Die Chronik der Unsterblichen - Die Wiederkehr - Wolfgang Hohlbein - E-Book

Die Chronik der Unsterblichen - Die Wiederkehr E-Book

Wolfgang Hohlbein

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Beschreibung

Band 5 der spektakulären Vampir-Serie vom Fantasy-Bestseller-Autor Wolfgang Hohlbein!

Österreich im 16. Jahrhundert: Ein gewaltiges Türkenheer belagert die Stadt Wien, wo der Schwertmeister Andrej und Abu Dun nach dem Gelehrten Franz von Breiteneck suchen. Sie hoffen, dass der belesene Mann ihnen mehr über das Rätsel ihrer Vampyr-Identität erzählen kann. Die beiden Krieger werden in die Verteidigung der Stadt eingebunden. Abermals erweisen sich ihre Kampfkünste und ihre Unsterblichkeit als äußerst nützlich. Doch der Oberbefehlshaber der Wiener Verteidiger schöpft Verdacht. Kurz darauf gerät Andrej in einen Hinterhalt und wird in ein Verlies geworfen ...

Wolfgang Hohlbeins erfolgreicher Fantasy-Zyklus "Die Chronik der Unsterblichen als eBook bei beBEYOND. Die weiteren Folgen:

Band 1: Am Abgrund

Band 2: Der Vampyr

Band 3: Der Todesstoß

Band 4: Der Untergang

Band 6: Die Blutgräfin

Band 7: Der Gejagte

Band 8: Die Verfluchten

Band 8,5: Blutkrieg

Band 9: Das Dämonenschiff

Band 10: Göttersterben

eBooks von beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen.

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Seitenzahl: 460

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Inhalt

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

1

2

3

4

5

6

7

8

9

Über das Buch

Band 5 der spektakulären Vampir-Serie vom Fantasy-Bestseller-Autor Wolfgang Hohlbein! Österreich im 16. Jahrhundert: Ein gewaltiges Türkenheer belagert die Stadt Wien, wo der Schwertmeister Andrej und Abu Dun nach dem Gelehrten Franz von Breiteneck suchen. Sie hoffen, dass der belesene Mann ihnen mehr über das Rätsel ihrer Vampyr-Identität erzählen kann. Die beiden Krieger werden in die Verteidigung der Stadt eingebunden. Abermals erweisen sich ihre Kampfkünste und ihre Unsterblichkeit als äußerst nützlich. Doch der Oberbefehlshaber der Wiener Verteidiger schöpft Verdacht. Kurz darauf gerät Andrej in einen Hinterhalt und wird in ein Verlies geworfen …

Über den Autor

Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, lebt mit seiner Frau Heike und seinen Kindern am Niederrhein, umgeben von einer Schar Katzen und Hunde. Er ist einer der erfolgreichsten deutschen Autoren der Gegenwart. Seine Werke wurden in 47 Sprachen übersetzt und mit über zwanzig nationalen und ungezählten internationalen Preisen ausgezeichnet. Weitere Informationen unter: www.hohlbein.de.

WOLFGANG HOHLBEIN

DIE WIEDERKEHR

beBEYOND

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe

© 2003 by LYX.digital, Köln

Für diese Ausgabe

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat/Redaktion: Dieter Winkler

Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven © thinkstock: Betty4240 | Colin_Hunter | panda3800; © shutterstock: Dm_Cherry

Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-5905-3

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

1

Der letzte Schwerthieb war ihm gefährlich nahe gekommen. Nahe genug, dass er den Luftzug der Klinge hatte spüren können, die an seiner Wange entlanggestrichen war. Er machte einen tänzelnden halben Schritt zurück, täuschte eine Ausfallbewegung nach links vor, bewegte sich dann blitzschnell in die entgegengesetzte Richtung, während er zugleich sein Schwert in einer schraubenden Bewegung nach oben brachte. Für jeden unerfahrenen Schwertkämpfer wäre diese doppelte Täuschung tödlich gewesen. Doch der Janitscharenhauptmann, dem Andrej gegenüberstand, war ein ausgezeichneter Schwertkämpfer, und genau dieser Umstand wurde ihm zum Verhängnis: Er unterschätzte seinen Gegner. Deutlich kräftiger als Andrej und mindestens einen Kopf größer, benutzte er seine Waffe sehr gewandt und durchschaute die Täuschung.

Genau das hatte Andrej gehofft. Als sich die Waffe nach einer komplizierten Bewegung um seine eigene Klinge herumwand und auf die Seite seines Halses zielte – ein Hieb, der zweifellos wuchtig genug war, um ihn auf der Stelle enthaupten zu können –, machte er einen halben Schritt nach vorn und riss den linken Arm in die Höhe. Die Augen des Türken weiteten sich ungläubig. Die Klinge prallte gegen Andrejs hochgerissenen Arm, zerschnitt den Stoff seines Hemdes und prallte Funken sprühend gegen den stählernen Armschutz, den er darunter trug. Dennoch hätte der Hieb den Kampf entschieden, denn die bloße Wucht des Schlages zerschmetterte Andrejs Handgelenk trotz des stählernen Schutzes.

Aber der Krieger hatte noch nie einem Feind gegenübergestanden, der nicht nur in der Lage war, körperlichen Schmerz nicht wahrzunehmen, sondern sich auch durch Verletzungen nicht schwächen ließ. Andrej schlug die Waffe mit der bloßen Hand beiseite, schenkte seinem Gegenüber noch für einen kurzen Moment das Leben – gerade lange genug, dass dieser begriff, wie schrecklich falsch er den schlanken, dunkelhaarigen Giaur eingeschätzt hatte, mit dem er leichtes Spiel zu haben geglaubt hatte – und stieß ihm dann das Schwert in die Brust.

Schwer atmend trat er einen Schritt zurück, um sich hastig umzusehen. Der Sieg, den er errungen hatte, war gering, wie er sich niedergeschlagen eingestehen musste.

Der Kampf hatte mit dem ersten Licht des Tages begonnen und bis in den frühen Nachmittag hinein nichts von seiner Schärfe eingebüßt. Die Ebene vor der Stadt war schwarz von den Kriegern des türkischen Heeres, das den Wellen einer tödlichen Brandung gleich immer wieder gegen die Stadtmauer anstürmte. Angriff auf Angriff wallte gegen die Mauern und brach sich an der Entschlossenheit der Verteidiger. Andrej verstand längst nicht mehr, woher die muselmanischen Krieger den Mut für diesen selbstmörderischen Kampf nahmen.

Dennoch: Auf einen gefallenen oder verwundeten Verteidiger kamen zehn Angreifer. Aber auch die Verluste auf Seiten des feindlichen Heeres waren fürchterlich. Trotzdem war die Lage aussichtslos. Wien würde fallen. Die Zahl der Angreifer überstieg die der Verteidiger um ein Vielfaches. Allenfalls ein Wunder konnte die Stadt noch retten, und Andrej hatte aufgehört, an Wunder zu glauben.

Er stieß einem weiteren Gegner sein Schwert in die Brust und enthauptete mit der gleichen Bewegung einen zweiten Türken, der gerade über die Mauer zu klettern versuchte. Dann zog er sich endgültig ein paar Schritte zurück.

Dass er seinen Platz an den Zinnen aufgab, kostete möglicherweise viele der Verteidiger das Leben. Die Männer, die sich der Flut der Krieger todesmutig entgegengeworfen hatten, kämpften mit der Kraft der Verzweiflung, aber sie standen auf verlorenem Posten, und sie wussten es. Andrej hatte an diesem Tag zahllose Heldentaten gesehen, aber was nutzten der größte Mut und die vollkommenste Opferbereitschaft in einem Kampf, der nicht gewonnen werden konnte? Ohne Abu Dun und ihn wäre dieser Mauerabschnitt schon vor Stunden eingenommen worden.

Die Stadt wird fallen, dachte Andrej bitter. Er zählte nicht mehr, wie viele Gegner er getötet und wie viele Sturmleitern er samt der Männer, die sie hinaufzuklettern versuchten, in die Tiefe gestoßen hatte. Er war unendlich müde. Seine linke Hand schmerzte, und obwohl er spüren konnte, wie sich der zerschmetterte Knochen zusammenfügte und zerrissenes Fleisch und Sehnen wieder zusammenwuchsen, dauerte es doch länger, als es eigentlich hätte dauern sollen – ein deutlicher Hinweis darauf, dass auch seinen übermenschlichen Kräften Grenzen gesetzt waren, die er nun bald erreicht hatte. Abu Dun und er mochten Wesen sein, die nur sehr schwer umzubringen waren – aber man konnte sie töten. Andrej selbst hatte genug Wesen seiner Art getötet, um das zu wissen. Aber sie waren nahezu unsterblich.

