Die Datendiktatur – Wie Wahlen manipuliert werden - Brittany Kaiser - E-Book
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Die Datendiktatur – Wie Wahlen manipuliert werden E-Book

Brittany Kaiser

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Beschreibung

Angriff auf unsere Demokratie

Ex-Cambridge Analytica Direktorin Brittany Kaiser enthüllt, wie Facebook, Trump und Big Data das Wahlverhalten von Millionen Menschen manipulieren.

Was auch immer wir online tun: Unsere Daten werden gespeichert, getrackt, missbraucht. In einem Ausmaß, das die orwell’sche Fiktion längst übersteigt. In ihrem explosiven Memoir konfrontiert uns Brittany Kaiser, Ex- Cambridge Analytica Direktorin und Whistleblowerin, mit der beunruhigenden Wahrheit über die Datenbranche: Unternehmen machen mit dem Verkauf unserer persönlichen Informationen mittlerweile Milliardenprofite. Und sie nutzen Schwachstellen in Datenschutzgesetzen gezielt aus, um unser (Wahl-)Verhalten zu manipulieren.

Das Buch beginnt an dem Tag, an dem Brittany Kaiser vor dem Untersuchungsausschuss des FBI-Sonderermittlers Robert Mueller zur Russlandaffäre aussagt. In Rückblenden nimmt sie uns mit in die Hinterzimmer des US-Wahlkampfteams und britischer Machtstrategen, sie beschreibt minutiös, wie Cambridge Analytica es schaffte, sich innerhalb kürzester Zeit bei Regierungsoberhäuptern einen Namen zu machen und die politische Weltbühne auf immer zu verändern – nicht zum Besseren …

  • Ein Politthriller von höchster Brisanz
  • Das Buch über den größten Datenskandal unserer Zeit
  • In der Netflix-Doku "The Great Hack" ist Brittany Kaiser die Hauptfigur

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Seitenzahl: 628

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HarperCollins®

Copyright © 2020 by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2019 by Brittany Kaiser Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Targeted. The Cambridge Analytica Whistleblower’s Inside Story of How Big Data, Trump, and Facebook Broke Democracy and How It Can Happen Again« bei HarperCollins Publishers, 195 Broadway, New York, NY 10007.

Bilder im Innenteil: Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Covergestaltung: kathrin steigerwald | gestaltung, Hamburg Coverabbildung: Design by Robin Bilardello, Peter Dazeley / Getty Images E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783959679220

www.harpercollins.de

Widmung

Für die Wahrheit: Auf dass sie uns befreie.

Prolog

Prolog

Es gibt nichts, was geeigneter wäre, seine Lebensentscheidungen infrage zu stellen, als mit einem FBI-Agenten am Steuer durch die amerikanische Hauptstadt zu fahren. Aber da saß ich nun, am 18. Juli 2018, im Fond eines Wagens und war auf dem Weg zu einer Vernehmung durch Beamte des Sonderermittlers Robert Mueller.

Genau genommen verlief die Fahrt in zwei Etappen. Der erste Wagen, auf dessen Rücksitz ich rutschte, fuhr mich zu einem vom Justizministerium spontan bestimmten Coffeeshop. Der Fahrer hatte die Anweisung, unseren niemandem sonst bekannten Bestimmungsort erst durchzugeben, wenn wir schon unterwegs waren. Am Coffeeshop wartete ein zweiter Agent, der wie der erste einen dunklen Anzug und eine dunkle Brille trug, nur war er nicht allein. Wie der erste hatte auch der zweite Wagen getönte Scheiben, hinter denen ich die Wahrzeichen von Washington an mir vorbeihuschen sah, weiß und hell erleuchtet, wie in einem Blitzlichtgewitter.

Als ich so zwischen meinen beiden Anwälten im Fond des Wagens saß, machte ich mir so meine Gedanken darüber, wie es zu alledem hatte kommen können. Immerhin war ich auf dem Weg, mich von der amerikanischen Bundesstaatsanwaltschaft zu meiner Rolle in der mittlerweile berüchtigten politischen Kommunikationsberatungsfirma Cambridge Analytica (CA) befragen zu lassen. Wie hatte eine Situation, in die ich mich mit den besten Absichten begeben hatte, derart schrecklich und unwiderruflich verkorkst enden können? Wie hatte es dazu kommen können, dass jemand wie ich, der Daten nie für etwas anderes als für Gutes nutzen und seinen Eltern über einen finanziellen Engpass hatte hinweghelfen wollen, seine persönlichen und politischen Werte kompromittiert? Wie hatte ich aus einer Mischung aus Naivität und Ehrgeiz heraus auf so beunruhigend eindeutige Weise auf die falsche Seite der Geschichte geraten können?

Es war etwas über dreieinhalb Jahre her, dass ich bei der Mutterfirma von Cambridge Analytica, der SCL Group, angeheuert hatte, genauer gesagt deren Abteilung für Humanprojekte SCL Social, wo ich unter dem CEO der Firma Alexander Nix tätig war. In den Jahren seit diesem mit besten Vorsätzen gemachten Schritt war nichts, aber auch rein gar nichts so gekommen, wie ich mir das vorgestellt hatte. Als überzeugte Anhängerin der Demokraten und altgediente Aktivistin für progressive Anliegen hatte ich meinen Job bei Cambridge Analytica unter der Vorstellung angetreten, dass ich nichts zu tun haben würde mit dem republikanischen Kundenstamm des Unternehmens und dessen Dunstkreis. Es dauerte jedoch nicht lange, da ließen mich die Schwierigkeiten, Geld für humanitäre Projekte aufzutreiben, im Verein mit den Verlockungen des Erfolgs meinen Prinzipien nach und nach untreu werden. Nicht nur winkte bei Cambridge Analytica zum ersten Mal in meinem Berufsleben richtiges Geld, sondern darüber hinaus auch noch die Vision, bei der Grundsteinlegung eines revolutionären Unternehmens für politische Kommunikation mit dabei zu sein.

Bei alledem offenbarten sich mir Cambridge Analyticas Bemühungen, so viele Daten über so viele US-Bürger zu erwerben wie nur irgend möglich und mithilfe dieser Daten auf das Wahlverhalten der Amerikaner Einfluss zu nehmen. Und ich konnte aus erster Reihe mitverfolgen, wie Facebooks lasche Datenschutzrichtlinien und das Fehlen jeglicher Schutzmaßnahmen für persönliche Daten seitens des amerikanischen Staats Cambridge Analyticas Bestrebungen praktisch überhaupt erst ermöglichten. Vor allem jedoch konnte ich sehen, wie Cambridge Analytica alle diese Kräfte dazu nutzte, Donald Trump zur Präsidentschaft zu verhelfen.

Während der Fahrt saßen meine Anwälte und ich schweigend da, jeder in Gedanken vertieft bei dem, was da kommen sollte. Ich würde bei der Befragung mit nichts hinterm Berg halten. Aber was würde der Rest der Welt von mir wissen wollen? Größtenteils schien es die Leute zu interessieren, wie das alles, sowohl in beruflicher als auch in persönlicher Hinsicht, hatte passieren können. Nun, es gab eine Reihe von Gründen dafür, dass meine Werte derart aus dem Ruder laufen konnten, ohne dass ich etwas dagegen tat – von der finanziellen Situation meiner Familie bis hin zu dem irrigen Glauben, dass Hillary ungeachtet meiner oder der Bemühungen der Firma, für die ich arbeitete, gewinnen würde. Beides war jedoch nur ein Teil der Geschichte. Der eigentliche Grund war womöglich, dass ich irgendwann meinen Kurs verloren hatte – und dann mich selbst. Ich hatte meinen Job angetreten mit der Überzeugung, als Profi zu wissen, wie zynisch und unsauber die Politik letztlich ist, nur um dann ein ums andere Mal zu sehen, wie naiv ich gewesen war.

Und jetzt war es an mir, das alles wieder geradezubiegen.

Der Wagen fuhr zügig durch die Straßen der Hauptstadt; irgendwann bekam ich das Gefühl, dass wir unserem Ziel nahe waren. Das Team des Sonderermittlers hatte mich vorgewarnt, dass ich weder überrascht noch besorgt sein sollte, wenn uns bei unserer Ankunft Massen von Reportern erwarten würden. Die Örtlichkeit, so hieß es, sei nicht mehr sicher, denn die Reporter hätten spitzgekriegt, dass das FBI in dem Gebäude immer wieder mal Zeugen vernahm.

Unser Fahrer sagte uns, er hätte eine Reporterin hinter einem Briefkasten lauern sehen. Er kenne sie von CNN. Einmal habe sie geschlagene acht Stunden am Stück vor der Adresse herumgelungert. »In Stöckelschuhen!«, rief er aus. »Denen ist doch wirklich nichts zu dumm!«

Als wir ein letztes Mal abbogen, um in eine Tiefgarage hinter dem Gebäude zu fahren, meinte er, ich möge doch mein Gesicht von den Fenstern abwenden, trotz der getönten Scheiben. Bei der Vorbereitung meines Gesprächs mit dem Sonderermittler hatte man mir geraten, mir den Tag freizunehmen. Den ganzen Tag. Man hatte mir gesagt, dass man unmöglich wissen könne, wie lang meine Aussage sich hinziehen würde, und dann gäbe es schließlich auch noch ein Kreuzverhör. Wie lang es auch immer dauern sollte, ich war bereit. Schließlich war ich an meinem Auftritt dort selber schuld.

