Die dunklen Gassen des Himmels - Tad Williams - E-Book

Die dunklen Gassen des Himmels E-Book

Tad Williams

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Beschreibung

Bobby Dollar ist ein Engel – und als Engel weiß er so ziemlich alles über die Sünden der Menschen. Er ist nämlich Anwalt für die jüngst Verstorbenen, um die zwischen Hölle und Himmel erbittert gekämpft wird. Neben seinen Geschäftsreisen zu den Opfern von Autounfällen, zu plötzlich an einer Herzattacke Verstorbenen treibt Bobby Dollar sich viel in himmlischen Bars und Vergnügungslokalen herum. Alles geht seinen gewohnten Gang, bis eines Tages die Seele eines Toten verschwunden ist. Hat »die andere Seite« sie gestohlen – der Anwalt der Hölle? Waren es Hintermänner im Himmel? Ein neues Kapitel im Krieg zwischen Himmel und Hölle beginnt, und der Engel Bobby steckt mittendrin …

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Seitenzahl: 778

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Aus dem Englischen vonCornelia Holfelder-von der Tann

Impressum

Hobbit Presse Paperback

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Dirty Streets of Heaven« im Verlag

DAW Books, Inc., New York

© 2012 by Tad Williams

Für die deutsche Ausgabe

© 2012/2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung Birgit Gitschier,

Illustration: Kerem Beyit

Abbildung im Text © Photos.com (Tribalium)

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94965-0

E-Book: ISBN 978-3-608-10573-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

WIDMUNG

Dieses Buch widme ich

meinem lieben Freund

David Charles Michael Pierce.

Dave mochte so was, und ich glaube,

dieses Buch hätte ihm auch gefallen.

Ich hoffe, eines Tages sehen wir uns wieder,

und er kann mir sagen, was ich richtig

dargestellt habe und was nicht.

Danke, dass du mein Freund warst, Dave.

Ich vermisse dich.

Wir alle vermissen dich.

INHALT

Prolog

1 So sicher wie das Amen in der Kirche

2 Meine Glückswoche

3 Nicht wie in der Sonntagsschule

4 Das blutige Netz

5 Der Schweinemann

6 Beängstigendes Erwachen

7 Eine Löwin am Wasserloch

8 Posie und G-Man

9 Ein heißer Schatten

10 Solche Angst

11 Foxy-Foxy

12 Dunkle Scheiben

13 Den Leviathan am Haken

14 Freunde an tiefster Stelle

15 Nicht ganz gebacken

16 Brady will’s nicht glauben

17 Sparsam mit der Wahrheit

18 Giftpfeile und Fidschi-Meerjungfrauen

19 Nur einen Abend

20 Gründlich untergetaucht

21 Messerkampf in einem Harem

22 Kalte Hände

23 Blasphemien

24 Pyjama-Party

25 Falsch in Erinnerung

26 Wichtige Leute

27 Die Bibel des Atheisten

28 Reise nach Mekka

29 Sand Point

30 Satter Panda

31 Zu meinem Nutzen

32 Mit das Traurigste

33 Der Geruch der Einschüchterung

34 Zusammen atmen

35 Boom Boom

36 Aus dieser Welt gegangen

37 Glauben

38 Der Dritte Weg

39 Die dunklen Gassen des Himmels

PROLOG

Ich trat gerade aus dem Lift in die dreiundvierzigste Etage des Hochhauses Page Mill Square Nr. 5, da ging plötzlich der Alarm los, dieses albtraumhafte Sofort-Gebäude-Räumen-Gejaule, das sich wie die Schreie gefolterter Roboter anhört, und mir war klar, mit dem unauffälligen Vorgehen hatte es sich erledigt.

Sagte ich schon, dass ich unter Stress dazu neige, in alte Gewohnheiten zurückzufallen? Und von Monstern gejagt zu werden, erzeugt nun mal Stress, ganz zu schweigen davon, wie es ist, wenn man zum Sündenbock für den größten Schlamassel zwischen Himmel und Hölle seit vielen tausend Jahren gemacht wird. Also war ich in dem Moment entsprechend drauf – ich war nervös und brauchte dringend ein paar Antworten. Und wenn ich so drauf bin, habe ich nun mal die Tendenz, vorwärts zu walzen, bis irgendwas passiert.

Es beruhigte mich auch nicht gerade, dass ein bulliger Wachmann mit adrenalingeweiteten Augen aus dem Treppenhaus auftauchte und mir seine Dienstpistole vors Gesicht hielt. Er brüllte: »Auf den Boden!« Aber statt die Pistole auf mich gerichtet zu lassen, wedelte er damit, um mir zu zeigen, wo ich hinsollte, und ich wusste, ich hatte ihn praktisch schon.

»Aber … aber soll ich Ihnen nicht erst mal meinen Angestelltenausweis zeigen oder so was?« Ich tat mein Bestes, wie ein verwirrter, harmloser Bürohengst zu klingen. »B-b-bitte nicht schießen!«

»Runter auf den Boden! Da!« Wieder zeigte er mit der Pistole auf den diskret-luxuriösen Teppichboden. Das Alarmgejaule übertönte ihn beinah, und ich machte zunächst mal nur ein hilfloses Gesicht.

»Was? Ich verstehe Sie nicht. Nicht schießen …!«

»Runter, verdammt!« Er packte mit der freien Hand meinen Arm. Ich lehnte mich zurück, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, und zog dann ruckartig an seinem Handgelenk, sodass er auf mich zu taumelte und dabei verzweifelt mit der Waffenhand fuchtelte, um sich wieder zu fangen. Das nützte aber nicht viel, weil ich ihm meinen Unterarm mit solcher Wucht ins Gesicht donnerte, dass sein Kopf in den Nacken flog und er zu Boden plumpste wie ein Sack Wäsche. Und sein Nasenbein war nun wohl auch nicht mehr intakt.

Ich wusste nicht, ob Valds Wachleute Typen in einem normalen Arbeitsverhältnis waren oder Soldaten der Gegenseite und hatte auch keine Zeit, diesen hier auf Extrabrustwarzen oder so was abzusuchen. (Wobei, ehrlich gesagt, außer in ein paar Retro-Zirkeln Extrabrustwarzen als Zeichen der Höllengefolgschaft ziemlich out sind.) Also ließ ich ihn lebend, aber bewusstlos am Boden liegen und warf seine Pistole und sein Walkie-Talkie in einen Abfalleimer, für den Fall, dass er früher zu sich kommen würde, als ich erwartete.

Jetzt war alles vermurkst, und mir war klar, dass ich besser verschwinden sollte, bevor es noch Tote gab, aber ich habe nun mal besagtes Problem – wenn ich erregt bin, walze ich einfach mit gesenktem Kopf drauflos. Wie ein Rhinozeros mit Hornjucken, um die elegante Formulierung meines früheren Vorgesetzten zu zitieren. Jedenfalls befand ich, dass ich im Zweifel erst mal austesten konnte, wo das Ganze hinführte.

Ich wusste, ich hatte höchstens sieben, acht Minuten, bis das gesamte Gebäude von bewaffneten Leuten wimmeln würde, die ihre Waffen nur zu gern gegen mich einsetzen würden, also rannte ich die Treppe hinauf in den 44. Stock, wo ich ein, zwei Sekunden innehielt, um den Blick durch das Panoramafenster am Ende des Flurs auf die pseudomittelalterlichen Türme der Stanford University zu würdigen. Das Direktionsbüro nahm offensichtlich die ganze Etage ein, also marschierte ich durch die einzige Tür und fand mich der gelassensten Frau gegenüber, die ich je vor meiner Revolvermündung gehabt hatte. Außerdem sah sie auch noch gut aus – schlank, eurasisch, klein, mit dunklem Haar und extrem kalten Augen. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie bereits den stummen Alarm gedrückt hatte.

