblich auf eine Antwort gewartet hatte, hob er die Schultern und fuhr mit einem raschen Seitenblick auf Stanik fort: »Wir sind einfache Menschen, Andrej. Wir tun unsere Arbeit und huldigen Gott. Wir gehorchen unseren Fürsten und versuchen, in Frieden mit unseren Nachbarn zu leben.«

»Das sah mir vorhin aber nicht so aus«, sagte Andrej vorsichtig. »Ihr wart bewaffnet. Und Ihr …«

»Woher sollen wir wissen, dass Ihr und Euer Heidenfreund nicht zu der Hexe gehört?«, fiel ihm Stanik ins Wort. Seine Augen blitzten kampflustig; sogar noch mehr, nachdem Ulric ihm einen ebenso warnenden wie erschrockenen Blick zugeworfen hatte. »Genau genommen wissen wir es ja immer noch nicht.«

»Stanik!«, mahnte Ulric streng.

»Was?«, fauchte Stanik. »Wir haben nur sein Wort. Das Wort eines Mannes, den wir nicht kennen, und eines Türken, den wir noch viel weniger kennen.«

»Nubier«, dröhnte eine Stimme von der Tür her, »ich bin Nubier, kein Türke.« Abu Dun schob die Tür, die er völlig unbemerkt geöffnet hatte, hinter sich zu und trat gebückt noch zwei Schritte näher, bevor er wieder stehen blieb und mit einem Lächeln, aber in eisigem Ton, fortfuhr: »Da, wo ich herkomme, könntest du allein für diesen Irrtum den Kopf verlieren, mein Junge.« Er wandte sich um, wobei sein Blick flüchtig den Andrejs streifte. Draußen ist alles in Ordnung.

Stanik fuhr auf, aber Andrej hob rasch die Hand und wandte sich in besänftigendem Ton an Ulric. »Euer Sohn hat vollkommen recht«, sagte er mit leicht erhobener Stimme. »Ihr wisst nichts von uns. Ihr kennt nur unsere Namen, und nicht einmal da könnt Ihr sicher sein, dass es die richtigen sind. Warum solltet Ihr uns trauen?« Oder wir Euch?

»Wir wissen, wer den alten Niklas und seine Söhne umgebracht hat«, ergriff Ulric wieder das Wort. Er hob die Schultern. »Und wir wissen auch, dass Ihr nicht aus dieser Gegend seid.«

»Das ist noch kein Grund, uns zu trauen«, widersprach Andrej.

»Von welcher Hexe hast du gesprochen?«, mischte sich Abu Dun ein.

Stanik starrte ihn auf eine Weise an, die zu verstehen gab, dass es unter seiner Würde war, mit einem Heiden zu reden. Dann aber hob er die Schultern und knurrte: »Von der verdammten Blutgräfin.«

Abu Dun tauschte einen überraschten Blick mit Andrej. »Blutgräfin?«

»Die Leute nennen sie halt so«, sagte Ulric rasch, in fast erschrockenem Ton und mit einem mahnenden Blick in Richtung seines Sohnes, den dieser allerdings nur mit einem trotzigen Blick erwiderte. Er schüttelte müde den Kopf. »Ich halte nichts davon. So etwas ist abergläubisches Geschwätz, das ihr mehr Macht verleiht, als ihr zusteht.«

Andrej war verblüfft. Eine so scharfsinnige Bemerkung hätte er von einem Mann wie ihm nicht erwartet. Auf der anderen Seite war ihm schon längst klar geworden, dass Ulric nicht der ungebildete, einfache Bauer war, der zu sein er vorgab. Er schwieg und wartete darauf, dass Ulric von sich aus weitersprach.

