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Ein düsteres Geheimnis liegt über der Tinkerfarm. Das ist für Tyler und seine Schwester Lucinda unmittelbar zu spüren, als sie wieder das kleine abgeschiedene Tal weit im Hinterland besuchen. Die Farm mit ihren einzigartigen Tieren, den Drachen, Einhörnern und Wasserschlangen wird bedroht. Nicht nur die allgegenwärtigen Sicherheitsmaßnahmen verraten es: Zäune, Überwachungskameras und sogar gefährliche neue Kreaturen sind im Einsatz. Als dann auch noch Onkel Gideon spurlos verschwindet, sind Tyler und Lucinda ganz auf sich gestellt, die Farm mit all ihren Tieren zu schützen. Was hat aber die zwielichtige Haushälterin Miss Needle im Sinn? Ist sie eine gefährliche Hexe, wie Tyler und Lucinda fürchten? Ein spannendes Leseabenteuer von der ersten bis zur letzten Seite.
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Seitenzahl: 504
Tad Williams; Deborah Beale
Die Geheimnisse der Tinkerfarm
Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Ulrich Möhring
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Hobbit Presse
Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel
»The Secrets of the Ordinary Farm«
© 2011 by Tad Williams and Deborah Beale
Für die deutsche Ausgabe
© 2011 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: HildenDesign, München, www.hildendesign.de
Umschlagillustration: © Kerem Begit
Datenkonvertierung: Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
Printausgabe: ISBN 978-3-608-93822-7
E-Book: ISBN 978-3-608-10231-4
|5|Für Miss Isabel Lapidus
Ein Stern am Kritikerhimmel
Und für Matt Bialer und Lenora Lapidus
Zum abendlichen Vorlesen
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Beeil dich! Mach schneller mit deiner Magie!« Simos Walkwell klang unwirsch, aber das war nichts Neues: Er mochte Colin nicht besonders und machte ihm das auch fast jeden Tag klar. »Die Kinder werden in wenigen Stunden hier sein, und Gideon will, dass alles bereit ist.«
Colin Needle schnitt eine Grimasse, sagte aber nichts, sondern beugte sich nur tiefer über seinen Laptop. Über den fernen Hügeln donnerte es. Das Wetter war heiß, schwül und drückend. Die Kinder dies, die Kinder das, es hing ihm schon zu den Ohren raus. Außer Colin und seiner Mutter schienen alle auf der Tinkerfarm – oder der Ordinary Farm, wie sie auch genannt wurde – Lucinda und Tyler Jenkins für ganz wunderbare Geschöpfe zu halten, dabei waren die beiden im |12|Grunde die reinsten Pestbeulen. In nur wenigen Wochen hatten die Jenkins-Gören im letzten Sommer Colins schlau eingefädelte Pläne zur finanziellen Sanierung der Farm zunichte gemacht, und jetzt kamen sie schon wieder über die Sommerferien. Lucinda und Tyler, Tyler und Lucinda – er hatte es satt, ihre Namen zu hören, hatte es satt, dass alle auf der Farm ein solches Getue um ihren zweiten Besuch machten.
Wieder grollte der Himmel. Ein einzelner dicker Regentropfen fiel auf Colins Bildschirm. Das Wetter, das schon den ganzen Frühling über ungewöhnlich regnerisch gewesen war, schien sich nicht ändern zu wollen, die Tage waren genauso heiß wie immer um diese Jahreszeit, aber außerdem feucht, bewölkt und manchmal sogar gewitterig. Colin Needle war noch nie in einem tropischen Land gewesen, doch er stellte sich vor, dass das Wetter dort ungefähr so war wie in diesem Teil Kaliforniens in letzter Zeit.
Der hünenhafte Wikinger Ragnar war mit dem Einbau des hochmodernen neuen Tors im Lehmziegelstall fertig, und jetzt wischte er sich mit seinem breiten Unterarm den Schweiß oder Regen von der Stirn und kam angestapft. »Warum bist du noch nicht fertig, Needle?«, herrschte er ihn an. »Die ganze Schwerarbeit haben wir schon erledigt! Sieh zu, dass du deinen Zauber gewirkt kriegst, damit wir endlich was Kaltes trinken gehen können.«
»Das ist keine Magie und das ist kein Zauber«, sagte Colin zähneknirschend. »Ich versuche, die neuen Sicherheitstore und -zäune an ein Computernetzwerk anzuschließen, damit wir alles mit Fernsteuerung regeln können. Das habe ich euch schon mehrfach erklärt.«
»Du hast mir erzählt, dass dein flacher Kasten mit unsichtbaren Blitzen wirkt, die durch die Luft fliegen«, sagte Ragnar. »Ist das etwa keine Magie?«
|13|Colin verzog das Gesicht. Niemand sonst auf der ganzen Farm verstand irgendetwas von Elektrotechnik oder Computern, von drahtlosen Netzwerken ganz zu schweigen; die meisten Farmbewohner stammten aus einem anderen Jahrhundert, als solche Erfindungen noch völlig undenkbar waren. Selbst seine Mutter, die sich genug Wissen angeeignet hatte, um das Internet zu nutzen und ihre Versuchs- und Haushaltslisten auf dem Computer zu führen, konnte Colin auf diesem Gebiet lange nicht das Wasser reichen. Eines schönen Tages würde Gideon nicht mehr sein, und Colin Needle würde das Sagen haben. Dann hatten sich Lucinda und Tyler Jenkins streng nach seinen Anordnungen zu richten – wenn er sie überhaupt noch auf der Farm duldete.
Sogar Colins Mutter, so furchteinflößend sie auch sein konnte, würde sich seinem Willen beugen müssen.