Es war ein Jahr her, dass ich mich entschlossen hatte, reinen Tisch zu machen und die finsteren Winkel auszuleuchten, in die ich hatte blicken können. Ich hatte mich entschlossen, zur Whistleblowerin zu werden, weil mir klar geworden war, was Cambridge Analytica getan hatte und wie falsch mein Verhalten gewesen war. Ich wollte wiedergutzumachen versuchen, woran ich mitschuldig geworden war. Und darüber auszusagen schien mir die einzige Möglichkeit. Vor allem jedoch hatte ich mich dazu entschlossen, weil wir alle aus meiner Geschichte lernen und uns auf das vorbereiten können, was uns bevorsteht. Aus eben diesem Grund war ich nun hier: um Alarm zu schlagen und aufzuzeigen, wie Cambridge Analytica zu Werke ging und welche Gefahr Big Data darstellt, damit die Wähler auf beiden Seiten das nächste Mal wissen, was bei den Datenkriegen gegen unsere Demokratie auf dem Spiel steht.

In der Garage fuhren wir Spirale für Spirale nach unten.

Warum so tief?, fragte ich mich unwillkürlich. Als hätte ich das nicht längst gewusst: Privatsphäre zu finden ist dieser Tage gar nicht so leicht.

1: Ein später Lunch

1
Ein später Lunch

ANFANG 2014

Das erste Mal sah ich Alexander Nix durch eine dicke Glasscheibe, was vielleicht auch die vernünftigste Art ist, sich einen Menschen wie ihn anzusehen.

Ich war spät dran zu einem Businesslunch, den mein guter Freund und Schutzengel Chester Freeman kurzfristig arrangiert hatte. Ich traf mich mit drei von Chesters Geschäftspartnern, von denen ich zwei bereits kannte. Das Trio war auf der Suche nach jemandem an der Schnittstelle zwischen Politik und sozialen Medien, ein Gebiet, auf dem ich durch meine Arbeit für Obamas Wahlkampf 2008 hatte Erfahrung sammeln können. Zwar steckte ich mitten in meinen Recherchen für meine Dissertation, war daneben aber auf der Suche nach einem ordentlich bezahlten Job. Darüber, dass ich dringend ein regelmäßiges Einkommen brauchte, nicht zuletzt um meiner Familie daheim in Chicago unter die Arme greifen zu können, hatte ich mit so gut wie niemandem außer Chester gesprochen. Der Lunch sollte mir zu einem möglicherweise befristeten, aber lukrativen Beraterposten verhelfen. Ich war Chester enorm dankbar; sein Beistand kam mir gerade recht.

Als ich endlich eintraf, war der Lunch schon so gut wie vorbei. Ich hatte den Vormittag über einen Termin nach dem anderen gehabt, und so sehr ich mich sputete, ich kam zu spät. So fand ich Chester und seine beiden Freunde rauchend vor einem Sushi-Restaurant in Mayfair, umgeben von georgianischen Bauten, imposanten Hotels und sündhaft teuren Läden. Die beiden, die ich bereits kannte, kamen aus einem Land in Zentralasien und waren wie Chester geschäftlich und nur auf der Durchreise in London. Da in ihrer Heimat eine Wahl vor der Tür stand, sollte Chester ihnen bei der Suche nach jemandem helfen, der mit digitaler Kommunikation (E-Mail- und Social-Media-Kampagnen) vertraut war. Ich kannte sie zwar nur flüchtig, mochte sie aber und wusste, dass sie einflussreiche Leute waren. Chester hatte ihnen mit dem Lunch ebenso einen Gefallen tun wollen wie mir.

Zur Begrüßung drehte er mir eine Zigarette und beugte sich dann vor, um mir Feuer zu geben. Wir fragten, wie es dem anderen gehe, plauderten munter drauflos und zogen die Schultern hoch, um uns gegen den stärker werdenden Wind zu schützen. Als Chester so dastand, im Licht des frühen Nachmittags, zufrieden, die Wangen gerötet, konnte ich nicht anders, als von seinem Erfolg beeindruckt zu sein. Immerhin hatte ihn jüngst der Premierminister eines kleinen Inselstaats zum Gesandten für Geschäfts- und Handelsbeziehungen ernannt. Kennengelernt hatte ich ihn 2008 in Denver, wo in dem Jahr der Parteitag der Demokraten stattfand, als wuschelköpfigen 19-jährigen Idealisten in einem blauen Dashiki. Wir warteten beide in einer endlosen Schlange vor dem Stadion der Broncos, um uns Hillary Clintons Rede zur Unterstützung von Obamas Kandidatur anzuhören. So waren wir ins Gespräch gekommen.

Seither waren er wie ich umtriebig gewesen und konnten ein entsprechendes Sammelsurium an Erfahrungen in Sachen Politik vorweisen. Jahrelang hatten wir davon geträumt, »als Erwachsene« auf internationaler Bühne politisch oder diplomatisch zu agieren, und jüngst hatte er mir voller Stolz ein Foto von der Urkunde geschickt, die seine Ernennung zum Diplomaten bestätigte. Auch wenn der Chester, der mir jetzt vor dem Restaurant gegenüberstand, ganz nach dem frischgebackenen Diplomaten aussah, erkannte ich in ihm sofort die geniale Plaudertasche von früher wieder, die für mich fast so etwas wie ein Bruder war.

Während wir rauchend beisammenstanden, entschuldigte sich Chester für den in letzter Minute organisierten Lunch. Und wie um zu illustrieren, was für ein buntes Häuflein er da zusammengetrommelt hatte, wies er auf das Fenster des Restaurants, durch das ich den dritten Gast erspähte – der noch drinnen am Tisch saß und der mein Leben und später die ganze Welt verändern sollte.

Mit seinem Handy am Ohr schien er mir ein ebenso typischer wie durchschnittlicher Geschäftsmann zu sein, wie sie Mayfair bevölkern – nur dass er laut Chester genau das eben nicht war. Alexander Nix sei CEO einer britischen »elections company«, der SCL Group, was für Strategic Communication Laboratories stehe – genau die Art von Name, dachte ich, den ein Vorstand einer besseren Werbeagentur gab, um ihr einen wissenschaftlichen Anschein zu verleihen. Und in der Tat erzählte Chester auch gleich von den irren Erfolgen von SCL. Im Verlauf der letzten fünfundzwanzig Jahre hätte die Firma Militärdienstleistern auf der ganzen Welt zu Aufträgen verholfen und in allen möglichen Ländern Wahlen gemanagt. Im Prinzip bestand ihre Aufgabe darin, Präsidenten und Premiers an die Macht zu bringen und in vielen Fällen auch dafür zu sorgen, dass sie an der Macht blieben. Jüngst erst habe die SCL Group an der Kampagne zur Wiederwahl des Staatschefs mitgewirkt, für den Chester jetzt tätig war. Daher kannte er, wie ich vermutete, auch diesen Nix.

Ich brauchte einen Augenblick, um das alles in den Kopf zu bekommen. Immerhin verbarg sich hinter Chesters Absichten für die Verabredung zum Lunch ein ganzes Knäuel potenzieller Interessenkonflikte. Ich war also eingeladen, um mich seinen beiden Freunden anzudienen – aber auch dieser Wahlkampf-CEO war aus diesem Grund hier. Und zweifelsohne, so mein nächster Gedanke, hatte meine Saumseligkeit – im Verein mit meiner Jugend und meinem Mangel an Erfahrung – dazu geführt, dass der Auftrag von Chesters Freunden, den ich mir angeln wollte, an diesen Nix gegangen war.

Durchs Fenster schaute ich mir den Mann näher an. Mit einem Mal kam er mir nicht mehr so durchschnittlich vor. Mit dem Handy immer noch am Ohr schien er mir nun der absolute Profi zu sein und wirkte schrecklich ernst. Der Typ spielte offensichtlich in einer anderen Klasse, ich hatte da keine Chance. Ich war enttäuscht, wollte mir aber nichts anmerken lassen.

»Ich hab mir gedacht, du solltest ihn vielleicht kennenlernen«, sagte Chester einladend. »Ich sag dir, der Mann ist eine Eins-a-Connection.« Was eine Anspielung auf bezahlte Arbeit irgendwann in der Zukunft war. »Andernfalls«, so Chesters alternativer Vorschlag, »wäre er zumindest interessantes Material für deine Dissertation.«

Ich nickte. Wahrscheinlich hatte er recht. So enttäuscht ich war, geschäftlich eine Chance verpasst zu haben, hatte er meine akademische Neugier geweckt. Was machte der CEO einer solchen Firma eigentlich? Von so etwas wie einer »elections company« hatte ich noch nie gehört.

In meiner Zeit bei Obama und beim Super-PAC (Political Action Committee) »Ready for Hillary« sowie meiner jüngsten ehrenamtlichen Arbeit in London für die Expat-Organisation Democrats Abroad hatte ich die Erfahrung gemacht, dass Wahlkampfmanager ihre Kampagnen im eigenen Land führten, unterstützt von einer kleinen Elite hochbezahlter Experten und einem Heer aus unterbezahltem Personal, Freiwilligen und unbezahlten Praktikanten wie mir. Nach Obamas Wahlkampf 2008 lernte ich einige Leute kennen, die später professionelle Wahlkampfberater wurden, wie etwa David Axelrod, der Obamas Chefstratege gewesen war und danach Berater der britischen Labour Party wurde, oder Jim Messina, der »mächtigste Mann Washingtons, von dem Sie nie gehört haben«1. Nach Obamas Sieg war er der engste Mitarbeiter von dessen Stabschef im Weißen Haus und hatte danach Staats- und Regierungschefs anderer Länder beraten, von David Cameron bis Theresa May. Trotzdem war es mir nie in den Sinn gekommen, dass es ganze Firmen geben könnte, die sich dem Ziel verschrieben hatten, Leute irgendwo im Ausland in ein politisches Amt gewählt zu sehen.

Entsprechend betrachtete ich die Gestalt hinter dem Restaurantfenster mit einer Mischung aus Neugier und Verwirrung. Chester hatte recht. Mag sein, dass mir die Begegnung nicht gleich einen Job einbrachte, aber womöglich irgendwann später. Und ganz bestimmt könnte ich an dem Nachmittag noch etwas Forschung betreiben.

