Die dunklen Fälle des Harry Dresden - Titanenkampf - Jim Butcher - E-Book

Die dunklen Fälle des Harry Dresden - Titanenkampf E-Book

Jim Butcher

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Beschreibung

Erstmals auf Deutsch! Der 17. dunkle Fall des Harry Dresden verändert alles, was wir über die übernatürliche Welt zu wissen glaubten.

Mein Name ist Harry Blackstone Copperfield Dresden, und als Magier habe ich bereits gegen die schlimmsten Gegner gekämpft: den Roten Hof der Vampire, die gefallenen Engel des schwarzen Denar, die Außenweltler. Doch diesmal war es anders. Ethniu war so uralt und mächtig, dass selbst die Unsterblichen vor ihr erzitterten. Jetzt hatte sie Chicago den Krieg erklärt. Ihre Armee war bislang unbesiegt, und ihre zerstörerische Macht übertraf die von Göttern. Sie war die letzte der Titanen – und ich sollte sie aufhalten …


Die dunklen Fälle des Harry Dresden: spannend, überraschend, mitreißend. Lassen Sie sich kein Abenteuer des besten Magiers von Chicago entgehen!

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Seitenzahl: 612

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Buch

Mein Name ist Harry Blackstone Copperfield Dresden, und als Magier habe ich bereits gegen die schlimmsten Gegner gekämpft: den Roten Hof der Vampire, die gefallenen Engel des schwarzen Denar, die Außenweltler. Doch diesmal war es anders. Ethniu war so uralt und mächtig, dass selbst die Unsterblichen vor ihr erzitterten. Jetzt hatte sie Chicago den Krieg erklärt. Ihre Armee war bislang unbesiegt, und ihre zerstörerische Macht übertraf die von Göttern. Sie war die letzte der Titanen – und ich sollte sie aufhalten …

Autor

Jim Butcher ist der Autor der Dresden Files, des Codex Alera und der Cinder-Spires-Serie. Sein Lebenslauf enthält eine lange Liste von Fähigkeiten, die vor ein paar Jahrhunderten nützlich waren – wie zum Beispiel Kampfsport –, und er spielt ziemlich schlecht Gitarre. Als begeisterter Gamer beschäftigt er sich mit Tabletop-Spielen in verschiedenen Systemen, einer Vielzahl von Videospielen auf PC und Konsole und LARPs, wann immer er Zeit dafür findet. Zurzeit lebt Jim in den Bergen außerhalb von Denver, Colorado.

Jim Butcher

TITANENKAMPF

DIE DUNKLEN FÄLLE DES HARRY DRESDEN

Roman

Deutsch von Oliver Hoffmann

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Battle Ground (The Dresden Files 17)« bei Penguin RoC, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2020 by Jim Butcher

Published by Arrangement with IMAGINARYEMPIRELLC

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Peter Thannisch

Covergestaltung- und motiv: www.buerosued.de

Illustrationen: © www.buerosued.de

HK · Herstellung: sam · lor

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-31218-3V002

www.blanvalet.de

1. Kapitel

Apokalypsen beginnen immer zur Geisterstunde.

Das ergibt Sinn, wenn man darüber nachdenkt. Eine Apokalypse ist von Natur aus düster und trist. Die beste Zeit, um Energie für so etwas zu sammeln, ist der tiefste, dunkelste und kälteste Teil der Nacht. Die Zeit der Stille zwischen zwei Uhr morgens und der Morgendämmerung. Es ist die Stunde, in der man schweißgebadet aus Albträumen hochschreckt. In der man vor lauter Angst vor der Zukunft aufwacht. In der man auf die Uhr starrt und sich wünscht, schlafen zu können, obwohl man weiß, dass das nicht passieren wird, und vor Müdigkeit und Verzweiflung mit bleiernen Knüppeln gegen die Türen zu den Gewölben des eigenen Geistes schlägt.

Apokalypsen beginnen immer zur Geisterstunde, und ich raste Hals über Kopf auf eine zu.

Das alte Boot meines Bruders, der Wasserkäfer, ein billiger Abklatsch der Orcas aus »Der weiße Hai«, war zu plump, um über die Wellen des Michigansees zu springen, als wir auf dem Weg in die verdunkelte Stadt Chicago waren, aber es bahnte sich immerhin seinen Weg hindurch.

Ein Feind war im Anmarsch auf meine Stadt, und was für einer! Die Nationen, die das Abkommen der übersinnlichen Gemeinde ratifiziert hatten, hatten in der Kürze der Zeit nur einen kleinen Teil ihre Streitkräfte mobilisieren können, und dieser kleine Teil war alles, was zwischen der unbekannten Macht der Fomori, angeführt von einer wahnsinnigen Göttin, und etwa acht Millionen hilfloser Menschen stand, die sich praktisch nicht verteidigen konnten.

Ich versuchte, dem alten Motor des Bootes etwas mehr Tempo zu entlocken, und er gab ein seltsames Stöhnen von sich. Ich biss die Zähne zusammen und gab klein bei. Wenn mir der Motor um die Ohren flog, würde ich gar niemanden beschützen können.

Murphy humpelte die Treppe herauf und trat zu mir ins Steuerhaus. Ich bin um die zwei Meter groß, manchmal auch leicht darüber, je nachdem, welche Schuhe ich trage, und Murph kam nur mit dicken Socken auf einen Meter fünfzig, aber trotzdem schob sie sich neben mich und drückte sich an mich.

Ich legte den Arm um sie, schloss die Augen und konzentrierte mich für einen Moment ganz darauf, sie zu spüren. Zugegeben, durch den taktischen Gürtel und die P90, die sie trug (illegal, falls das zu diesem Zeitpunkt eine Rolle spielte), fühlte sie sich ein wenig unförmiger und kantiger an, als es das Diktat der Romantik normalerweise für eine Liebesbeziehung vorschreibt, aber das machte mir nichts aus, denn alles in allem war sie warm, weich, angespannt und wachsam.

Murphy vertraute ich bedingungslos. Was auch immer kommen würde, sie würde mir den Rücken freihalten, und sie war unbeugsam und klug.

»Wie weit noch?«, fragte Murphy.

»Wenn die Lichter an wären, könnten wir die Skyline der Stadt schon sehen. Wie geht es unseren Gästen?«

»Sie sind besorgt«, antwortete sie.

»Gut. Das sollten sie auch sein.« Ich sah zu ihr hinunter und sagte: »Wenn etwas passiert, dann in der Nähe der Küste. Es ergibt am meisten Sinn, dass der Feind seine Leute oder was auch immer dort postiert. Sag besser allen, sie sollen sich bereithalten.«

Murphy sah mich stirnrunzelnd an und nickte dann. »Erwartest du Ärger? Ich dachte, diese Titanin …«

»Ethniu«, half ich aus.

»… Ethniu«, fuhr sie unbeirrt fort, »habe gesagt, sie käme nicht vor der Geisterstunde. Aber es ist bereits Mitternacht.«

»Die Geisterstunde ist für Magiebenutzer zwischen zwei und drei Uhr nachts, doch ich glaube, für eine rachsüchtige Göttin ticken die Uhren anders. Zudem sind die Fomori ein Wasservolk. Die werden bereits Späher und Vorposten in Stellung gebracht haben.«

Murphy betrachtete eingehend mein Gesicht und fragte dann: »Wie schlimm wird es werden?«

»Eine übernatürliche Legion will alle Einwohner der Stadt ermorden, und ob Chicago steht oder fällt, nichts wird anschließend mehr so sein, wie es war. Diese Sache ist zu groß, zu gewalttätig, die Sterblichen werden das nicht ignorieren. Egal, was heute Nacht passiert, es wird die Welt verändern.«

Sie dachte einen Augenblick lang darüber nach. Dann sagte sie: »Die Welt verändert sich immer. Die Frage ist nur, wie.«

»Vielleicht. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das hier zum Guten wenden wird. Sterbliche gegen die übernatürliche Welt – das wird übel, Murph. Hässlich. Für uns alle. Aber genau das wird passieren. Ich weiß nicht, wann genau. Aber es ist unausweichlich. Unabwendbar.«

Sie lehnte sich an mich. »Was tun wir dagegen?«

»Tja, wenn ich das wüsste. Wir geben unser Bestes.«

Murphy nickte. »Nun gut, aber heben wir uns dieses Problem für morgen auf. Wir haben heute genug zu tun.«

Ich holte tief Luft, seufzte und verdrängte den kleinen Ozean der Angst, der in meinem Kopf wogte. Murphy hatte recht, in dieser Nacht gab es für uns alle nur ein Thema.

»Die Verteidigung Chicagos«, knurrte ich.

»Verdammt richtig«, stimmte Murphy zu. »Aber wie machen wir das?«

»So wie ich das sehe, ist Ethniu unsere größte Sorge.«

»Warum?«, fragte Murphy. »Sie ist eine große Nummer, aber sie ist trotzdem nur eine Person. Selbst sie kann nur an einem Ort gleichzeitig sein.«

»Weil sie womöglich das Auge Balors hat, das Auge des Königs der ursprünglichen Fomori«, antwortete ich. »Und der war ein Erzfeind der Tuatha, die, soweit ich weiß, eine Art Proto-Sidhe waren. Er herrschte in grauer Vorzeit über Irland. Es gab eine Prophezeiung, dass sein Enkel ihn erschlagen würde, also sperrte er sein einziges Kind für ein paar tausend Jahre in einen Turm.«

»Ethniu«, vermutete Murphy.