Vom hinteren Ende des Stalls ertönte ein tiefes, heiseres Knurren, und Colin zuckte vor Schreck zusammen. Ragnar lachte und schlug sich auf den Schenkel; er machte ebenso wie Walkwell keinen Hehl daraus, dass er Colin nicht leiden konnte. »Mach dir nicht gleich in die Hose, Jungchen! Das sind bloß die Mantis, die ihren Käfig leid sind. Sie wollen raus und mit dir spielen!«
»Sehr witzig«, sagte Colin, aber dennoch zitterte er. »Das sind die reinsten Bestien.«
»Und wer ist schuld, dass Gideon an nichts anderes mehr denkt als an Abwehrmaßnahmen?« Walkwell deutete auf das neu eingebaute elektrische Schiebetor. »Wer hat Gideons Feinde hier auf unseren Grund und Boden geholt?«
»Lass mich gefälligst in Frieden, ja? Tausendmal habe ich mich schon entschuldigt! Wie oft soll ich das noch tun?«
Tatsächlich war Gideons Sicherheitsmanie neuerdings in Colins Augen das Klügste, was der Alte sich seit Jahren hatte |14|einfallen lassen, aber deswegen wollte er sich durchaus nicht länger in der Nähe dieser eingesperrten Monster aufhalten als unbedingt nötig. Da lag so etwas in ihren rötlichen Augen, etwas Kaltes, Wissendes … »Ihr habt doch gesagt, dass der Käfig sicher ist, oder?«, fragte er Ragnar und Walkwell. »Ja? Dann geht aus dem Weg und lasst mich was ausprobieren.« Colin klickte auf seinem Bildschirm auf »Open«. Ein paar Meter entfernt sprang der Motor an, dann begann das schwere Metalltor des Stalls auf seinen kleinen Rädern rasselnd zur Seite zu gleiten. Ein bisschen war es doch wie Magie, dachte Colin Needle stolz. Die Mantis hörten das Rasseln und fingen an, im Stall zu grollen und zu bellen. Colin war überaus dankbar, dass die wilden Biester hinter schweren Stahlgittern eingesperrt waren: Ihre langen gelben Zähne, krallenbewehrten Finger und eigentümlich intelligenten, aber gefühllosen Augen hatten ihm in letzter Zeit öfter Albträume bereitet.
Ein kurzer Regenschauer besprengte den Staub und rieselte warm auf Colins Nacken. Er öffnete und schloss die Tore noch ein paarmal, um sicherzugehen, dass er alles richtig eingestellt hatte, dann beendete er das Programm, während Ragnar und Walkwell die letzten Aufräumarbeiten machten.
Als Simos Walkwell ihn herbeipfiff, platzte ihm fast der Kragen: Er war doch kein Hund, nach dem man einfach pfeifen konnte! »Needle«, sagte Walkwell, »nimm mal das Ende von diesem Metallseil und halte es, damit ich es aufrollen kann.« Walkwell schien selbst in der schlimmsten Bullenhitze nicht zu schwitzen, aber er nahm seinen Hut ab und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, während er das kunststoffummantelte Kabel in der anderen Hand betrachtete. Er hatte seine Hörner schon mehrere Tage nicht mehr abgeschmirgelt, und sie sahen aus wie winzige Baumstümpfe, die knapp über seinen Schläfen wuchsen.
|15|»Das ist kein Metallseil«, sagte Colin. »Das ist ein Kabel. Das Wort ist Kabel.«
Der alte Grieche lachte rauh und trocken. »Du weißt, was ich meine. Jetzt mach dich nützlich. Halt das Metallseil und den Mund gleich mit. Beides wäre hilfreich.«
Colin schluckte eine patzige Erwiderung hinunter. Du wirst schon sehen, dachte er. Eines Tages werde ich auf dieser Farm das Kommando haben, ganz gleich, was du und diese eingebildeten Jenkins-Gören denken. Und wenn das passiert, wird alles anders werden. Ganz anders.
Das Sommergewitter war gerade auf die andere Talseite gezogen, doch seine letzten feuchten Spuren im Staub waren schon fast wieder weggetrocknet. Jetzt, da der Donner langsam verklang, waren die Geräusche besser zu hören, die hinter dem neuen Tor aus dem Stall drangen: das rastlose, grummelnde Geräusch großer, hungriger Tiere, die darauf warten, herausgelassen zu werden.
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1
Wie schön, dass du uns selber abholen kommst, Onkel Gideon!« Die vierzehnjährige Lucinda Jenkins drehte sich zu ihrem jüngeren Bruder um. »Ist das nicht toll? Wir sind wieder da!«
Nicht einmal Tyler versuchte sich hypercool zu geben. »Absolut«, sagte er und grinste. »Absolut toll ist das.« Richtig niedlich, wie aufgeregt seine Schwester war, wo sie doch sonst sogar Planetoid, das beste Videospiel aller Zeiten, »megalangweilig« fand. Aber auch Tyler freute sich und konnte selbst dem ungewöhnlich feuchten Wetter etwas abgewinnen.
Ihr Großonkel Gideon schien sich ebenfalls zu freuen, dass sie da waren, und wirkte ganz anders als letzten Sommer, als er sich teilweise aufgeführt hatte, als bereute er es, sie auf |17|seine Supersonderspezialfarm eingeladen zu haben. Gideon Goldring sah auch gesünder aus als im Jahr zuvor – er hatte heute sogar auf seine normale Alltagskluft, bestehend aus Schlafanzug und Bademantel, verzichtet. Seine weißen Haare waren natürlich wie immer ungekämmt, aber frisch gewaschen, und seine Haut war gebräunt, als hätte er sich länger draußen in der Sonne aufgehalten.