Andrej schüttelte den Gedanken ab, schloss prüfend die linke Hand zur Faust und stürmte wieder vor. An der Mauer mühte sich einer der Verteidiger ab, eine Sturmleiter mit einer langen Stange umzustoßen, aber seine Kräfte reichten nicht mehr aus. Andrej erinnerte sich, den jungen Burschen schon vor einer geraumen Weile gesehen zu haben, doch mittlerweile blutete er aus mehreren Wunden, und es sah nicht mehr so aus, als könne er die Stange auch nur aus eigener Kraft halten, geschweige denn sie zu seiner Verteidigung einsetzen.

Andrej packte entschlossen zu und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, die Leiter immer weiter zurückzuschieben, bis sie schließlich mitsamt ihrer Besatzung nach hinten kippte und umfiel. Weitere Männer stürzten in den Tod, weitere Leben, die vollkommen sinnlos ausgelöscht wurden. Andrej war so müde, doch es war nicht die körperliche Erschöpfung, die ihm zu schaffen machte. Er war des Tötens müde.

Abu Dun und er waren in der verzweifelten Hoffnung nach Wien gekommen, endlich Frieden zu finden – oder zumindest einige Antworten. Aber statt Antworten hatten sich neue Fragen aufgetan. Die Bedeutung des Wortes Frieden hatten die meisten Bewohner dieser Stadt schon vor langer Zeit vergessen.

Auch ihm gönnte das Schicksal keine Atempause.

Ein weiterer Türke flankte über die Mauer, tötete mit einem blitzartigen Stich den jungen österreichischen Landsknecht, dem Andrej gerade beigestanden hatte, und warf sich noch in der gleichen Bewegung auf ihn. Andrej duckte sich unter einem wuchtigen Hieb seines Säbels, drehte sich halb um seine Achse und versetzte dem Angreifer einen kräftigen Fußtritt, der seine Kniescheibe zerschmetterte. Mit einem gellenden Schmerzensschrei kippte der Muselman nach vorn und direkt in Andrejs hochgerissenes Schwert.

Alles ging so schnell, dass Andrej erschrak. Schwer atmend richtete er sich auf und blickte sich um. Die Kämpfe waren hier in der Nähe des Kärntner Tores besonders heftig, aber es war nicht der einzige Mauerabschnitt, auf dem gekämpft wurde. Um die Verteidiger an zahlreichen Stellen gleichzeitig zu bündeln, griffen die Türken die Stadt auf breiter Front und aus verschiedenen Himmelsrichtungen an, wie Boten berichtet hatten. Bislang zumindest schien die Verteidigung überall standzuhalten. Aber wie lange noch? Die Zahl der Verteidiger, die vor Andrejs Augen fiel, nahm mit jeder Stunde, die verging, zu – nur langsam, aber unerbittlich. Und anders als bei den Angreifern, die über scheinbar unerschöpfliche Reserven zu verfügen schienen, hinterließ jeder gefallene oder verwundete Mann eine schmerzhafte Lücke in den Reihen der Verteidiger, die nicht wieder geschlossen werden konnte.

Andrej ließ den Blick über die anderen Mauerabschnitte wandern, die er von seinem Standpunkt aus überblicken konnte. Einem weniger im Kriegshandwerk bewanderten Mann als ihm wäre der Anblick vielleicht ermutigend vorgekommen, denn bisher war es den Türken nicht gelungen, die Verteidigung auch nur an einer Stelle wirklich zu durchbrechen. Doch Andrej ließ sich von diesem ersten – falschen – Eindruck nicht täuschen. Die meisten Männer hatten kaum noch die Kraft, sich auf den Beinen zu halten. Viele waren verletzt, andere standen einfach mit hängenden Schultern und leerem Blick da und warteten auf den nächsten Ansturm.

Sechs Tage lang hatte allein der Aufmarsch des muselmanischen Heeres gedauert. Den ersten berittenen Kriegern waren die leicht bewaffneten Fußtruppen gefolgt; mehr und immer mehr, Tausende, Zehntausende an jedem Tag, schließlich kamen die gefürchteten Janitscharen und am Ende die letzten Einheiten mit dem schweren Kriegsgerät. Wie ein gefräßiger Moloch war das Lager auf der Ebene bei Simmering gewachsen, und jeder Tag, an dem die feindlichen Streitkräfte anwuchsen, hatte den Kampfeswillen der Verteidiger weiter zermürbt.

Schon der bloße Anblick des feindlichen Heeres wirkte niederschmetternd. Eine gewaltige Übermacht von mehr als hunderttausend Muselmanen, denen nicht einmal zehntausend Verteidiger gegenüberstanden – wenn man die bewaffneten Bürger der Stadt nicht mitzählte, von denen viele jedoch kaum wussten, an welchem Ende man ein Schwert überhaupt anfasste. Die Hälfte von ihnen, dachte Andrej bitter, würde schreiend davonlaufen, sobald es den Türken gelang, die Mauern zu überwinden und in die Stadt hineinzustürmen. Und mit der anderen Hälfte würden die Angreifer leichtes Spiel haben.

Dennoch – obwohl jeder von ihnen wissen musste, wie aussichtslos ihre Lage war, setzten die Verteidiger sich mit dem Mut der Verzweiflung zur Wehr, nachdem die Schlacht endlich entbrannt war. Bislang war es den Angreifern nicht gelungen, auch nur einen einzigen Mauerabschnitt zu erobern. Und das durfte auch nicht geschehen. Sämtliche Krieger, die diese Bezeichnung wirklich verdienten, waren hier versammelt. Fielen die Mauern oder eines der Tore, fiel Wien.

Ein sonderbares Gefühl überkam Andrej. Plötzlich spürte er, dass ihn jemand beobachtete. Nicht irgendeiner der Krieger dort unten, die ihren Blick über die Zinnenkrone der Mauer schweifen ließen und nach einer Schwachstelle suchten, und nicht einer der Bogenschützen auf der Suche nach einem Ziel. Dieses Gefühl des Angestarrt-Werdens war anders: unangenehmer, durchdringender. Andrej trat ein weiteres Stück von der Mauer zurück und drehte sich einmal im Kreis. Nicht weit entfernt gewahrte er auf einem der Türme eine hochgewachsene, in einen grauen, langen Mantel gehüllte Gestalt, die seinen Blick anzog. Die Entfernung war zu groß und die Luft zu sehr mit Staub erfüllt, um Einzelheiten zu erkennen, und dennoch spürte Andrej, dass der andere genau in seine Richtung sah. Etwas an ihm kam Andrej auf so unheimliche Weise vertraut vor, dass ihm ein eisiger Schauer über den Rücken lief. Etwas an dieser Gestalt war …

Nein. Das war unmöglich.

Ein gellender Schrei riss ihn aus seiner Erstarrung und ließ ihn herumfahren. Er sah einen Schatten auf sich zurasen, schlug instinktiv den Krummsäbel des Muselmanen mit seiner eigenen Waffe zur Seite und hieb nach dem Kopf des Angreifers, der wie aus dem Nichts hinter ihm aufgetaucht war.

Aber seine Kräfte waren erschöpft. Die Waffe in seiner Hand schien plötzlich Zentner zu wiegen, und seine Muskeln gehorchten ihm nur noch widerwillig. Scheinbar mühelos wich der Krieger seinem Angriff aus und brachte ihm seinerseits eine heftig blutende Schnittwunde dicht unter dem Ellbogen bei.

Trotzdem schaffte es Andrej, auch den nachfolgenden Hieb abzuwehren, aber dann schienen seine Kräfte ihn endgültig zu verlassen. Wie die silbrige Zunge einer tödlichen Schlange näherte sich der Säbel des Türken seinem Gesicht, und Andrej begriff, dass er diesmal nicht mehr würde ausweichen oder den Angriff abwehren können. Er versuchte sich gegen den Schmerz zu wappnen, aber er wusste, wie unmöglich das war.

Die Schneide des Krummsäbels traf sein Gesicht mit unvorstellbarer Wucht und spaltete es diagonal. Der Schmerz fuhr wie eine rote, lodernde Sonne in seinen Kopf, erreichte den letzten Winkel seines Körpers und setzte jeden einzelnen Nerv in seinem Leib in Brand. Andrej kreischte vor Qual, fiel auf die Knie und schlug beide Hände gegen das Gesicht. Blut lief in einem warmen, sprudelnden Strom zwischen seinen Fingern hindurch, und der Schmerz wurde schlimmer. Andrej flehte zu Gott, ihn das Bewusstsein verlieren oder sterben zu lassen, aber das eine wurde ihm nicht gewährt, und dem anderen würde er wohl nicht mehr entrinnen können. Nicht dieses Mal.

Er war vor dem Osmanen auf die Knie gesunken und hockte weit vornübergebeugt da, beide Hände vor das Gesicht geschlagen und vollkommen hilflos – die Haltung eines Delinquenten, der vor dem Scharfrichter kniet und darauf wartet, dass dieser sein Werk verrichtet.