*

Das Restaurant war recht nett mit der strahlenden Deckenbeleuchtung, dem hellen Parkett und den cremefarbenen Wänden mit den ordentlich aufgehängten japanischen Drucken. Auf dem Weg hinüber zu unserem Tisch schaute ich mir den Mann, den ich bis dahin nur von draußen gesehen hatte, genauer an. Mittlerweile hatte er sein Telefonat beendet. Chester stellte uns einander vor.

Aus der Nähe war Nix alles andere als der typische Mayfair-Businesstyp; er war vielmehr, was die Briten als »posh« bezeichnen, mit anderen Worten aus besserem Haus. Makellos traditionell gekleidet, trug er einen gedeckten marineblauen Maßanzug, Seidenkrawatte, ein Hemd mit Button-down-Kragen – Savile Row bis hinab zu seinen auf Hochglanz polierten Schuhen. Neben ihm stand eine abgenutzte Lederaktentasche mit altmodischem Messingschloss; gut möglich, dass es die seines Großvaters war. Obwohl ich Amerikanerin bin, hatte ich seit meinem Highschool-Abschluss in Großbritannien gelebt und erkannte ein Mitglied der Oberschicht, wenn ich eines sah.

Alexander Nix jedoch war mehr als bloß Oberschicht. Ich würde in seinem Fall eher von den oberen Zehntausend sprechen. Er sah gut aus, der typische Internatsschüler – Eton, wie sich herausstellte –, ein schlanker Mann mit spitzem Kinn und der Art feinknochigem Körperbau, wie man ihn im Fitnesscenter kaum sieht. Seine auffallenden Augen waren von undurchdringlich strahlendem Blau, sein Gesicht glatt und faltenlos, als hätte er nie im Leben auch nur eine Sorge gehabt. Es war ein Gesicht, aus dem eine privilegierte Herkunft sprach. Als er so vor mir stand in diesem Westlondoner Restaurant hätte ich ihn mir sehr gut mit einem Helm auf einem galoppierenden Polopferd vorstellen können, einen speziell für ihn gefertigten Schläger in der Hand.

Ich versuchte sein Alter zu schätzen. Wenn er so erfolgreich war, wie Chester behauptete, war er wahrscheinlich mindestens zehn Jahre älter als ich, und so aufrecht und selbstbewusst, gleichzeitig aber auch lässig und entspannt, wie er sich hielt, hätte ich ihn auf Anfang mittleres Alter getippt. Er wirkte aristokratisch mit einem Schuss Meritokratie, definitiv hatte er einen privilegierten Start ins Leben gehabt, den er Chester zufolge jedoch genutzt hatte, um auf eigenen Beinen zu stehen.

Er begrüßte mich mit festem Händedruck und so herzlich, als würden wir uns schon ewig kennen. Als wir uns an einen großen, etwas abseits stehenden Tisch setzten, wandte er sich rasch, aber durchaus nicht unhöflich Chesters Freunden zu und nahm den Gesprächsfaden dort wieder auf, wo man ihn wohl hatte fallen lassen, bevor ich gekommen war.

Geradezu mühelos machte Nix sich an seinen »Pitch«. Ich war selbst ganz gut darin, hatte ich mir doch, um mich während meiner Studienzeit über Wasser zu halten, antrainiert, wie man potenzielle Kundschaft um Beraterjobs angeht. Doch ich erkannte sofort, wie geschickt Nix darin war. Ich verfügte nicht über halb so viel Charme wie er, von seiner Erfahrung ganz zu schweigen, und mit Sicherheit nicht über seinen Schliff. Seine Technik war so brillant wie der Glanz seiner teuren Schuhe.

Ich hörte zu, als er über die lange Geschichte des Unternehmens referierte, deren CEO er war. 1993 gegründet, hatte die SCL Group über zweihundert Wahlen gemanagt und bei politischen, humanitären und Militärdienstleistungsprojekten in etwa fünfzig Ländern mitgewirkt; man hätte denken können, Nix zähle die Mitgliedsstaaten eines Unterausschusses der UNO auf: Afghanistan, Indien, Indonesien, Kenia, Kolumbien, Lettland, Libyen, Nigeria, Pakistan, die Philippinen, Trinidad und Tobago und viele mehr. Nix selbst war zu diesem Zeitpunkt seit elf Jahren bei SCL.

Das schiere Volumen an Erfahrung, ganz zu schweigen von der Arbeit, die er geleistet hatte, war so erstaunlich wie beschämend. Unwillkürlich rechnete ich mit: Zum Zeitpunkt der Gründung von SCL war ich sechs Jahre alt gewesen, und in der Zeit, in der ich Kindergarten, Volksschule und Highschool absolvierte, hatte Nix am Aufbau eines kleinen, aber mächtigen Imperiums mitgewirkt. So gut mein Lebenslauf sich im Vergleich zu dem Gleichaltriger machte – ich hatte seit Obamas Wahlkampf und während meiner Zeit im Ausland immer wieder international gearbeitet –, mit dem von Nix ließ er sich nicht vergleichen.

»Und jetzt«, meinte Nix mit unverhohlener Begeisterung, »sind wir in Amerika.«

Erst jüngst, so berichtete er, habe die SCL dort mit dem Aufbau einer Präsenz begonnen. Kurzfristiges Ziel sei, das Management so vieler Halbzeitwahlen im November 2014 zu übernehmen, wie es nur ging. Danach wolle er das gesamte Wahlkampfbusiness in den USA mit Beschlag belegen, einschließlich der Präsidentschaftskampagne, wenn er sie bekam.

Es hörte sich geradezu dreist an, aber er hatte bereits die Halbzeitwahlen einiger bemerkenswerter Kandidaten in der Tasche, zu schweigen von einigen wichtigen Interessengruppen. So hatte er Politiker wie den Kongressabgeordneten von Arkansas Tom Cotton gewinnen können, ein Wunderkind mit einem Abschluss von der Harvard University, der obendrein im Irak gedient hatte und sich jetzt um einen Sitz im Senat bemühte. Er hatte einen Vertrag mit sämtlichen republikanischen Kandidaten North Carolinas, und zwar für alle anstehenden Wahlen. Und dann war es ihm gelungen, ein mächtiges politisches Aktionskomitee – ein Super-PAC – als Kunden zu gewinnen, hinter dem der ehemalige UN-Botschafter John Bolton stand, eine kontroverse Figur vom rechten Flügel, die ich nur allzu gut kannte.

Ich lebte ja nun schon seit Jahren in Großbritannien, aber einige der herausragenden amerikanischen Neokonservativen wie Bolton waren mir durchaus geläufig. Er ist die Art von Figur, die sich kaum ignorieren lässt: ein typischer Falke, außerdem gehörte er zu einer Gruppe von Neocons, die sich jüngst als Köpfe und Geldgeber hinter einer zwielichtigen Organisation namens Groundswell entpuppt hatte. Die Gruppe trug sich unter anderem mit der Absicht, Obamas Präsidentschaft zu untergraben und für einen Hype um Hillary Clintons Bengasi-Kontroverse zu sorgen.2 Damit war ich persönlich vertraut, da ich in Libyen gearbeitet und Botschafter Christopher Stevens kennengelernt hatte, der bei dem Anschlag auf das US-Konsulat in Bengasi meiner Ansicht nach nicht zuletzt der unglücklichen Entscheidung des amerikanischen Außenministeriums wegen ums Leben gekommen war.

An meinem Tee nippend, hörte ich Nix aufmerksam zu. Auf den ersten Blick war seine Klientel von vielen anderen Republikanern nicht zu unterscheiden, aber bei genauerer Hinsicht stand die Politik eines jeden einzelnen von ihnen meinen eigenen Überzeugungen derart diametral gegenüber, dass sich Nix’ Auflistung geradezu wie ein Katalog der Erzfeinde fast aller meiner Helden – wie Hillary und Obama – ausnahm. Die Leute, die er aufzählte, waren meines Erachtens politische Parias, ach was, Piranhas – Fische, in deren Teich ich mich nie und nimmer sicher gefühlt hätte.

Ganz zu schweigen davon, dass die Interessengruppen, für die Nix tätig war, von Waffennarren bis hin zu Abtreibungsgegnern, mir ein persönliches Gräuel waren. Mein ganzes Leben hatte ich mich für entschieden linke Interessen starkgemacht.

Nix war völlig hingerissen von sich selbst, seiner Firma und den Leuten und Gruppen, die er sich hatte angeln können. Man sah es in seinem Blick. Er sei furchtbar beschäftigt, sagte er, so beschäftigt und so voller Hoffnung, was die Zukunft anging, dass die SCL Group ein Spin-off habe aufziehen müssen, eine komplette neue Firma, die nur für die Arbeit in den Vereinigten Staaten zuständig war.

Diese neue Firma trug den Namen Cambridge Analytica (CA).

Sie sei noch kaum ein Jahr im Geschäft, meinte Nix, aber die Welt sollte mal besser aufmerken: Cambridge Analytica würde für eine Revolution sorgen.

Die Revolution, die Nix vorschwebte, hatte mit Big Data und Analytics zu tun.

Im digitalen Zeitalter seien Daten »das neue Öl«, erklärte er. Die Datenerfassung gleiche einem »Wettrüsten«. Cambridge Analytica habe ein Datenarsenal beispiellosen Ausmaßes über die amerikanische Öffentlichkeit zusammengetragen, das größte, soweit ihm bekannt sei, das es je gegeben habe. Dieser monströse Datenbestand verfüge über zwei- bis fünftausend individuelle Datenpunkte, sprich persönliche Informationen über jeden einzelnen erwachsenen Amerikaner über achtzehn Jahre, was sich auf etwa 240 Millionen Menschen belief.

Nix hielt einen Augenblick inne und sah erst Chesters Freunde und dann mich an, als wolle er sichergehen, dass diese Zahl ihre Wirkung nicht verfehlte.