»Es ist auch schön, euch zwei wieder hier zu haben!«, sagte Gideon lachend. »Kommt, beeilt euch, Kinder! Wir haben eine lange Fahrt vor uns, und alle warten schon auf euch.«
Simos Walkwell trat heran, Gideons Verwalter und Mann für alles – wenigstens sah er mit Hut und Stiefeln wie ein normaler Mann aus, obwohl Tyler und seine Schwester wussten, dass der Eindruck täuschte. Gefühlsausbrüche waren nicht seine Art, aber er nickte und lächelte sogar fast ein wenig, dann warf er die beiden großen Koffer hinten auf die Ladefläche, als ob sie nicht schwerer als Sofakissen wären, und sprang wieder auf den Kutschbock. Lucinda krabbelte auf die Ladefläche des Wagens, Tyler hinterher.
Lucinda war so aufgeregt, dass sie nicht still sein konnte. »Wow, ist das klasse, hier zu sein! Wie geht’s allen – und wie geht’s den Tieren? Ooh, wie geht’s dem kleinen Drachenkind? In deinem letzten Brief stand, es wäre inzwischen richtig groß geworden!« Onkel Gideons letzter Brief lag schon Monate zurück. Seitdem trieb Lucinda ihren Bruder fast zum Wahnsinn. »Geht’s ihr gut, der Kleinen?«
Gideon lachte stillvergnügt. »Ja, Lucinda, ja, allen Tieren geht es gut. Den Menschen auch.«
Walkwell hatte sich inzwischen die Zügel gegriffen und schnalzte mit der Zunge. Culpepper, das Zugpferd, schnaubte und wendete dann mit dem Wagen im großen Bogen auf der Hauptstraße. Ein paar Leute auf dem Bürgersteig gegenüber |18|blickten auf, und ein oder zwei winkten. In Standard Valley herrschte das übliche gemütliche Samstagstreiben.
Gideon senkte die Stimme. »Ihr habt doch zu Hause niemandem was erzählt, oder? Über die Farm?«
»Nein, Onkel Gideon!«, riefen beide Kinder gleichzeitig, und Tyler fügte hinzu: »Wo denkst du hin! Das haben wir doch versprochen.«
»Allerdings.« Gideon lehnte sich wieder auf dem Bock zurück. »Und das ist auch das oberste Gebot hier. Eigentlich ist es fast das einzige Gebot.«
Na, nicht ganz, dachte Tyler belustigt. Du hast noch ein paar andere. Nicht zu viele Fragen nach den Tieren stellen. Keine Fragen nach der Verwerfungsspalte stellen, aus der die Tiere kommen. Nicht danach fragen, was mit deiner Frau Grace passiert ist. Und ganz gewiss nicht danach fragen, warum du eine Hexe als Haushälterin hast! Natürlich behielt Tyler all diese Dinge für sich. Er hatte im vorigen Jahr einen überwältigenden, großartigen und unglaublich gefährlichen Sommer auf der Tinkerfarm verbracht, und wenn er während dieser Zeit etwas gelernt hatte, dann, dass man gut daran tat, sich über einen Anfall von guter Laune bei Gideon Goldring zu freuen und im übrigen den Mund zu halten.
Und ihr Großonkel war tatsächlich gutgelaunt, es schien, als hätte er die Kinder fast ebenso sehr vermisst, wie sie die Farm vermisst hatten. Tyler hatte das Schuljahr über nicht ganz so fanatisch die Sekunden bis zu ihrer Rückkehr gezählt wie seine Schwester, sich aber nicht minder darauf gefreut. Ein wenig gefürchtet hatte er sich allerdings auch. So viele Geheimnisse, so viele verrückte, gefährliche Geheimnisse!
Und jetzt geht es wieder los, dachte er. Volle zehn Wochen. Da konnte alles passieren!
|19|»Endlich. Wir sind wieder da.« Lucinda blickte die Straße ins Tal hinunter. »Ich hab’s kaum erwarten können.«
»Sieht es noch so aus wie voriges Jahr?«, fragte Gideon. »Wie du es in Erinnerung hast?«
»Noch schöner. Wann kann ich die Drachen sehen?« Tyler wusste, dass sie darauf brannte, sich mit den Drachen zu unterhalten, nachdem sie ganz am Ende des letzten Sommers entdeckt hatte, dass sie das konnte – sie hatte während der ganzen Zugfahrt von kaum etwas anderem gesprochen. »Kann ich jetzt gleich mal bei ihnen reinschauen, Onkel Gideon? Bevor wir zum Haus fahren? Der Reptilienstall ist doch gleich dort drüben!«
Walkwell knurrte missbilligend, aber Gideons gute Laune hielt an. »Na, von mir aus, aber nur kurz – wenn du versprichst, nichts anzustellen!«
»Ganz bestimmt, ganz bestimmt! Vielen Dank, Onkel Gideon!«
Der alte Mann schmunzelte. »Aber sagt Mrs. Needle nichts davon. Sie mag es nicht, wenn ich mich nicht an die Regeln halte.«
»Sie mag gar nichts, wo irgendwie Leben drin ist«, murmelte Tyler vor sich hin, aber er wusste, dass es Lucinda in diesem Moment nicht einmal gestört hätte, wenn Patience Needle auf einem Besen angeflogen wäre.
Sie überquerten eine Holzbrücke über den Kumish Creek und fuhren dann an dem neuen und beeindruckend hohen Drahtzaun entlang, der sich um das Anwesen zog. Tyler fielen gleich die Schilder ins Auge, auf denen »VORSICHT! ELEKTROZAUN!« stand.
»Ist der wirklich elektrisch?«, fragte er.