Tief in ihm war noch ein Funke von Widerstand, der sich gegen das Unausweichliche auflehnte und ihn dazu bringen wollte, aufzuspringen und zu kämpfen, aber er konnte es nicht. Der Schmerz war zu heftig und die Verletzung zu schwer. Er brauchte jedes bisschen Energie, das er noch aufbringen konnte, um die schreckliche Verletzung zu heilen. Ihm fehlte die Kraft, auch nur die Arme zu heben, um den tödlichen Hieb abzuwehren. Durch den dunkelroten, wabernden Vorhang seines eigenen Blutes hindurch sah Andrej, wie der Türke seinen Krummsäbel in die Höhe riss.

Etwas Dunkles griff nach der Waffe und riss sie zur Seite. Andrej glaubte hören zu können, wie die scharfe Klinge nicht nur durch das Leder des Handschuhs, sondern auch durch Fleisch und Sehnen schnitt, doch Abu Dun verzog nicht einmal das Gesicht. Mit einem kräftigen Ruck, der die Schneide noch tiefer in seinen Handteller trieb, riss er dem Türken den Säbel aus der Hand und rammte ihm den Knauf seiner eigenen Waffe ins Gesicht. Mit einem gellenden Schrei stürzte der Mann zurück über die Mauer und verschwand in der Tiefe.

Andrej fiel zur Seite. Seine Hände sanken kraftlos hinab, und für einen kurzen Moment drohte er endgültig das Bewusstsein zu verlieren. Er hörte, dass Abu Dun zu ihm sprach, aber er verstand die Worte nicht. Es schien endlos zu dauern, bis der tosende Schmerz in seinem Schädel allmählich nachließ, und noch länger, bis er die Kraft fand, die Augen zu öffnen.

Das Erste, was er sah, war ein nachtschwarzes Gesicht unter einem Turban der gleichen Farbe, das spöttisch auf ihn herabgrinste. Nur in seinen Augen war ein ganz schwacher Funke von Sorge, der Andrej erschreckte.

»Du lässt allmählich nach, alter Mann«, scherzte Abu Dun. Er ließ den Krummsäbel fallen, den er dem türkischen Krieger entwunden hatte, und ballte die verletzte Hand zur Faust. Blut rann aus seinem Handschuh und tropfte zu Boden. Es sah aus, als drücke er einen blutgetränkten Schwamm aus. Schon nach wenigen Augenblicken verebbte das rote Rinnsal. »Alles in Ordnung?«, fragte er in beiläufigem Ton.

Andrej hätte lachen mögen, wenn er noch die Kraft dazu gehabt hätte, aber so stemmte er sich nur mühsam in die Höhe und ließ sich schwer auf die steinerne Wehrmauer sinken, um keuchend nach Luft zu ringen. Alles schien sich um ihn zu drehen. Das Schlimmste war vorbei. Die schreckliche Wunde hatte längst aufgehört zu bluten und würde in wenigen Augenblicken vollends verschwunden sein, aber das Gefühl der Erschöpfung nahm zu.

»Du … bist verrückt!«, murmelte er, als er wieder halbwegs zu Atem gekommen war. »Wenn jemand gesehen hat, was du getan hast …«

»Und wenn schon«, entgegnete Abu Dun gleichgültig. »Es war der einzige Weg, dich zu schützen. Wären deine Augen auch nachgewachsen, wenn der Kerl sie dir ausgestochen hätte, oder wolltest du nur warten, bis er dir den Kopf abschlägt, und ihn dann zu Tode erschrecken, indem du ihn dir wieder aufsetzt?«

»Das ist nicht komisch«, sagte Andrej ernst.

»Das sollte es auch nicht sein«, antwortete Abu Dun, ebenso leise und ebenso ernst wie er, ohne ihn anzusehen. Er öffnete und schloss ein paar Mal die Faust und betrachtete seine Handfläche. Das Leder seines Handschuhs war sauber durchschnitten, aber die Haut darunter wies nicht die mindeste Verletzung auf. »Das war knapp, Hexenmeister. Du wirst alt.«

Andrej starrte ihn finster an, antwortete aber nicht, sondern blickte sich stattdessen aufmerksam um. Es war vorbei, jedenfalls für den Moment. Die letzten Angreifer waren erschlagen oder von der Mauerkrone vertrieben worden, und das türkische Heer befand sich auf dem Rückzug, um sich neu zu formieren. Wahrscheinlich würde es nicht lange dauern, bis der nächste Angriff erfolgte, aber bis dahin hatten sie eine kleine Gnadenfrist gewonnen, möglicherweise sogar Zeit genug, um die Verletzten zu versorgen und die Toten zu bergen.

Andrej war in Gedanken versunken. Hätte die Wucht des Angriffs auch nur noch wenige Augenblicke länger angehalten, wären vielleicht auch Abu Dun und er jetzt nicht mehr am Leben. Nur noch wenige Verteidiger hielten sich auf diesem Abschnitt der Wehrmauer auf, und kaum einer war ohne schwere Blessuren davongekommen. Aber immerhin schien niemand gesehen zu haben, was ihm zugestoßen war, und auch Abu Duns kühne Verteidigung war unbemerkt geblieben.

Es war nicht das erste Mal in dieser Schlacht, dass Abu Dun so waghalsig gekämpft hatte, und es hatte Andrej diesmal so wenig gefallen wie zuvor. Ihm waren keineswegs die scheuen, manchmal schon furchtsamen Blicke entgangen, die sie trafen, die Art, wie die Männer, mit denen sie gerade noch Seite an Seite gekämpft hatten, den Blick hastig abwandten, wenn er, oder vor allem Abu Dun, in ihre Richtung sahen.

Schon der Umstand, dass der Nubier gegen andere Muselmanen kämpfte, hatte Anlass zu Misstrauen geboten, und Abu Dun schien es darauf angelegt zu haben, dieses Misstrauen noch zu schüren. Er hatte in den vergangenen Stunden derart unter den Angreifern gewütet, dass es keineswegs unbemerkt geblieben sein konnte. Die Kämpfe hatten Spuren hinterlassen. Sein Gewand war über und über mit Blut besudelt und hing in Fetzen von seinem Körper. Dennoch hielt er sich nicht nur weiterhin auf den Beinen und kämpfte genauso kraftvoll und entschlossen wie zu Beginn, er hatte auch keine einzige sichtbare Wunde davongetragen. Das musste auffallen und Verdacht erwecken.

»Trotzdem«, murmelte Andrej mit einiger Verspätung. »Du musst lernen, dich besser zu verstellen, oder du gefährdest unsere Tarnung.«

Abu Dun betrachtete weiter seine Hand. »Ich kann mich täuschen«, sagte er in fast beiläufigem Ton, »aber warst du es nicht, dem gerade fast der Schädel gespalten worden wäre?«

»Das war etwas anderes!«, schnaubte Andrej. »Verdammt, du musst lernen, deine Unverwundbarkeit nicht als Waffe einzusetzen! Wenigstens dann nicht, wenn es jemand sehen kann! Ich will nicht wegen des Vorwurfs der Hexerei auf dem Scheiterhaufen landen.«

»Und ich will nicht in den nächsten hundert Jahren für einen blinden Unsterblichen den Aufpasser spielen, nur weil ihm seine Tarnung so wichtig ist, dass er sich im Kampf verstümmeln lässt«, versetzte Abu Dun scharf.

Einen Moment lang starrten sie sich zornig an. Es war nicht das erste Mal, dass sie dieses Gespräch führten, aber der Ton war schärfer. Immerhin schien Abu Dun einzusehen, dass sie ihren Disput jetzt nicht lösen würden. Seufzend schüttelte er den Kopf. »Was war überhaupt mit dir los?«, wollte er wissen. »Seit wann bringt dich ein einzelner Mann in Bedrängnis?«

»Er kämpfte gut«, antwortete Andrej.

Abu Dun schüttelte den Kopf. »Nicht so gut.«

»Ich …« Andrej fuhr herum. Er hatte den Fremden völlig vergessen, durch dessen Anblick er überhaupt erst in Gefahr geraten war. Sein Blick suchte den Turm ab, doch die Gestalt in dem grauen Mantel war verschwunden. »Ich war abgelenkt«, sagte er schließlich.

»Abgelenkt?« Mit einer unwirschen Geste scheuchte Abu Dun einen Feldscher davon, der sich ihm nähern wollte. Er sah ebenfalls kurz zu dem Turm hin, ehe er Andrej wieder anblickte. »Wovon?«

Andrej zuckte die Achseln. »Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen, aber …« Er sprach nicht weiter.