»Richtig.«

»Jahrtausende als Gefangene. Sie ist wahrscheinlich geistig vollkommen stabil und voll sozialkompatibel«, witzelte Murphy. »Hat er ihr sein Auge geliehen, oder was?«

»Nun ja, er starb auf grässliche Weise, nachdem sich einige attraktive Tuatha eingeschlichen und Ethniu geschwängert hatten. Das Kind, das daraus entstand, tötete Balor. Vielleicht hat es das Auge seiner Mutter zu Weihnachten geschenkt. Keine Ahnung.«

Murphy musterte mich. »Was weißt du darüber?«

»Der Großteil unseres Wissens stammt aus den Sagen der Sterblichen, was in etwa so ist, als würde man versuchen, Geschichte per stille Post zu verstehen. Aber das Auge … ist eine Waffe, wie sie die Welt seit Jahrtausenden nicht mehr gesehen hat. Überall, wo wir uns versammeln, um gegen die Truppen der Fomori zu kämpfen, könnte uns dieses Auge massenhaft auslöschen, und nach dem, was ich gehört habe, haben wir nur sehr wenige Möglichkeiten, Ethniu wirklich zu schaden. Aber wenn wir nichts tun und tatenlos zusehen, wird sie die Stadt dem Erdboden gleichmachen.«

»Wie also können wir sie besiegen?«, fragte Murphy.

»Woher soll ich das wissen? Der Oberste Rat wird die ganze Zeit über Informationen gesammelt haben. Es ist möglich, dass er sich etwas hat einfallen lassen.«

»Deshalb bist du zur Insel gefahren. Du hoffst, du kannst sie dort einsperren.«

»Ich glaube, wenn ich versuche, auf sie zuzugehen und sie zu fesseln, würde sie mir das Gehirn von innen heraus ausbrennen. Vielleicht kann man sie zermürben. Dann habe ich möglicherweise eine Chance.«

»Möglicherweise«, wiederholte Murphy, »und vielleicht. Ich höre eine Menge Einschränkungen.«

»Ja, das liegt daran, dass ich so optimistisch bin«, sagte ich mit finsterem Blick.

»Dann nennen wir das mal Plan B.«

»Plan Z. Das hier ist nicht unser übliches Chaos. In der Liga, in der unsere Gegner spielen, bin ich bestenfalls ein Mittelgewichtler. Deshalb hoffe ich, jemand hat eine bessere Idee.« Ich drosselte das Gas. »Gut, wir sind gleich da. Wenn es Ärger geben sollte, dann zwischen hier und dem Ufer. Sag besser den anderen Bescheid.«

Sie verpasste mir einen sanften Kopfstoß gegen den Arm und lehnte sich kurz noch einmal an mich. »Bin unterwegs.«

Sie humpelte vorsichtig wieder unter Deck, und ich fuhr noch ein wenig langsamer und schaute in die Nacht hinaus. Draußen gab es nicht viel zu sehen: Ein paar Lichter der Stadt beleuchteten die Unterseite der Wolkendecke, im Süden weit hinter Aurora und auf der anderen Seite des Sees, aber Chicago war in völlige Schwärze gehüllt.

Nun ja, nicht ganz.

Da war flackernder Feuerschein. Die hohen, dunklen, stillen Klippen der Stadtsilhouette hoben sich von der nicht ganz schwarzen Wolkendecke ab. In den Fenstern standen Hunderte Kerzen, einsame kleine Lichtpunkte in der Finsternis. Auch in den Straßen mussten Feuer brennen, denn sie warfen rötliche Lichtkegel auf die unteren Stockwerke einiger Gebäude.

Dank meiner mentalen Verbindung zur Insel hinter uns hatte ich eine ziemlich gute Vorstellung davon, wo auf dem See ich mich befand, aber ich war mir meiner Position nur auf vielleicht hundert Meter sicher, und die Dunkelheit machte die Sache schwierig. Ich wollte die Einfahrt in den Hafen nicht verpassen, damit ich das Boot nicht auf die Felsen setzte.

Die elektrischen Buglampen, die ich normalerweise benutzt hätte, waren ausgefallen, und das galt auch für die Elektronik in Autos und Flugzeugen. Der alte Dieselmotor des Wasserkäfers tuckerte immer noch vor sich hin, aber das war so ziemlich das Einzige am Boot, das Ethnius’ Superfluch überlebt hatte. Am Bug und am Heck hingen Knicklichter, um zu verhindern, dass uns jemand anderes rammte – als ob in dieser Nacht überhaupt jemand auf dem Lake Michigan unterwegs gewesen wäre!

Ich linste durch das schmutzige Glas des Steuerhauses und suchte nach den weiß gestrichenen Bojen, die die Fahrrinne markierten und die in diesem Dunkel fast hätten leuchten müssen. Auch die Lichter im Hafen bannten natürlich nicht mehr.

Plötzlich gab es ein Knirschen, Rumpf und Aufbauten des Wasserkäfers ächzten vorwurfsvoll, und das Boot bewegte sich innerhalb weniger Sekunden nicht mehr langsam, sondern verfiel in völlige Bewegungslosigkeit. Ich taumelte und musste mich an der Konsole festhalten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Das Steuerrad drehte sich plötzlich in meinen Händen, und die Griffe schlugen hart gegen meine Finger, bevor ich sie hastig wegnehmen konnte.

Ich stürzte aus dem Steuerhaus, als sich das Boot scharf nach links vorne neigte und die Balken ächzten.

Murphy kam an Deck, eine Chemielampe am Gurtzeug, ihr kleines Gewehr über der Schulter. Sie taumelte mit ihrer kaputten Schulter gegen das Schott und zischte vor Schmerz, dann schaffte sie es an Deck, suchte sich einen sicheren Stand und hielt sich mit einer Hand an der Reling fest. »Was ist los, Harry?«, rief sie.

»Ich weiß es nicht!«, antwortete ich, griff in mein Hemd und zog die silberne Pentagramm-Kette meiner Mutter mit dem roten Stein in der Mitte des fünfzackigen Sterns heraus. Mit einem gemurmelten Wort hielt ich sie hoch und erfüllte sie mit meinem Willen, und das Silber des Amuletts leuchtete in einem sanften blauen Zauberlicht auf.

Ich machte mich schnell auf den Weg nach vorne, während sich das Schiff ächzend in die andere Richtung neigte, und hielt das Licht hoch, damit ich mich ein wenig umsehen konnte. »Wir müssen auf Grund gelaufen sein!«

Aber als ich über eine dicke Taurolle gestiegen war und am Bug des Schiffes anlangte, sah ich vor mir nur dunkles Wasser. Das Licht meines Amuletts ließ Streifen von Reflektorbändern und Plastikreflektoren auf den Docks leicht links und weit vor mir aufblitzen. Das war auf einem Schiff wohl backbord.

Wir waren immer noch in tiefem, klarem Wasser.

Was zum Teufel …?

Das Schiff stöhnte und neigte sich abermals in die andere Richtung, und in diesem Moment schlug mir der Geruch entgegen.

Ein überwältigender Geruch von totem Fisch.

O Scheiße!

Ich drehte mich um und hielt mein Amulett über die vermeintliche Taurolle, über die ich gestiegen war.

Es war eine dicke, elastische, pulsierende, lebende Gliedmaße, ein Tentakel, rotviolett, mit lederartigen warzenförmigen Knötchen und mit gezahnten Saugnäpfen besetzt – und vielleicht anderthalbmal so dick wie ein Telefonmast.

Ich sagte meinem Körper nicht, er solle sich in Zeitlupe bewegen, aber es fühlte sich an, als täte er es, als ich dem Tentakel zur Seite des Schiffes folgte, wo es sich Richtung Aufbau am Rumpf heraufschob, diesen packte und sich mit Dutzenden von Saugnäpfen daran festhielt. Der Tentakel gehörte zu einer riesigen, klobigen Gestalt im Wasser, die fast so groß war wie das Schiff selbst.

Der Tentakel krümmte sich, veränderte seine Form, und das Schiff kreischte erneut auf und schaukelte in die andere Richtung.

Ein großes, schwach leuchtendes Auge schimmerte durch das Wasser des Lake Michigan zu mir herauf.

Ein gigantischer Tintenfisch. Ein Krake.

Die Fomori hatte den verdammten Kraken freigelassen. »Sterne und Stei…«, setzte ich zu einem Fluch an.

Dann wurde das Wasser des Sees emporgeschleudert, als ein paar Dutzend Tentakel wie der erste aus der Tiefe auftauchten und direkt auf mein verdammtes Gesicht zuhielten.

2. Kapitel

Tentakel. Das ist das Einzige, was mir von den nächsten Sekunden im Gedächtnis geblieben ist.

Etwas traf mich im Gesicht und an der Brust, und es war, als würde ich mit der Matratze eines Wasserbetts verprügelt. Ich flog nach hinten, und noch während ich zu Boden ging, legte sich etwas um meine Knöchel. Ein Blick nach unten offenbarte ein paar sich windende Tentakel, die meine Beine umschlungen hatten, und gezackte Saugnäpfe, die nach Halt suchten, jedoch vergebens, denn die Zaubersprüche, mit denen Molly meinen Spinnenseidenanzug belegt hatte, hinderten die gierigen Zähnchen daran, den Stoff zu durchdringen.