Aber allein über Big Data zu verfügen, sei noch nicht die Lösung. Der Schlüssel bestehe vielmehr in dem Wissen, was sich mit den Daten anfangen ließ. Und dazu wiederum gehörten wissenschaftliche und präzisere Verfahren, Menschen in Kategorien einzuteilen: »Demokrat«, »Republikaner«, »Umweltschützer«, »Optimist«, »Aktivist« und ähnliche. Jahrelang habe die SCL Group, das Mutterunternehmen von Cambridge Analytica, Menschen mithilfe modernster Verhaltenspsychologie identifiziert und sortiert. Das habe dem Unternehmen die Möglichkeit an die Hand gegeben, einen bloßen Berg von Informationen über die amerikanische Bevölkerung in eine Goldgrube zu verwandeln.

Nix erzählte uns von seinem firmeninternen Heer von Datenwissenschaftlern und Psychologen, die gelernt hätten, mit höchster Präzision zu bestimmen, wem sie eine Nachricht zukommen lassen, was genau diese enthalten und wo genau sie den Betreffenden erreichen sollte. Er habe die besten Datenwissenschaftler der Welt angeheuert, Leute, die mit der Präzision eines chirurgischen Lasers jede einzelne Person zu erreichen vermochten, wo immer sich diese gerade befand (am Handy, am Computer, am Tablet, vor dem Fernseher), und das über jedes Medium, das man sich nur vorstellen konnte (von Audio- bis hin zu sozialen Medien). »Micro-Targeting« nannte er das. Cambridge Analytica sei in der Lage, einzelne Personen zu isolieren und sie buchstäblich dazu zu bringen, anders zu denken, wählen und handeln als zuvor. Das Geld der Kundschaft verwende man also auf »Ansprachen«, die tatsächlich funktionierten und deren Ergebnisse messbar seien.

Damit, so behauptete er, würde Cambridge Analytica in Amerika Wahlen gewinnen.

Während Nix referierte, spähte ich hinüber zu Chester. Ich hoffte, seinen Blick zu erhaschen, um dahinterzukommen, welche Meinung er sich über Nix gebildet hatte, aber es gelang mir nicht. Seine Freunde waren, so konnte ich an ihren Mienen ablesen, von Nix’ amerikanischem Ableger gebührend beeindruckt.

Cambridge Analytica füllte eine wichtige Marktlücke. Obamas Demokraten beherrschten das Gebiet der digitalen Ansprache seit 2007. Was technologische Innovationen anging, hinkten die Republikaner arg hinterher. Nach ihrer vernichtenden Niederlage bei der Präsidentschaftswahl 2012 war Cambridge Analytica auf den Plan getreten, um für gleiche Wettbewerbsbedingungen in einer repräsentativen Demokratie zu sorgen, indem man die Republikaner mit der benötigten Technologie versorgte.

Was seine Dienste für Chesters Freunde anging, in deren Land es aufgrund mangelnder Internetdurchdringung an Big Data fehlte, so könne SCL für sie genau das in die Wege leiten, zeigte sich Nix zuversichtlich. Mittels der sozialen Medien ließe sich für die Verbreitung ihrer Message sorgen. In der Zwischenzeit könnte man darüber hinaus auch mit eher traditionellen Kampagnen beginnen, von politischen Plattformen und politischen Manifesten über Tür-zu-Tür-Aktionen bis hin zur Analyse bestimmter Zielgruppen.

Die Männer machten Nix Komplimente. Ich kannte die beiden jedoch mittlerweile gut genug, um zu erkennen, dass sein Pitch eine Nummer zu groß für sie war und sie sich förmlich von ihm erschlagen fühlten. Ich wusste, dass ihr Land nicht über die Infrastruktur verfügte, um durchzuführen, was Nix für Amerika im Sinn hatte; außerdem schien mir seine Strategie nicht gerade erschwinglich, auch nicht für zwei Männer mit leidlich dickem Portemonnaie.

Was mich anging, so war ich bestürzt, um nicht zu sagen fassungslos, über das, was Nix uns da mitgeteilt hatte. Nie im Leben hatte ich dergleichen gehört. Hatte er doch gerade nichts Geringeres gesagt, als dass er die persönlichen Informationen seiner Zeitgenossen dazu einsetzen wolle, sie zu beeinflussen und damit Volkswirtschaften und politische Systeme rund um die Welt zu verändern. Aus seinem Mund hörte es sich nach einer Kleinigkeit an, Wähler dazu zu bekommen, unwiderrufliche Entscheidungen – nicht direkt gegen ihren Willen, aber zumindest ihren vertrauten Denkmustern zuwider – zu treffen und ihr übliches Verhalten einer Änderung zu unterwerfen.

Gleichzeitig musste ich mir eingestehen, dass ich geplättet war, was die Fähigkeiten seiner Firma anging. Praktisch vom ersten Tag meiner Tätigkeit für politische Kampagnen an hatte ich ein besonderes Interesse für »Analytics« – die Analyse von Big Data – gehabt. Ich bin zwar weder Entwicklerin noch Datenwissenschaftlerin, aber wie andere Millennials nutze ich Technologien, kaum dass sie auf den Markt kommen, und habe von Kindesbeinen an ein digitales Leben geführt. Ich war also prädisponiert, Daten als integralen Bestandteil meiner Welt zu sehen, als gegebene Tatsache, im schlimmsten Falle von Vorteil und nützlich, im besten Falle aber möglicherweise lebensverändernd.

Ich hatte selbst schon, wenn auch eher ansatzweise, Daten bei Wahlkämpfen eingesetzt. Abgesehen von meiner Rolle als unbezahlte Praktikantin in Obamas New-Media-Team hatte ich mich vier Jahre zuvor freiwillig für Howard Deans Kampagne für die Vorwahlen gemeldet, dann für John Kerrys Präsidentschaftskampagne und schließlich sowohl für das Democratic National Committee (DNC) als auch für Obamas Senatswahlkampf. Selbst ganz elementarer Einsatz von Daten, etwa um E-Mails an unentschlossene Wähler mit Inhalten zu schreiben, an denen ihnen gelegen war, galt damals als »revolutionär«. Howard Deans Kampagne brach alle bisherigen Spendenrekorde, indem man zum ersten Mal Leute online ansprach.

Mein Interesse an Daten paarte sich mit meinem Wissen über Revolutionen. Immer schon ein Bücherwurm, war ich zwar eine ewige Studentin gewesen, hatte mich aber immer auch draußen in der Welt engagiert. Ich hatte schon immer das Gefühl gehabt, dass Akademiker auch Mittel und Wege finden sollten, die Fäden hochgesinnter Ideen aus dem Elfenbeinturm zu Tuch zu verweben, das auch anderen von Nutzen ist.

Auch wenn wir hier von einer friedlichen Machtübergabe sprechen, könnte man Obamas Wahl als meine erste Erfahrung mit einer Revolution bezeichnen. Ich hatte in Chicago die ausgelassenen Feierlichkeiten am Abend von Obamas erstem Wahlsieg erlebt, und angesichts der Millionen, die auf den Straßen feierten, kam es mir vor, als habe sich gerade ein politischer Coup ereignet.

Darüber hinaus hatte ich das zweifelhafte, weil nicht immer ganz ungefährliche, Vergnügen gehabt, mich hier und da in einem Land aufzuhalten, in dem eine stille Revolution im Gange oder gerade eine offene Revolte ausgebrochen war oder kurz vor dem Ausbruch stand. So hatte ich etwa ein Jahr in Hongkong studiert, wo ich mich mit anderen Aktivisten freiwillig gemeldet hatte, nordkoreanische Flüchtlinge über eine Undergroundroute über China in Sicherheit zu schleusen. Gleich nach meinem College-Abschluss hatte ich in Südafrika bei Projekten ehemaliger Guerilla-Strategen mitgewirkt, die am Sturz des Apartheidregimes beteiligt gewesen waren. Und im Gefolge des Arabischen Frühlings hatte ich in dem eben von Gaddafi befreiten Libyen gearbeitet und war jahrelang danach noch in unabhängige diplomatische Aktivitäten für das Land involviert. Man darf wohl getrost sagen, dass ich ein Händchen für Orte mit gewissen Turbulenzen habe.

Ich hatte mich außerdem damit befasst, wie Daten sich zum Guten einsetzen ließen, wie Menschen, von dieser Möglichkeit ermutigt, sich ihrer bedienten, um soziale Gerechtigkeit zu erlangen, in einigen Fällen auch, um Korruption aufzudecken und unlautere Akteure zu entlarven. Ich selbst hatte 2011 in meiner Masterarbeit als Primärquellen über WikiLeaks durchgestochene geheime Daten benutzt, aus denen zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Irak-Krieg hervorgingen.

2010 hatte der »Hacktivist« (Hacker/Aktivist) Julian Assange, Gründer von WikiLeaks, den virtuellen Krieg denen erklärt, die sehr reale Kriege gegen die Menschheit führen, indem er geheime Dokumente von US-Behörden und des US-Militärs allgemein zugänglich machte. »The Iraq War Files« führten allenthalben zu Diskussionen über den Schutz bürgerlicher Freiheiten und internationaler Menschenrechte vor den Auswüchsen der Macht.

Mittlerweile trug ich mich mit der Absicht, im Rahmen meiner Doktorarbeit über Diplomatie und Menschenrechte, sozusagen als Fortsetzung meiner früheren Arbeit, mein Interesse an Big Data mit meiner Erfahrung mit politischen Turbulenzen zu kombinieren, indem ich der Frage nachging, wie Daten Leben retten könnten. Ganz besonders interessierte mich dabei etwas, was man gemeinhin als »präventive Diplomatie« bezeichnet. Die Vereinten Nationen und diverse Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aus allen Teilen der Welt waren auf der Suche nach Möglichkeiten, mittels Echtzeitdaten Gräuel in der Art des Völkermords von Ruanda 1994 zu verhindern, wo man beizeiten hätte eingreifen können, hätten den Entscheidungsträgern einschlägige Daten vorgelegen. »Präventive Datenüberwachung« – vom Brotpreis bis hin zum Anstieg rassistischer Bemerkungen auf Twitter – könnte mit der Erhaltung des Friedens befassten Organisationen die Informationen liefern, die sie brauchen, um ein Auge auf hochriskante Gesellschaften zu haben, dort Gefahren zu identifizieren und nötigenfalls einzugreifen, bevor ein Konflikt eskaliert. Das richtige Sammeln und Analysieren von Daten könnte mit anderen Worten Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen, ja selbst Kriege verhindern.