»Wir hatten ein gutes Leben, bevor sie gekommen ist«, fuhr Ulric nach einer Weile unbehaglichen Schweigens fort. »Wir sind einfache Menschen, Andrej, aber ehrlich und fleißig. Gott meinte es gut mit uns. Unsere Kinder sind gesund, wir mussten nur selten hungern, und selbst der Krieg, der das Land verwüstet, hat uns all die Jahre über verschont.«

»Und nun hat Gott euch verlassen?«, vermutete Abu Dun. In Ulrics Augen blitzte kurz unverhohlener Hass auf, als er des leicht spöttischen Tons in der Stimme des Nubiers gewahr wurde. Noch bemerkenswerter war Staniks Reaktion: Er hatte seine Züge unter Kontrolle, aber seine Hand zuckte in seiner Wut mit einer unbewussten Bewegung zum Gürtel, was Andrejs Erfahrung nach nur einen einzigen Schluss zuließ: Er trug dort normalerweise eine Waffe. Einfache Bauern?

»Nein«, sagte Ulric gepresst. »Aber der Teufel hat seine Botschafterin zu uns geschickt, um uns auf die Probe zu stellen.«

Abu Dun setzte zu einer weiteren spöttischen Bemerkung an, doch Andrej brachte ihn mit einer raschen Geste zum Verstummen. »Ulric«, sagte er sanft. »Ich halte Euch für einen klugen Mann. Klüger jedenfalls, als Ihr uns vormacht. Also hört auf, den Dummkopf zu spielen. Ihr wisst so gut wie ich, dass es keinen Teufel mit Hörnern und Pferdefuß gibt, der nachts durch die Schatten schleicht, um die Seelen der Menschen zu fressen.«

»Und gäbe es ihn, dann wären wir wohl die Falschen, um ihn zu bekämpfen«, fügte Abu Dun mit einem Grinsen hinzu, das seine weißen Zähne wie ein Raubtiergebiss in seinem ebenholzfarbenen Gesicht aufblitzen ließ. Ulric wollte auffahren, aber Andrej wiederholte seine besänftigende Geste und forderte ihn mit schärferer Stimme auf: »Warum erzählt Ihr uns nicht einfach, was geschehen ist?«

»Alles war so, wie ich es gesagt habe«, beharrte Ulric. Er warf einen wütenden Blick in Abu Duns Richtung, der dessen Grinsen aber nur noch breiter werden ließ. »Bis zum letzten Frühjahr. Bis sie kam.«

»Die Hexe«, vermutete Abu Dun.

Ulric nickte. »Ja«, sagte er. Wieder irrte sein Blick beinahe ohne sein Zutun zu Stanik hin und kehrte dann fast schuldbewusst zu Andrejs Gesicht zurück. Widerwillig hob er die Schultern.

Abu Dun tauschte einen raschen, verschwörerischen Blick mit Andrej, den dieser jedoch mit einem angedeuteten Kopfschütteln beantwortete, was den Nubier jedoch nicht davon zurückhielt, sich erneut an Ulric zu wenden und ihn mit einer herrischen Handbewegung aufzufordern, mit seiner Geschichte fortzufahren: »Erzähl mir von dieser Hexe. Wer ist sie? Wo kommt sie her, und warum nennt ihr sie so?«

»Niemand weiß, wer sie ist oder wo sie herkommt«, antwortete Stanik anstelle seines Vaters. Seine Stimme war nahezu ausdruckslos, doch weder Andrej noch Abu Dun entging die unbewusste Bewegung, mit der sich seine Finger um den Griff eines imaginären Schwerts an seiner Seite schlossen. »Aber sie ist eine Hexe! Sie tötet Menschen.«

»Hast du das gesehen?«, fragte Andrej.

»Ich muss nichts sehen, um zu wissen, was ich weiß«, antwortete Stanik. Abu Dun setzte zu einer scharfen Entgegnung an, aber Ulric kam ihm zuvor. Er wandte sich in gleichermaßen befehlendem wie herrischem Ton an seinen Sohn: »Warum gehst du nicht zusammen mit deinen Brüdern nach draußen und siehst nach dem Rechten?«, fragte er.