»Der Schlag, den man kriegt, ist nicht tödlich«, erwiderte Gideon. »Gerade stark genug, dass unerwünschte Besucher |20|nicht drüberklettern. Und wenn sie es auf anderem Wege versuchen, tja«, er deutete auf ein kleines kuppelförmiges Gerät auf einem Zaunpfosten, »dann haben wir dafür Kameras. Sie funktionieren auch bei Nacht.« Er gluckste vergnügt. »Simos hat jetzt viel weniger Arbeit damit, die Farm zu bewachen, stimmt’s, Simos?«
»Ich habe nicht darum gebeten.« Walkwell klang nicht begeistert. »Meine Ohren und meine Nase sind immer noch besser als jeder Guckkasten.«
»Ja, aber nicht einmal du kannst auf einen Blick sehen, was im ganzen Tal los ist.« Die Knurrigkeit des Verwalters amüsierte Gideon. »Das wird dir helfen, Simos. Du wirst auch nicht jünger.«
»Das hat schon Perikles zu mir gesagt.« Simos Walkwell richtete den Blick wieder auf die neben dem Zaun verlaufende Straße. Sie näherten sich einem großen Tor, das ebenfalls neu zu sein schien.
»Er hat Perikles überhaupt nicht gekannt«, flüsterte Gideon gut hörbar. »Er übertreibt maßlos.«
Da Tyler den Typen auch nicht kannte, konnte er nur mit den Achseln zucken. »Und das ist das neue Tor?«
»Eines der neuen Tore, ja.«
»Aber warum?« Lucinda klang beunruhigt, und Tyler konnte ihr das nicht ganz verdenken. Die Hügel und das Tal hatten sich nicht im Geringsten verändert, aber der Anblick dieses drei Meter hohen Tors aus Stahl und der schweren Holzbalken war vollkommen ungewohnt. Tyler fand, es sah aus wie der Eingang zu einer Festung … oder einem Gefängnis.
»Das hatte ich euch schon in meinem Brief zu Weihnachten geschrieben«, sagte Gideon. »Dass ihr erst jetzt wieder zu Besuch kommen könnt, weil wir ein paar Veränderungen vornehmen müssen. Nun, das ist eine davon. Wir haben auf der |21|ganzen Farm neue Zäune und Tore, ja, wir haben ein komplettes neues Sicherheitssystem!«
»Irgendwie gruselig«, sagte Lucinda. »Es sieht aus wie … wie …«
»Ostberlin«, sagte Tyler, der im Geschichtsunterricht gerade den Kalten Krieg durchgenommen hatte.
Gideon schüttelte nachdrücklich den Kopf, und seine gute Laune verflog. »Erzähl keinen Unsinn! Die Berliner Mauer hat die Leute eingesperrt. Ich schütze mich vor Leuten, die sich hier einschleichen und meine Geheimnisse stehlen wollen. Das ist überhaupt nicht zu vergleichen!« Er sah die Kinder grimmig an. »Oder habt ihr schon vergessen, was vorigen Sommer passiert ist?«
Tyler hielt es für ratsam, nicht weiter über das Tor zu sprechen. »Nein, Onkel Gideon.«
»Natürlich nicht, Onkel Gideon«, sagte Lucinda. »Wir verstehen schon.«
Tyler besah sich den Zaun, der sich in beiden Richtungen so weit erstreckte, wie er schauen konnte. »Der … ähm … sieht sehr sicher aus.«
Gideon lachte rauh. »Das will ich hoffen! Hast du eine Vorstellung, was es kostet, viertausend Hektar Land einzuzäunen und Kameras zu montieren? Dafür ist fast das ganze Geld draufgegangen, mit dem Ed Stillman Simos bestechen wollte. Und das war ein ziemlicher Batzen!«
Bloß dass es in Wirklichkeit gar kein Bestechungsgeld war, wie Tyler wusste. Der Milliardär Stillman hatte so getan, als wollte er Colin Needle mit dem Geld ein Drachenei abkaufen. Tyler und Lucinda hatten geholfen, diesen Anschlag auf die Tinkerfarm zu vereiteln und vor ihrem Großonkel geheim zu halten.
Gideon stieg vom Wagen und drückte auf einem Tastenfeld |22|neben dem Zaun ein paar Zahlen. Das Schloss klickte auf und das schwere Tor rollte zur Seite. Nachdem sie hindurchgefahren waren, glitt es von alleine wieder zu.
»Um sicherzugehen, dass niemand es aus Versehen offen lässt«, erläuterte er. »Großartige Neuerung – und es gibt andere, die ihr noch nicht gesehen habt. Wir sind jetzt wirklich gut gerüstet. Stillmans Bande soll nur kommen und versuchen, sich heimlich hier einzuschleichen!«
Selbst Lucinda war mittlerweile verstummt. Als sie sich auf den Weg zum Reptilienstall machten, fiel der lange Schatten des Tores vor ihnen auf die Straße.
|23|
2
Als sie vor dem Reptilienstall anhielten, meinte Lucinda auf einmal, jemanden ihren Namen rufen zu hören. Walkwell musste es auch gehört haben, denn er blickte in Richtung des Farmhauses. Eine seltsame Gestalt kam auf sie zu, hoch aufgerichtet, gefolgt von einer Staubwolke.
»Oh, Mist«, sagte Tyler. »Der.«
Es war Colin Needle, der auf einem altmodischen schwarzen Fahrrad querfeldein holperte und dabei tüchtig durchgeschüttelt wurde.
Tyler lachte. »He, geile Kiste, Needle! Gehört das Rad deiner Mama?«
»Ich freu mich auch, dich zu sehen, Jenkins«, sagte Colin mit einem schlecht gespielten verkniffenen Lächeln, als er |24|neben ihnen anhielt. »Hi, Lucinda«, fügte er hinzu. »Schön, dass du wieder da bist.« Das hingegen hörte sich ehrlich an.