»Wer sind Sie?«, fragte sie im Ton einer gelangweilten Kraftverkehrsamtsangestellten. Sie blickte nicht mal auf den Lauf des .38er Revolvers, obwohl er praktisch vor ihrer Nase schwebte.

»Und was wünschen Sie?«

»Ich will Ihren Boss sprechen«, erklärte ich. »Soll ich einfach

reingehen?«

Man muss ihr zugutehalten, dass sie gar nicht erst anfing zu diskutieren oder mir zu drohen, sondern sich direkt über den Schreibtisch auf mich stürzte, fauchend und krallend wie ein Ozelot auf Meth, und alles daransetzte, mir mit ihren Big-Apple-roten Fingernägeln das Gesicht zu zerfetzen. Nachdem wir uns ein paar Sekunden lang auf dem Teppich gewälzt hatten, war so viel klar: Sie war genauso stark wie ich, kampftechnisch vermutlich besser und – jedenfalls nach den verrückten Sachen zu urteilen, die ihre Augen machten, während wir am Boden herumrollten und ich ihre Zähne von meinem Hals fernzuhalten versuchte – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein menschliches Wesen. Soll heißen, das Aas jagte mir Angst ein.

Sagte ich schon, dass Dämonen kein Silber mögen? Das ist

eins der wenigen alten Notfallrezepte, die funktionieren. (Weihwasser zum Beispiel nützt gegen die Diener der Hölle so viel wie Pepsi light.) Silber tötet sie nicht immer, aber es tut ihnen weh. Da in dieser Woche jedoch eins zum anderen gekommen war, hatte ich unseligerweise keine Silbermunition mehr, also rammte ich ihr, als ich die Hand mal kurz freibekam, den Revolver ins Gesicht und feuerte einfach drei normale Kugeln ab. Ich hatte den Schalldämpfer drauf, also war der .38er nicht allzu laut, sie aber wohl. Wie eine Elektrosäge kreischend, taumelte sie rückwärts, krallte an den Überresten ihres Gesichts herum wie jemand, der sich Seifenlauge aus den Augen zu wischen versucht, und ging wieder auf mich los. Jeder normale Dämon in einem Reale-Welt-Körper wäre von drei Schüssen ins Gesicht zu Boden gegangen, aber sie war einer von der sturen, mörderischen Sorte – selbst wenn man ihr Arme und Beine abgehackt hätte, wäre sie immer noch wie eine Schlange weitergekrochen und hätte versucht, einem ihre Zähne ins Fußgelenk zu schlagen.

Ich hasse die sture Sorte.

Sobald sie sich das Blut aus dem noch verbliebenen Auge gerieben hatte, sprang sie mich an und tat ihr Bestes, die Arme um mich zu schlingen und mich zu Boden zu ziehen. Ich wollte meine letzten paar Kugeln nicht verbrauchen, also versuchte ich sie mit dem Griff meines Smith & Wesson k.o. zu schlagen, schaffte es aber lediglich, ihren Unterkiefer unnatürlich weit seitwärts zu verschieben, was ihr das extrem irritierende Aussehen eines Popeye-Cosplay-Girls gab, sie aber nicht im mindesten bremste. Sie war schon wieder über mir und krallte mit ihren Nägeln nach meinen Augen, sodass ich ganz damit beschäftigt war, mein Gesicht zu decken. Gleichzeitig verfolgte sie aber auch das Ziel, mir ihr Knie über die Schrittgegend bis hinauf in meine Brusthöhle zu rammen, sozusagen meine Eier mit meinem Herzen zusammenzubringen, was nie passieren sollte. Diese Frau war ein verdammt harter Brocken, und jeden Moment würden die Wachleute hereingestürmt kommen, und das wäre das Ende Ihres neuen Freunds Bobby Dollar.

Es war nicht das erste Mal, dass ich mich unter einem vor Wut heulenden weiblichen Wesen wiederfand – und es würde bei Gott auch nicht das letzte Mal sein –, doch während das schiefe, reißzahnbewehrte Maul von Kenneth Valds Sekretärin nach meinem Gesicht schnappte und mich mit blutigem Schaum beregnete, konnte ich nicht umhin, darüber nachzudenken, wie ich schon wieder in eine derart unangenehme Situation gekommen war.

Wie immer lag es an meiner eigenen Blödheit.

1SO SICHER WIE DAS AMENIN DER KIRCHE

Fangen wir mit dem Anfang an. Dann wird es klarer. Nicht gerade glasklar, aber wohl doch klarer.

An dem Abend, als alles begann, waren so ziemlich alle in der Bar – Monica Naber, der hünenhafte Sweetheart, Jung Elvis und überhaupt der Ganze Kaputte Chor. Na ja, mal davon abgesehen, dass Kool Filter wegen der neuen Verordnung drunten bleiben und auf dem Gehweg rauchen musste. Ja, manche von uns Engeln rauchen. (Ich hab’s auch mal getan, hab’s aber aufgegeben.) Unsere Körper sind schließlich nur geliehen, und unsere Angst vor dem Sterben hält sich in Grenzen. Jedenfalls war es ein ziemlich normaler Februarabend im Compasses, bis mein Freund Sam hereinkam, im Schlepptau einen Mantel voll Frischfleisch.

»Scheiß auf die Armen und ihre ewigen Ausreden«, begrüßte er die gesamte Gaststube. »Spendier mir jemand einen Drink!« Er schleppte dieses junge Bürschchen, das ich noch nie gesehen hatte, zu uns rüber und drückte es auf den Stuhl neben mir. »Hier ist jemand, den du kennenlernen musst, Kid«, sagte er. »Darf ich vorstellen, Bobby Dollar, König der Arschlöcher.« Sam ließ sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Bürschchens fallen. Der Jüngling war eingeklemmt, aber noch keineswegs panisch. Er zeigte mir so ein Freut-mich-Lächeln – breit, dümmlich und ein bisschen zu zuckersüß. Ansonsten war er dünn, blass und irgendwie nerdig, mit einem Haarschnitt, den jeder Nicht-Engel mit einem »Wie kann eine Mutter so was tun!« quittiert hätte. Ein Anfänger mit einem Haufen Theorien im Kopf, dachte ich, aber wenn er mit meinem Kumpel Sam herumhing, standen ihm ein paar harte Lektionen in praktischer Theologie bevor.

»Wer ist denn dein kleiner Freund, Sammy?« Ich wusste, der Junge war einer von uns – wir erkennen einander –, aber einen Körper zu tragen, schien er eindeutig nicht gewohnt. »Amateur oder hospitierender Profi?«

Junior setzte sofort das auf, was ich im Stillen das Intelligenter-Hund-Gesicht nenne: Ich weiß nicht, was du da redest, aber ich werde garantiert so tun, als wüsste ich’s. Es beeindruckte mich auch nicht viel mehr als sein nervöses Grinsen.

»Rate mal.« Sam reckte den Hals. »Hey, Slowpoke Rodriguez«, rief er Chico dem Barmann zu, »wie kommt’s, dass du umsonst meinen Schwanz lutschen, mir aber nicht mal für Geld einen Drink machen willst?«

»Klappe, Riley, du langweilst mich«, sagte Chico, legte aber sein Barhandtuch weg und drehte sich zum Gläserschrank um.

»Sammy-Boy, du bist ja noch charmanter als sonst«, bemerkte ich. »Also, wer ist das hier? Ich nehme mal an, ein Trainee.«

»Was soll er denn sonst sein, B? Riecht er nicht drei Meilen gegen den Wind nach dem Haus?« So bezeichnet Sam das, was die meisten Leute »Himmel« nennen würden – meist in der Formulierung »droben im Haus.« Was so viel heißt wie: Wir hier schuften in den Plantagen.