Stanik starrte ihn eine Sekunde lang voll unverhohlener Wut an, doch dann sprang er zu Andrejs Überraschung mit einem Ruck auf und stapfte aus dem Haus. Nur einen Augenblick später folgten ihm seine Brüder, doch Ulric ließ noch einmal etliche Sekunden verstreichen, bevor er sich mit einer um Vergebung bittenden Geste wieder an sie wandte.

»Ihr müsst meinen Sohn verstehen«, sagte er.

»So?«, fragte Andrej spröde. »Müssen wir das?«

Ulric biss sich auf die Unterlippe. Andrej konnte sehen, wie schwer es ihm fiel, weiterhin die Fassung zu bewahren. Doch er beließ es auch jetzt bei einem angedeuteten Schulterzucken. »Er ist jung«, sagte er, als sei das Erklärung und Entschuldigung zugleich für alles, was bisher geschehen war. »Und er ist verliebt«, fügte er noch hinzu.

»Waren wir das nicht alle einmal?«, fragte Abu Dun.

»Was?«, fragte Ulric. »Jung – oder verliebt?«

»Beides.«

»Vermutlich«, antwortete Ulric. »Nur wurde den meisten von uns nicht die Frau genommen, die uns versprochen war.« Er wies auf die Tür, durch die Stanik verschwunden war. »Der alte Niklas hatte nicht nur drei Söhne, sondern auch zwei Töchter.«

»Niklas? Der Tote im Wald?«

Ulric nickte. »Ja. Seine älteste Tochter war Stanik versprochen, schon als sie beide noch Kinder waren. Sie ging vor zwei Wochen auf das Schloss der Hexe, und seither hat sie niemand mehr gesehen.«

»Und nun glaubt Ihr, diese …Hexe hat etwas mit ihrem Verschwinden zu tun?«, fragte Andrej.

»Elenja ist nicht die Erste«, erwiderte Ulric. »Die Hexe ist vor acht Monaten hier aufgetaucht. Seither sind mehrere junge Frauen verschwunden. Immer bei Neumond, und immer standen sie in den Diensten der Hexe oder wurden zuletzt in der Nähe ihres Hauses gesehen.«

Abu Dun wollte etwas sagen, doch Andrej kam ihm zuvor. »Wenn das wirklich so ist, warum wendet Ihr Euch dann nicht an die Obrigkeit?«, fragte er. »Gibt es in Fahlendorf keinen Grafen oder Baron oder sonst etwas in der Art?«

Ulric lachte. Es klang nicht sehr heiter. »Die Obrigkeit?« Er machte ein abfälliges Geräusch. »Ihr müsst wirklich von sehr weit her kommen, wenn Ihr glaubt, dass sich die Mächtigen für die Geschicke von einfachen Leuten wie uns interessieren. Wir waren in der Stadt. Sie haben uns davongejagt und gedroht, den Nächsten zu hängen, der es wagt, ohne Beweise eine solch ungeheuerliche Anschuldigung gegen die Gräfin vorzubringen.«

»Aber wenn Ihr beweisen könnt, dass all diese jungen Frauen verschwunden sind, nachdem sie in den Dienst dieser Frau getreten sind …«, begann Andrej, wurde aber sofort wieder von Ulric unterbrochen.