Ich verstand also sehr wohl die Implikationen der Möglichkeiten, die die SCL Group Nix’ Angaben nach hatte. Und so wie er über Daten sprach, von seiner Anspielung auf Revolutionen ganz zu schweigen, war ich etwas beunruhigt hinsichtlich seiner Absichten und der potenziellen Risiken seiner Methoden. Entsprechend wusste ich nicht mehr so recht, ob ich mein Wissen über Daten und meine Erfahrung auf dem Gebiet mit ihm teilen wollte. So war ich denn an dem Tag in London auch ganz dankbar, dass er sich von Chesters Freunden verabschiedete und zum Gehen anschickte.

Glücklicherweise achtete Nix bei alledem nicht weiter auf mich. Wenn er nicht gerade über sein Unternehmen sprach, plauderten wir unverbindlich über meine Wahlkampfarbeit, und ich war erleichtert, dass er nicht nach Obamas New-Media-Kampagne oder meinem Engagement bei der Aufklärung oder Verhinderung von Kriegsverbrechen fragte – ganz zu schweigen von meiner besonderen Leidenschaft, Daten im Rahmen präventiver Diplomatie einzusetzen. Für mich war Nix jemand, der Daten als Mittel zum Zweck sah und der, so viel stand fest, für einige Amerikaner arbeitete, in denen ich politische Gegner sah. Da schien ich gerade noch mal so davongekommen zu sein.

Was Chesters Freunde anging, so bezweifelte ich, dass sie mit diesem Mann würden arbeiten wollen. Seine Präsentation, sein ganzes Auftreten war zu extravagant, zu überdimensioniert für sie. Sein Überschwang hatte durchaus Charme, war sehr überzeugend, seine Unbescheidenheit durch exquisite britische Manieren relativiert, aber alles in allem entsprach seine Großsprecherei ihren Bedürfnissen eben so wenig wie sein Ehrgeiz. Nix selbst schien für die Reserviertheit der beiden keine Antenne zu haben. Er plapperte immer noch davon, ihnen mit speziell segmentierten Zielgruppen helfen zu können.

Als Nix aufstand, wurde mir klar, dass mir damit doch noch Zeit für meinen Pitch bei Chesters Freunden blieb. Ich war fest entschlossen, ihnen einen so einfachen wie bescheidenen Vorschlag zu machen, sobald Nix zur Tür hinaus war. Aber gerade als Nix sich zum Gehen wandte, machte Chester eine Geste in meine Richtung: Ich sollte doch mitkommen, um mich ordentlich von dem Mann zu verabschieden.

Draußen in der Kälte, im schwindenden Licht des Nachmittags, standen wir uns einen langen peinlichen Augenblick lang schweigend gegenüber. Aber ich kannte Chester und wusste, dass er Stille nicht ertragen konnte.

»Hey, meine demokratische Beraterfreundin«, platzte er schließlich heraus, »du solltest dich mal mit meinem republikanischen Beraterfreund hier treffen!«

Nix warf Chester einen Blick zu, in dem ich eine Mischung aus Besorgnis und Irritation erkannte. Es war offensichtlich, dass er sich nicht gerne auf dem falschen Bein erwischen, geschweige denn sagen ließ, was er zu tun hatte. Trotzdem fasste er in die Tasche seines Anzugs, brachte einen Packen abgegriffener Visitenkarten zum Vorschein und begann sie durchzugehen. Sie waren unterschiedlichster Machart, vermutlich von Geschäftsleuten, potenziellen Kunden – wie Chesters Freunden – und anderen Leuten, denen er an Nachmittagen wie diesen in Mayfair seine Dienste angeboten hatte.

Schließlich fand er eine seiner eigenen Karten, die er mir mit großer Geste reichte. Dann wartete er auf meine Reaktion.

Alexander James Ashburner Nix, las ich. Vom Gewicht des Papiers bis hin zur Serifenschrift sagte einem die Karte, dass der Mann ein Blaublüter war.

»Dann lassen Sie sich bei Gelegenheit mal von mir abfüllen und sich Ihre Geheimnisse aus der Nase ziehen«, sagte Alexander lachend, aber ich konnte sehen, dass es durchaus ernst gemeint war.

2: Seitenwechsel

2
Seitenwechsel

OKTOBER – DEZEMBER 2014

In dem halben Jahr nach meiner ersten Begegnung mit Alexander Nix hatte ich keine Arbeit gefunden, mit der ich die finanzielle Situation meiner Familie wesentlich hätte verbessern können. So bat ich im Oktober 2014 noch einmal Chester um Unterstützung bei der Suche nach dem richtigen Teilzeitjob für mich. Er arrangierte darauf ein Treffen zwischen mir und seinem Premierminister.

Damit bot sich mir die seltene Gelegenheit, meine digitalen und Social-Media-Strategien einem Regierungschef zu unterbreiten. Der Premier hatte bereits mehrere Amtszeiten hinter sich und bemühte sich um seine Wiederwahl. Und diesmal mache er sich Sorgen wegen der starken Opposition in seinem Land. Chester war der Meinung, ich könnte ihm ja vielleicht helfen.

So kam es, völlig unbeabsichtigt, zu einer zweiten Begegnung mit Alexander Nix.

Eines Vormittags saß ich in der Lounge eines privaten Hangars am Gatwick Airport in Erwartung meines Meetings mit dem Premier, für das ich zu früh dran war. Plötzlich flog die Tür auf und Nix platzte herein. Er hatte den ersten Termin des Tages – war ja klar, dass er vor mir an der Reihe war. Wieder Pech gehabt.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte er, seine Miene drohend und bange zugleich. Dann drückte er seine abgenutzte Aktenmappe an die Brust und meinte mit gespieltem Entsetzen: »Stalken Sie mich?«

Ich lachte.

Als ich ihm sagte, warum ich gekommen war, erzählte er, dass er mit dem Premier schon die letzten paar Wahlen über gearbeitet hatte. Er staunte nicht schlecht, als ich ihm gestand, dass ich in eben dieser »Hoffnung« gekommen sei.

Es folgte etwas Smalltalk, und als er aufgerufen wurde, sprach er im Gehen noch eine Einladung aus. »Sie sollten mal bei SCL vorbeikommen und mehr darüber erfahren, was wir so tun.« Dann war er auch schon weg.

*

So misstrauisch ich war, was Alexander Nix anbelangte, entschloss ich mich dennoch, bei SCL vorbeizuschauen. Einige Tage nach unserer zufälligen Begegnung in Gatwick rief Chester an, um mir zu sagen, »Alexander« hätte sich bei ihm gemeldet. Vielleicht könnten wir drei uns ja mal zusammensetzen und uns über die bevorstehende Wahl des Premiers austauschen?

Merkwürdigerweise war ich angenehm überrascht über dieses Ansinnen. Irgendetwas an unserer Begegnung in dem Hangar musste Alexanders Neugier geweckt haben. Vielleicht war er so viel Kühnheit bei jemandem meines Alters oder Geschlechts nicht gewohnt. Was immer dahintersteckte, es sollte bei dem Meeting um eine Zusammenarbeit gehen, was weit positiver klang, als gegeneinander zu arbeiten, zumal wenn man bedenkt, dass er so offensichtlich die Oberhand hatte und ich so dringend Arbeit brauchte.

Mitte Oktober schauten Chester und ich bei SCL vorbei. Das Büro der Firma lag in einer Seitenstraße namens Yarmouth Place, gleich hinter dem Green Park. Das Gebäude machte einen heruntergekommenen Eindruck, wie seit den 1960er-Jahren nicht mehr renoviert. Es war bis unters Dach voll namenloser kleiner Start-ups wie etwa der Firma für Trinkvitamine, mit der SCL den Flur gemeinsam hatte. Auf dem Weg in den Konferenzraum im Erdgeschoss, den sich alle Mieter teilten und der stundenweise zu buchen war, drückten wir uns an Lattenkisten voll kleiner Flaschen vorbei – nicht gerade das, was ich erwartet hatte von einer angeblich so hochkarätigen Crew politischer Berater.

Aber in eben diesem Raum trafen Chester und ich uns mit Alexander Nix und Kieran Ward, den Alexander uns als seinen Director of Communications vorstellte. Laut Alexander war Kieran bei Wahlen in zahlreichen Ländern vor Ort gewesen. Er schien mir erst Mitte dreißig, aber an seinen Augen konnte ich ablesen, dass er schon so einiges gesehen hatte.

Für den Premier stehe bei den bevorstehenden Wahlen eine Menge auf dem Spiel, erklärte uns Alexander. Er sprach vom »aufgeblähten Ego« des Mannes. Chester pflichtete ihm nickend bei. Er stellte sich zum fünften Mal zur Wahl, aber sein unzufriedenes Volk verlange seinen Rücktritt. Bei seinem Meeting mit dem Mann in Gatwick hatte Alexander ihn ermahnt, »die Schotten dicht zu machen«, andernfalls würde er verlieren. Aber viel Zeit dafür bleibe ihm nicht. Bis zur Wahl kurz nach Neujahr seien es nur noch wenige Monate.