Lucinda fand, dass Colin seit dem letzten Sommer länger und dünner geworden war. Er trug zudem ein altes, schlecht sitzendes Jackett und dazu passende Bügelfaltenhosen. Mit seinen vom Fahrtwind verwuschelten Haaren sah er aus wie eine Vogelscheuche auf Rädern. »Hi, Colin«, sagte sie. »Steht dir gut, der Anzug.« Das stimmte nicht ganz, aber Lucinda wollte den Sommer diesmal freundlich beginnen – eigentlich, dachte sie, war Colin gar nicht so übel. Tyler schnaubte, aber Colin und Lucinda ignorierten ihn.
»Danke.« Colin drehte sich hastig zu Gideon um, als wäre es ihm mit einem Mal peinlich, Lucinda in die Augen zu schauen. »Meine Mutter hat euch herfahren sehen, und sie sagt, ich soll dich daran erinnern, dass Sarah den ganzen Tag gearbeitet hat, damit wir ein warmes Abendessen bekommen, aber lange wird es nicht warm bleiben.«
»Patience hat uns gesehen? Da muss sie mit meinem Fernglas Ausschau gehalten haben.« Gideon wandte sich Tyler und Lucinda zu. »Was wohl bedeutet, dass wir uns lieber beeilen.« Er hörte sich an wie ein kleiner Junge, der mit Hochgenuss ein Verbot übertritt. »Bevor die Geduldige«, denn das hieß Patience, »noch die Geduld verliert.«
Über diesen Witz konnte Lucinda beim besten Willen nicht lachen, aber aus Höflichkeit rang sie sich ein Kichern ab. »Komm mit, Colin«, sagte sie. »Ich will nur mal kurz zu den Drachen reinschauen. Komm schon! Ich beeil mich auch.«
Colin, der dabei war, vom Rad zu steigen, hielt in der Bewegung inne. »Ähem … nein, danke. Geh du nur. Ich warte hier.«
»Sei doch nicht doof! Du kannst mir erzählen, was du seit letztem Sommer so getrieben hast.« Lucinda hätte ihn beinahe am Arm gefasst, hielt sich dann aber lieber zurück. Sie wollte |25|dieses Jahr netter zu dem linkischen Jungen sein, aber sie wollte nicht, dass er auf dumme Gedanken kam. »Komm!«
Colin schloss sich sehr widerstrebend der kleinen Gruppe um Simos Walkwell an, der die schwere Tür aufschob.
Im Innern des kolossalen Stalls war es mindestens so heiß wie außen, aber zusätzlich hing der scharfe Geruch wilder Tiere in der Luft. Lucinda überwand ihren Ekel – schließlich hatte sie seit Monaten sehnsüchtig auf diesen Augenblick gewartet.
Meseret, die Drachenmutter, lag ausgestreckt und mit angelegten Flügeln in ihrem Gehege, groß wie ein Bus, schön und schrecklich. Lucinda konnte sich bei ihrem Anblick ein aufgeregtes Quietschen nicht verkneifen. Meseret war wie ein Wesen aus einem Märchenbuch, überall dicke, lederige Schuppen und knochige Höcker, ein Wesen, das es in der echten Welt eigentlich nicht hätte geben dürfen – aber es gab sie. Die Augen mit den geschlitzten Pupillen beobachteten sie alle und verrieten nichts.
Kannst du mich hören, Meseret? Lucinda versuchte, mit ihren Gedanken zu sprechen. Kannst du dich an mich erinnern? Wir sind zusammen geflogen! Ein neutraler Beobachter hätte in jener Sommernacht wohl eher den Eindruck bekommen, dass Lucinda hilflos an Meserets zerrissenen Fesseln baumelte. Kannst du dich an mich erinnern? Ich bin Lucinda! Sie hatte sich vorher eingeschärft, beim ersten Mal nicht zu viel zu erwarten, aber Meserets wuchtiges, gleichgültiges Schweigen kränkte sie doch. Erinnerst du dich? Ich habe geholfen, dein Ei zu retten!
»Mann, guck mal! Da ist auch das Kleine!«, rief Tyler, und Lucinda wandte sich widerwillig von der großen Drachin ab.
»In deinem Weihnachtsbrief hast du geschrieben, du hättest sie Desta genannt«, sagte sie zu Gideon.
Ihr Großonkel nickte. »Das ist äthiopisch und heißt |26|›Freude‹. Meine Frau Grace hatte einmal einen jungen Hund, der so hieß und an dem sie sehr hing.«
Desta sah durchaus nicht wie ein junger Hund oder überhaupt wie ein Tierjunges aus, zumindest nicht im Vergleich zu dem winzigen Ding, das vorigen Sommer in der Farmhausküche geschlüpft war. Die junge Drachin war inzwischen so groß wie ein Pony. Sie war in fast jeder Hinsicht das kleinere, schlankere Abbild ihrer Mutter, doch ihre Grundfarbe war nicht deren stumpfes Graugrün, sondern ein sandiges Braun, dazu ziegelrote Rosetten und ein Grat hellolivgrüner Stacheln auf dem Rücken. Destas Schuppen, manche so groß wie Lucindas Hand, andere so klein wie der Nagel ihres kleinen Fingers, glänzten und funkelten, wenn die Muskeln unter der Haut spielten.
Auch die junge Drachin beobachtete Lucinda und Tyler, vor allem aber sah sie aus, als wollte sie gern wieder einschlafen. »Cool«, flüsterte Tyler.