Ein dritter Tentakel, der viel schlanker war, peitschte um meine Stirn, und ich spürte, wie sich Dutzende winziger Zähnchen durch meine Haut bohrten und sich im Knochen meines Schädels verhakten.

Mein Kopf knallte gegen etwas, und ich sah Sterne, dann zerrte plötzlich etwas meinen Kopf und meine Füße in entgegengesetzte Richtungen.

Ich packte den Tentakel, der meinen Kopf umschlungen hatte, und zog ausreichend kräftig, um genug Gegendruck zu erzeugen, damit er mir nicht das Genick brach – und dann hing ich unangenehm in der Luft, von gewaltigen Kräften in zwei gegensätzliche Richtungen gezerrt, und kämpfte ums nackte Überleben.

Die Geschichte meines gottverdammten Lebens.

Ich hielt mit meinem gesamten Oberkörper kräftig dagegen, und obwohl der Tentakel unglaublich stark war, dehnte er sich wie ein Gummiband und lockerte sich leicht, sodass ich eine schnelle Beschwörung ausstoßen konnte: »Infusiarus!«

Eine grün-goldene Feuerkugel, hell wie eine winzige Sonne, flammte in meiner rechten Handfläche auf, die gerade ein verrückter Kraken-Tentakel umklammert hielt.

Die Kreatur konnte anscheinend keine Laute von sich geben, aber sie zitterte vor Schmerz, drehte sich und zuckte vor dem plötzlichen Feuer zurück, und der Wasserkäfer kreischte, als das Tier um sich schlug.

Ich schrie auf, als ein Band aus Feuer meinen Kopf umschloss, wo der Tentakel sich in meine Haut grub – ein Schmerz, der aber dann dem seltsamen Gefühl statischer Kälte wich, mit dem der Ritter des Winters in mir die meisten Schmerzempfindungen ersetzte. Das zugehörige Geräusch war unglaublich laut, zumindest in meinen Ohren, denn das Kratzen an meinem Schädel leitete den Schall direkt in meine Ohrknöchelchen. Heißes Blut rann mir übers Gesicht, über meine Ohren und meinen Nacken. Wunden in der Kopfhaut bluten heftig, und ich hatte gerade Dutzende davon erlitten.

Ich leitete weitere Energie in den Zauber in meinen Händen, und mein kleiner Sonnenball leuchtete wie eine Azetylenfackel. Es roch beißend nach verbranntem Fleisch, und der Tentakel brannte durch und riss plötzlich entzwei, und ich landete hart auf dem Deck, wobei meine Unterarme auf die Planken knallten.

Gleich darauf rissen mich die Tentakel, die sich um meine Knöchel geschlungen hatten, in die Luft und schleuderten mich ins bitterkalte Wasser des Michigansees.

Der Aufprall auf die Wasseroberfläche fühlte sich an, als würde ich auf eine Platte aus brüchigem Beton knallen. Es gelang mir, mich rechtzeitig zusammenzurollen und so den Aufprall etwas abzufedern, aber es reichte nicht aus, um zu verhindern, dass er mir den Atem nahm, ehe ich in die eisige Schwärze tauchte.

Ich suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Wasser und Magie vertragen sich zumeist nicht.

Es gibt einen Grund, warum die Inquisition Verdächtige damals ins Wasser getaucht hat: Wenn man einen Magier mit Wasser umgibt, kann er froh sein, wenn er das einfachste kleine Zauberlicht oder einen Funken statischer Elektrizität erzeugen kann.

Das ließ mir nur sehr begrenzte Möglichkeiten, mit einem gottverdammten Riesenkraken fertigzuwerden.

Auf der anderen Seite sollte man gegen den Ritter des Winters nicht in der Dunkelheit und in der Kälte antreten.

Ich sah das Ding hier unten in der Schwärze, meine Augen nahmen subtile violette und blaue Schattierungen von Biolumineszenz wahr, die zu schwach waren, um in einer weniger düsteren Umgebung aufzufallen. Vielleicht strahlte der Krake gar kein Licht aus – vielleicht stellte die magische Sicht es einfach als etwas für mein menschliches Gehirn Vertrautes dar. Aber ich sah ihn, ganz deutlich, sogar hier unten in der eisigen Dunkelheit. Oder vielleicht gerade hier.

Die Tentakel zerrten mich hin und her, und ich spürte, wie sich noch mehr von den Dingern festsetzten, einige an meinem Rücken, einer quer über die Rückseite meiner Oberschenkel, einer um meinen linken Arm.

Ich sah ein großes, glasiges Auge von der Größe einer Radkappe, dann machte ich vor dem leuchtenden Fleisch des Kraken den schwarzen Umriss seines Schnabels aus, eine obsidianfarbene Masse aus harter, schneidender Panzermasse, die mich so leicht in zwei Hälften schneiden konnte wie eine Gartenschere eine Blüte.

Plötzlich gab es ein dumpfes platschendes Geräusch, und jemand glitt durchs Wasser, schwamm mit unmenschlicher Geschwindigkeit und Anmut, bewegte sich eher wie eine Robbe als wie ein Mensch.

Die Gestalt trug nicht mehr als schwarze Sportunterwäsche, und ihre unmenschlich blasse Haut leuchtete förmlich in meinem Blickfeld. Ihre silbernen Augen reflektierten das wenige Licht wie die einer Katze, und in der Hand hielt sie eines der Ersatz-Kukris meines Bruders, das sie zweifellos aus dem Waffenschrank unter Deck genommen hatte.

Sie schoss durchs Wasser und packte mich am Aufschlag meines Mantels, während sie mit der anderen Hand und mit unbändiger Kraft und Geschwindigkeit gegen den Widerstand des Wassers die Klinge schwang.

Die schnitt in die warzige Haut des Kraken und verursachte einen Sturzbach violetten Blutes. Die Kreatur zuckte und krümmte sich, und eine Sekunde später ließ der Druck auf meine Knöchel nach, dann löste das Ding ruckartig die Tentakel von mir und riss dabei ein halbes Dutzend kleiner Fleischstücke aus meinen Knöcheln und Waden.

Lara Raith, die Königin des Weißen Hofs der Vampire, sah dem Ding einen Augenblick lang nach, das Messer in der Hand. Dann verlagerte sie ihren Griff unter einen Arm, stieß sich vom Boden ab und zog mich empor.

Wir durchbrachen die Wasseroberfläche, und ich sog keuchend so viel kostbare Luft in meine Lunge, wie ich konnte.

Laras Hand lag wie eine schlanke Eisenstange unter meinem Arm und hielt meinen Kopf über Wasser. »Magier, schwimm zurück zum Boot!«, schnauzte sie.

Das Wasser hatte ihr das kohlschwarze Haar eng an den Kopf gepresst. Das ließ ihre Ohren deutlich abstehen und sie irgendwie ein Jahrzehnt jünger aussehen.

Ihre Augen funkelten vor Wut. »Ich werde nicht zulassen, dass mein Bruder auf dieser Insel festsitzt, weil du so dumm bist, mit einem Kraken schwimmen zu gehen.«

»Wieso ist das jetzt meine Schuld?«, gurgelte ich und spuckte Wasser aus.

Plötzlich ertönten ein Husten und ein zischendes Geräusch, und grelles Licht erhellte die Wasseroberfläche. Murphy hatte am Bug des Wasserkäfers eine Magnesiumfackel gezündet, vielleicht zwanzig Meter entfernt, und schaute aufs Wasser hinaus, die Fackel in der erhobenen Hand.

»Miss Murphy!«, rief Lara, und Murph wandte den Kopf, sah zu uns hinüber. Sie konnte nichts sehen, was sich außerhalb der unmittelbaren Reichweite des Lichts befand, aber sie hatte die Fackel offenbar gezündet, um uns zu zeigen, wo das Boot war, als habe sie gemerkt, dass ich über Bord gegangen war.

Plötzlich peitschte eine Bewegung ganz in meiner Nähe das Wasser auf.

»Los!«, schrie Lara und tauchte so geschmeidig wie ein Otter unter.

Ich drehte mich im Wasser und strampelte Richtung Boot. Zwar war ich gut in Form, aber Schwimmen ist noch nie mein Ding gewesen. Ich näherte mich der Bordwand nur langsam.

Murphy eilte mit der Fackel herbei. »Hier drüben!«

Eine hagere, gefährlich aussehende Walküre sprang über die Metallbox im hinteren Teil des Hauptdecks, in der wir die Schiffstaue aufbewahrten, ein aufgerolltes Seil in einer Hand. Freydis hatte kurzes rotes Haar, leuchtend grüne Augen, Sommersprossen und trug schwarze taktische Ausrüstung. Ihre Hände verschwammen, so schnell entrollte sie die Leine und warf sie mir entgegen.

Die Taurolle traf etwa einen Meter vor meinem Kopf auf das Wasser, und ich ergriff sie. Freydis zog mich Richtung Boot, und zwar so stark, dass es durch den Gegendruck des Wassers schwierig wurde, mich am Seil festzuhalten.

»Harry!« Murphy deutete hinter mich.

Ich drehte den Kopf und sah, wie eine Bugwelle auf mich zuraste.

»Harry!«, rief Murphy erneut – und warf mir die Signalfackel zu.

Ich bin kein Akrobat oder so, aber für meine Größe ist meine Hand-Augen-Koordination gar nicht schlecht. Ich streckte die Hand aus, schlug zuerst gegen die Fackel, statt sie zu fangen, doch dann gelang es mir mit einem letzten verzweifelten Griff, sie zu packen – just als sich die Tentakel wieder in mich verkrallten und mich unter Wasser zogen. Die Magnesiumfackel leuchtete noch heller, als sie in meiner Hand aufs Wasser aufschlug.