Auszusprechen, was er gerade gedacht hatte, hätte dem Unvorstellbaren ein Gewicht verliehen, das ihm nicht zustand. Statt auf Abu Duns fragende Blicke zu reagieren, drehte er sich um und konzentrierte sich auf eine Abteilung von zehn oder fünfzehn Landsknechten, die gerade den Mauergang heraufkamen, um den Platz ihrer gefallenen und verwundeten Kameraden einzunehmen. Dann wandte er sich abermals um und sah nach Süden. Das türkische Heer bedeckte die Ebene vor der Stadt wie eine gewaltige Masse winziger, gepanzerter Insekten. Millionen, wie es ihm vorkam. Der Wind trug eine sonderbare Mischung aus Brandgeruch und dem unverkennbaren Gestank eines Lagers mit sich. Andrej starrte über die Mauer zu dem türkischen Heer hinüber. Aus dem hoffnungslosen Durcheinander, in das die vorderen Reihen während des Rückzugs kurzzeitig geraten waren, war inzwischen wieder eine geordnete Formation geworden, die erneut vorzurücken begann.

»Es geht los«, murmelte Andrej vor sich hin. »Sie greifen wieder an.«

»Das gefällt mir nicht«, flüsterte Abu Dun, während sie den beiden Soldaten durch die verwinkelten Gässchen und Straßen Wiens folgten. Wohlweislich sprach er jedoch so leise, dass die Männer es nicht hören konnten.

»Meinst du vielleicht mir?«, gab Andrej ebenso leise zurück. »Unsere Zeit wird allmählich knapp.« Er sah sich unauffällig nach rechts und links um, ganz wie ein Mann, der das erste Mal in diesem Teil der gewaltigen Stadt war und seine Umgebung mit einer Mischung aus Neugier und Vorsicht musterte.

»Davon spreche ich nicht«, versetzte Abu Dun gereizt. »Was will dieser Kerl von uns? Wenn du mich fragst, sollten wir einfach von hier verschwinden.«

»Und uns damit noch verdächtiger machen?« Andrej seufzte, schüttelte aber auch zugleich den Kopf. Er konnte Abu Dun verstehen. Der Kampf hatte bis zum Einbruch der Dämmerung gedauert, ehe sich die Angreifer endgültig zurückgezogen hatten. Gegen jede Erwartung – und auch gegen jede Wahrscheinlichkeit, wie sich Andrej schaudernd eingestand – hatten die Wälle dem Ansturm standgehalten. Die Stadt hatte eine Frist bis zum nächsten Tag gewonnen, aber sie hatte einen hohen Blutzoll dafür entrichten müssen. Es hatte zahlreiche Tote gegeben und viele Verwundete. Abu Dun und er hatten bis zuletzt auf der Mauer ausgeharrt und ihren Teil dazu beigetragen, die Türken zurückzuschlagen. Doch selbst Andrej war am Ende nicht mehr sicher gewesen, ob sie es schaffen würden. Der Kampf hätte keine Stunde länger dauern dürfen.

Andrej war zu Tode erschöpft. Jeder Muskel in seinem Körper schmerzte, und es gab nichts, wonach er sich im Moment mehr sehnte, als bis zum nächsten Morgen zu schlafen.

»Graf von Salm mag alt sein, aber er ist sicherlich kein Dummkopf«, fuhr er nach einer Weile fort, und mehr an sich selbst gewandt als an den Nubier. »Sonst hätte man ihm kaum die Verteidigung der Stadt anvertraut.«

»Und?«, fragte Abu Dun. Er schenkte einem der erschöpften Soldaten, die sie eskortierten, einen giftigen Blick und hob dann die Hand vor die Augen, um die Finger ein paarmal ruckartig zur Faust zu schließen und wieder zu öffnen. Andrej wünschte sich, er hätte das nicht getan.

Dennoch sparte er sich jede Bemerkung, hob nur die Schultern und beantwortete mit einiger Verspätung Abu Duns Frage – allerdings wechselte er vorsichtshalber ins Arabische, Abu Duns Muttersprache: »Du hast doch nicht geglaubt, dass die Geschichte von den beiden Fremden, die unter den Türken gewütet haben und dabei selbst nahezu unverletzt geblieben sind, nicht an sein Ohr dringen würde, oder?«

Abu Dun schenkte ihm einen verächtlichen Blick und fuhr fort, die Hand zur Faust zu schließen und ruckartig wieder zu öffnen. Er sagte nichts.

»Es wundert mich nicht, dass er uns sehen will«, fuhr Andrej fort. Er lachte leise. »Wir sind Helden, weißt du?«

»Darauf kann ich gut verzichten«, schnaubte Abu Dun. »So wie auf diese ganze Stadt, nebenbei bemerkt. Für meinen Geschmack sind wir schon viel zu lange hier.«

»Dann schlage ich vor, dass du die Stadt verlässt«, stichelte Andrej. »Ich bin sicher, die Wache am Tor lässt dich passieren, wenn du nur freundlich genug darum bittest.« Er hob die Schultern. »Aber du solltest warten, bis es ganz dunkel geworden ist. Die Gegend hier ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Es treibt sich eine Menge zwielichtiges Volk draußen herum.«

Abu Dun schenkte ihm einen giftigen Blick, fuhr aber unbeeindruckt fort: »Wir wollten die Stadt längst verlassen haben, bevor die Türken eintreffen. Wir haben nicht die kleinste Spur von diesem Breiteneck gefunden. Wenn du mich fragst, dann war er klüger als wir und ist längst weg.«

Das war genau das, was auch Andrej seit geraumer Zeit dachte – und mit jedem Tag mehr fürchtete, den sie vergeblich nach dem Gelehrten suchten. Trotzdem war er noch nicht bereit, die Hoffnung endgültig aufzugeben. »Er ist vor zwei Tagen noch in Wien gesehen worden«, rief er Abu Dun in Erinnerung.

Abu Dun machte sich nicht einmal die Mühe, ihm zu antworten, und auch Andrej beließ es bei einem abschließenden Nicken. Der Mann, der Breiteneck angeblich gesehen und diese Information an sie verkauft hatte, war alles andere als vertrauenswürdig gewesen. Die heruntergekommene Absteige, zu der er sie geführt hatte – und in der Breiteneck angeblich wohnen sollte –, war leer gewesen, wenn auch erst kurze Zeit zuvor offenbar in großer Hast verlassen. Aber das war in diesen Tagen nicht bemerkenswert. Viele Einwohner Wiens waren gerade noch rechtzeitig vor der Belagerung aus der Stadt geflohen.

Sie hatten ihr Ziel erreicht: ein großes, mehrstöckiges Gebäude, das prachtvoll gewirkt hätte, wäre es weniger heruntergekommen und verdreckt gewesen, und hätte sich nicht jemand große Mühe gegeben, es in ein Heerlager zu verwandeln. Schon draußen auf der Treppe lagerten Männer, viele verwundet und die meisten verdreckt und so erschöpft, dass sie kaum Notiz von ihnen nahmen. Die große, reich mit Bildern und wertvollen Wandteppichen geschmückte Halle quoll schier über vor Männern, aber auch vor aufgestapelter Waffen, Kleidern und Säcken sowie Kisten voller Lebensmittel. Die Luft stank nach Schweiß und Fäulnis.

Draußen hatte niemand Anstoß an ihrem Erscheinen genommen, doch kaum hatten sie das Gebäude betreten, änderte sich das schlagartig. Die meisten Gespräche verstummten, als die Männer sie erblickten, Köpfe hoben sich mit einem Ruck, Gesichter wandten sich in ihre Richtung. Auf den meisten zeigte sich eine Mischung aus Überraschung und Neugier, aber auf vielen erschien auch ein Ausdruck mühsam unterdrückter Abwehr, als sie den hünenhaften, ganz in Schwarz gekleideten Muselmanen sahen.

Die Männer wichen vor ihnen zurück, während Andrej und Abu Dun sich mit ihrer Eskorte rasch auf die breite Marmortreppe zubewegten, die am anderen Ende der großen Eingangshalle nach oben führte. Andrej entgingen weder die hasserfüllten Blicke, die ihnen folgten, noch die Bewegungen der Hände, die sich auf Schwertgriffe und Dolche senkten oder sich zu Fäusten ballten. Er tat, als bemerke er nichts, aber insgeheim atmete er dennoch auf, als sie oben ankamen und ihre Begleiter in einen langen, vollkommen unbelebten Korridor abbogen. Viele der Männer, an deren Seite sie in den vergangenen Tagen oben auf den Mauern gekämpft hatten, hatten Abu Dun aber auch längst als einen der ihren akzeptiert – zumal er mehr als einem von ihnen das Leben gerettet hatte –, und die Kunde von dem riesigen Mohren, der Seite an Seite mit den christlichen Verteidigern gegen seine eigenen Landsleute focht, hatte in ganz Wien die Runde gemacht.