»Echt?« Monica Naber am Nachbartisch erhob sich mit solcher Grazie, als hätte sie nicht schon seit Sonnenuntergang Tequila Slams getrunken. »Habt ihr das gehört, Leute? Wir haben einen Frischling!«

»Oh, yeah!«, kam es von Jung Elvis. Er war jetzt zwei Jahre der Neue gewesen und offensichtlich hocherfreut. »Nehmt den Newbie richtig in die Mangel.«

»Halt den Rand«, sagte Walter Sanders, ohne von seinem Glas aufzublicken. »Nur weil du so ein dämlicher Neuling warst, müssen nicht alle so sein.«

Sams Jüngelchen zappelte auf dem Stuhl neben mir. »Ich bin nicht ganz neu …«

»Ach?« Jetzt sah Sanders auf. Er hat etwas sehr Intensives und starrte das Bürschchen jetzt an, als wollte er es sezieren. »Wo hast du Schutzengeldienst gemacht? Wie lange?«

»Schutzengeldienst? Aber … ich …« Der Junge blinzelte. »Ich war im Archiv …«

»Archiv?« Sanders machte ein Gesicht, als hätte er vergammelte Milch getrunken. »Du warst Aktenschwengel? Und jetzt bist du Verteidiger? Glückwunsch – das ist ja ein ganz schöner Sprung.«

Wie auf ein Stichwort knallte Chico die Registrierkasse zu, wobei diese laut »Ding!« machte. »Daddy«, sagte Sam mit piepsiger Kinderstimme, »unsere Lehrerin hat gesagt, immer wenn ein Glöckchen klingelt, bekommt ein Engel seine Flügel.«

»Seid nicht so gemein«, sagte Monica Naber. »Der Junge kann doch nichts dafür.«

Junior schien dankbar für den Beistand, doch es gab da ein paar Dinge, die er nicht wusste. Das Problem ist: Monicas Logik kann gnädig sein, sie kann aber auch gnadenlos sein. Frauen, selbst weibliche Engel, sind manchmal viel kaltherziger als Männer.

Das allgemeine Interesse legte sich, und die meisten Gäste wandten sich wieder ihren Privatunterhaltungen oder ihren einsamen Grübeleien zu. Sam ging sich seinen Drink holen. Ich musterte das neue Jüngelchen, das jetzt nicht mehr grinste, als ob alles ganz super wäre. »Also, wie bist du hier gelandet?«, fragte ich. »Wer hat für dich Strippen gezogen?«

»Wie bitte? Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

»Hör mal, du weißt doch, was wir machen, oder?«

»Als Anwälte? Klar.« Er nickte emphatisch. »Ich freue mich sehr drauf …«

»Halt den Mund und versuch mir zu folgen. Wie bist du aus dem Stand zu einem Job gekommen, den die meisten von uns erst nach Jahren kriegen?«

Er schaute wie ein Kitz im Scheinwerferkegel. »Ich … ich weiß nicht. Sie haben mir einfach gesagt …«

»Ach ja? Und wer fördert deine Karriere? Jemand muss es tun. Denk mal scharf nach.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Sam kam mit zwei Getränken zurück, einem Schnapsglas, gefüllt mit verschiedenen Sorten Cocktail-Bitter plus einem großzügigen Spritzer Tabasco, und einem Root Beer zum Runterspülen. Sam ist jetzt schon ein paar Jahre trocken. Was ihn aber nicht dran hindert, Stammgast im Compasses zu sein. »Heult er schon, B?«

»Nein, aber ich arbeite dran. Wo hast du diesen Waschlappen her, Sammy?«

»Ich war gerade droben im Haus. Die haben ihn mir ans Bein gebunden.« In seiner Tasche vibrierte es. »Shit. Kundschaft, jetzt schon?« Er starrte missmutig auf sein Handy, kippte dann den Bitter-Cocktail und sog Luft durch die Zähne, als hätte man ihm Kerosin auf seine edelsten Teile gekippt. »Kommst du mit?«, fragte er mich. »Tu mir den Gefallen. Du kannst unserem Engelazubi Clarence hier alles erklären.«

»Clarence?« Ich zuckte zurück. »So heißt er doch nicht wirklich, oder?«

»Das ist nicht mein Name!« Zum ersten Mal zeigte der Youngster ein bisschen Mumm. So gefiel er mir schon etwas besser.

»Yeah, aber den Namen, den sie mir gesagt haben, weiß ich nicht mehr, also nenne ich dich Clarence«, erklärte Sam. Er leerte sein Root Beer und wischte sich dann den Mund mit dem Handrücken, so wie einst, als er seinen vorigen Körper zu Tode gesoffen hatte. »Gehen wir.«

»Lassen Sie das. Ich heiße nicht Clarence, ich heiße Haraheliel.« Das Bürschchen war jetzt gaaanz tapfer – ein richtiger kleiner Soldat. »Mein Arbeitsname ist Harrison Ely.«

»Okay. Also bleibt’s bei Clarence«, sagte ich. »Sam, meine Kutsche oder deine?«

»Ich stehe halb auf dem Gehweg, und bis jetzt hat’s noch keiner gemerkt, also sollten wir wohl lieber meinen nehmen.«

Es war nicht so leicht, Sams langweiligen Dienstwagen auszuparken – ein Lkw stand schräg davor, und bis wir den Wagen rausgezwängt hatten, hing einiges von Sams Lack an der Stoßstange des Lasters. Wenn es meine Karre gewesen wäre, hätte ich getobt, aber Sam macht sich nicht viel aus Autos.

»Wo ist es?«, fragte ich ihn, als wir in die Main Street einbogen, eine der belebtesten Straßen von Downtown-Jude, geprägt durch das Aufeinandertreffen von Handel und Wandel, miserabler Straßenkunst und Weltklasse-Bettelei. Der Junge mühte sich, den lange nicht mehr benutzten Gurt zwischen den Rücksitzen herauszufummeln. Der größte Teil der bekannten Skyline erhob sich hinter uns, aber die glitzernden Türme der Küstenstraße zeichneten sich ein Stück weiter nördlich ab, und vor uns ragten die Silhouetten der Hafenkräne auf, grell illuminiert und so bizarr wie eine Flotte außerirdischer Landefähren.

»Am Wasser«, sagte Sam. »Pier 16, genau gesagt.«

»Wasserleiche?«

»Wasserleiche, quasi. Erst vor ein paar Minuten im Wasser gelandet. Wahrscheinlich gerade erst hinübergegangen.«

»Jemand, den ich kenne?«

»Alte Schachtel namens Martino. Sagt dir das was?«

Noch während ich den Kopf schüttelte, meldete sich das Bürschchen vom Rücksitz. »Es ist schrecklich, so über ein einzigartiges menschliches Wesen zu reden.«

Engel, rief ich mir in Erinnerung. Wir sind Engel. Und Engel sind geduldig.

Der Hafen von San Judas nimmt etwa zehn Quadratmeilen an der Südwestküste der San Francisco Bay ein. Der Wagen lag im öffentlichen Gebiet, ein durchbrochenes Holzgeländer markierte die Stelle, wo er in die leere Verladebahn gerauscht war. Scheinwerfer bohrten sich durchs Dunkel, malten Lichtkleckse auf die Wände der Hafenmeisterei und ließen das Bay-Wasser leuchten wie Jade.