Magnesiumfackeln brennen mit etwa tausendsechshundert Grad Celsius. Als ich sie also gegen den Tentakel um meine Taille stieß, löste der sich so schnell wie ein reißendes Gummiband, und der Spinnenseidenanzug erreichte die Grenzen seiner Belastbarkeit, zerriss wie Seidenpapier und hinterließ auf meinem ganzen Oberkörper Druckstellen.

Ich sah hinunter ins dunkle Wasser, und unter mir breitete sich der Krake aus. Er war riesig, seine Augen leuchteten in wilder Aufmerksamkeit und reflektierten das Licht der Fackel wie unheimliche Spiegel. Eine Sekunde lang hing ich da und begegnete diesem Blick … und spürte ein dunkles, schreckliches Bewusstsein, das plötzlich unerträglich in meinem Kopf anschwoll.

Die Augen sind die Fenster zur Seele, und Magier können manchmal hindurchschauen, wenn ihre Blicke für einen Moment dem eines anderen Lebewesens begegnen. In der eisigen Dunkelheit des Lake Michigan, im gleißenden, begrenzten Licht der Fackel betrachtete ich einen Kraken.

Ein Seelenblick ist eine ernste Angelegenheit, denn was man dabei sieht, brennt sich einem ein. Es verblasst nie, verliert nie an Schrecken. Wenn man etwas ausreichend Schlimmes sieht, kann das schreckliche Dinge im eigenen Kopf anrichten.

Ich weiß nicht einmal, was ich in dieser Nacht sah. Ein verschwommenes Bild, fremd, seltsam und irgendwie ekelerregend. Ich spürte meine Gliedmaßen, die weit gespreizt im Wasser trieben. Da waren andere Kreaturen wie ich, die sich in obszönen Verrenkungen auf dem Meeresboden wanden, inmitten geborstener Säulen und uralter Statuen von Dingen, die sich irgendwie in mehr als drei Dimensionen zu bewegen schienen. In meinen Gedanken flammte eine Empfindung auf, die so absolut anders war als alles, was wir Menschen kennen, dass es genauso gut pure Qual hätte sein können.

Ich schrie, spürte, wie mir die Blasen über das Gesicht perlten.

Wenn ein Magier in jemandes Seele schaut, schaut sein Gegenüber auch in seine. Es sieht ihn genauso, wie er sein Gegenüber sieht, klar und deutlich, ein Blick, der Schleier und Täuschungen durchdringt, um die Welt so wahrzunehmen, wie sie wirklich ist. Der Krake starrte mich an, und wogende Farbbänder kräuselten sich über seine warzige Haut, die sich verzerrte, stachlig wurde, seine Tentakel wanden sich und rollten sich zusammen.

Ich riss den Blick von dem Ding los, aber was immer der Krake gesehen hatte, als er in mich hineingeschaut hatte, hatte ihn in diesem Moment zutiefst erschreckt.

Der Nicht-Tintenfisch, der Krake, hatte Angst.

Ich war immer noch verblüfft von dem Seelenblick, und der Krake war es auch und sah Lara nicht kommen.

Sie raste von hinten unten heran, wobei sie durchs Wasser schoss, als würde sie ein Jetpack tragen. Sie rammte die Spitze der Waffe meines Bruders, des Kukris, in das warzige Fleisch des Kopfes der Bestie und schob dann mit der gebogenen Innenseite der scharfen Klinge das Fleisch der Kreatur auf.

Herrjemine! Sie wollte dem Kraken das Hirn herausschneiden.

Der wirbelte plötzlich herum und wand sich, und seine Haut schillerte in allen Farben und Strukturen, als er sich mit seinen Tentakeln auf sie stürzte. Er legte ihr die Tentakel um die Hüften und peitschte Lara im Wasser hin und her, wollte ihr mit der Wucht seiner Bewegungen das Genick brechen.

Das Messer ragte immer noch aus der Hinterseite seines Kopfes. Oder seines Leibs. Ich war nicht sicher – das ganze Ding bestand nur aus Warzen, Tentakeln und diesem bösartigen Hackschnabel. Ich trat Wasser und ignorierte das Brennen in meiner Lunge.

Lara hatte nicht sehr tief schneiden können, bevor das Ding sie gepackt hatte, vielleicht zwölf oder fünfzehn Zentimeter.

Aber die Wunde war mehr als groß genug für die Magnesiumfackel, und ich rammte sie bis zum Ellbogen in den weichen Schädel des Kraken.

Er drehte durch.

Irgendetwas traf mich, schleuderte mich drei oder vier Meter zurück, und wenn ich noch Luft gehabt hätte, hätte die Wucht dieses Hiebes sie mir aus der Lunge getrieben. Verschwommen sah ich, wie Lara mit den Tentakeln kämpfte, bis sie einen davon mit beiden Händen packte und einfach entzweiriss.

Eine Flüssigkeitswolke von der Größe eines Schwimmbeckens färbte das Wasser, und durch diese Wolke tauchten auf einmal schlanke, gewundene Silhouetten auf!

Das weckte eine Angst in meinem Stammhirn, die alles Erwachsensein nicht hatte auslöschen können.

Haie!

Bullenhaie, stumpfnasig und mit diesem starren, kalten, harten Blick. Vielleicht ein Dutzend von ihnen tauchten aus der Dunkelheit auf, der kleinste knapp vier Meter lang.

Jemand, so erinnerte ich mich, ohne ganz sicher zu sein, wer, hatte Murphy gerade gesagt, Ethnius’ Truppen hätten nicht die Absicht, fair zu kämpfen, wenn sie kämen.

Der Krake zuckte qualvoll im Wasser, und die Haie stürzten sich auf die Bestie.

Mann, wurde das schnell chaotisch! Schwänze peitschten. Zähne blitzten. Die ältesten Super-Raubtiere der Erde traten gegen ein Monster aus den Albträumen eines Irren an, und das Ergebnis war tödlich, wild und schön.

Laras Augen weiteten sich, als zwei weitere Haie, viereinhalb Meter lang, aus der Dunkelheit direkt auf sie zukamen – und zwischen ihnen, in jeder Hand eine Brustflosse, die Winterfürstin, die Stellvertreterin der Königin der Luft und Finsternis, meine Freundin Molly Carpenter.

Sie trug einen dieser Surferanzüge mit Mustern aus dunklem Violett und blassem Grün, die an die Streifen und Ringe einer hochgiftigen Seeschlange erinnerten, und ihr Mund war zu einem wahnsinnigen Grinsen verzogen. Ihr Haar, das in dem seltsamen Licht silbern leuchtete, breitete sich in einer anderweltlichen Aura um ihren Kopf aus.

Die Haie warfen sich auf den Kraken. Molly hatte ein Messer in der Hand und eilte Lara sofort zu Hilfe. Aber der Krake war noch nicht besiegt. Sein Maul klaffte auf, und der Schnabel schloss sich um einen der kleineren Haie wie eine riesige Schere. Ein Biss, ein Schnappen, und er hatte das Tier sauber in zwei Hälften zerteilt.

Es gab ein Platschen von oben, und dann schoss Freydis, die Walküre, mit fast so viel Anmut wie Lara durchs Wasser. Sie stieß mit eleganten Fußschlägen herab, steuerte auf das Messer im Hinterkopf des Dings zu. Tentakel bedrohten sie, aber die Winterfürstin machte eine Geste aus dem Handgelenk, und ein halbes Dutzend Bullenhaie stürzten sich mit reißenden, zerfetzenden Zahnreihen auf den Kraken.

Freydis riss den Stift aus einer gottverdammten Granate und steckte sie in das gleiche Loch, in das ich die Fackel gerammt hatte. Im Schein des noch brennenden Magnesiums sah ich die Umrisse ihrer Finger und ihrer Hand durch das Fleisch der Kreatur hindurch.

Ich strampelte, so schnell ich konnte, nach oben. Wegen der Granatsplitter machte ich mir keine Sorgen, aber Wasser ist eine nicht komprimierbare Flüssigkeit. Die Explosion würde einfach durch es hindurchschießen und weitaus mehr Schaden anrichten als in freier Luft. Wenn mich die Druckwelle traf, würde sie mir die Lunge zerfetzen, und ich wusste nicht genau, wie weit die Kraft der Explosion reichte.

Freydis stieß sich verächtlich mit den Beinen von dem Ding ab und hatte mich in peinlich kurzer Zeit eingeholt. Ich schaute zurück und sah, wie Molly die Rückenflosse des größten Bullenhais packte und von dem verwundeten Ungeheuer wegrauschte. Lara in ihrer Unterwäsche, deren blasse Haut mit Rissen und umlaufenden Saugnapfabdrücken übersät war, aus denen etwas zu blasses Blut in kleinen Strömen quoll, hielt sich an Mollys Knöcheln fest.

Die im Fleisch des Kraken steckende Granate explodierte hinter uns, und vielleicht ein Viertel seines Kopfes verwandelte sich in eine gummöse Wolke. Seine Haut wurde plötzlich blass, und die Tentakel zuckten nur noch wild. Eine Wolke aus Blut und Fleisch hinter sich herziehend, sank das Ding auf den eisigen Grund des Sees.