»Ist irgendwas mit ihr?«, fragte Lucinda und blickte auf die Riemen um Destas Mitte. Eine Kette verband das Gurtwerk mit einem großen Ring, der dicht neben dem Strohhaufen, auf dem sie schlief, in den Betonboden des Käfigs eingelassen war. »Was ist das für ein Ding, das sie da umgeschnallt hat?«
»Ein Geschirr«, sagte Gideon. »Das ist im Moment nötig. Sie wird bald fliegen lernen, weißt du. Ich will nicht, dass sie plötzlich über das Anwesen hinausfliegt.«
»Das muss ihr doch lästig sein.«
»Vermenschliche die Tiere nicht«, sagte ihr Großonkel. »Das ist immer ein Fehler.« Auf einmal knurrte Meseret, und obwohl die Drachenmutter ein gutes Stück von ihr entfernt war, spürte Lucinda das langsame, tiefe Grollen in ihren Füßen.
»Warum machst sie das?«, fragte sie. »Ist alles in Ordnung mit ihr?«
|27|»Vollkommen in Ordnung«, sagte Gideon. »Sie hat wahrscheinlich nur Hunger.«
Meseret hob ihren mächtigen Kopf und drehte ihn mit geblähten Nüstern hin und her, als witterte sie etwas.
»Gideon«, sagte Colin, »vielleicht sollten wir lieber … vielleicht wäre es besser …« Es war für Lucinda nicht zu überhören, dass der ältere Junge ausgesprochen ängstlich klang. »Ich werde mal …«
Dann war auf einmal ein lautes Geräusch zu hören, das Lucinda erschreckte, ein feuchtes Ploppen, das wie ein unter Wasser abgefeuerter Startschuss klang. Colin Needle machte einen Satz und kreischte vor Schreck und Schmerz. »Auuuu! Au, Hilfe, ist das heiß! Ich verbrenne!«
Lucinda wirbelte herum und sah Colin wie verrückt herumspringen und um sich schlagen. Etwas Zähes und Klebriges lief an seinem Jackett hinunter – etwas, das qualmte. Im nächsten Moment ging Colins Jackett in Flammen auf.
Zum Glück war Walkwell nur wenige Meter entfernt. Der drahtige alte Grieche bewegte sich derart schnell, dass Lucinda nicht einmal dazu kam, vor Schreck aufzuschreien, als er Colin bereits das brennende Jackett vom Leib riss und es wegschleuderte. Er stieß den wimmernden Jungen zu Boden und wälzte ihn hin und her, bis er sicher war, dass dieser nirgends mehr brannte. Als die Flammen gelöscht waren, hielt er Colin noch eine Weile am Boden fest. Der schwarzhaarige Junge zitterte heftig und atmete schwer.
»Hat er was abbekommen?«, fragte Lucinda. »Colin, alles okay?«
»Es ist nicht so schlimm«, sagte Walkwell. »Seine Mutter wird ihm etwas für die Brandwunden geben.« Er klang nicht allzu besorgt.
Während Walkwell und Gideon dem kreidebleichen Jungen |28|aus dem Stall halfen, schob sich Tyler an Lucindas Seite und sagte leise: »Wie’s aussieht, vergessen Drachen nicht so schnell, was? Destas Mama weiß noch genau, wer ihr Ei gestohlen hat.«
»Sei nicht so gemein, Tyler.« Dann begriff sie, was er damit gemeint hatte. »Moment mal, du meinst Meseret? War sie das? Was hat sie gemacht?«
»Ich vermute, Colin ist ihr vom vorigen Sommer noch gut in Erinnerung. Sie hat ihn aus sechs, sieben Meter Entfernung angespuckt. Ein Riesenflatsch.« Er rieb sich den Mund, um sein Grinsen zu verbergen. »Ein feuriger Rotzbollen.« In der Ferne donnerte es leise. Das Gewitter schien abzuziehen.
Lucinda fand das gar nicht witzig. Ihr war sogar ein bisschen unbehaglich zumute: Sie hatte doch bloß freundlich sein wollen! »Der arme Colin. Er wollte den Drachen nicht zu nahe kommen, aber ich habe ihn überredet.«
»Dem ist doch gar nichts passiert, Luce. Und verdient hat er’s auf jeden Fall. Zumindest, wenn es nach Mama Drache geht!«
So hatte Lucinda den Sommer ganz gewiss nicht beginnen wollen.
|29|
3
Durch ihren Abstecher zum Reptilienstall näherten sie sich der Farm nun von der anderen Seite. Tyler fand es spannend, diese Route zu fahren und zwischen den Nebengebäuden und Ställen hindurch auf die Farm zuzukommen, statt sie erst aus der Ferne von oben zu sehen. Von der Hügelstraße aus wirkten die Gebäude im Tal wie eine Flotte kunterbunt gestrichener hölzerner Raumschiffe, rot, gelb, braun und weiß, nun aber erhoben sie sich vor ihnen wie die Bauten einer gewaltigen Spielzeugstadt mit Sägezahndächern und Türmen, erbaut von betrunkenen Weihnachtswichteln mitten in einem gottverlassenen kalifornischen Tal.
»Schau mal, Luce!«
Seine Schwester blickte auf. »Oha«, sagte sie. »Wir sind |30|wirklich wieder da.« In der Zwischenzeit hatte sie sich um Colin gekümmert, der mit roten Augen und zusammengebissenen Zähnen neben ihnen auf der Ladefläche kauerte. Tyler glaubte nicht, dass der Typ so schlimm verbrannt war, wie er tat, denn nur ein paar kleine Stellen auf seiner Jacke hatten tatsächlich Feuer gefangen.