Auf dem Pier sah es aus, als wären Hafenpolizei und normale Polizei in ziemlicher Hektik eingetroffen, auch zwei Abschleppwagen und ein Feuerwehrauto standen da rum. Drunten im Wasser war soeben ein Hafentaucher aufgetaucht, der Drahtseile an irgendetwas befestigt hatte; auf sein Daumenzeichen hin begannen die Winden der Abschleppwagen zu arbeiten. Die Drahtseile spannten sich, die Windenmotoren jaulten, und nach langen Sekunden tauchte das Heck eines klobigen weißen Wagens an der Wasseroberfläche auf, doch im selben Moment stotterte einer der Motoren und erstarb. Der andere mühte sich ächzend und spuckend noch ein bisschen weiter, gab dann aber ebenfalls auf. Die Abschleppwagenfahrer und ein paar Hafenpolizisten verständigten sich mit lauten Zurufen, als wir aus Sams Wagen stiegen.

»Warum ziehen sie ihn nicht ganz raus?«, fragte Clarence mit geweiteten Augen. »Die arme Frau!«

»Wahrscheinlich, weil er zu schwer ist – voll Wasser«, erklärte ich. »Aber die Fahrerin ist sowieso schon tot, sonst hätten wir den Anruf nicht gekriegt, also kommt es nicht mehr drauf an, wie lange sie noch drin sitzt. Weißt du Bescheid über den Übergang ins Außerhalb?«

»Klar!« Er war beleidigt.

»Oh, ein ganz Fixer, unser Kleiner.« Sam war schon auf dem Weg zu dem Flimmern in der Luft – ein bisschen wie eine senkrechte Fata Morgana –, das einen Ausgang anzeigte. Offiziell heißt das »Übergang«, aber wir nennen es Reißverschluss, ja, Sie haben richtig gehört: Reißverschluss! Wir erzeugen ihn, wenn wir ihn brauchen, wobei wir einfachen erdbasierten Engel nicht wissen, wie er funktioniert, wir wissen nur, dass er funktioniert.

Als der Junge und ich Sam folgten, schauten ein paar Umstehende kurz her, verloren dann aber das Interesse. Wir sind bei der Arbeit nicht leicht zu bemerken, das habe ich im Lauf der Jahre gelernt. Wir sind zwar immer noch da, wenn Sie verstehen, was ich meine – wir haben reale Körper –, aber wenn wir nicht wollen, dass man uns sieht, sieht man uns auch nicht oder erinnert sich zumindest anschließend nicht dran.

Sam und das Bürschchen verschwanden in dem flimmernden Spalt in der Luft, und ich tat es ihnen nach.

Wie immer war das Erste, was mir auffiel, die Stille im Außerhalb, ein immenses Schweigen, als ob wir urplötzlich in der größten und leisesten Bibliothek des Universums gelandet wären. Aber wir waren tatsächlich immer noch am selben Ort wie eben – auf dem Pier mit den Polizeiwagen und Bergungsfahrzeugen, deren rote und blaue Lichter sich durchs Dunkel brannten, und der Downtown-Skyline, die im Hintergrund aufragte wie ein Gebirge. Nur dass sich die Polizeischeinwerfer nicht bewegten, so wenig wie die Münder der Polizisten, der Hubschrauber über dem Intel Tower, der Taucher in der gelierten Dünung, und selbst die paar Möwen, durch die Aktivität von ihren Pfosten aufgescheucht, hingen jetzt reglos in der Luft wie an Schnüren schwebende Exponate im Naturkundemuseum. Wirklich anders war nur eins: Eine Frau mit kurzem grauem Haar und einem dunklen Regenmantel stand zwischen den versteinerten Polizisten, auch wenn die sie nicht sehen konnten.

»Das ist sie«, sagte Sam. »Magst du dem Jungen den Erstkontakt mit dem Klienten zeigen, B, während ich auf den Schutzengel warte? Dann lernt er gleich von einem Spitzenkönner.«

»Verlogener Drecksack«, sagte ich, ließ mir aber von ihm die nötigen Fakten geben und ging dann mit dem Jungen über den Pier, der von erstarrten Pfützen glänzte.

»Wir sehen ja hier genauso aus«, sagte der Junge und musterte seine Hände. »Ich meine, tun wir doch, oder? Wie unsere Erdenkörper?«

»So ziemlich.«

»Ich dachte, wir wären … engelhafter.« Er sah verlegen drein. »So wie im Himmel.«

»Das hier ist nicht der Himmel – wir sind immer noch auf der Ebene irdischer Existenz, mehr oder weniger. Wir sind nur aus der Zeit herausgetreten. Aber wir müssen hier nicht genauso aussehen, es ist nur so eine Tradition. Die von der Gegenseite bevorzugen ein eher einschüchterndes Erscheinungsbild. Wirst du gleich sehen.«

Als wir auf unsere neue Klientin zugingen, starrte sie uns mit einem Ausdruck an, den ich in solchen Situationen schon so oft gesehen hatte – Verwirrung pur.

»Silvia Martino«, sagte ich. »Gott liebt Sie.«

»Was geht hier vor?«, fragte sie. »Wer sind Sie?« Sie fuchtelte zu den reglosen Polizisten und Feuerwehrleuten hin. »Was ist mit diesen Leuten?«

»Die leben, Mrs. Martino. Aber Sie leider nicht mehr.« Im Lauf der Jahre habe ich meine Erklärungen stark verkürzt. Früher dachte ich, es ihnen langsam beizubringen, sei das Freundlichste, aber inzwischen bin ich eines Besseren belehrt worden. »Wie’s aussieht, haben Sie Ihren Wagen in die Bay gefahren. Gab’s dafür irgendeinen speziellen Grund?«

Sie war einiges über sechzig, aber beileibe keine alte Frau. Ja, sie schien der Typ, der immer älter werden konnte, ohne alt zu werden, wenn Sie verstehen, was ich meine. Dann fiel mir wieder ein, dass sie ja nun nicht mehr älter werden würde.

»Meinen Wagen …?« Sie blickte auf die weiße Masse ihres SUVs, die an den zum Zerreißen gespannten Bergungsseilen hing wie Moby Dick, dekoriert mit Schleiern aus starrem, glasigem Wasser. »Ach, du liebe Güte. Das ist mein Wagen, oder?« Ihre Augen weiteten sich. Die Rädchen in ihrem Kopf arbeiteten. »Ich wollte wenden, und irgendwie hab ich … mich vertan.« Sie blinzelte. »Bin ich … bin ich wirklich …?«

»Ich fürchte ja.«

Da strömten die Tränen. Das ist das Schlimmste an meinem Job. Manchmal ist ein Klient so froh, seinen sterbenskranken Körper los zu sein, dass er einen regelrechten Freudentanz aufführt. Aber die, die es überraschend trifft, die plötzlich kapieren, dass es vorbei ist, Schluss, Ende, Game over … das sind die harten Momente. Sagen kann man nicht viel, während es ihnen dämmert, aber wenn nötig, kann man sie dort im Außerhalb in den Arm nehmen, und das tat ich jetzt. Hätten Sie auch getan.

Nach einer Weile hatte sie das Schlimmste überstanden. Sie war eine taffe Lady – ich mochte sie. Sie machte sich von mir los, wischte sich die Augen und fragte dann: »Und wer sind Sie?« Sie musterte mich jetzt, als hätte ich irgendeinen jenseitigen Werbeschwindel vor.

»Mein Name ist Doloriel. Ich bin ein Anwaltsengel vom Dritten Haus.« Clarence stellte ich ihr gar nicht erst vor, weil er sowieso nur etwas so Blödsinniges gesagt hätte wie dass alles gut würde. (An seinem enttäuschten Gesicht konnte ich ablesen, dass er genau das vorgehabt hatte.) Stattdessen zeigte ich zu Sam hinüber, der jetzt mit dem Schutzengel der Frau redete, einem hauchzarten, halbdurchsichtigen Ding, dessen Falten irrlichtartig phosphoreszierten. »Der da drüben ist Sammariel, auch ein Anwaltsengel. Er wird Ihr Verteidiger sein.«

»Verteidiger? Warum? Wo?«

»Vor dem Richter«, sagte ich. »Ganz bald schon.«

»Richter …?« Die Augen plötzlich angstgeweitet.