Dennoch: Diese Stadt sorgte sich um ihr nacktes Überleben. Die Verteidiger oben auf den Mauern kämpften gegen Männer, die aussahen wie Abu Dun, die sich kleideten wie er und die sprachen wie er – wie konnte man da ernsthaft erwarten, dass der Nubier mit offenen Armen empfangen wurde?

»Wir sind da.« Die Eskorte hatte angehalten und einer der Männer deutete mit einer knappen Geste auf eine hohe, reich mit kunstvollen Schnitzereien verzierte Tür am Ende des Gangs. »Eilt Euch jetzt besser. Meister von Salm wartet nicht gern.«

So wie auch schon vorhin, als er und seine Begleiter gekommen waren, um Abu Dun und ihn abzuholen, sprach er nur mit Andrej. Anfangs hatte Andrej dies für Zufall gehalten oder allenfalls Gedankenlosigkeit. Jetzt wurde ihm klar, dass der Mann Abu Dun vorsätzlich nicht beachtete. Und dass der Nubier dies selbstverständlich auch bemerken musste.

Zu seiner Erleichterung beließ es Abu Dun jedoch bei einem verächtlichen Blick und der Andeutung eines Achselzuckens, bevor er an dem Mann vorbeiging und die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, um als Erster einzutreten – freilich ohne sich damit aufzuhalten anzuklopfen.

Sie traten in einen großen, mit kunstvoll geschnitzten Möbeln verschwenderisch eingerichteten Raum, in dem ein Kaminfeuer prasselte. Ein alter Mann mit grauem, fast schon weißem Haar saß an einem Tisch und studierte einige Papiere, die er jedoch hastig beiseite legte, als sie eintraten. Sein Blick glitt rasch und abschätzend über Abu Duns Gestalt, tastete dann über Andrejs Gesicht und kehrte wieder zu dem Nubier zurück. Andrej versuchte vergeblich in seinem Gesicht zu lesen.

Er hatte Graf Niklas von Salm schon ein paar Mal aus der Ferne gesehen und gewusst, dass er alt war – aber nicht, dass er so alt war. Der Mann, der vor ihnen saß, musste an die siebzig Jahre zählen. Seine Schultern waren vom Alter wie von einer unsichtbaren Last gebeugt, und seine Kleider schlotterten um die dünn gewordenen Glieder. Er hatte seinen Stuhl so nahe wie möglich ans Feuer geschoben, um sich an den prasselnden Flammen zu wärmen. Niklas von Salm war nicht alt, dachte Andrej, er war ein Greis.

Der Eindruck verwischte sich, als der Graf die Hand hob, sie heranwinkte und Andrej in seine Augen sah. Von Salms Gesicht blieb das eines alten Mannes, eines uralten Mannes. Seine Augen waren in ein Netz aus tiefen Falten und Runzeln eingebettet, doch ein wacher Ausdruck brannte in ihnen. Von Salm war kein gebrechlicher Mann. Seine Bewegungen verrieten deutlich mehr Kraft und Elan, als man bei einem Mann seines Alters erwarten konnte.

Er stand auf und trat um den Schreibtisch herum auf sie zu. »Andrej Delãny, nehme ich an?« Von Salm streckte in einer unerwartet freundlichen Geste die Hand aus und beantwortete seine Frage mit einem Nicken und etwas, das er möglicherweise für ein Lächeln hielt.

»Das ist richtig.« Andrej griff nach von Salms ausgestreckter Rechten und registrierte überrascht, wie kraftvoll der Händedruck des alten Mannes war. Gleichzeitig deutete er mit der freien Hand auf Abu Dun. »Das ist Abu Dun. Mein Freund und Weggefährte.« Irrte er sich, oder war in von Salms Blick ganz kurz ein Ausdruck von Missbilligung erschienen, als er den Ausdruck Freund vernahm?

»Ja, richtig«, antwortete von Salm. »Ich habe von ihm … gehört.« Er ließ Andrejs Hand los, trat einen halben Schritt zurück und fuhr – nun wieder vollkommen beherrscht und in verändertem Ton – fort: »Ich bin Niklas von Salm. Ich freue mich, dass Ihr meiner Einladung gefolgt seid.«

»Wir konnten ihr einfach nicht widerstehen«, sagte Abu Dun spöttisch. Von Salm sah ihn verständnislos an, und Abu Dun fügte mit einer knappen Geste in Richtung der Tür hinzu: »Die Boten, die Eure Einladung überbracht haben, waren sehr überzeugend.«

»Man hat Euch doch gut behandelt, hoffe ich?«, fragte von Salm. »Ich habe ausdrücklich Anweisung gegeben …«

»Und sie wurde auch befolgt«, fiel ihm Andrej hastig ins Wort. »Nehmt Abu Dun nicht zu ernst. Das Betragen Eurer Männer war tadellos.«

Von Salm lächelte. »Umso mehr freut es mich, dass Ihr gekommen seid. Ich habe viel über Euch gehört, Delãny, und auch über Euren …Freund. Seit Tagen erreichen mich Nachrichten von den zwei fremden Kriegern, die mit einem beispiellosen Heldenmut auf den Mauern gekämpft haben, sodass ich euch unbedingt kennenlernen wollte.«

»Das habt Ihr ja nun«, sagte Abu Dun. »War das der einzige Grund für Eure Einladung?«

Andrej musste sich beherrschen, um Abu Dun nicht in scharfem Ton zurechtzuweisen, aber von Salm schien dem Nubier seine spitze Zunge nicht übel zu nehmen.

Er blickte einen kurzen Moment lang erstaunt, dann begann er leise zu lachen. »Ihr gefallt mir, Heide«, sagte er in einem Ton, der dem Abu Duns ähnelte. Gleichzeitig machte er eine besänftigende Geste in Andrejs Richtung. »Ich bin schon so lange nur noch von Kriechern und Jasagern umgeben, dass ich offene Worte zu schätzen weiß. Kommt und setzt Euch. Ihr müsst mir alles über Euch erzählen. Wer seid Ihr und woher kommt Ihr? Was genau führt Euch nach Wien?«

Er deutete mit der Hand auf einen großen, reich gedeckten Tisch, der vor dem Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers stand. »Kommt. Nehmt doch Platz. Ich dachte mir, dass ihr nach einem Tag wie diesem einer kräftigenden Mahlzeit nicht abgeneigt seid.«

»Das ist sehr freundlich von Euch, Graf«, antwortete Andrej, aber von Salm winkte hastig ab.

»Ich bitte Euch, lasst den Grafen, Andrej«, bat er lächelnd. »Ein ererbter Titel, aus dem ich mir nie besonders viel gemacht habe. Alles, was er mir eingebracht hat, ist Ärger – und die Gesellschaft von Leuten, deren Bekanntschaft ich sonst niemals hätte machen müssen.« Er lächelte schief. »Beinahe hätte ich es vergessen: und die zweifelhafte Ehre, diese Stadt vor dem sicheren Untergang zu retten.«

Andrej lächelte pflichtschuldig zurück, aber er warf Abu Dun auch einen beunruhigten Blick zu, während er auf einem der Stühle Platz nahm, die von Salm ihnen angeboten hatte. Sein Misstrauen war keineswegs besänftigt. Der Graf gab sich jovial und bemühte sich, den Eindruck zu erwecken, als wolle er ihnen für ihren Einsatz danken, aber da war etwas in seinen Augen, das Andrej warnte. Er spürte, dass von Salm andere Gründe für sein Interesse an ihnen hatte. Abu Dun erwiderte Andrejs Blick kaum merklich. Er hatte verstanden.

»Greift doch zu.« Von Salm wedelte aufgeregt mit beiden Händen. »Der Braten ist köstlich, und falls Euch der Sinn nach Süßem steht, rate ich Euch, die Biskuits zu kosten. Ihr werdet sehen, dass die Wiener Konditoren ihren Ruf zu Recht genießen. Und probiert auch von dem Wein. Ein hervorragender Tropfen. Rot und schwer wie Blut, aber weitaus schwerer zu bekommen in Zeiten wie diesen. Bitte erweist mir die Ehre, einen Becher mit mir zu leeren. Mancher würde töten, nur um einen Schluck dieses edlen Getränks zu bekommen, und ich könnte es ihm nicht verdenken. Ich bin sicher, einen besseren Tropfen habt Ihr nie gekostet.«

Andrej nickte nur stumm, doch Abu Dun beugte sich vor, griff mit der linken Hand nach einem Trinkbecher und mit der anderen nach dem Weinkrug, um sich einzuschenken. Von Salm zog erstaunt die Augenbrauen hoch, als Abu Dun den Becher in einem einzigen Zug leerte und sich anschließend genüsslich mit dem Handrücken über den Mund fuhr.