Lucinda warf Tyler einen warnenden Blick zu, während das Pferd den Wagen an dem alten Getreidesilo vorbeizog. Der hohe, graue Holzbau sah wie ein Spukhaus aus einem Horrorfilm aus, in Wirklichkeit aber war er leer und barg das größte Geheimnis der Farm: die Verwerfungsspalte, ein Durchgang zu anderen Zeiten und Räumen, den Octavio Tinker einst entdeckt hatte. Tyler wusste nicht, was Lucinda ihm mit ihrem Blick sagen wollte, und es war ihm auch egal: Sie hatte ihre Drachen und er hatte die Verwerfungsspalte. Soweit Tyler wusste, war er der einzige Mensch auf der Welt, der sie ohne Hilfe eines Instruments in beide Richtungen unbeschadet passieren konnte. Bildete sich seine Schwester wirklich ein, er würde sich den ganzen Sommer von der Spalte fernhalten?
Eine Menschentraube drängte zur Begrüßung zur Tür des Farmhauses hinaus auf die überdachte Veranda, und die beiden blickten in viele lächelnde, bekannte Gesichter. Noch bevor der Wagen zum Stehen gekommen war, kamen die Farmbewohner auf sie zugeeilt.
»Da seid ihr ja! Das ist aber schön, sehr schön!«, rief Sarah, die Köchin, und wischte sich die Hände an der Schürze ab; ihre roten Backen waren noch röter als sonst. Tyler ließ sich von ihr bereitwillig umarmen, obwohl ihn die kleine, aber kräftige Frau fast zerquetschte. Als nächste kam seine Schwester an die Reihe und wurde gedrückt, bis ihr fast die Luft wegblieb. Sarah war der gute Geist des Hauses und sorgte dafür, dass es auf der alten Farm heimelig und gemütlich zuging.
|31|Pema, eine schweigsame junge Frau aus dem Tibet vergangener Zeiten, und Azinza aus Afrika, hochgewachsen, dunkel und stolz, schlossen die Geschwister als nächste in die Arme.
»Ihr habt uns gefehlt«, sagte Azinza. »Es war hier richtig langweilig, nachdem ihr weg wart.«
»Aber heute war es wohl nicht so langweilig«, bemerkte Sarah mit einem Seitenblick auf Colin, der von Gideon ins Haus gebracht wurde. »Was ist mit ihm?«
Doch bevor Lucinda antworten konnte, fielen die anderen Bewohner der Farm über sie und ihren Bruder her. Der Wikinger Ragnar, ein bärtiger blonder Großvater mit der Statur eines Profiringers, grinste wie ein Honigkuchenpferd und überraschte Tyler mit einer Umarmung, die so fest war, dass sie ihm fast die Rippen brach. Kiwa, Jeg und Hoka, die mongolischen Hirten, die von den Jenkins-Kindern »die drei Amigos« genannt wurden, warteten lächelnd mit selbstgebastelten Geschenken für Lucinda und Tyler, Armbänder, die aus langen Haaren geflochten waren.
»Pferdehaar?«, fragte Lucinda.
»Nicht Pferd«, sagte Kiwa, der Älteste. »Einhorn. Von Schweif, Mähne. Bleibt hängen an Zaun und Sträucher.«
»Wow«, sagte Tyler. Mit Jegs Hilfe band er sich seines ums Handgelenk. Die geflochtenen Haare waren erstaunlich dick und schwer und glänzten wie Platindraht.
»Ist ja irre«, sagte Lucinda, während sie ihr Armband bewunderte. »Vielen Dank!«
Die Letzte, die vortrat, war Oola, das Mädchen, das Tyler aus der Eiszeit mitgebracht hatte, blitzsauber und in einem normalen Kleid, aber mit langen braunen Ringellocken, die aussahen, als wären sie mit neuzeitlichen Bürsttechniken nicht ganz zu bezähmen. Oola nahm Tylers Hand und drückte sie sich feierlich an die Stirn. Tyler lächelte sie an, wusste aber |32|nicht recht, was diese Geste bedeuten sollte. »Es ist schön, dich zu sehen«, sagte sie und blinzelte ihn durch ihre langen Wimpern scheu an. Da schien ihr etwas einzufallen, was sie vergessen hatte, und sie eilte in die Küche zurück. Tyler blieb stehen und wusste nicht so recht, was er davon halten sollte.
Selbstverständlich gab es zur Feier ihrer Rückkehr ein großes Festessen. Tyler fand es nur anständig, die Arbeit zu ehren, die sich die Köchinnen gemacht hatten, und sich den ganzen Abend voll und ganz dem Essen zu widmen. Der Tisch, an den er sich setzte, war gedeckt mit Brathühnchen, schön saftig unter der knusprigen Haut, Enchiladas mit selbstgebackenen Maistortillas, mehreren Salaten und großen Schüsseln voll gegrillter Artischocken und grüner Sommerbohnen. Sarah hatte außerdem eine Spezialität aus ihrer alten Heimat gekocht, Sauerbraten mit Rotkohl und Backobst. Tyler war zuerst etwas misstrauisch, doch nach einer kleinen Kostprobe tat er sich eine große Portion auf. Irgendwie schien er auf der Ordinary Farm stets noch hungriger zu sein als zu Hause.