»Warten Sie hier, bitte.« Ich zog den Jungen beiseite, vergatterte ihn ziemlich barsch, was er tun und sagen durfte und was nicht, und ließ ihn dann bei der Frischverstorbenen zurück. Er und die Frau starrten auf den halb im Wasser hängenden Wagen, als wünschten sie, jemand würde heraushüpfen und eine Unterhaltung anleiern. Ich war froh, dass er den Mund hielt. Die Leute kommen schneller (und meiner Meinung nach auch besser) mit dieser schrecklichen, unwiderruflichen Tatsache zurecht, wenn man sie allein dran arbeiten lässt. Außerdem, was soll man schon sagen? »War nur ein Scherz, Sie sind gar nicht tot! Das ist alles nur ein Warnschuss, damit Sie Ihr Leben in Ordnung bringen!« Ist es aber nicht. Es ist das Ende, jedenfalls des Erdenlebens, und daran ändert auch munteres Gerede nichts.

Als ich zu ihnen stieß, hatte der Schutzengel Sam gerade fertig gebrieft. »Briefen« ist hier nicht ganz so zu verstehen wie in der realen Welt: Die Schutzengel machen uns ihr Wissen zugänglich, und für den Rest des Verfahrens ist es einfach da, in unserem mentalen Aktenschrank, als ob es eigene Erinnerungen wären, die wir dort abgelegt hätten. Zum Glück aber nur bis nach dem Urteilsspruch – es wäre ja erdrückend, die Details des Lebens sämtlicher Personen, die man je verteidigt hat, für alle Zeit mit sich herumzuschleppen. Es ist manchmal schon schwer genug, mit dem klarzukommen, was trotzdem hängenbleibt.

Jedenfalls hatte ich das Gefühl, dass mich der Schutzengel interessiert betrachtete – das ist schwer zu sagen, weil sie weit weniger menschenähnlich sind als wir und auch längst nicht so physisch. Natürlich benutzen sie keinen fleischlichen Körper, sonst würden sich die Leute ja fragen, warum da immer so eine quallenartig leuchtende menschliche Gestalt um sie herumschwebt. »Sie sind Doloriel«, sagte er. »Ich habe von Ihnen gehört.«

»Ob das auf Gegenseitigkeit beruht, kann ich erst sagen, wenn ich Ihren Namen weiß.«

»Iphäus.« Er sah mich leise flackernd an. »Hab gehört, Sie gehen anderen Leuten gern auf die Nerven.«

»Dass ich es gern tue, ist vielleicht ein bisschen hoch gegriffen.«

»Hört mal«, unterbrach uns Sam, »wenn ihr beide euch näher kennenlernen wollt, könnt ihr euch ja irgendwann zu einem romantischen Dinner verabreden. Jetzt gerade …«

Den Schutzengel überlief so etwas wie ein Schauer, und sein Leuchten wurde schwächer. »Er ist da.«

Etwas war soeben durch ein glühendes Portal vom Anderen Ort herübergekommen (ihr Äquivalent zum Reißverschluss ist weniger eine flimmernd weiße Linie als vielmehr eine flammend rote Wunde). Er wischte sich jetzt imaginäre Stäubchen vom makellos blutroten Anzug.

»Grasswax«, sagte Sam. »Scheiße. Das gibt richtig Arbeit.«

Ich hörte Mrs. Martino beim Anblick des Dämons leise aufschreien, und es tat mir leid, dass ich sie nur mit dem Jungen zurückgelassen hatte. Es ist ganz schön fies für einen Klienten, feststellen zu müssen, dass es die Hölle wirklich gibt. Ich hoffte nur, dass sie die Verhandlung durchstehen würde, ohne zusammenzubrechen – manche Richter sind in so einem Fall richtige Arschlöcher. Die Gnade mag ja vom Himmel träufeln wie ein sanfter Regen, aber manchmal könnte man schwören, dass Dürre herrscht.

Sekunden nach dem Ankläger Grasswax trat eine zweite Gestalt aus der Wunde, ein muskulöser, behaarter Dämon in einem billigen Anzug, mit wölfischer Schnauze und ebensolchem Gebaren. Ich hatte ihn schon mal gesehen, wenn ich auch nicht drauf kam wo – ein unangenehmer Kerl namens Howlingfell. Normalerweise tauchten bei dieser Art Routinearbeit auf neutralem Terrain keine Leibwächter auf. Ich fragte mich, warum Ankläger Grasswax Schutz zu benötigen glaubte. So wie Howlingfell nach allen Seiten witterte, schien er im Dienst. Komisch. Sein Chef schien ihn gar nicht zu beachten.

Von weitem sah der Ankläger Grasswax ziemlich menschlich aus, doch aus der Nähe erkannte man, dass die Schatten unter seinen Wangenknochen in Wirklichkeit kiemenartige Schlitze waren, durch die man die darunter liegenden Muskeln arbeiten sah, und dass sein kurzgeschnittenes Haar eher etwas von Borsten oder gar Fischschuppen hatte. Und diese Schlangenaugen hätte auch niemand für menschlich gehalten. Wie ich dem Jungen schon erklärt hatte: Unsere Gegner treten gern einschüchternd auf.

»Guten Abend, die Herren«, sagte Grasswax und zeigte seine ausnehmend langen, regelmäßigen Zähne. »Wer steht gegen mich? Doloriel?« Sein Lächeln verzog sich am einen Ende ein wenig nach oben. »Das wird ja ein besonderer Leckerbissen …«

»Ich«, sagte Sam.

»Ah, Sammariel.« Er nickte. »Habe Sie seit Thanksgiving nicht mehr gesehen. Das waren doch Sie, oder? Bei dem Mann mit dem Messer?«

»Elektrotranchiermesser«, erklärte Sam mir und dem Jungen, der herübergekommen war, um seine ersten echten Dämonen zu sehen, jedenfalls ließ sein großäugiges Starren darauf schließen. »Hat seine ganze Familie erledigt.«

»Überaus gründlich.« Grasswax rieb sich die Hände. »Fangen wir an?«

»Sind Sie schon informiert?«, fragte ich.

»O ja, umfassend.« Der Ankläger griff in die Tasche, zog etwas heraus, das so groß war wie eine fette Spinne, aber längst nicht so ansprechend, und hielt es an einem beschuppten Bein hoch – die Höllenversion eines Schutzengels. »Mrs. Martinos Kontobetreuer hat mich über sämtliche Details unterrichtet.«

Während Sam und der Ankläger einen Richter riefen, zog ich den Jungen beiseite, um ihm noch mal die Regeln zu verklickern (hauptsächlich, damit er nichts Dummes machte). »Okay, du bleibst hier stehen und hörst genau zu. Es geht hier um die Seele der Lady, und das ist unser wichtigster Job, klar? Wenn du irgendwas tust, was unserer Sache schadet, reiße ich dir deinen Heiligenschein runter und schlage dich damit grün und blau. Verstanden?«

Clarence nickte, noch immer mit weit aufgerissenen Augen.

»Weil wir hier nämlich gegen die Hölle antreten und weil dieser Gegner lügt und betrügt und jede Tatsache bis zum Gehtnichtmehr verdreht. Deshalb haben wir genau festgelegte Vorgehensweisen. Wir können es uns nicht leisten, wütend zu werden. Kapiert?«

Wieder ein Nicken, mit einer Spur von Ungeduld. Ich hasse Neulinge.