Was SCL zu erreichen hoffe, begann Alexander, hielt dann aber inne. Er sah erst Chester an, dann mich. »Aber Sie wissen noch nicht einmal, was wir machen, oder?« Ehe wir’s uns versahen, war er zur Tür hinaus und kam mit einem Laptop in der Hand wieder herein. Er dimmte das Licht und startete eine PowerPoint-Präsentation, die er an eine große Leinwand warf.

»Unsere Kinder«, begann er, einen Klicker in der Hand, »werden nicht mehr in einer Welt der ›Pauschalwerbung‹ leben.« Er meinte damit Werbung, die nach dem Gießkannenprinzip auf ein breites Publikum zielte. »Pauschalwerbung ist einfach zu unpräzise.«

Er klickte die nächste Folie an die Wand: »Traditionelle Werbung dient dem Markenaufbau und der sozialen Bestätigung, das Verhalten ändert sie nicht.« Linker Hand auf dem Bild befand sich eine Werbung für Harrods, das Traditionskaufhaus; in großen Lettern hieß es da »50% RABATT«. Auf der rechten Seite waren zwei gelbe Bögen und eine Krone, die Logos von McDonald’s und Burger King.

Diese Art von Anzeigen, so erklärte er, sei rein informatorisch; wenn sie überhaupt etwas »bewies«, dann gerade mal die Treue bereits bestehender Kunden zu einer Marke. Dieser Ansatz sei veraltet.

Traditionelles Marketing wie diese Anzeigen würden nie funktionieren, sagte Alexander. »Die SCL Group bietet Messaging für die Welt des 21. Jahrhunderts.«

Wenn ein Klient neue Kunden erreichen wolle, so erklärte er, genüge es eben nicht, diese bloß zu erreichen, es gelte, sie zu »bekehren«. »Wie bekommt McDonald’s jemanden dazu, einen seiner Burger zu essen, der noch nie einen hatte?«

Mit einem Achselzucken klickte er die nächste Folie an die Wand.

»Der Heilige Gral der Kommunikation«, fuhr er fort, »besteht darin, Verhalten tatsächlich zu ändern.«

Auf der nächsten Folie hieß es »Behavioral Communications« – Verhaltensbeeinflussung durch Kommunikation. Links sahen wir ein Foto von einem Strand mit einem quadratischen weißen Schild: »Ende des öffentlichen Strands«; die rechte Seite zeigte ein knallgelbes dreieckiges Schild, das dem Hinweis auf einen unbeschrankten Bahnübergang ähnelte: »Warnung. Hai-Alarm.«

Welches Schild effektiver sei? Der Unterschied war fast komisch.

»Wenn Sie um die Angst der Leute, von einem Hai gefressen zu werden, wissen«, sagte Alexander, »dann wissen Sie auch, dass das zweite Schild die Leute davon abhalten würde, an Ihrem Stück Strand zu schwimmen.« Ihrem Stück Strand?, dachte ich bei mir. Der bietet seine Dienste wohl öfter den Besitzenden an.

Ohne Unterbrechung machte er weiter: SCL sei keine Werbeagentur, erklärte er, SCL sei eine »Agentur für Verhaltensänderung«.

Da solche Botschaften nicht wirklich ankämen, werfe man bei Wahlkämpfen mit Schildern wie dem vom Privatstrand Milliarden zum Fenster hinaus.

In die nächste Folie waren ein Video und ein Foto eingebettet, das eine wie das andere Wahlkampfwerbung. Das Video bestand aus einer Serie von Standbildern von Mitt Romneys Gesicht, dazwischen Clips mit applaudierendem Publikum, das Ganze über dem Soundtrack von einer von Romneys Wahlkampfreden. Sie endete mit der Phrase »Starke neue Führung«. Das Foto zeigte den ausgedörrten Rasen eines Vorgartens, in dem ein Schilderwald mit den Namen von Kandidaten aufgebaut war: Romney, Santorum, Gingrich – es spielte fast keine Rolle, wer es war. Es war klar, wie statisch die Schilder waren, wie leicht zu übersehen.

Alexander kicherte. »Sehen Sie«, sagte er. »Keines dieser Schilder ›bekehrt‹ jemanden.« Er breitete die Arme aus. »Wenn Sie als Demokrat so ein Romney-Schild sehen, dann haben Sie kein ›Damaskuserlebnis‹ und wechseln auf der Stelle die Partei.«

Wir lachten.

Ich saß staunend da. Da war ich nun all die Jahre in der Kommunikationsbranche tätig und war nie auf den Gedanken gekommen, Messaging unter diesem Gesichtspunkt zu sehen. Ich hatte nie jemanden über die Eindimensionalität der heutigen Werbung sprechen hören. Bis zu diesem Augenblick hatte ich Obamas New-Media-Kampagne von 2008, für die ich so engagiert als Praktikantin gearbeitet hatte, für hochentwickelt und raffiniert gehalten.

Es war der erste Wahlkampf gewesen, bei dem Social Media zur Kommunikation mit Wählern eingesetzt wurden. Wir hatten Senator Obama auf Myspace, Pinterest und Flickr beworben. Ich selbst hatte dem damaligen Senator die erste Facebook-Seite eingerichtet. Nie werde ich vergessen, wie Obama ins Chicagoer Büro kam und auf sein Profilfoto auf meinem Bildschirm wies. »Hey, das bin ja ich!«, rief er aus.

Jetzt sah ich, dass wir damals zwar vorneweg gewesen sein mochten, aber auch, um mit Alexander zu sprechen, informationslastig, eintönig und belanglos. Wir hatten nicht wirklich jemanden bekehrt. Unser Publikum bestand größtenteils aus bekennenden Obama-Anhängern. Sie hatten uns ihre Kontaktinformationen geschickt, oder wir hatten sie mit ihrer Genehmigung gesammelt, nachdem sie auf unseren Websites gepostet hatten. Nicht wir hatten sie erreicht; sie hatten uns erreicht.

Unsere Anzeigen, so erklärte Alexander, hätten sich auf »soziale Bestätigung« verlassen, sie hatten lediglich eine bereits bestehende »Markentreue« verstärkt. Wir hatten endlos in den sozialen Medien Obama-»Content« gepostet, ganz in der Art des Schilds am Privatstrand, des repetitiven Romney-Videos und der lahmen Schilder auf dem Rasen, die nie und nimmer zu einer »Verhaltensänderung« führten, sondern »informationslastig« waren und lediglich den »sozialen Beweis« dafür lieferten, dass unser Publikum Obama mochte. Und nachdem wir die Aufmerksamkeit von Obamas Fans hatten, schickten wir ihnen noch mehr Informationen und detaillierte Messages. Wir mochten die Absicht gehabt haben, ihr Interesse wachzuhalten oder dafür zu sorgen, dass sie zur Wahl gingen, aber Alexanders Paradigma zufolge hatten wir sie lediglich mit Daten überschwemmt, die sie nicht brauchten.

»Sehr geehrte(r) Frau/Herr So-und-so«, erinnerte ich mich getippt zu haben. »Herzlichen Dank dafür, dass Sie Senator Obama geschrieben haben. Barack ist im Augenblick auf Wahlkampfreise. Ich bin Brittany und antworte Ihnen in seinem Namen. Anbei finden Sie einige Links zu unserem politischen bla, bla, bla …«

So begeistert wie wir waren – unser New-Media-Team umfasste mehrere Hundert Leute und die Kampagne in dem Sommer belegte zwei ganze Etagen in einem Chicagoer Wolkenkratzer –, ich sah jetzt, wie einfach, ja primitiv unser Messaging gewesen war.

Die nächste Folie zeigte Tabellen und Diagramme, aus denen hervorging, dass Alexanders Firma weit mehr konnte, als für effektive Messages zu sorgen; sie schickte diese auf der Basis wissenschaftlicher Methoden an die richtigen Leute. Noch vor Beginn eines Wahlkampfs führte SCL Meinungsumfragen durch und beauftragte Informatiker mit der Analyse der erfassten Daten, um präzise die für den Klienten relevanten Zielgruppen zu identifizieren. Die Betonung lag hier selbstverständlich auf der Heterogenität der Zielgruppen.

Ich war besonders stolz darauf gewesen, dass Obamas Kampagne sich mit seiner Segmentierung der Wähler einen Namen gemacht hatte. Wir hatten sie nach Themen eingeteilt, die ihnen am Herzen lagen, nach Bundesstaaten sowie nach Geschlecht. Nur war das mittlerweile sieben Jahre her. Alexanders Firma ging weit über die traditionellen Verfahren der Demographie hinaus.

Klick, die nächste Folie. »Audience Targeting ändert sich«, stand da, links daneben war ein Foto des Schauspielers Jon Hamm als Don Draper in der Fernsehserie Mad Men.

»Old-School-Werbung in den Sixties«, sagte Alexander, »das war nichts weiter als ein Haufen smarter Leute wie wir, die um einen Tisch saßen und sich Slogans wie ›Coca-Cola Is It‹ oder ›Beans Means Heinz‹ einfallen ließen und dann das Geld ihrer Kunden ausgaben, um die Slogans unter die Leute zu bringen – in der Hoffnung, dass sie Wirkung zeigten.«

Aber während die Kommunikation der 1960er-Jahre ausschließlich »von oben nach unten« ging, funktionierte die Werbung von 2014 »von unten nach oben«. Mit all den Vorteilen der Datenwissenschaft und vorhersagekräftiger Analysen hatten wir weit mehr Wissen über die Leute an der Hand, als wir uns je hätten träumen lassen. Und Alexanders Firma sah sich die Leute an, um festzustellen, was sie bräuchten, um sich in der Richtung beeinflussen zu lassen, in die man – der Werbekunde – sie bugsieren wollte.

Auf der nächsten Folie stand: »Datenanalytik, Sozialwissenschaften, Verhalten und Psychologie«.