»Nicht alle von ihnen standen in ihren Diensten«, sagte er. »Elenja war eine davon. Sonja – Niklas’ jüngere Tochter – eine andere. Sie verschwand vor vier Monaten.«

»Trotzdem hat Niklas auch noch seine zweite Tochter zu ihr geschickt?«, fragte Andrej zweifelnd. »Das kommt mir nicht sehr glaubhaft vor.«

»Genau das hat der Kommandant der Miliz von Fahlendorf auch gesagt«, antwortete Ulric bitter. »Er hat Niklas fünf Stockschläge gegeben und ihn davonjagen lassen. Daraufhin ist Niklas mit seinen Söhnen und Knechten zum Schloss der Blutgräfin gegangen, um nach seinen Töchtern zu suchen. Den Rest kennt Ihr.«

»Ihr glaubt, sie hätte all diese Männer getötet?«

»Nicht sie«, sagte Ulric. »Dieser Dämon, der in ihren Diensten steht.«

Andrej hob nur die linke Augenbraue, aber Abu Dun sagte spöttisch: »Vorhin war es noch der Teufel. Jetzt ist es ein Dämon. Vielleicht solltest du dich allmählich entscheiden.«

»Wahrscheinlich ist es ein ganz normaler Mensch, wie ich und Ihr«, antwortete Ulric. »Trotzdem ist er Dämon und Teufel in einem. Niemand kann ihn besiegen. Keiner von uns jedenfalls. Ich habe gesehen, wie er ganz allein drei Männer erschlagen hat, mit seinen bloßen Händen. Und Ihr habt gesehen, was er Niklas und seinen Söhnen angetan hat.«

»Und jetzt erwartet Ihr, dass wir hingehen und diesen Mann töten – der doch angeblich unbesiegbar ist?«

»Nur für uns«, entgegnete Ulric. Er klang jetzt eine Spur nervöser als noch vor einem Augenblick, und er wich Andrejs Blick aus. »Wir sind keine Krieger. Ihr schon.«

»Ihr erwartet also, dass wir unser Leben für Euch aufs Spiel setzen«, stellte Andrej ruhig fest. Abu Dun sah ihn verwirrt an, doch Andrej fuhr unbeirrt fort: »Selbst wenn Abu Dun und ich bereit wären, das zu tun – und das, was Ihr uns bisher erzählt habt, reicht dazu noch lange nicht aus –, wie wollt Ihr uns bezahlen? Wie viel, glaubt Ihr, ist uns unser Leben wert?«

»Wir sind keine reichen Leute«, antwortete Ulric zögernd. »Aber viele von uns haben ihre Töchter an die Hexe verloren, und alle haben Angst, dass es sie als Nächste treffen könnte. Nennt uns Euren Preis, und wir werden die Summe zusammenbekommen.«

»Und wenn nicht?«, fragte Andrej kühl. Abu Duns Stirnrunzeln wurde noch tiefer, aber Andrej missachtete es und bemühte sich, sein Gegenüber so verächtlich und gefühllos zu mustern, wie er nur konnte. »Was, wenn wir wirklich zu teuer für Euch sind?«

»Vielleicht nehmt Ihr ja mein Leben als Pfand«, erwiderte Ulric mit einem hilflosen Achselzucken. »Darüber hinaus gibt es im Schloss der Hexe mehr als genug Dinge von Wert, an denen Ihr Euch schadlos halten könnt.«

»Wir sind keine Diebe«, sagte Andrej kalt.

»Werdet Ihr über mein Angebot nachdenken?«, fragte Ulric ungerührt.

»Vielleicht«, antwortete Andrej. Er machte eine entsprechende Handbewegung. »Aber nicht heute. Es war ein anstrengender Tag.«

»Ich verstehe.« Ulric wirkte nicht enttäuscht, sondern eher so, als habe er mit genau dieser Reaktion gerechnet und nur insgeheim gehofft, dass es vielleicht doch anders käme, als er aufstand und sich mit einer müden Geste zur nach oben führenden Treppe umwandte. »Euer Freund und Ihr, Ihr könnt für diese Nacht unsere Bettstatt haben. Meine Frau und ich schlafen im Stall, bei den Tieren.«

Andrej nickte nur. Auch wenn er ihn nicht ansah, konnte er spüren, dass es Abu Dun mit jedem Augenblick schwerer fiel zu schweigen, doch der Nubier beherrschte sich, bis Ulric durch eine der Türen verschwunden war. Dann jedoch wirbelte er auf dem Absatz herum und fuhr Andrej an: »Was ist in dich gefahren, Hexenmeister? Warum bist du so …«

»Vorsichtig?«, unterbrach ihn Andrej.