»Aber das Allerwichtigste, Junge, trau nie der Gegenseite.«

»Denen trauen? Soll das ein Witz sein …?«

»Es ist nicht alles so leicht zu durchschauen. Denk einfach dran, was Onkel Bobby gesagt hat, dann bist du auf der sicheren Seite.« Ich hatte nämlich, was ich ihm nicht sagte, selbst jeden nur denkbaren Fehler gemacht. Und ich hatte diese Fehler nur mit viel Glück überlebt. »Wenn ein Dämon den Mund aufmacht, lügt er. Punkt. Wenn du irgendwas anderes glaubst, werden sie deinen letzten Gehaltsscheck auf Asbest drucken müssen, weil es nämlich da, wo du dann bist, sehr heiß ist …«

In dem Moment erschien Richter Xathanatron wie Wetterleuchten.

Es ist ein bisschen sehr intensiv, erstmals mit anzusehen, wie sich ein Fürstentum manifestiert, was einer der Gründe war, warum ich den Jungen beiseite genommen hatte. Nach meiner ersten Begegnung mit einem Richter klangen mir wochenlang die Ohren, von den tanzenden Lichtflecken ganz zu schweigen. Die wichtigen Engel sind … hell. Überwältigend. Schön. Aber auch ganz schön beängstigend. So beängstigend, dass selbst der Frömmste noch mal drüber nachdenkt, ob er wirklich eines Tages den Höchsten sehen will.

Man konnte in diesem Gleißen nicht wirklich ein Gesicht oder auch nur eine klare Gestalt ausmachen, es war, als hätte jemand einen Christbaumengel aus brennendem Magnesiumdraht gebastelt, aber ich wusste, dass es Xathanatron war, weil … na ja, ich wusste es eben. In Gegenwart der Fürstentümer nimmt man das wahr, was sie von sich wahrgenommen haben wollen, und mehr auch nicht. Aus eigener Erfahrung konnte ich sagen, dass Xathanatron auf altmodische Art streng, aber unerschütterlich gerecht war. Sam würde nicht beschissen werden, aber ihm würde auch nichts in den Schoß fallen.

Ich postierte mich zwischen Clarence und Howlingfell – der Junge sah aus, als würde er sich in die Hosen machen, wenn er neben dem Dämon stehen musste. Mrs. Martino trat zu uns, sodass wir ein vierköpfiges Publikum bildeten. Ihre Augen waren jetzt trocken, ihr Gesicht feierlich ernst, aber ich merkte, dass sie schwer darum rang, Fassung zu bewahren. Wieder konnte ich ihr meine Bewunderung nicht versagen. Ich hoffte, dass wir ihr helfen konnten.

»Warum sind hier so viele von euch Flattermännern?«, knurrte mir Howlingfell ins Ohr. »Das ist nicht normal.«

»Ich habe läuten hören, Sie würden das ›Ave Maria‹ singen.«

»Ich würde Ihnen den Arsch abfressen, meinen Sie wohl.« Normalerweise hat die Hölle ja die besten Comedians, aber offensichtlich nicht immer.

»Was passiert jetzt?«, flüsterte unser Neuling in mein anderes Ohr.

»Was schon? Ankläger Grasswax wird versuchen, den Richter davon zu überzeugen, dass Mrs. Martino direkt in die Hölle zu wandern hat – gehe nicht über Los, ziehe keine zweihundert Dollar ein. Unser Mann Sam wird dafür plädieren, dass ihr Platz im Gegenteil am Busen des Höchsten ist.« Ich sah verstohlen zu der verängstigten, stummen Seele hinüber, von der die Rede war. »So läuft das. Haben sie dir denn gar keine Einführung gegeben?«

»Ich hatte wenig Vorlauf.« In Clarences Gesicht stand jene Mischung aus Abscheu und Faszination, mit der heimliche Christen zugesehen haben mögen, wie ihre bekennenden Glaubensbrüder von den Löwen der Römer gefressen wurden. »Sie haben mich einfach … hergeschickt.«

Ihn hergeschickt, um das zu tun, was doch angeblich der wichtigste Himmelsjob war, nämlich Menschenseelen vor der Gegenseite zu erretten – ohne irgendeine Ausbildung? Komisch, oder? Äußerst. Ich schob diese merkwürdigen Gedanken erst mal beiseite, um mich später damit zu befassen.

Grasswax war schon voll in Aktion, stolzierte vor dem gleißenden Richter auf und ab wie ein Kobold, der vor einem Feuer tanzt, und stach mit seinen langen, spitzen Zeigefingern in die Luft, während er in allen dramatischen Details jeden kleinlichen Gedanken, jedes unfreundliche Wort und jedes soziale Fehlverhalten schilderte, deren sich die arme alte Mrs. Martino jemals schuldig gemacht hatte. Viel Munition schien der Ankläger nicht zu haben, aber immerhin erwähnte er, dass sie einmal wegen Trunkenheit am Steuer festgenommen worden war.

»Ihr Mann hat sie auf einer Party sitzenlassen und ist woanders hingegangen, Euer Ehren«, sagte Sam. »Wahrscheinlich mit einer anderen Frau, Euer Ehren. Ihr Alkoholkonsum war doch eindeutig nur ein Irrtum.«

»Ach ja, ein Irrtum.« Grasswax warf dem nahezu gesichtslosen Leuchten des Richters einen bedeutsamen Blick zu. »Von dieser Art Irrtum werden wir noch etliche erörtern.«

»Das kann stundenlang so weitergehen«, sagte ich leise zu Clarence. »Bist du sicher, dass du dabei sein willst? Wir könnten einen Kaffee trinken gehen.« Ich sah ihn zu Mrs. Martino hinüberschauen. »Sie nicht, dummer Junge. Sie ist tot. Sie kann nicht mit uns Kaffee trinken.«

Er schüttelte störrisch den Kopf. »Ich will zuschauen.«

Ich zuckte die Achseln. »Bitte.«

Es ging tatsächlich stundenlang weiter. So würden Sie’s ja auch wollen, wenn es Ihre Gerichtsverhandlung wäre, oder? Wenn Ihr ganzes Leben saldiert, Ihr Schicksal für die Ewigkeit durch ein unumstößliches »Schuldig« oder »Nicht schuldig« entschieden würde?

»Scheint ein ziemlich … schlichtes Verfahren …«, sagte der Junge, während er Sam bei der Arbeit beobachtete. Grasswax war jetzt zu großkalibrigerer Munition übergegangen: verbale Grausamkeit, religiöse Heuchelei, ja sogar Bagatelldiebstahl (sie hatte mal bei einem Wohltätigkeitsevent ihrer Kirche zwanzig Dollar mitgehen lassen, weil sie sonst nicht das Geld gehabt hätte, nach Hause zu kommen). Dann schloss Grasswax noch eine Kette minderer Sünden an, die bis in Mrs. Martinos Kindheit zurückreichte. Sam nahm die Anschuldigungen, wie sie kamen, und machte jeweils durch ein Kopfschütteln oder ein verächtliches Schnauben deutlich, was er von solchem Kleinkram hielt. Mein Kumpel war immer schon der Typ solider ländlicher Anwalt, gemächlich und bedächtig. Ich halte das auch tatsächlich für die beste Strategie gegen einen Ankläger wie Grasswax, der sein Blatt gern überreizt.