Cambridge Analytica hatte sich im Schoß der SCL Group entwickelt, die ihrerseits ihr Entstehen einem Gebilde namens Behavioural Dynamics Institute (BDI) verdankte, einem Konsortium aus etwa sechzig akademischen Einrichtungen und Hunderten von Psychologen, die – im Gegensatz zu Meinungsforschern – politische Umfragen entwickelten, deren Ergebnisse ihnen zur Segmentierung von Zielgruppen dienten. »Psychometrische« Verfahren sollten ihnen dabei helfen, die komplexen Persönlichkeiten der Leute zu verstehen und Mittel und Wege zu finden, ein bestimmtes Verhalten zu »triggern«.

Mittels »Datenmodellierung« entwickelten die Daten-Gurus des Teams Algorithmen, mit denen sich präzise die jeweilige Reaktion dieser Leute auf eine »Ansprache« in Form von maßgeschneiderten Messages vorhersagen ließ.

»Welche Message muss Brittany hören?«, fragte mich Alexander und klickte die nächste Folie an die Leinwand. »Wir müssen ›Werbung nur für Brittany‹ machen«, fuhr er fort und sah mich an. Dann lächelte er. »Nur für das, woran ihr gelegen ist, und für nichts anderes.«

Als Abschluss seiner Präsentation zeigte er uns ein Bild von Nelson Mandela.

Mandela war einer der Superhelden meines persönlichen Pantheons. Ich hatte in Südafrika mit einem seiner besten Freunde gearbeitet, jemandem, der mit ihm auf Robben Island inhaftiert war. Zum Weltfrauentag hatte ich sogar bei der Organisation einer Veranstaltung für Mandelas langjährige Ehefrau Winnie mitgeholfen. Leider war es mir nicht vergönnt, meinem Helden selbst die Hand zu schütteln. Jetzt sah ich sein Bild vor mir.

Laut Alexander hatte die Zusammenarbeit der SCL Group mit Mandela und dem African National Congress 1994 zur Beendigung der Gewalt bei den Wahlen geführt. Was zum Ausgang einer der wichtigsten Wahlen in der Geschichte Südafrikas beigetragen habe. Die Folie bot mit anderen Worten eine eindringliche Werbung für die SCL Group von Mandela selbst.

Wie hätte ich da nicht beeindruckt sein sollen?

Alexander musste sich schließlich abrupt verabschieden. Es war weiß Gott was passiert. Aber er empfahl uns in die kompetenten Hände von Kieran Ward, der über weitere Großtaten seines Unternehmens referierte.

Mit den Wahlen in Südafrika hatte alles begonnen, jetzt führte man neun oder zehn Wahlkämpfe pro Jahr in Staaten wie Kenia, St. Kitts, St. Lucia oder Trinidad und Tobago. Kieran hatte in einigen davon vor Ort mitgewirkt.

1998 hatte SCL in die Domäne der Wirtschaft expandiert; seit dem 11. September 2011 mischte man bei der Landesverteidigung mit: Ministerium für Innere Sicherheit der USA, CIA, FBI, US-Außenministerium und NATO. Außerdem hatte die Firma Fachleute ins Pentagon geschickt, um dort andere in ihren Verfahren zu unterweisen.

SCL unterhielt auch eine Social Division. Sie bediente den Bereich öffentliche Gesundheit. Fallstudien zufolge, so erklärte Kieran, habe man Menschen in Afrika dazu bekommen, Kondome zu benutzen, und in Indien, sauberes Wasser zu trinken. SCL habe Aufträge von UN-Organisationen und Gesundheitsministerien aus Ländern überall auf der Welt.

Je mehr ich über SCL hörte, desto interessierter war ich. Und als Alexander wieder zu uns stieß, zum Abendessen in einem nahegelegenen Restaurant, erfuhr ich mehr über ihn. Und je mehr ich über ihn erfuhr, desto interessanter fand ich ihn.

Seine Weltsicht war bei weitem nicht so eng, wie ich anfangs gedacht hatte. Er hatte einen Abschluss in Kunstgeschichte von der Universität Manchester. Danach war er in der Finanzwelt tätig gewesen, bei einem altehrwürdigen Wertpapierhaus in Mexiko, einem Land, das ich von Herzen liebe. Er hatte danach in Argentinien gearbeitet, war dann nach England zurückgekehrt in der Überzeugung, die SCL Group zu weit mehr machen zu können, als sie damals war – eigentlich eher eine lose Ansammlung von Projekten als ein Unternehmen. In etwas mehr als zehn Jahren hatte er die Firma praktisch aus dem Nichts aufgebaut und zu einem Miniimperium gemacht.

Besondere Freude hatte Alexander an den Wahlen in der Karibik und Kenia gehabt. Und als er dann auch noch erwähnte, dass er die Arbeit seiner Firma in Westafrika beaufsichtigt hatte, war ich gerührt. In Ghana hatte die SCL das größte Forschungsprojekt in Sachen Volksgesundheit in der Geschichte des Landes unternommen. Und da ich selbst jüngst im Bereich Gesundheitsreform in Nordafrika tätig gewesen war, hatten wir damit auch einen Berührungspunkt.

Ich erzählte ihm, was ich so gemacht hatte, etwa von meiner Arbeit in Südafrika, Hongkong, Den Haag, für das Europaparlament und NGOs wie Amnesty International. Was ich nicht erwähnte, war meine Wahlkampfarbeit, und ich nehme an, dass das irgendwie zwischen uns im Raum stand. Aber so weit war ich noch nicht. Immerhin arbeitete Cambridge Analytica für die Opposition.

Trotzdem hatte ich meinen Spaß an der Unterhaltung, und Chester, der mir den ganzen Abend über nicht von der Seite wich, prahlte derart mit meinen Leistungen, dass praktisch ein quasselndes Empfehlungsschreiben neben mir saß.

»Tja«, sagte Alexander, als er gehört hatte, was ich so alles gemacht hatte. »Jemand wie Sie wartet wohl nicht lange, bis sich etwas auftut?«

So war ich denn auch gar nicht so überrascht, als am nächsten Morgen Chester anrief. Alexander hätte sich gemeldet und gefragt, ob ich wohl bereit wäre, mich zu einem offiziellen Einstellungsgespräch mit ihm zu treffen. Mir war klar, dass Alexander wohl eher wenig Gelegenheit hatte, Frauen wie mich kennenzulernen – nicht etwa weil ich Seltenheitswert hätte, sondern weil wir einfach in zwei verschiedenen Welten lebten.

Ich war eine sechsundzwanzigjährige Amerikanerin, die sich unerschrocken in Männerdomänen mit hohem Einsatz zu bewegen schien. Er selbst stammte aus einer geschlossenen Gesellschaft privilegierter junger Männer, denen ein Berufsleben in einer von ihresgleichen bevölkerten Welt bestimmt war.

Ich war hin- und hergerissen, was eine Stelle bei Cambridge Analytica anging.

Es war durchaus aufregend zu erfahren, wie eine so kleine britische Firma so unerschrocken auftreten und so viel Einfluss auf politische Systeme, Kulturen und Ökonomien haben konnte. Die hochentwickelte Technologie und ihr potenzieller Nutzen für die Gesellschaft hatten meine Neugier geweckt. Was mir allerdings Sorgen machte, das war die gegenwärtige amerikanische Klientel der Firma. Wie hätte das auch anders sein sollen bei einer in der Wolle gefärbten Demokratin wie mir?

Aber ich brauchte dringend Arbeit. Hochmotiviert und rauflustig, wie ich nun mal bin, scheute ich keineswegs davor zurück, etwas Geld mit etwas zu verdienen, was nicht meine erste Wahl gewesen wäre. Ich hatte mich schon als Fünfzehnjährige dazu durchgerungen, meine Wohlfühlzone zu verlassen, als ich mich 2003 als freiwillige Mitarbeiterin für Howard Deans Kampagne für die Vorwahlen meldete, und war nach seinem Ausscheiden zu John Kerry übergewechselt. Um mich weiter meinem unbezahlten Engagement widmen zu können, hatte ich während meiner Studienzeit in England diverse Gelegenheitsjobs angenommen: Ich hatte mich in einem Restaurant als Sommelière anlernen lassen und, etwas weniger glamourös, gekellnert. Und wenn das Geld wieder mal wirklich knapp wurde, hatte ich mich in prolligen Pubs hinter den Tresen gestellt und dort nachts als Putze die Kotze vom Boden gewischt.

Als ich 2012 mein Magister- und Doktorstudium anging, avancierte ich in eher unternehmerische Höhen. So startete ich ein Unternehmen, das britische Staatsvertreter und Geschäftsleute mit Libyern ins Gespräch brachte, um im Gefolge des Arabischen Frühlings über Möglichkeiten zur Stabilisierung des nordafrikanischen Staats zu reden. Dann hatte ich auf Teilzeitbasis als Operationsleiterin für einen Fachverband für britische Handels- und Investmentinteressen gearbeitet, der sich auf die Förderung der Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und Nationen wie Äthiopien spezialisiert hatte, Länder, in denen geschäftlich wie diplomatisch schwer Fuß zu fassen war.

Anfang 2014 arbeitete ich noch an meiner Dissertation. Ich hatte auf einen fetten Job beim Super-PAC »Ready for Hillary« und dann bei Hillarys Kampagne selbst spekuliert und dafür alle Beziehungen spielen lassen, die ich mir im Lauf der Jahre erst beim DNC und dann bei Democrats Abroad in London aufgebaut hatte, aber keine meiner jüngsten Bemühungen um Arbeit bei den Demokraten oder bei liberalen und humanitären Gruppen hatte zu einer Gelegenheit geführt, die es mir wirklich erlaubt hätte, meine Rechnungen zu bezahlen. All die (schlecht bezahlten) Stellen bei dem kleinen RFH-Super-PAC waren bereits vergeben, und Hillarys Kampagne selbst war noch nicht angelaufen.