Abu Dun knallte den Becher auf die Tischplatte zurück und sah von Salm an. »Verzeiht, Graf«, sagte er. »Ich nahm an, Eure Einladung gelte auch für mich.«

»Aber sicher«, antwortete von Salm hastig. »Ich war …« Er rettete sich in ein verlegenes Lächeln und hob dann unbehaglich die Schultern. »Der Wein«, erklärte er.

»Ja?«, machte Abu Dun. »Ihr hattet vollkommen recht – er ist köstlich.«

»Aber Ihr seid Moslem«, wandte von Salm verwirrt ein. »Verbietet Euch Eure Religion nicht den Genuss von vergorenem Traubensaft?«

»Das stimmt«, bekannte Abu Dun und machte ein zerknirschtes Gesicht. »Moslems trinken keinen Alkohol. So wie Christen die Ehe nicht brechen, ihre Feinde lieben und niemals lügen.«

Von Salm wirkte für einen Moment hilflos, aber dann lachte er, schenkte sich ebenfalls ein und nippte an seinem Becher, bevor er an Andrej gewandt fortfuhr: »Euer Freund gefällt mir, Andrej, weil er ein sehr mutiger Mann ist. Er ist ein Muselman. Und trotzdem kämpft er mit größerer Entschlossenheit gegen sein eigenes Volk als die meisten meiner Männer.«

»Auch wenn ich aus dem Orient stamme sind die Türken nicht mein Volk«, entgegnete Abu Dun scharf, noch bevor Andrej etwas erwidern konnte. Offenbar ärgerte es ihn, dass sich von Salm nicht direkt an ihn gewandt, sondern seine Frage an Andrej gerichtet hatte. »Und ich habe meine Gründe, sie zu bekämpfen.«

»Die mich nichts angehen«, vermutete von Salm mit unbewegter Miene. »Ihr habt recht, ich wollte nicht indiskret sein. Aber eine solche … Konstellation ist sehr ungewöhnlich, und Ihr werdet verstehen, dass ich sichergehen muss, dass Ihr wirklich auf unserer Seite steht.«

Der Nubier nickte und schenkte sich einen zweiten Becher Wein ein. »Wenn Ihr so weit in der Welt herumgekommen wärt wie Andrej und ich, wären Euch noch viel ungewöhnlichere Konstellationen begegnet, Graf von Salm«, antwortete er kühl. »Eure Besorgnis ist verständlich, aber vollkommen unnötig. Ich denke, ich habe bereits hinlänglich bewiesen, wem meine Loyalität gilt.«

»Das habt Ihr«, lenkte von Salm ein. »Und dafür möchte ich Euch danken. Ich wollte Euch nicht beleidigen. In einer Lage wie der gegenwärtigen bin ich für jede helfende Hand dankbar. Vor allem, wenn sie ein Schwert so meisterhaft zu führen versteht, wie man es von Euch behauptet.« Er machte eine kurze Pause, während der er abwechselnd Andrej und Abu Dun musterte. »Allerdings behauptet man auch, dass die Waffen der Türken Euch nicht hätten verletzen können.«

Andrej war bemüht, sich seine Beunruhigung nicht anmerken zu lassen. Er hatte befürchtet, dass sich das Gespräch irgendwann in diese Richtung bewegen würde, aber von Salm war schneller und direkter auf den Punkt gekommen, als er erwartet hatte – was seine Einschätzung des Oberkommandierenden der Verteidiger Wiens als intelligenten und vor allem gefährlichen Mann bestätigte. Andrej gemahnte sich zu noch größerer Vorsicht. Was wie eine harmlose Plauderei zu klingen schien, mochte tödliche Konsequenzen für ihn und Abu Dun haben, wenn sie nicht aufpassten. »Dummes Geschwätz«, antwortete er. »Wir hatten Glück. Und vielleicht verstehen wir besser als andere mit dem Schwert umzugehen.«

»Sicher.« Von Salm verzog die Lippen zu einem Lächeln, doch seine Augen blieben davon unberührt. »Ich pflege auch nicht viel auf solches Gerede zu geben. Auf jeden Fall bin ich froh, Euch auf meiner Seite zu wissen und nicht auf der des Feindes.« Er hob seinen Becher. »Trinken wir auf die Freiheit Wiens.«

Er leerte seinen Becher zur Hälfte. Andrej trank wesentlich vorsichtiger. Der Wein war so schwer wie er vermutet hatte. Obwohl er nur am Becher nippte, spürte er fast augenblicklich, wie ihm der Alkohol zu Kopfe stieg. »Ihr habt recht, ein edler Tropfen«, lobte er. »Aber wir haben einen schweren Tag hinter uns und sind erschöpft. Wenn Ihr erlaubt, würden wir uns deshalb gern in unser Quartier zurückziehen und ausruhen.«

»Natürlich, das verstehe ich.« Von Salm lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die dürren Arme vor der Brust. »Nur eine Frage noch, wenn Ihr gestattet. So willkommen uns Eure Hilfe ist, frage ich mich doch nach dem Grund. Ihr gehört nicht zur kaiserlichen Armee, und die meisten Fremden haben Wien angesichts der drohenden Belagerung verlassen. Ihr aber seid hergekommen, um bei der Verteidigung zu helfen.«

»Es gibt einen Grund«, sagte Andrej. Diesmal war es Abu Dun, der ihm einen warnenden Blick zuwarf. »Die Truppen des Sultans haben mein Dorf niedergebrannt, die meisten meiner Angehörigen getötet und die, die sie nicht ermordet haben, in die Sklaverei verschleppt. Ich habe ihm Rache geschworen, und da auch Abu Dun ein ähnliches Schicksal erlitten hat, bekämpfen wir das türkische Heer, wo immer sich die Gelegenheit bietet.«

»Ein Racheschwur, so.« Von Salm nickte bedächtig. Er seufzte. » Nun, das ist Eure Angelegenheit. Aber lasst mich Euch etwas mit auf den Weg geben, Andrej, nicht als Heerführer, sondern als Freund: Rache ist ein schlechter Ratgeber.« Er sah Andrej erwartungsvoll an und leerte seinen Weinbecher.

»Es ist allein Eure Entscheidung«, fuhr er fort. »Aber gestattet mir noch eine ganz offene Frage: Ist Rache wirklich der einzige Grund, aus dem ihr nach Wien gekommen seid? Ich habe gehört, dass Ihr jemanden sucht. Ihr habt Erkundigungen über einen gewissen …« Er tat so, als müsse er einen Moment angestrengt nachdenken. »… Franz Breiteneck eingeholt, aber bislang offenbar erfolglos.«

Andrej lächelte. »Ihr seid gut informiert, Graf«, sagte er. »Es stimmt, wir suchen Breiteneck. Er soll ein bedeutender Arzt sein und sogar einige Zeit bei dem berühmten Paracelsus gelernt haben.«

»Möglich. Darüber weiß ich nichts. Aber sein Ruf ist nicht unumstritten. Ich habe Stimmen gehört, die behaupten, dass er sich mit dunklen Mächten eingelassen hat und sich deshalb verborgen hält.« Er hob seinen Becher, stellte fest, dass er leer war, und stellte ihn zurück, ohne sich nachgeschenkt zu haben. »Aber wenn Ihr ihn wirklich finden wollt, so kann ich Euch vielleicht behilflich sein. Ich werde Euch Nachricht geben, wenn ich etwas erfahre.«

»Ich weiß euer Angebot zu schätzen«, antwortete Andrej zögernd. »Aber es wäre vermessen von uns, Euch damit zu behelligen. Ein Mann wie Ihr hat gewiss Wichtigeres zu tun, als zwei Söldnern bei ihren Angelegenheiten zu helfen.«

»Noch dazu zwei Söldnern, die ohne Sold kämpfen«, gab von Salm amüsiert zu bedenken. Er schüttelte den Kopf, als Andrej antworten wollte. »Nein, macht Euch keine Gedanken, Andrej. Nach allem, was Ihr und Euer Freund für diese Stadt getan habt, bin ich froh, Euch ebenfalls einen kleinen Gefallen erweisen zu können. Und wer weiß – möglicherweise könnt Ihr mir auch noch behilflich sein.« Er stand auf. »Aber darüber sollten wir sprechen, wenn es so weit ist. Für den Moment bleibt mir nur, Euch noch einmal für Eure Hilfe zu danken. Möge Gott Euch schützen und uns helfen, den Feind auch weiterhin zurückzuschlagen.«

2

Wien hatte sich verändert, seit die Belagerung begonnen hatte, und diese Veränderung war noch lange nicht abgeschlossen. Von Salm hatte ihnen angeboten, ihnen auch für den Rückweg eine Eskorte mitzugeben, doch Andrej – und vor allem Abu Dun – hatten darauf bestanden, sich allein auf den Weg zu machen.