»Ja, es ist schlicht«, bestätigte ich. »Weil das Problem ja auch ziemlich schlicht ist.« Ich zog ihn ein paar Schritte von der Verstorbenen weg. »Gibt ja nur zwei Möglichkeiten, verstehst du? Dahin oder dorthin – selbst das Fegefeuer ist ein Sieg für unsere Seite, weil man es von da irgendwann immer noch in den Himmel schaffen kann. Also läuft es jedes Mal darauf raus, dass einer gewinnt und einer verliert, und das passiert viele tausend Mal am Tag. Simple Verfahren sind die besten – und bei uns hat dieses hier ja schließlich funktioniert, oder? Du, ich, Sam – wir sind alle im Team Himmel gelandet. Und wenn diese Lady es verdient, dorthin zu kommen, dann kommt sie auch hin.«

Natürlich war das gelogen. Es ist nicht annähernd so simpel, schon aus dem Grund, dass vieles, was allgemein als sündig gilt, in Wirklichkeit nur menschlich ist. Ich weiß nicht, wie es früher war, aber die Richter neigen nicht dazu, Leute wegen kleiner Übertretungen zu verdammen, sie scheinen sich mehr für die dahinterstehende Absicht zu interessieren, wenn sie auch bei den klassischen Sachen wie Mord, Ehebruch und so manchmal ganz schöne Prinzipienreiter sein können. Trotzdem: Woran sich einer festbeißen und was er durchgehen lassen wird, ist eine Grauzone, so groß wie der Himmel selbst, und man braucht Jahre, um zu lernen, wie man die Chancen einer Seele vor Gericht maximieren kann. Aber ich wusste ja nicht mal, warum der Junge hier war – ich würde garantiert nicht versuchen, ihm alles an einem Abend beizubringen.

Howlingfell hatte unser Gespräch belauscht. Er lachte und fuhr sich mit einer langen, roten Zunge über die Lippen, wobei er jede Menge spitzer Zähne zeigte. »Warten Sie nur, Dollar – die Alte da hat Grasswax schon in der Tasche. Sie wird im dunklen Wind flattern, eh Sie sich’s versehen.«

Der Junge zuckte zusammen, sah den Dämon aber immer noch nicht an. »Aber manche Sachen sind doch komplizierter, Bobby, oder? Und sie hat doch im Grund nichts Unrechtes getan …!«

»Darüber hast nicht du zu befinden«, sagte ich und brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen. »Und, ehrlich gesagt, ich weiß auch nicht, ob ich dem Urteil von jemandem trauen würde, der keinerlei Gerichtserfahrung hat. Ich hatte mal einen Pfadfinder, der überfahren wurde, als er einem Mann im Rollstuhl über eine verkehrsreiche Straße half. Klarer Fall, oder? Passt ihm schon mal den Heiligenschein an! Nur dass er, wie sich herausstellte, im Alter von acht Jahren seinen kleinen Bruder mit einem Kissen erstickt hatte. Nett aussehender Junge. Jugendprediger in seiner Kirche. Unserem Wissen nach ohne speziellen Grund. Konnte seinen kleinen Bruder einfach nur nicht leiden.« Es war auch so ein verrückter, komplizierter Fall gewesen, der sich gar nicht leicht auf einen Nenner hatte bringen lassen, aber ich gedachte nicht, vor unseren Gegnern strategische Dinge auszuplaudern – wie gesagt, es gibt da eine große Grauzone, und man muss die Dinge auf die harte Tour lernen. Also zeigte ich nur auf die frischverstorbene Mrs. Martino. »Verlieb dich nie in einen Klienten, Junge.«

»Verlieben …!« Er schien schockiert.

»Du weißt schon, was ich meine. Mach es nie zu was Persönlichem.« Das war der wichtigste Rat, den ich zu geben hatte – ein Rat, der einem das Leben im Jenseits retten konnte.

»Ehebruch«, verkündete Grasswax. »Wiederholt und nie gebeichtet. Jahrelang.«

»Oh, Shit«, sagte Sam. Eigentlich formte er die Worte nur lautlos, aber ich konnte sie ihm von den Lippen ablesen.

»Eine sehr schwere Sünde wider das Gesetz Mose«, fuhr Grasswax fort. »Und noch dazu ohne Reue. Ja, heute Abend vor dem Unfall hat sie sich noch mit ihrem Geliebten auf einen Drink getroffen, sie starb also … im Zustand der Sünde. Oder täusche ich mich?«

Sam beriet sich hastig mit dem Schutzengel der Frau. »Mildernde Umstände!«, sagte Sam. »Ihr Mann hatte eine Geliebte.«

»Oh, doppeltes Unrecht macht noch kein Recht, werter Sammariel.« Grasswax grinste. »Dies ist nicht das Gericht über ihren Mann. Und wie Sie wissen, steht sie vor einem Vertreter des Höchsten.« Er machte eine Armbewegung zu Xathanatrons gleißender Präsenz hin. »Und nicht vor den freundlichen Gastgebern der Kinder. Sie hat gesündigt und immerfort gesündigt. Erst der Tod hat dem ein Ende gesetzt.« Der Ankläger grinste noch breiter. Der Schuldspruch schien jetzt, um meinen früheren Mentor Leo zu zitieren, so sicher wie das Amen in der Kirche.

»Aber ich …!« Nur diese beiden Wörter konnte Silvia Martino sagen, ehe Grasswax sie grimmig anstarrte und mit seinen Krallenfingern schnippte. Sie brachte keinen Laut mehr heraus. Sie mühte sich noch einen Moment, ehe sie begriff, dass ihr die Gabe der Sprache genommen worden war.

»Dich hat niemand gefragt, Hure«, fauchte der Ankläger und wandte sich dann grinsend an Sam. »Nun, Herr Verteidiger? Noch irgendein Schlussplädoyer?«

Der Junge neben mir zappelte, als hätte er Flöhe. »Lass das«, sagte ich. »Nicht auffallen. Du würdest es bereuen …« Aber es war vergebens.

»Was ist mit ›Du sollst nicht stehlen‹?«, rief das Bürschchen. »Zählt das nicht?«

»Oh, Shit.« Diesmal kam es von mir. Alle sahen Clarence an. Selbst Xathanatron, der Fürstentum-Engel, schien zu stutzen: Sein Gleißen flackerte ganz leicht.

»Er hat hier nicht zu reden!«, bellte Howlingfell, und die hässlichen, borstigen Haare in seinem Nacken sträubten sich. Er setzte an, sich mit Klauen und Zähnen auf den Jungen zu stürzen, aber ich trat ihm in die Kniekehle, und als sein Bein wegknickte, half ich ihm durch einen kräftigen Ruck am Anzugkragen zu Boden. Der Dämon schlug hart auf – das Außerhalb ist ein realer, physischer Ort, es ist nur außerhalb der Zeit –, und ich kniete mich neben ihn, um mich zu vergewissern, dass ihm nichts passiert war. Okay, vielleicht habe ich mich dabei ein ganz klein wenig auf seine Luftröhre gekniet.

»Platz, Fido«, befahl ich leise und drückte ihm den Hals zusammen, bis er sich nicht mehr so heftig wehrte. »Lass das die großen Jungs regeln.«

»He!« Plötzlich zogen rauhe, krallenbewehrte Hände an mir. Ich hatte nicht die Absicht, vor einem himmlischen Richter eine Schlägerei anzufangen, also ließ ich mich in den Stand hochhieven, obwohl mir Grasswax fast schon das Jackett ausgezogen hatte. »Wie können Sie es wagen!«, fauchte er, aber es klang nicht ganz überzeugend – er chargierte wohl etwas für den Richter.

»Hey, hey, immer mit der Ruhe«, sagte Sam und trat zwischen uns. Er half mir wieder in mein Jackett und zupfte fast schon väterlich mein Äußeres zurecht. Wir haben eine Menge gemeinsam durchgestanden, Sam und ich. »Nur ein Missverständnis«, sagte er und funkelte dabei den Jungen grimmig an.