Schließlich hatte ich mich um einen Traumjob bei meinem Freund John Jones beworben, Anwalt bei der Kanzlei Doughty Street Chambers und einer der weltweit prominentesten Menschenrechtsanwälte. (Auch die nicht weniger großartige Amal Clooney, geborene Alamuddin, gehörte zu seinem Team.)

In seinem weltweiten Einsatz für Bürgerrechte war John ohnegleichen. Er hatte einige der umstrittensten Schurken der Welt vertreten, von Saif al-Islam al-Gaddafi, dem zweiten Sohn von Muammar al-Gaddafi, bis hin zum liberianischen Präsidenten Charles Taylor. Im Rahmen von Tribunalen im ehemaligen Jugoslawien sowie in Ruanda, Sierra Leone, Libanon und Kambodscha hatte er sich schwierigen Themen wie Terrorismusbekämpfung, Kriegsverbrechen und Auslieferung gestellt, stets die Aufrechterhaltung der internationalen Menschenrechte im Sinn. Jüngst hatte er sich des Falles von WikiLeaks-Gründer Julian Assange angenommen, der damals in der ecuadorianischen Botschaft in London untergekommen war, wo er um Asyl gebeten hatte, um der Auslieferung nach Schweden zu entgehen.

John und ich hatten uns angefreundet. Wir waren einander bei Unterhaltungen über den berüchtigten Whistleblower, den wir beide sehr bewunderten, nähergekommen, und wir hatten uns über die Rivalität zwischen unseren Prep-Schools lustig gemacht. John ist zwar Brite, hat aber die Phillips Exeter Academy in der Nähe von Boston besucht, die »Konkurrenzanstalt« zu meiner eigenen Schule, der Phillips Academy in Andover. Beide Schulen wurden Ende des 18. Jahrhunderts von Mitgliedern der neuenglischen Traditionsfamilie Phillips gegründet. Ich war noch keine zugelassene Anwältin, aber John war so freundlich, in mir einen gewissen Eifer und das Potenzial einer guten Mitarbeiterin zu sehen. Daher versuchte er die Finanzierung für eine Stelle zusammenzukriegen, die ich in Den Haag besetzen sollte, wo er eine Zweigstelle von Doughty Street namens Doughty Street International aufzuziehen gedachte.

Die Finanzierung für die Stelle stand jedoch noch nicht; und selbst wenn, dann wäre es nicht die Art von Salär gewesen, die ein Wirtschaftsanwalt verdient. Mehr gibt der Einsatz für die Menschenrechte nun mal nicht her. John und seine kleine Familie hatten viel geopfert für ihren Glauben an das Gesetz; sie leben weit bescheidener als andere weltberühmte Anwälte. Außerdem arbeitet er größtenteils unentgeltlich. Er ist, aus Prinzip wie aus praktischen Gründen, ein anspruchsloser Mensch und ein Vegetarier, der fast alle seine Wege mit dem Rad zurücklegt.

Obwohl ich mir vorgestellt hatte, eines Tages ein ebenso bescheidenes und ethisch authentisches Leben zu führen wie John, schien das im Augenblick nicht in den Sternen zu stehen. Meine Eltern zu Hause standen, Kulminationspunkt einer mehr als ein Jahrzehnt langen Kette von Ereignissen, einen Schritt vor der Armut.

Viele Jahre lang hatten der Familie meines Vaters gewerbliche Immobilien und eine Kette nobler Fitnessclubs und Spas gehört. Meine Mutter hatte so die Möglichkeit gehabt, sich um die Erziehung der Kinder zu kümmern. Meine kleine Schwester Natalie und ich waren in einem privilegierten Haushalt der oberen Mittelschicht aufgewachsen, wir hatten Privatschulen besucht, Tanz- und Musikunterricht genossen, waren mit der Familie nach Disneyland und in die Karibik gereist.

Bei der Hypothekenkrise 2008 jedoch hatten die Geschäfte meines Vaters schwer gelitten. Und dann waren noch eine Reihe anderer Probleme dazugekommen, auf die meine Eltern ebenso wenig Einfluss gehabt hatten. Bald waren unsere Ersparnisse aufgebraucht. Meine Mutter war früher für Enron tätig gewesen, und als dieses Kartenhaus in Houston 2001 in sich zusammenfiel, ging damit auch ihre Rente verloren.

Mein Vater war nun arbeitslos; meine Mutter, die sechsundzwanzig Jahre nicht mehr gearbeitet hatte, musste umschulen, um sich wieder in die Erwerbsbevölkerung einreihen zu können. In der Zwischenzeit sorgten meine Eltern für eine Umschuldung unseres Hauses und verkauften ihre Vermögenswerte, bis eines Tages die Bank vor der Tür stand und sie buchstäblich nichts mehr hatten als die Siebensachen in unserem Haus.

Währenddessen hatte bei meinem Vater eine zutiefst beunruhigende seelische Entwicklung eingesetzt; er wurde merkwürdig emotionslos. Er schien gar nicht richtig da zu sein, wenn wir mit ihm über die Situation zu reden versuchten. In seinem Blick war eine geradezu schaurige Leere. Er verbrachte seine Tage im Bett oder vor dem Fernseher, und wenn ihn jemand fragte, wie es ihm gehe, antwortete er ausdruckslos, es gehe ihm gut. Wir nahmen eine klinische Depression an, aber er wollte weder etwas von einer Therapie hören noch Medikamente nehmen. Er weigerte sich sogar, zum Arzt zu gehen. Wir hätten ihn am liebsten durchgeschüttelt, damit er aufwachte, aber wir hatten das Gefühl, ihn nicht erreichen zu können.

Als Alexander Nix im Oktober 2014 Chester anrief, um mich zu einem Vorstellungsgespräch bei SCL einzuladen, hatte meine Mutter einen Job als Flugbegleiterin gefunden. Sie hatte dazu nach Ohio ziehen müssen, wo die Fluglinie ihren Sitz hatte, und wohnte mit ihren Kolleginnen in Hotels. Währenddessen schlug sich mein Vater zu Hause mit Lebensmittelmarken durch. Meine Mutter, die in bescheidenen Verhältnissen auf US-Militärstützpunkten aufgewachsen war, hätte nie gedacht, noch einmal mehr recht als schlecht über die Runden kommen zu müssen. Aber jetzt war es doch passiert, und die Not starrte uns ins Gesicht.

Bei all meinen Vorbehalten gegen SCL konnte ich es mir nicht leisten, wählerisch zu sein. Irgendwie würde ich es schon hinkriegen, meine Dissertation abzuschließen, während ich als Beraterin tätig war. Ich brauchte einen Job, der mich und meine Familie über Wasser hielt. Ich dachte dabei nicht nur an die Gegenwart, sondern auch auf längere Sicht an die Zukunft.

Alexander gehörte dem Landadel an. Im 18. Jahrhundert hatte seine Familie die Finger in der legendären East India Company. Verheiratet war er mit einer norwegischen Reederstochter.

Obwohl ich mit zahlreichen Privilegien aufgewachsen war, gab es nun nichts mehr, worauf ich zurückgreifen konnte. Ich war eine arme Studentin mit der dummen Angewohnheit, mein ohnehin mageres Bankkonto zu überziehen. Ersparnisse hatte ich auch nicht. Ich wohnte in einer Bruchbude in East London. Zwar konnte ich jede Menge Referenzen vorweisen, aber ich wusste, wenn ich mich mit Alexander einlassen wollte, dann musste ich zusehen, dass ich auf Zack kam.

Also begann ich, mich in jüngste Entwicklungen in Sachen digitaler Wahlkampf und Datenanalyse einzuarbeiten. Ich frischte meine technischen Kenntnisse in Marketing und Wahlkampf auf, non-profit, versteht sich. Dann bügelte ich mein bestes Kostüm, ein Geschenk meiner Mutter aus ihrer Zeit bei Enron.

Als ich zu meinem Vorstellungsgespräch erschien, war Alexander mitten in einem dringenden Telefonat. Er drückte mir ein gewichtiges, fast sechzigseitiges Dokument in die Hand und wies mich an, es mir anzusehen, während ich wartete. Es handelte sich um das Mock-up einer neuen SCL-Broschüre – geradezu eine Enzyklopädie, wie ich gleich sah. Während ich grob durchblätterte, weil ich mich mit alledem später ohnehin würde befassen müssen, blieb ich bei einem Abschnitt hängen, in dem es über den Einsatz von »PSYOPS« bei der Landesverteidigung und bei humanitären Kampagnen ging.

Ich war mit dem Begriff vertraut und er faszinierte mich eher, als dass er mich beunruhigt hätte. PSYOPS steht für »psychologische Operationen« und damit im Prinzip für psychologische Kriegsführung. Was mich jedoch ansprach, war die Anwendung von PSYOPS zur Erhaltung des Friedens. Einfluss auf eine »feindliche« Zielgruppe zu nehmen, mag sich im ersten Augenblick schrecklich anhören, aber PSYOPS kann zum Beispiel durchaus hilfreich dabei sein, junge Männer muslimischer Nationen davon abzuhalten, sich al-Qaida anzuschließen, oder am Wahltag Konflikte zwischen rivalisierenden Stammesfraktionen zu deeskalieren.

Fasziniert saß ich über all den Informationen, als Alexander mich in sein Büro bat. Ich hatte die geheiligten Hallen eines Mannes von Welt erwartet, in denen sich das Universum widerspiegelte, an das er glaubte, aber der Raum war ein schmuckloser Glaskasten, weiter nichts. Es gab weder persönliche Fotos noch Andenken oder Nippes; das Mobiliar beschränkte sich auf einen Schreibtisch, zwei Stühle, einen Computermonitor und ein schmales Bücherbord.

Alexander lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. Weshalb ich denn, so fragte er, bei der SCL Group arbeiten wolle?

Ich wies scherzend darauf hin, dass er es doch gewesen sei, der mich hatte sprechen wollen.

Er lachte. Nein, im Ernst, insistierte er liebenswürdig.