Abu Dun presste die Kiefer so fest aufeinander, dass Andrej seine Knochen knacken hören konnte. »Ich hätte ein anderes Wort benutzt«, gab er zurück.

»Ja«, knurrte Andrej. »Das denke ich mir.« Er maß Abu Dun mit einem fast abschätzigen Blick, wandte sich ebenso ruckartig wie zuvor sein Gefährte um und ging mit so schnellen Schritten auf die Treppe zu, dass Abu Dun fast Mühe hatte mitzuhalten.

Ulrics Schlafgemachnahm zwar das gesamte obere Geschoss des Hauses ein, doch nachdem Andrej sich im Schein der einzelnen flackernden Kerze umgesehen hatte, war er nicht mehr sicher, einen wirklich guten Tausch gemacht zu haben, als er Ulric und seiner Frau den Schlafplatz im Stall überlassen hatte. Der Raum war nahezu unmöbliert – was nicht hieß, dass er leer gewesen wäre. Vielmehr war er mit Gerümpel, zerbrochenen Möbeln, großen Kisten und Säcken und Körben voller Krempel dermaßen vollgestopft, dass sich der Weg zu dem modrigen Strohsack, der Ulric allem Anschein nach als Bett diente, mehr als schwierig gestaltete. Andrej sparte sich jeden Kommentar, aber er mied den übel riechenden Strohsack und sah sich missmutig nach einem halbwegs sauberen Fleckchen um, auf dem er sich zum Schlafen ausstrecken konnte.

»Was zum Teufel ist in dich gefahren, Andrej?«, fragte Abu Dun hinter ihm. Er sprach nicht besonders laut, aber Andrej hörte das nahezu unmerkliche Zittern in seiner Stimme, das jedem anderen vermutlich entgangen wäre, ihm aber deutlich verriet, unter welcher Anspannung der nubische Riese stand.

Betont langsam drehte er sich zu ihm um. »Was meinst du damit?«

»Du weißt verdammt genau, was ich meine«, antwortete Abu Dun, jetzt nur noch mühsam beherrscht. »Wieso bist du so feindselig zu diesen Leuten?«

»Bin ich das?«, fragte Andrej. Natürlich war er es. Seine Frage diente lediglich dem Zweck, Zeit zu schinden. Er konnte Abu Duns Frage nur allzu gut verstehen, denn er selbst fragte sich dasselbe. Dennoch schüttelte er nach einem weiteren Moment den Kopf, entfernte sich ein paar Schritte und wandte Abu Dun demonstrativ den Rücken zu, während er sich mit untergeschlagenen Beinen zu Boden sinken ließ und Kopf und Schultern gegen eine wurmstichige Kiste lehnte. »Wir wissen nichts über diese Leute, Abu Dun. Und sag mir nicht, dass du ihnen traust. Davon abgesehen können sie uns nicht bezahlen.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich weiß es eben«, schnappte Andrej. »Weil ich es für gewöhnlich spüre, wenn ich belogen werde – genauso wie du!«

Einen Moment lang sah es so aus, als würde Abu Dun nun endgültig die Beherrschung verlieren. Ein Schatten huschte über sein ebenholzschwarzes Gesicht, das nahezu mit der Dunkelheit auf dem Dachboden zu verschmelzen schien. Andrej spürte, wie schwer es ihm fiel, nicht in einem ähnlichen Ton auf seine Worte zu reagieren. Schließlich hob er nur die Schultern und zwang ein dünnes Lächeln auf seine Lippen. »Ja, da hast du wohl recht. Aber das ist keine Antwort auf meine Frage.«

»Wir haben keine Zeit für solch einen Unsinn«, antwortete Andrej.