Ich durchbrach die Oberfläche, holte tief Luft und hustete. Mein Kopf fühlte sich nach diesem Seelenblick ausgesprochen merkwürdig an, wie auf die schlimmste Art und Weise betrunken. Aber, Gott, fühlte die Luft sich gut an! So gut, dass ich sie eine Weile einsog und erst mit kurzer Verzögerung bemerkte, dass Molly und ihr großer Hai einfach neben mir im Wasser trieben.

»Mal ehrlich«, sagte sie, »da schaut man fünf Minuten lang in die andere Richtung und schon bist du in Schwierigkeiten.«

»Leck mich, Padawan«, brummte ich.

Das Lächeln, das sie mir schenkte, wurde noch provokativer.

»Echt jetzt?«, fragte ich. »Haie?«

»In den Großen Seen findet man schon seit Jahren immer wieder Zähne von Bullenhaibabys«, antwortete sie und strich dem Tier zärtlich über den Rücken. »Es gibt viele von diesen bösen Jungs.«

»Lara?«, rief ich.

»Hier.«

Ich schaute über die Schulter. Lara sah entsetzlich aus. Sie hatte keinerlei Schutz gegen die gezahnten Saugnäpfe der Tentakel gehabt, und das sah man. Ihre blassen Augen waren jedoch ruhig und glitzerten wie die Schneide eines Schwertes, während Freydis neben ihr Wasser trat und ihr half, den Kopf an der Oberfläche zu halten.

Auch ich trat Wasser und sagte: »Äh. Wie kommen wir jetzt zurück zum Boot?«

Als Antwort flog wieder eine Leine über die Reling und platschte neben mir ins Wasser. Murphy erschien im Schein der Knicklichter und schimpfte in gedämpfter Lautstärke: »Mein Gott, Leute, seid leise. Wenn jemand an Land euch hört und ein Nachtsichtvisier hat, wird er euch abknallen wie Dosen auf einem Zaun.« Sie sah zu mir herunter, und die Anspannung in ihrem Gesicht löste sich. »Glaubt ja nicht, dass ich euch alle rausziehen werde.«

Müde schwamm ich zum Boot und vergewisserte mich, dass die anderen mir folgten. Es kostete mich verdammt viel Mühe, aber ich stemmte den Fuß gegen die Bordwand und kletterte daran hoch wie die alte Adam-West-Version von Batman, nur ungeschickter und viel mitgenommener.

Ich zog mich über die Reling und lag eine Minute lang erschöpft an Deck.

»Bist du in Ordnung?«, fragte Murphy leise, während auch die anderen nacheinander aus dem Wasser kletterten.

»Ich muss zugeben, Murph«, seufzte ich als Erwiderung, »ich habe da ein ganz mieses Gefühl bei der Sache.«

»Dein Problem«, sagte Murphy. »Ich habe gerade meine letzte Granate einer Walküre gegeben und ihr befohlen, einen Kraken zu sprengen. Ich amüsiere mich königlich.«

Tja, dazu konnte ich alles in allem nicht viel sagen.

Murphy und Molly hatten uns allen soeben gemeinsam den Arsch gerettet. Ich schloss für eine Sekunde die Augen.

Noch bevor ich auch nur gesehen hatte, was Chicago blühte, war ich bereits blutüberströmt und erschöpft.

Es würde eine lange Nacht werden.

3. Kapitel

Ich steuerte den Wasserkäfer in den Hafen. Molly und ihre Haischwadron eskortierten uns den Rest des Weges bis zum Anlegeplatz. Ich sicherte das Schiff, und als ich die letzte Leine festgemacht hatte, gab es ein knisterndes Geräusch und das Ende des Stegs war auf einmal mit Eis bedeckt. Molly stieg auf der Eistreppe, die sie geschaffen hatte, aus dem See, und es bildeten sich Muster aus Eis in ihrem nassen Haar. Im Näherkommen betrachtete sie die Stadt, und ihr Blick schien dabei in die Ferne zu schweifen.

Ich ging ihr auf dem Steg entgegen. »Was siehst du?«, flüsterte ich.

»Geister«, antwortete sie. »Boten, glaube ich. Hunderte. Und auch Todesengel …« Molly starrte lange auf die Stadt, dann zitterte sie heftig.

»Was ist?«, fragte ich.

»Wir sollten uns beeilen. Wir müssen zurück zur Burg.«

Ich musterte sie. Ihr Gesicht war ausdruckslos, distanziert.

Lara Raith tauchte auf dem Deck des Wasserkäfers auf. Der Kampf hatte ihre Klamotten ruiniert, und sie hatte sich mit einigen von Thomas’ Sachen begnügen müssen, die sie in der Schiffskabine gefunden hatte – eine enganliegende Lederhose und ein weites weißes Hemd im Stil des Dichters Byron. Die bleiche Haut an ihren Armen war überall, wo ich sie sehen konnte, bedeckt mit dunklen, fies aussehenden Blutergüssen und runden, größtenteils bereits wieder geschlossenen Wunden, die der Krake verursacht hatte.

Sie warf Molly einen Blick zu und nickte. »Danke.«

»Ich habe mich nur an die Bestimmungen des Abkommens gehalten«, antwortete Molly eher frostig.

Lara schaute sie einen Augenblick lang an, ehe sie entgegnete: »Natürlich.«

So etwas wie echter Zorn flackerte für eine Sekunde über Mollys Gesicht, war dann aber wieder verschwunden.

Mein Blick wanderte zwischen den beiden hin und her. Ich hasse es, wenn ich etwas verpasse.

»Wir müssen uns sofort mit den übrigen Nationen abstimmen, die das Abkommen ratifiziert haben«, sagte Lara zu Molly.

»Sehe ich auch so.«

»Ja«, pflichtete ich ebenfalls bei. »Macht das mal. Ich muss noch was erledigen.«

»Meiner Auffassung nach, Harry Dresden«, sagte Lara, »wirst du heute Abend möglicherweise noch eine entscheidende Rolle spielen, und du hast dafür gesorgt, dass ich ein zusätzliches Interesse daran habe, dass du diese Rolle überlebst. Deshalb werde ich nicht zulassen, dass du allein durch die Stadt läufst.«

Das konnte kompliziert werden. Lara hatte bereits zwei der Gefallen eingefordert, die ihr der Winterhof schuldete, aber offenbar hatte sie noch einen gut bei Mab. Wahrscheinlich war ich gezwungen zu kooperieren, wenn sie ihn einlösen wollte.

»Hey«, sagte ich, »hörst du das?«

Lara legte den Kopf schief. »Was denn?«

»Genau. Es ist absolut ruhig, und es ist erst kurz nach Mitternacht. Uns bleibt noch Zeit.«

»Wofür?«, fragte sie.

»Um sie zu warnen. Die magische Gemeinde in Chicago. Jemand muss sie wissen lassen, was abgeht. Ich brauche etwa eine halbe Stunde. Streitet euch nicht.«

Laras Gesichtsausdruck zeigte Verärgerung, und an ihrer Wange zuckte ein Muskel. »Warum musst du alles noch schwieriger machen, Dresden?«

»Das ist praktisch mein größtes Talent.«

»Er hat recht«, bemerkte Molly distanziert. »Wenn Sie mich entschuldigen würden, es gibt da etwas, das meine sofortige Aufmerksamkeit erfordert.«

Sie trat einen Schritt nach vorne und verschwand in einem Vorhang aus eisigem Wind und Nebel, der um sie herum peitschte, sich dann auflöste und nur ein leeres Hafenbecken zurückließ. Ich blinzelte und versuchte, so zu tun, als hätte ich das schon seit mindestens zehn Minuten erwartet.

Lara schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht versuchen, dich aufzuhalten, Dresden, aber ich brauche dich lebend, wenn ich meinen Bruder retten will. Deshalb wäre es mir lieber, wenn du nicht allein gehen würdest.«

Man hörte Schritte auf dem Steg, und Murphy verkündete: »Er ist nicht allein.«

Ich hob den Blick und sah Murph in ihrer taktischen Ausrüstung. Wenn man nicht wusste, worauf man achten musste, bemerkte man ihre körperliche Beeinträchtigung nicht, wenn sie einfach so still dastand.

»Ich zweifle nicht an Ihrer Loyalität Harry gegenüber, Miss Murphy. Nur hat Ihre körperliche Leistungsfähigkeit derzeit ihre Grenzen, und uns bleibt kaum Zeit. Er muss sich beeilen.«

»Sie wird mich nicht aufhalten. Du und Freydis, ihr solltet euch zügig zur Burg begeben. Als wir aufgebrochen sind, hat Riley gerade deine Leute zusammengerufen. Sie werden dich brauchen.«

»Na gut. Aber verliert keine Zeit. Die Fomori können jeden Augenblick auftauchen.«

»Wie süß, du machst dir Sorgen um mich.«

Ihr Lächeln trug einen Hauch von Gift in sich. Dann erhob sie die Stimme und rief: »Freydis!«

Die Walküre sprang leichtfüßig vom Boot auf den Steg. Lara nickte, murmelte »viel Glück«, dann rannten die beiden fast lautlos in Richtung Stadt davon, Lara voraus. Innerhalb von Sekunden waren sie außer Sicht.

Murphy seufzte. »Hey, Harry.«

»Ja?«

»Bei mir ist alles kaputt«, sagte sie ehrlich. »Wie, zum Teufel, soll ich mit dir mithalten?«

»Tja, mmh. Ich … ich glaube, ich habe eine Idee.«

Sie hob erstaunt eine Augenbraue.