Nachdem sie die ersten zwei oder drei Dutzend Schritte getan hatten, kamen Andrej Zweifel, ob sie wirklich gut beraten gewesen waren, von Salms Angebot abzulehnen. Der Wandel Wiens war besonders nach Einbruch der Dunkelheit überdeutlich spürbar. In der Ferne glühte der Nachthimmel rot vom Widerschein der zahllosen Feuer im türkischen Heerlager, doch die Stadt selbst schien dunkler als sonst zu sein. Nur hinter sehr wenigen Fenstern brannte Licht. Obwohl es noch nicht sehr spät war, lag die Straße wie ausgestorben da. Andrej musste sich ins Gedächtnis rufen, dass sie sich in einer der größten Städte Europas befanden. Natürlich waren zahlreiche Einwohner vor dem herannahenden Krieg geflohen, sodass viele Häuser tatsächlich leer standen, aber das war es nicht allein. Selbst in den erleuchteten Häusern wirkte das Licht gedämpft, vielfach waren die Fenster auch mit Tüchern verhängt oder gar mit Brettern vernagelt.

Und es war still, vielzustill, so als hätte sich ein Leichentuch über die Stadt ausgebreitet, das nicht nur das Licht, sondern auch jeden Laut erstickte. Gelegentlich drang aus den Schänken das Grölen Betrunkener, der schrille Ruf einer Frau aus einem Fenster oder das Weinen eines Kindes – einmal hörten sie auch ein Lachen, ein Laut, der in dieser Umgebung so deplatziert und falsch wirkte, dass Abu Dun und er unwillkürlich stehen blieben und sich überrascht ansahen. Doch diese Geräuschkulisse schien die allgegenwärtige Stille eher zu betonen.

Es war die Angst, begriff Andrej. Angst, die die Stadt fest in ihrem Würgegriff hatte, und ganz allmählich das Leben aus ihr und ihren Bewohnern herauspresste. Noch spürte man es nicht allzu deutlich, aber Andrej war in zu vielen belagerten Städten und eingeschlossenen Burgen gewesen, um die Vorzeichen nicht zu erkennen. Nichts deutete darauf hin, dass die Stadt gerade eine Schlacht gewonnen und die Angreifer zurückgeschlagen hatte. Denn die Menschen wussten nur zu gut, dass der Krieg längst nicht entschieden war. Im nächsten Morgengrauen würden die Türken erneut angreifen, und dann würden sie auch ihr schweres Kriegsgerät einsetzen, um die Mauern zu zerstören, statt in verlustreichen Angriffen zu versuchen, sie zu erobern.

Auch wenn es niemand zugeben würde: Die meisten Menschen hier spürten, dass Wien dem Untergang geweiht war. Und die Totenfeier schien bereits begonnen zu haben.

Obwohl es vieles zu bereden gab, schwiegen er und Abu Dun, während sie durch die stillen Straßen zu ihrer Herberge gingen, bis Abu Dun auf dem freien Platz vor dem Stephansdom plötzlich stehen blieb und Andrej am Arm zurückhielt.

»Was …?«, fragte Andrej erschrocken. Er riss sich los und funkelte Abu Dun verärgert an. Doch der Nubier machte nur eine rasche, fast beschwörende Geste, still zu sein. Dann grinste er. »Ich glaube, du wirst wirklich langsam alt, Hexenmeister«, sagte er.

»Wie meinst du das?«

»Wir werden verfolgt«, antwortete Abu Dun. »Und zwar schon seit einer geraumen Weile.«

Andrej musste sich mit aller Macht beherrschen, um nicht herumzufahren. Verstohlen blickte er sich um. Wer immer sie verfolgte, verstand sein Handwerk. Selbst mit seinen übermenschlich scharfen Sinnen konnte er nichts Verdächtiges entdecken, und er hörte auch nicht den mindesten Laut. Trotzdem wusste er, dass Abu Dun sich nicht getäuscht hatte. Er spürte die Blicke eines unsichtbaren Beobachters fast wie eine körperliche Berührung.

»Du hast recht«, zischte er leise.

»Endlich gibst du es zu«, antwortete Abu Dun spöttisch. »Du wirst alt.«

»Auf jeden Fall älter als du, wenn du so weitermachst«, grollte Andrej. »Einer von von Salms Schergen?«

Abu Dun zuckte die Achseln. Die Vermutung war nahe liegend, aber sie hatten keinerlei Beweise. Und auch keinen wirklichen Grund für diese Annahme, wie Andrej sich eingestehen musste. So oder so – ihr Verfolger verhielt sich äußerst geschickt, denn obwohl Andrej seine Blicke weiterhin deutlich spüren konnte, gelang es ihm nicht, den Unbekannten zu entdecken.

Andrej schloss die Augen und lauschte in sich hinein. Er konnte die Nähe Abu Duns spüren, so wie stets, seit auch der Nubier zu einem Wesen seiner Art geworden war. Aber wenn jemand es fertigbrachte, sich an ihn heranzuschleichen, ohne dass er es merkte, hatte er allen Grund, besorgt zu sein.

Er machte zwei Schritte zurück, legte den Kopf in den Nacken und tat so, als blicke er zu den gewaltigen Zwillingstürmen des riesigen, strahlend weißen Gotteshauses hinauf. »Wo?«, raunte er.

Abu Dun deutete ein Achselzucken an. »Ich weiß es nicht«, antwortete er ebenso leise. »Das ist unheimlich. Ich spüre, dass da jemand ist, aber ich kann nicht erkennen, wo.« Deutlich lauter fügte er hinzu: »Und wenn du mit Engelszungen redest, Ungläubiger, ich werde dieses heidnische Bauwerk nicht betreten. Allah würde meine Seele in den tiefsten Pfuhl der Hölle verbannen.«

»Wo sie auch hingehört«, antwortete Andrej ebenso laut. Flüsternd fügte er hinzu: »Schnappen wir ihn uns?«

Abu Dun lachte leise. »Was dachtest du? Falls du allerdings müde bist, erledige ich das gern auch allein. Ein Mann in fortgeschrittenem Alter muss mit seinen Kräften haushalten, oder?« Er machte eine Kopfbewegung zur Kirchentür hin. »Du könntest ein wenig beten oder dieses wunderschöne Bauwerk betrachten.«

Statt zu antworten und noch mehr kostbare Zeit mit völlig unsinnigen Gesprächen zu verschwenden, wandte sich Andrej mit einem Ruck um und entfernte sich nach links. Hinter ihm lachte Abu Dun noch lauter und rief ihm eine Beleidigung in seiner Muttersprache hinterher. Andrej antwortete nicht, machte aber eine deutlich sichtbare, wegwerfende Geste. Er wusste, dass Abu Dun sich nun in die entgegengesetzte Richtung entfernen würde; ein simpler, aber dennoch wirksamer Trick, der den Unbekannten zwang, sich für einen von ihnen zu entscheiden oder die Verfolgung aufzugeben.

Andrej hatte den unheimlichen Fremden auf der Stadtmauer nicht vergessen. Bisher war er aber zu erschöpft – und auch nicht in der Stimmung – gewesen, Abu Dun von seinem unheimlichen Erlebnis während der Schlacht zu erzählen. Er war fast sicher, dass es sich um denselben Mann handelte, der nun sie beide verfolgte.

Abu Dun und er wurden nicht zum ersten Mal verfolgt, und sie verfuhren nicht zum ersten Mal auf diese Weise. Andrej entfernte sich mit schnellen Schritten in die entgegengesetzte Richtung. Am Ende der gewaltigen Kathedrale angekommen, bog Andrej nach rechts ab, und Abu Dun würde es genau anders herum tun. Wem von ihnen der Unbekannte auch immer folgte, er würde dem anderen geradewegs in die Arme laufen.

Eine Gruppe von sieben oder acht betrunkenen Landsknechten überquerte lauthals singend und randalierend nur ein kleines Stück von ihm entfernt den Platz. Die Männer waren offenbar bester Laune, zumindest schienen sie sich von der gedrückten Stimmung, die vom Rest der Stadt Besitz ergriffen hatte, nicht anstecken zu lassen. Andrej hörte sie früh genug, um mit einem raschen Schritt in den Schatten eines der mächtigen Pilaster zurückzuweichen, die die Flanken der Kathedrale stützten. Er wartete mit angehaltenem Atem, bis die Männer an ihm vorbei und in einer der schmalen Gassen verschwunden waren, bevor er mit einem erleichterten Aufatmen aus seiner Deckung heraustrat.

Das Nächste, was er spürte, war der beißende Stahl einer Messerklinge an der Kehle. »Eine falsche Bewegung, Giaur, und du brauchst nicht mehr in diesen heidnischen Götzentempel zu gehen, um deinem Gott zu begegnen«, flüsterte eine Stimme an seinem Ohr. Abu Dun.