Howlingfell rappelte sich jetzt ebenfalls hoch. Er schien der Meinung, alles absolut richtig verstanden zu haben: Unter seinem Blick hätte Lack Blasen geworfen.

»Missverständnis?« Grasswax sah uns alle nacheinander an, und wohlkalkulierte Entrüstung machte seine ohnehin schon nicht sonderlich sympathischen Züge noch fieser. »Habe ich etwas missverstanden, als ich zu hören glaubte, wie ein Lehrling, der weder vereidigt noch vor diesem Richter namentlich benannt ist, die Stirn hatte, einen Vertreter der Anklage zu unterbrechen? Oder hat sich das wirklich zugetragen?«

Was meint er? Das kam vom Richter, jedes Wort wie der Schlag einer silbernen Kirchturmglocke, laut und hallend, und stoppte Grasswax just in dem Moment, als er zu einem rhetorischen Schlussfeuerwerk ansetzte. Xathanatron wandte sein gesichtsloses Gleißen Clarence zu. Sprich, Kind. Ich erteile dir die Erlaubnis.

»Ihr Mann – er … er hat sie bestohlen!« Eins musste man dem Jungen zugutehalten: Er schien immerhin angemessen erschrocken über das, was er sich eingebrockt hatte. »Er hat ihr ihre Jugend gestohlen.«

»So ein Blödsinn.« Grasswax trug die Miene eines Mannes zur Schau, der bei Sauwetter im Freien einer langen Schulaufführung beiwohnen muss.

Clarence wandte sich an den Richter. »Von ihrer Hochzeit an hat ihr Mann sie … hat er nur einmal im Monat mit ihr geschlafen, als ob … als ob es ein Job wäre. Ohne … Vorspiel, ohne Küssen. Hat sich danach von ihr runtergerollt und ist fernsehen gegangen.« Der Youngster war puterrot. »Dann, nach ihrem vierten Kind, hat er … ganz aufgehört. Hat zu ihr gesagt, sie würde sich gehenlassen. Sie würde ihn anekeln.« Er sah zu der Verstorbenen hinüber, aber Silvia Martino schien ganz in eine Erinnerung oder einen Traum versunken: Sie stierte ins Leere. »Das ist doch Diebstahl, oder?«, sagte der Junge schließlich.

Mir war klar, dass ich den Jungen nicht mit ihr hätte reden lassen dürfen, und ich hätte mich dafür selbst ohrfeigen können. Wann hatte er das alles aus ihr herausgekriegt? Selbst Sam schien überrascht, und er hatte doch mit dem Schutzengel geredet.

Als Clarence nicht auf der Stelle in Rauch aufging, schien ziemlich klar, dass der Richter seine Aussage zuließ. Sam war nicht so dumm, diesem geschenkten Gaul unnötig lange ins Maul zu schauen. Er reicherte sein Schlussplädoyer rasch mit einer kräftigen Prise tragischen Leidens an und ritt den Klepper nach Hause.

Ich hätte immer noch keinen Cent darauf verwetten wollen, wie Xathanatron entscheiden würde, doch als eine lavendelfarbene Lichtsäule die verstorbene Mrs. Martino umhüllte und Grasswax’ Gesicht einen Ausdruck annahm, der besagte, dass irgendein Anwaltsgehilfe in der Hölle sich auf einen mächtigen Anschiss gefasst machen konnte, da wusste ich, dass es vorbei war und Sam gewonnen hatte.

Plötzlich war die Verstorbene weg. Grasswax verschwand unmittelbar darauf, wortlos und ziemlich wütend. Howlingfell zeigte mit einem zittrigen Krallenfinger auf mich. »Sie sind ein toter Mann, Dollar!«, knurrte er, aber seine Stimme war immer noch ein bisschen schwach von meinem Knie auf seiner Luftröhre. Dann folgte er Grasswax durch die Wunde in der Luft, und wir waren, von Xathanatron abgesehen, allein in dem eingefrorenen Augenblick.

»Gratuliere«, sagte ich zu Clarence. »Du hast dir heute die ersten Feinde gemacht.«

»Was?«

»Und nicht nur im gegnerischen Team«, sagte Sam. »Wenn du das noch mal mit mir machst, Kleiner, findet niemand all die Einzelteile wieder.«

»Einzelteile …?«

»Deine.« Er schüttelte entrüstet den Kopf. »Wenn du wieder mal so geniale Ideen hast, teste sie zuerst an mir oder Bobby aus.«

Ich beobachtete Xathanatron, der zu meiner Beunruhigung in meine Richtung zu blicken schien. Ich hatte gehofft, von so banalen Dingen wie meiner kleinen Rauferei mit Howlingfell nähme ein so hoher Engel keine Notiz.

Sie werden in der Himmlischen Stadt erwartet, Engel Doloriel, beschied mich die Säule aus Licht. Sam und der Junge hörten es nicht, aber für mich war es so laut, dass meine Schädelknochen schmerzten. Ihr Erzengel will Sie sprechen. Dann war das helle Gleißen verschwunden.

»Komm«, sagte Sam zu mir. »Zeit, wieder rüberzugehen. Ich werde Clarence ein Eis spendieren. Immerhin haben wir ja gewonnen.«

Ich für mein Teil hatte Durst, so reagiere ich nun mal, wenn Sachen gut ausgehen. Andererseits – wenn Sachen nicht gut ausgehen, reagiere ich genauso.

2MEINE GLÜCKSWOCHE

Ich weiß schon, welche Fragen Sie mir stellen wollen. Die Antworten lauten:

Ja, Engel sein ist verdammt interessant.

Nein, ich bin Gott nicht begegnet. Noch nicht.

Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Religion letztlich recht hat, weil das nicht so klar ist.

Wie es im Himmel ist? Tja, also … haben Sie ein bisschen Geduld, ich will versuchen, es zu erklären.

Zunächst mal, der Himmel ist … kompliziert. Er ist nicht einfach ein Schloss auf einer Wolke oder ein Paradiesgarten. Er ist groß, obwohl es dort nur eine Stadt gibt – die Himmlische Stadt eben. Aber diese Stadt ist umgeben von den sogenannten Gefilden, also einer Landschaft, die sich nach allen Seiten endlos weit erstreckt – sanften Hügeln und Wiesen und sogar Wäldern, bevölkert von Seelen, die ich immer für diejenigen halte, die das Erdenleben hinter sich gelassen haben und sich jetzt des ewigen Lebens erfreuen. Wenn man sie fragt, wissen sie allerdings genauso wenig über ihre vorhimmlische Vergangenheit wie ich über mein Leben, bevor ich Engel wurde.

Normalerweise begibt man sich, wenn man gerufen wird, augenblicklich in die Himmlische Stadt. Dort läuft man weder, noch fliegt man, das ist zu simpel gedacht. Ja, selbst die Bezeichnung »Stadt« ist ein bisschen irreführend, obwohl man diesen Eindruck schon haben kann, wenn man die gewaltigen Dimensionen um sich herum sieht, die Türme und schimmernden Galerien und Verbindungsgänge unglaublich weit über sich. Wo immer man ist, umgeben einen leuchtende Präsenzen, wie die Lichter einer Million glücklicher Autos auf einer befahrenen, aber vollkommen ungefährlichen Autobahn, und jede dieser Präsenzen ist ein Engel. Und irgendwo in der Mitte, an einem Ort, den man nie richtig sieht, von dem man aber immer weiß, dass er da ist, ein stetes Strahlen am Rand des eigenen Sehens und Fühlens und der eigenen Vorstellung, ist das Empyreum, der innerste Bezirk des Himmels, wo, wie es heißt, der Höchste wohnt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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