Murphy hielt sich mit beiden Händen am Rand des Einkaufswagens fest, während ich ihn in vollem Lauf mitten auf der Straße Richtung Stadt schob. »Wenn du jemandem davon erzählst, Dresden«, drohte sie, »werde ich dich langsam und qualvoll töten. Mit zahnmedizinischen Instrumenten.«

Ich beugte mich zu ihr hinab und küsste sie aufs Haupt. »Na, na. Wenn du brav bist, bekommst du an der Kasse ein Bonbon.«

»Fick dich, Dresden!«

Ich grinste, dann rumpelten die Räder des Einkaufswagens durch ein Schlagloch, und Murphy zischte vor Schmerz. Ich versuchte, nicht vor Mitleid zusammenzuzucken und die unwegsamen Stellen, die ich rechtzeitig sah, zu umkurven.

Murphy konnte zwar humpeln, aber sie hätte sich unmöglich schnell genug durch die Stadt bewegen können, um mit mir Schritt zu halten. Ich hätte sie tragen können, aber das hätte sie noch mehr durchgeschüttelt als die Fahrt im Einkaufswagen. Also mussten wir uns damit begnügen.

Wir kamen wirklich gut voran. Die Autos, die auf den Straßen liegen geblieben waren, blockierten sie für den Autoverkehr, aber es gab viel Platz für Fußgänger, Fahrräder und schlaksige Magier, die einen Einkaufswagen schoben.

Die Polizei war in voller Montur erschienen, bis an die Zähne bewaffnet und gepanzert. Mindestens vier Beamte waren an jeder größeren Kreuzung postiert, wo sie die Straßen mit Fackeln und brennenden Mülltonnen beleuchteten. Das ließ die Nacht zwar nicht weniger bedrohlich wirken, aber wenn man sich in dieser Nacht draußen umschaute, war praktisch das Einzige, was man auf jeden Fall sah, die Polizisten in ihren Uniformen, die an jeder Kreuzung Posten bezogen hatten, und damit zeigten sie Flagge und versicherten den Menschen, dass sie immer noch bereit waren, Recht und Ordnung zu verteidigen.

Dennoch hatte es hier und dort schon Plünderungen gegeben. Ich sah mehrere eingeschlagene Schaufenster, wenn auch nicht so viele, wie es hätten sein können. Die Beamten rieten den Leuten, sich von der Straße zu entfernen und nach Hause zu gehen, und nicht wenige Uniformierte schauten uns im Vorbeifahren kritisch an. Murphy ließ mich anhalten, um mit ein paar Cops zu sprechen, die sie kannte, und gab an die Leute bei der Kriminalpolizei, mit denen sie noch Kontakt hatte, weiter, dass dies ein Problem für die Abteilung für Sonderermittlungen sei und dass man alle Mann an Deck holen und voll bewaffnete taktische Teams in Bereitschaft halten sollte.

Die Lage war noch nicht schlimm, aber es lag etwas in der Luft, der Geruch allgemeinen Entsetzens, der sich langsam ausbreitete. Die Einwohner der Stadt merkten allmählich, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

Der Feuerschein, der den Städten der Sterblichen seit mehr als einem Jahrhundert fast fremd war, warf hohe, tiefe Schatten, die die Gebäude bedrohlich aus der Nacht auftauchen ließen und Gassen in finstere Abgründe verwandelten. Die Polizeipräsenz sollte beruhigend wirken, aber sie war auch ein klarer Hinweis darauf, dass die Dinge schlecht standen und dass man im Rathaus zutiefst besorgt war.

Angst kann sich nicht derart ausbreiten, ohne dass sich ein erheblicher psychischer Druck aufbaut. Früher oder später würde dieser Druck etwas zum Platzen bringen.

Man sagt, dass nur eine dünne Schicht von Zivilisation die Barbarei übertüncht. Chicago wartete atemlos auf die ersten Risse darin.

Als wir im McAnally’s ankamen, war es … nun, wie immer, nur viel voller.

Macs Kneipe ist ein Kellerlokal unter einem Bürogebäude. Man muss von der Straße aus eine Betontreppe hinuntersteigen, um hineinzukommen, und sie hat eine irritierende Kombination aus einer ziemlich niedrigen Decke und Deckenventilatoren. Das ganze Lokal ist voll von altem gebeiztem Holz, mit dreizehn Hockern an der schiefen Theke, dreizehn Tischen für die Gäste und dreizehn geschnitzten Holzsäulen, deren Darstellungen hauptsächlich von den Märchen der Gebrüder Grimm inspiriert sind.

Die üblichen Kerzen und Laternen erhellten das Lokal. Auf Macs Holzkohlegrill brutzelten die verschiedenen Speisen, die er anbot, und das Bier floss in Strömen.

Als wir eintraten, geschah zunächst nichts, doch dann breitete sich mehr und mehr eine Stille aus, bis sie den Raum gänzlich erfasst hatte. Aller Augen waren auf mich gerichtet. Diese Leute wissen, wer ich bin.

Geflüster erklang. Harry Dresden. Magier.

Ich hatte einen Nylonrucksack dabei, den ich aus dem Wasserkäfer mitgenommen hatte. »Mac«, sagte ich nachdrücklich. »Lagerraum. Wir müssen reden.«

Mac ist ein schmaler, etwa einen Meter achtzig großer Mann mit großen Händen und einer glänzenden Glatze. Er trug seine übliche schwarze Hose, ein Hemd und eine makellos weiße Schürze. Er ist schon seit Langem mein Freund. Mac sah mich an und nickte dann in Richtung des Raums, der ihm als Speisekammer und Büro zugleich diente.

Karrin Murphy und ich traten ein. Wortlos öffnete ich den Rucksack, nahm das kleine Holzschild heraus und legte es vorsichtig auf seinen Schreibtisch.

Mac sah das Schild und riss die Augen auf. Er sah mich bestürzt an.

»Du weißt, was das ist.«

Mac wich einen halben Schritt zurück. Er schaute von dem Schild zu mir, und obwohl er nicht gerade vor lauter Schuldgefühlen die Lippen zusammenpresste, war ziemlich klar, dass ihm nicht passte, dass ich wusste, was er wusste.

»Heute Abend sind viele Paranetter hier, weil wir gestern eine Warnung herausgegeben haben und dies einer der designierten Schutzräume ist.«

Mac nickte.

Ich sah ihm so lange in die Augen, wie ich mich traute, und fuhr fort: »Was der Stadt droht, könnte sie alle töten. Ich brauche deine Hilfe.«

Mac schaute von mir zu dem Schild und wieder zurück und verzog das Gesicht.

»Mac«, flüsterte ich. »Nicht jeder würde dieses Schild einfach so erkennen. Ich meine, es ist doch nur ein altes Stück Holz, oder?«

Gequält hob er die Hände.

»Eine Titanin ist auf dem Weg nach Chicago, mit einer Fomori-Armee, um die Stadt niederzubrennen. Sie werden in etwa einer Stunde hier sein. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Bist du bereit?«

Mac runzelte die Stirn, starrte eine Sekunde lang auf das Schild und wandte dann den Blick ab.

»Dafür ist keine Zeit.« Ich senkte den Kopf, legte die Fingerspitzen einer Hand an die Schläfe und konzentrierte mich auf meinen Magierblick. Der ist ein mächtiges Werkzeug, mit dem man die Energien des Universums wahrnehmen kann. Es gibt viele Bezeichnungen dafür, von Traumsicht bis zum Dritten Auge, aber es läuft immer auf dasselbe hinaus: Man muss seine Gedanken so ausrichten, dass man wahrnehmen kann, wie sich magische Energien in der und durch die natürliche Welt bewegen. Der Magierblick zeigt das innere Wesen, enthüllt grundlegende Wahrheiten über Menschen, Kreaturen und Dinge.

Vor einiger Zeit hatten einige Fremdwandler Mac Ärger machen wollen.

Sie hatten ihn erkannt.

Ich wusste nicht, was Mac war, aber es schien klar zu sein, dass er mehr als ein durchschnittlicher Barkeeper war. Es war wohl an der Zeit, dass wir einander etwas besser kennenlernten.

Doch ehe ich den Magierblick einsetzen konnte, drückte Mac meine Hand leicht auf meine Augen, sodass ich sie nicht öffnen konnte.

»Nicht«, bat der sonst so wortkarge Mann sanft. »Tu dir nicht weh.«

Er ließ mich die Hand nicht bewegen, bis ich den Magierblick beendet hatte, und von dem hätte er eigentlich gar nicht wissen dürfen. Aber er tat es. Damit gehörte er zu einer relativ kleinen Gruppe von Wesen, die eine Verbindung zum göttlichen Wissen, zum Intellectus, hatten, und angesichts dessen, wie die Fremdwandler ihn genannt hatten, war ich mir ziemlich sicher, dass ich jetzt wusste, was Mac war. Oder was er einmal gewesen war.

Er ließ die Hand langsam sinken, dann trat er einen Schritt zurück und sah mich kopfschüttelnd an. Danach ging er zu einem Schrank und holte einen kleinen Werkzeugkasten heraus. Im Handumdrehen hatte er ein paar Schrauben an der Rückseite des Schildes angebracht, die mit einem Draht verbunden waren.

»Was ist das?«, fragte Murphy, während er arbeitete.