Andrej entspannte sich mit einem hörbar erleichterten Seufzer. Das Messer wich jedoch nicht von seiner Kehle – Abu Dun verstärkte den Druck noch, sodass ein einzelner roter Blutstropfen an seinem Hals hinunterlief. »Lass den Unsinn!«, raunte er. »Findest du nicht, dass wir im Moment Wichtigeres zu tun haben?«

»Nein«, antwortete der Nubier. Er ließ endlich das Messer sinken, trat einen Schritt zurück und steckte den Dolch mit einem breiten Grinsen ein, als Andrej sich zu ihm herumdrehte. »Der Kerl ist weg.«

»Weg?« Andrej vergaß für einen Moment alles, was er Abu Dun hatte sagen wollen. »Was soll das heißen: weg?«

»Was es eben bedeutet.« Abu Dun zog eine Grimasse. »Weg.« Er machte eine flatternde Handbewegung, wie um einen kleinen Vogel nachzuahmen, der sich mit schwingenden Flügeln entfernt, und hob in der gleichen Geste die Schultern. »In einem Moment war er noch da – und im nächsten nicht mehr.«

Andrej überging den beißenden Spott in Abu Duns Stimme. Der Ton zwischen ihnen war in den zurückliegenden Wochen zunehmend schärfer geworden, und nicht nur ihm war klar, dass es über kurz oder lang zu einer Auseinandersetzung kommen musste. Aber jetzt war nicht der richtige Moment dafür. »Was soll das bedeuten?«, beharrte er. »Willst du mir erzählen, er hätte sich in Luft aufgelöst?«

»Wenn dir dieser Ausdruck lieber ist …« Abu Dun hob abermals die Schultern und sah ihn gleichmütig an.

Andrej setzte zu einer wütenden Antwort an, aber dann beherrschte er sich im letzten Moment und wiederholte seine Frage mit ebenso beherrschter wie auch um Sachlichkeit bemühter Stimme: »Was soll das heißen? Niemand kann so einfach verschwinden, wenn du ihn einmal bemerkt hast. Oder ich.«

»Dieser Jemand schon.« In Abu Duns Augen blitzte es amüsiert auf, aber nur für einen Moment, dann wurde er plötzlich sehr ernst. »Ich weiß nicht, wer er ist oder was er von uns will, aber er ist ziemlich gut in dem, was er tut.«

Andrej schwieg. Er musste wieder an die unheimliche Gestalt denken, die ihn während der Schlacht beobachtet hatte. Er schloss mehr als einmal die Augen und lauschte mit seinen übermenschlich scharfen Sinnen in die Nacht hinein. Er konnte nichts wahrnehmen. Und dennoch: Während des gesamten Weges wurde Andrej das Gefühl, aus dem Verborgenen heraus angestarrt und belauert zu werden, nicht mehr los. Er war froh, als sie endlich die Herberge erreichten, in der sie Quartier bezogen hatten. Wäre er nicht zu stolz gewesen es zuzugeben, hätte er sich eingestehen müssen, dass ihn die unheimliche Begegnung in Furcht versetzt hatte.

Der Gasthof war gut besucht. Es roch nach billigem Wein, Schweiß und dem Ruß der Kerzen, die in von der Decke herabhängenden Leuchtern steckten. Stimmengewirr und grölendes Lachen schlug ihnen entgegen, als sie eintraten, aber einige der Männer saßen auch schweigend zusammen oder tuschelten leise miteinander. Manche hockten nur da und stierten blicklos vor sich hin. Die meisten trugen schmutzige Verbände. Auch hier hatte sich die Angst als uneingeladener Gast mit an die Tische gesetzt. Andrej blickte sich einen Moment lang um, dann deutete er auf einen der wenigen noch freien Tische in der Ecke.

Die Gespräche wurden leiser, und viele der Zecher starrten sie an, während Abu Dun und er sich dem Tisch näherten. Ihr Ruf war ihnen anscheinend vorausgeeilt. Aber vielleicht war es auch Abu Duns beeindruckende Gestalt, die die Männer in ihren Bann zog. Selbst ohne seinen gewaltigen Turban maß der Nubier knapp zwei Meter. Mit der kunstvoll gewickelten Kopfbedeckung war er so groß, dass er es sich schon seit Jahren zur Angewohnheit gemacht hatte, leicht vornübergebeugt zu gehen, um nicht ständig mit dem Kopf gegen die niedrigen Zimmerdecken zu stoßen, die in fast allen Gebäuden diesseits des Bosporus üblich waren.

Zum ersten Mal, seit er den Nubier kannte, der vom Todfeind über einen widerwilligen Verbündeten zum Freund und schließlich zu einem Wesen, wie er eines war, geworden war, suchte Andrej nach Zeichen von Schwäche an ihm. Aber er wurde nicht fündig. Trotz seiner schleppenden Schritte und der hängenden Schultern strahlte Abu Dun eine Kraft und Energie aus, die vermutlich nicht nur Andrej spürte.

Er selbst fühlte sich matt, erschöpft und ausgelaugt wie seit Langem nicht mehr, doch dem Nubier schienen die Anstrengungen des zurückliegenden Tages nicht das Geringste ausgemacht zu haben. Fast sah es so aus, als hätte er aus der brutalen Schlacht und dem nicht enden wollenden Kämpfen und Töten Kraft gewonnen. Erschrocken verscheuchte Andrej den Gedanken. Der Verdacht war ihm nicht zum ersten Mal gekommen, aber die Geschehnisse der zurückliegenden Stunden hatten ihm neue Nahrung gegeben.

Sie hatten den halben Weg zum Tisch zurückgelegt, als das geschah, was Andrej insgeheim befürchtet hatte: Ein offensichtlich bereits stark angetrunkener Mann stemmte sich mit ungeschickten Bewegungen von seinem Stuhl in die Höhe, verlor dabei das Gleichgewicht und rempelte Andrej an. Andrej hätte dem Zusammenprall mühelos ausweichen können, denn nicht nur seine Sinne waren ungleich schärfer, auch seine Reaktionen übertrafen die eines normalen Menschen. Aber er wusste, dass ihn der Bursche ganz und gar nicht zufällig angerempelt hatte. Andrej wäre der Auseinandersetzung ausgewichen, hätte er eine Möglichkeit dazu gesehen.

»He da! Pass doch auf!«, lallte der Betrunkene. Er schaute Andrej aus trüben, blutunterlaufenen Augen an, dann erst erkannte er, wen er vor sich hatte. Der Anblick schien ihn schlagartig nüchtern werden zu lassen. Er hatte Schritte gehört und jemanden hinter sich gespürt und Lust auf einen Streit oder eine Schlägerei gehabt, ohne genau zu wissen, mit wem er sich anlegen würde. Jetzt machte die Streitlust in seiner Mimik schlagartig Schrecken Platz, jäher Bestürzung und dann blanker Angst.

»Ver… verzeiht«, stammelte er und wich hastig in die Gruppe der anderen Zecher zurück. »Ich … ich habe Euch nicht sofort erkannt, Herr. Es … es tut mir leid.«

»Das glaube ich sogar«, vermutete Abu Dun. »Ich nehme an, du wolltest eigentlich mich anrempeln?« Er entblößte die Zähne zu einem strahlend weißen Grinsen, bei dessen bloßem Anblick auch noch das allerletzte bisschen Farbe aus dem Gesicht des unglückseligen Mannes wich, der eine harmlose Wirtshausschlägerei hatte anfangen wollen und sich nun dem vermeintlich sicheren Tod gegenübersah. »Wieso holst du das Versäumte nicht nach? Ich gebe dir drei Schläge vor, ohne mich zu wehren.«

Andrej brachte ihn mit einem mahnenden Blick zum Schweigen, dann drehte er sich betont langsam wieder um und lächelte zum Zeichen, dass er über den Zwischenfall nicht zornig war. Aber selbst damit schien er eher das Gegenteil dessen zu erreichen, was er beabsichtigt hatte. Auch die Gesichter der anderen Männer verrieten eine Angst, die er schon zu oft gesehen hatte und die ihn jedes Mal erneut schmerzte, auch wenn sie diesmal eher Abu Dun als ihm zu gelten schien.

Andrej wusste nur zu gut, wie leicht Angst in Hass umschlagen konnte und Hass in Gewalt. Abu Dun hatte recht gehabt, gestand er sich ein. Sie hätten nicht kommen sollen. Nicht in diese Stadt, und erst recht nicht zurück in dieses Gasthaus.

Aber der gefährliche Moment ging vorüber. Der Zecher senkte endgültig den Kopf und zog sich wie ein geprügelter Hund zurück, und auch Abu Dun beließ es zu Andrejs Verwunderung bei einem abschließenden, verächtlichen Verziehen der Lippen und einem halblaut gemurmelten Wort in seiner Muttersprache, das nicht einmal Andrej verstand.