»Das Schild vom Kreuz Christi. Das, auf dem ›INRI‹ stand.«

Sie hob die goldenen Augenbrauen. »Aus dem Tresorraum des Hades?«

»Ja.«

»Was bewirkt es?«

»Es konzentriert Energie auf eine Person. Vielleicht hat das irgendwie damit zu tun, dass Christus die Sünden der Welt auf seinen Schultern trug. Wenn man es aufhängt, entsteht eine Art Schwelle, die so ziemlich alles Übernatürliche abhält, solange der rechtmäßige Besitzer des geschützten Anwesens lebt.«

Mac holte ein Klappmesser aus der Tasche, öffnete es und stach sich in den Daumen. Ein Tropfen Blut quoll hervor.

»Dann werden alle hier drin sicher sein?«, fragte Karrin.

Mac zögerte nur einen Augenblick. Dann holte er tief Luft und drückte seinen Daumen auf die Rückseite des Schildes, um dort sein Blut zu verschmieren.

»Alles, was an sie heran will, muss erst an Mac vorbei«, erklärte ich leise.

Mac nahm einen Nagel und einen Hammer aus dem Werkzeugkasten, klemmte sich das Schild unter den Arm und ging damit hinaus. Gleich darauf hörten wir, wie er den Nagel in die Wand schlug, um das Schild aufzuhängen.

Ich wandte mich an Murphy. »Hier trennen sich unsere Wege«.

Ihre Augen blitzten. »Harry …«

»Du hältst mich auf.«

Karrins Augen schimmerten, dann liefen sie über. »Verdammt«, sagte sie und wandte den Blick ab.

Ich hätte ihr nicht so sehr wehgetan, hätte ich sie brutal geohrfeigt.

Seufzend legte ich ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich habe Will und die Alphas draußen gesehen«, flüsterte ich. »Schau, ich muss den Rat unterstützen. Aber den Nationen, die das Abkommen ratifiziert haben, sind normale Menschen eigentlich ziemlich gleichgültig. Jemand muss sich um sie kümmern. Ich möchte, dass du die Verantwortung für die Alphas und die Paranetter übernimmst, die sich gegenseitig und jeden hier verteidigen, der Hilfe braucht.«

»Du willst mich in Sicherheit wissen«, antwortete sie barsch.

»Wenn ich das wollte, wärst du jetzt auf der Insel. Karrin, es herrscht Krieg, und ich will dich dort haben, wo du am meisten bewirken kannst.«

»Ja, und wo ich dich nicht behindere.«

Ich seufzte und fuhr mir mit einer Hand übers Gesicht. »Wenn ich deine Verletzungen heilen könnte, würde ich es tun. Aber Tatsache ist, dass du im Augenblick nicht mit mir mithalten kannst. So einfach ist das.«

»Fick dich!«, fluchte sie mit rauer Stimme und wandte sich ab. Einen Augenblick später murmelte sie sehr müde: »Ach, verdammt.«

»Kümmere dich um unsere Leute. Du bist eine der wenigen, denen ich das zutraue.«

Ohne sich umzudrehen, nickte sie.

Dann fuhr sie herum, ergriff meinen Mantel und zog mich zu sich herunter, um mich zu küssen. Der Kuss war drängend, süß, heftig und verzweifelt heiß.

Als sie mich losließ, brauchte ich eine Sekunde, um die Augen zu öffnen und mich wieder aufzurichten.

»Harry …«

»Nimm dich vor der großen bösen Titanin in Acht?«

In ihren Augenwinkeln bildeten sich Lachfältchen. »Das wirst du doch ohnehin nicht tun.« Sie legte die Hand auf meinen Arm und drückte zu, ihre Augen loderten wütend. »Nein, tritt ihr in den Arsch.«

4. Kapitel

Als wir Macs Büro verließen, war es im Schankraum still. Alle starrten uns an. Ich war daran gewöhnt, dass mir die Leute in Macs Kneipe verstohlene Blicke zuwarfen, aber es war selten so voll dort, und das wirkte bedrohlich.

Wir standen einen Augenblick lang da, ehe Murphy mich anstupste und murmelte: »Sag was.«

»Was denn?«, fragte ich.

»Sie haben Angst«, flüsterte Murph. »Sie kennen deine Macht und wollen was von dir hören.«

Ich musterte den Raum voller besorgter Gesichter.

Will und Georgia Borden waren da, zusammen mit Andi und Marci, Chicagos selbst ernannte Werwolf-Bürgerwehr. Will und Georgia sind ein seltsames Paar. Will ist etwa einen Meter fünfundsechzig groß und wiegt über neunzig Kilo, alles Muskeln. Georgia misst knapp einen Meter achtzig und sieht aus, als läuft sie jede Woche einen Marathon. Beide trugen wie Marci und Andi lockere, leicht abzustreifende Kleidung.

Aber unter den Anwesenden waren sie die Einzigen, die angesichts dessen, was auf sie zukam, auf der Straße so etwas wie eine Chance hatten.

Da saß der Ordo Lebes, Kräuterhexen, die zu wenig Macht haben, um für eine Mitgliedschaft in Gremien wie dem Rat infrage zu kommen, die dem Rat und seinen Angehörigen aber sichere Unterschlupfe in der ganzen Stadt zur Verfügung stellen, die fast so gut bewacht sind wie die Räumlichkeiten eines Magiers. Man kann sie sich als das magische Äquivalent eines Scheunenbaus vorstellen – Dutzende kleiner Talente, die zusammen viel mehr erreichen, als sie es allein hinkriegen würden.

Alle anderen waren einfach nur Leute, die genug Talent oder die richtigen Voraussetzungen hatten, um mit der übernatürlichen Gemeinschaft verbunden zu sein, aber nicht viel Macht. Verdammt, sogar Artemis Bock war da, obwohl er den Kopf gesenkt hielt und mich nicht ansah, weil er mir vor einigen Jahren dauerhaftes Hausverbot in seinem Laden erteilt hatte.

Gott, das erschien mir jetzt so unwichtig und bedeutungslos.

Ich ging an ihm vorbei in die Mitte des Raums und legte ihm auf dem Weg dorthin aufmunternd eine Hand auf die Schulter.

»Hallo, alle zusammen«, begann ich. »Ich nehme an, alle hier kennen mich. Aber falls nicht, ich bin Harry Dresden, Magier des Weißen Rats.« Ich holte tief Luft. »Uns bleibt nicht viel Zeit, also sage ich es geradeheraus: Wir haben es mit einer Apokalypse zu tun.«

Alle starrten mich an, und ich sah Entsetzen in so mancher Miene. Murphy stieß mir den Ellbogen in die Rippen.

»Zumindest so was in der Art«, milderte ich meine eigenen Worte ab, nur um gleich darauf eine Schippe draufzulegen: »Die Fomori, diese dreckigen Entführer, rücken mit einer Armee an, um die Stadt zu entvölkern.«

Es war mucksmäuschenstill. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.

»Was sollen wir tun?«, fragte Georgia in diese Stille hinein. »Was können wir tun?«

Ängstliches Tuscheln machte sich breit.

»Ihr seid nicht allein«, sagte ich. »Eine beträchtliche Streitmacht bereitet sich darauf vor, den Fomori entgegenzutreten. Aber das bedeutet, dass es da draußen ganz schön böse zugehen wird.« Ich seufzte und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. »So sieht es aus. Der große böse Wolf steht vor der Tür. Wenn ihr also vorhattet, einen Kampfsportkurs zu belegen oder zu lernen, wie man mit einer Schusswaffe umgeht, ist es jetzt zu spät. Ihr habt nur noch drei Möglichkeiten.« Ich hob einen Finger. »Ihr könnt weglaufen, doch dann werden sie euch jagen.« Ich hob einen weiteren. »Ihr könnt euch verstecken, doch sie werden euch aufspüren.« Ich ballte die Faust. »Oder ihr könnt kämpfen. Denn sie kommen, um euch zu töten.«

Ich zeigte auf Will und die Alphas. »Diese Leute da sind vorbereitet und können möglicherweise überleben. Wenn ihr glaubt, einen Kampf mit Will und seinen Leuten nicht gewinnen zu können, ist das Einzige, was ihr heute Abend da draußen tun könnt, sterben. Zufluchten wie diese hier werden wahrscheinlich als Letztes fallen. Aber wenn der Feind die Stadt einnimmt, werden sie fallen. Entscheidet euch also. Weglaufen. Euch verstecken. Kämpfen. Alle drei Alternativen können euch umbringen.«

»O Gott«, flüsterte jemand.

Jemandes Baby gab ein Geräusch von sich, und seine Mutter brachte es hastig zum Schweigen.

»Was ist mit der Armee?«, fragte Bock leise.

Ich schüttelte den Kopf. »Sie werden überall sein. Morgen früh. Die Anführer der feindlichen Armee sind bereits hier.«

Erneutes Getuschel quittierte diese Aussage.

»Tut mir leid, Leute. Aber es ist nun mal, wie es ist. Trefft eure Wahl und bleibt bei eurer Entscheidung.« Ich deutete auf Murph. »Ihr alle kennt Karrin Murphy. Sie wird hier die Verteidigung koordinieren. Ist das für dich und deine Leute in Ordnung, Will?«

Will brauchte sich nicht bei den Alphas rückzuversichern. Er nickte. »Ja.«

»Danke.«

Georgia besah sich Murphys Miene aufmerksam, und die beiden tauschten einen Blick aus, den ich nicht deuten konnte. »Klar, Harry. Was immer wir tun können, um zu helfen.«

»Mac, ist das okay für dich?«

Mac sah nicht von der Tasse auf, die er mit einem makellosen weißen Tuch polierte. Sein Schweigen bedeutete Zustimmung.

»Na dann. Ich muss jetzt los. Draußen steht ein abgeschlossenes Fahrrad. Wem gehört es?«

Es herrschte tiefe Stille im Raum.

»Ach, kommt schon, Leute«, bat ich. »Es ist kein Verstoß gegen die Gesetze der Magie. Ich brauche das Rad wirklich, um die Stadt zu retten und so.«

In der hinteren Ecke des Raums hob sich eine Hand, und ein dünner Junge mit Sonnenbrille und hochgezogener Kapuze sagte mit osteuropäischem Akzent: »Es ist mein Fahrrad.«

Ich blinzelte ihn an und fragte: »Gary?«

Paranoia-Gary, ein Paranetter, zog den Kopf zwischen die Schultern wie ein Cartoon-Bussard, sodass seine schmalen Schultern ihm fast die Sonnenbrille abstreiften. »Mein Gott, Dresden, oute mich nicht vor allen.«

Ich musterte ihn eine Sekunde lang, dann fragte ich: »Leute, wer hat gewusst, dass das Gary ist?«

Etwa achtzig Prozent der Anwesenden meldeten sich, darunter auch Murphy und Mac.

Gary schaute griesgrämig.

»Du bist unter Freunden, Mann«, versicherte ich ihm. »Natürlich wissen hier alle, wer du bist.«

Paranoia-Gary musterte mich misstrauisch über die Ränder der Sonnenbrille hinweg.

»Gary, kann ich mir dein Fahrrad leihen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Klar.«

Er warf mir einen Schlüssel zu. Ich fing ihn, was mir ein gutes Gefühl gab. Dann wandte ich mich wieder an den gesamten Raum. »Heute Nacht wird schlimm, Leute. Ich bin nicht euer Vater, aber wenn ihr hierbleiben und den Sonnenaufgang erleben wollt, würde ich alles tun, was Miss Murphy sagt.«

»Als Erstes brauchen wir einen Triage-Bereich«, wandte sich Murph an Will. »Auf die eine oder andere Weise werden Menschen Verletzungen erleiden.«

»Georgia, kümmere dich darum. Marci, Andi, ihr kommt mit mir. Wir werden ein paar Vorräte in der Apotheke besorgen.«

Die Alphas machten sich sofort ans Werk. Sie waren gute Leute. Ich fragte mich, wie viele von ihnen den Morgen erleben würden. Will und Georgia hatten ein Kind.

Ich schüttelte die trüben Gedanken ab. Ja, ich hatte Angst um sie, um die Menschen, die meine Freunde waren – aber verängstigt herumzustehen und mich kaputt, besorgt und außerstande zu fühlen, sie zu schützen, würde ihnen nicht helfen.

Aus meiner Sicht war es das Beste, wenn ich mich mit den anderen Mächten, die das Abkommen ratifiziert hatten, koordinierte, um dem Feind so viel entgegenzusetzen wie möglich. Der Weiße Rat konnte härter zuschlagen als so ziemlich jeder andere auf der Welt. Ich hatte persönlich gesehen, wie sich Mitglieder des Ältestenrats mit kleinen Armeen angelegt hatten – und verdammt noch mal, mein Platz war bei ihnen.

Vielleicht war ich, verglichen mit den Samurai-Schwertheiligen des Ältestenrats, das dumme Kind mit dem Vorschlaghammer aus dem Werkzeugschuppen seines Vaters, aber ich hatte herausgefunden, dass ein Vorschlaghammer auf den Schädel ein Vorschlaghammer auf den Schädel ist, egal, wie geschickt und elegant ein Gegner sein mag.

Ich warf den Bindekristall von der Insel hoch, fing ihn wieder auf und steckte ihn in das, was von der Tasche meines Anzugs übrig geblieben war.

Ganz bestimmt würde ich etwas Nützliches zu tun finden.

Aber nicht hier. Ich konnte nicht bleiben und auf meine Freunde aufpassen, konnte nicht derjenige sein, der sie beschützte. Nein, ich musste darauf vertrauen, dass das, was sie von mir und von der Gemeinschaft, die ich mit aufgebaut hatte, gelernt hatten, ihnen helfen würde.

Nun ja, und auf ein Artefakt, das buchstäblich im selben Regal wie der gottverdammte Heilige Gral gestanden hatte, und das, was von einem Ex-Engel übrig war, und auf das Messer, das jetzt an meiner linken Hüfte ruhte und vor Energie leise vor sich hin summte.

Hör auf, daran zu denken, Dresden.

Ich warf Karrin einen letzten Blick zu. Dann nahm ich den Schlüssel, ging hinaus, schloss Garys rotes Zwölf-Gänge-Rad auf, legte den zwölften Gang ein und trat wütend in die Pedale.

Ja, klar. Ich hätte abhauen können, aber ich bitte Sie!

Niemand liebt Ausdauertraining so wie ich.

Ich war erst ein paar Häuserblocks geradelt, als ich jemanden rufen hörte: »Da ist er!«

Eine andere Stimme rief: »Dresden! Halt! CPD!«

Das Chicago Police Department. Ich dachte kurz darüber nach, nicht anzuhalten – aber wenn wir die Bösewichte in dieser Nacht aufhielten, würde die Stadt morgen immer noch existieren, und das würde bedeuten, dass ich Ärger mit dem Gesetz hatte. Verdammt, ich versuchte, Maggie auf eine gute Schule zu schicken. Das würde niemals klappen, wenn ihr Vater im Knast landete.

Also trat ich auf die Bremse, und das Rad kam in der Dunkelheit schlitternd zwischen ein paar Wachposten zum Stehen. Ich saß da und wartete ungeduldig, als sich zwei Gestalten näherten, eine groß und schlank, die andere klein und schwer. Der größere, dünnere Schatten atmete schwerer als der robustere, kleinere.

»Detective Rudolph. Detective Bradley. Gehen Sie joggen?«

»Fi…«, keuchte Rudolph.

Bradley stieß ihm den Ellbogen in die Rippen und sagte: »Kommen Sie erst mal zu Atem, Sir.«

»Bradley«, ächzte Rudolph, der kaum noch Luft bekam, »verdammt noch mal.«

Bradley drehte sich zu Rudolph um und zeigte mit dem Finger auf ihn, mehr nicht. Er sagte nichts und bewegte sich nicht. Bradley war gebaut wie ein Panzer und hatte Hände wie ein Gorilla.

Rudolph, gut aussehend wie immer, sogar mit seinem Porno-Bart, schrumpfte in sich zusammen.

Bradley hielt den Finger noch einen Augenblick in die Höhe, nickte dann und wandte sich an mich. »Entschuldigen Sie, Mister Dresden. Lieutenant Stallings bittet Sie zu einer Besprechung.«

»Das geht nicht. Sie müssen sich eine gute Deckung suchen. Haben Sie Murphys Warnung nicht verstanden?«

»Haben wir. Aber sie ist im Augenblick nicht in guter Verfassung, wissen Sie?«

»Wegen Idioten wie Ihnen«, knurrte ich, und zwar zu neunundneunzig Prozent an Rudolph gerichtet. »Sagen Sie Stallings, mein offizieller Rat ist, er sollte auf jedes Wort hören, das sie sagt.«

»Ich wusste es«, sagte Rudolph zu Bradley. »Es handelt sich um eine Art Terroranschlag, und er steckt mittendrin.«

In meinem verschmierten, durchnässten, zerfetzten Anzug, der immer noch nach totem Fisch und Seewasser roch, und auf meinem irgendwie gestohlenen Fahrrad sitzend, sah ich ihn an und antwortete: »Ja, ich bin der Osama bin Laden der USA. Verdammt, ich habe keine Zeit für so was.«

»Sie sollten mitkommen, Sir«, drängte Bradley.

Das Timbre seiner Stimme hatte sich verändert. Er meinte es ernst. Bradley hatte seine Haltung noch nicht geändert, aber er war die Art von Kerl, der an seinen Absichten keinen Zweifel lässt – und ich saß immer noch auf einem Zweirad.

»Bradley, ich weiß, Sie machen nur Ihren Job. Aber Sie ahnen nicht, wie sehr Sie die Dinge für … nun ja, alle vermasseln könnten. Einfach alle.«

»Mister Dresden, Sie haben uns in der Vergangenheit schon geholfen. Sie wissen doch inzwischen, wie es läuft. Kommen Sie einfach mit. In ein paar Stunden ist alles vorbei.«

»Wir haben keine paar Stunden Zeit. Niemand von uns.«

Wenn ich die Leute so ansehe, wie ich Bradley gerade ansah, schauen sie normalerweise weg. Er nicht.

Wie gesagt, die Augen sind die Fenster zur Seele. Wie lange es dauert, bis der Seelenblick beginnt, ist unterschiedlich, aber er scheint bei Menschen, die sich in einem erregten Gefühlszustand befinden, schneller zu wirken – und wir standen inmitten von Millionen von Menschen, die sich in einem erregten Gefühlszustand befanden. Ein fruchtbarer Boden für eine solche Verbindung.

So bekam ich Bradley zu sehen, und wo er stand, war nicht nur ein Mann in einem bescheidenen Maßanzug, sondern auch der sich ausbreitende Stamm einer Eiche, so riesig, dass sie gedrungen wirkte, und deren Äste weit mehr Schatten warfen, als eigentlich möglich gewesen wäre.