Am späteren Abend tischte Sarah Bier für die Erwachsenen und einen Krug mit Erdbeerlimonade für alle anderen auf und ließ sich dann breit und gemütlich zwischen Tyler und Lucinda nieder. »Ihr zwei seid vielleicht gewachsen!« Die Herrin der Küche nahm Lucinda genauer in Augenschein. »Richtig groß schon! Bald bist du eine Frau, doch, wirklich!« Lucinda wurde rot. »Und du, Tyler. Du bist auch richtig groß geworden!«
Tyler lachte. »Ach, das dauert noch ein Weilchen, bis ich Ragnar eingeholt habe.«
Sarah nickte. »Ja, der arme Ragnar, er hat so viel Arbeit mit Gideons vielen Zäunen und Toren.« Sie zuckte die Achseln.
|33|»Was hältst du von dem ganzen Kram?«, fragte Tyler die Köchin. »Von den neuen Zäunen und den ganzen Sicherheitsmaßnahmen?«
»Ach, was weiß ich denn schon.« Sarah war dieses Thema sichtlich unangenehm. »Wenn Gideon sagt, wir brauchen sie, dann brauchen wir sie. Er ist so besorgt um unsere Sicherheit. Und er trauert immer noch um seine Frau.«
»Der Ärmste«, sagte Lucinda. Gideons Frau Grace war vor Jahrzehnten verschwunden, aber das Rätsel ihres Verschwindens war nie aufgelöst worden. »Sie muss ihm schrecklich fehlen.«
»Aber du hast ihm geholfen, Tyler.« Pema, die kleine Tibeterin, war leise herangetreten. Sie wurde rot, als alle sie anschauten, sprach aber tapfer weiter. »Weil du letzten Sommer das Halsband seiner Frau gefunden hast, meine ich. Er hat es immer um. Immer am Hals. Wenn er traurig ist, berührt er es und …« Sie strich über ein unsichtbares Etwas an ihrem Hals. »So. Dann ist er nicht mehr so traurig.« Sie zeigte auf ihn. »Schau«, sagte sie. »Er macht es gerade.«
Tyler sah zu Gideon hinüber. Er strich in der Tat über die Goldkette des Medaillons um seinen Hals, aber das war es nicht, was Tylers Aufmerksamkeit erregte. Sein Großonkel unterhielt sich mit Mrs. Needle, die Tyler nun das erste Mal seit ihrer Ankunft erblickte. Die Hexe – die sie für ihn immer bleiben würde – war wie üblich korrekt und zeitlos gekleidet. Sie trug einen langen schwarzen Rock und eine bis zum schlanken Hals zugeknöpfte weiße Bluse. Sie schien Tylers Blick zu fühlen, denn plötzlich hob sie den Kopf, und einen Moment lang war er sich sicher, in ihren Augen einen eiskalten Hass zu erkennen. Doch der Ausdruck verschwand wie ein Nebelschleier, und sie lächelte ihn beinahe natürlich an.
»Willkommen auf der Farm!«, rief sie.
|34|Tyler zog sich der Magen zusammen und er wandte sich ab. Lucinda sah ihn warnend an.
»Und wie geht’s unserer Mrs. Needle so?«, fragte er.
Sarah vergewisserte sich, dass die Engländerin nicht hinschaute, bevor sie eine finstere Miene aufsetzte. »Sie ist, was sie ist.« Wie fast alle auf der Tinkerfarm war auch Sarah eine Exilantin aus der Vergangenheit, eine Frau aus dem Mittelalter, die eine sehr entschiedene Meinung zu Hexen hatte. »Aber Gideon hört auf sie, und er vertraut ihr. Ärgert sie bitte nicht.«
»Warum sollten wir sie ärgern?«
Sarah schüttelte den Kopf. »Nehmt euch einfach in acht, Kinder, bitte! Sie mag euch nicht, und es ist nicht gut, sie zum Feind zu haben.«
Es war dunkle Nacht. Fledermäuse schwirrten durch den Garten auf der Jagd nach Nachtfaltern und Mücken. Auf der Farm herrschte ein ländlicher Tagesrhythmus: Wer nicht mit Abräumen und Spülen beschäftigt war, verzog sich langsam Richtung Bett. Gideon hatte sich schon eine halbe Stunde zuvor verabschiedet. Caesar, der alte Schwarze, der sich im Haus allgemein nützlich machte und darauf bestand, Gideon Goldring persönlich zu bedienen, fing plötzlich an, ein Lied zu singen.
Oh, let me fly, now, let me fly!
Let me fly into Mount Zion,
Lord, Lord.
Die Sehnsucht nach jenem Berg Zion, die dabei in seiner brüchigen alten Stimme schwang, verstand Tyler nicht so recht, und doch passte das Lied zur allgemeinen Stimmung – vielleicht |35|war es auch die Art, wie Caesar es sang. Selbst Simos Walkwell tappte im Takt mit dem Huf. Oola begann, sich hin und her zu wiegen und ihre dicken braunen Haare zu zwirbeln.
I just want to get up in the Promised Land …
Eine harte Hand legte sich auf Tylers Schulter, und er zuckte zusammen.
»Guten Abend, Kinder«, sagte Patience Needle. »Wie nett, dass ihr wieder da seid. Es wird jetzt Zeit, dass ich euch eure Zimmer zeige.«
»Wie geht es Colin?«, fragte Lucinda. »Ist er schlimm verbrannt?«
Die Miene der Frau veränderte sich nicht. »Er ist schon fast wiederhergestellt. Verbrennungen zu heilen ist für mich nichts Besonderes. Kommt jetzt mit.«
Tyler bemühte sich um einen freundlichen Ton. »Schon okay, Mrs. Needle. Den Weg zu unseren Zimmern kennen wir noch.«
Mrs. Needle lächelte schwach. Umrahmt von ihren schwarzen Haaren schimmerte ihr blasses Gesicht wie der Mond. »Aber ihr habt in diesem Jahr andere Zimmer. Jetzt kommt mit, Kinder, es wird spät. Sagt allen gute Nacht.«
Das Haupthaus auf der Ordinary Farm war ein Labyrinth mit Holzfußböden, verblichenen alten Teppichen, flackernden Glühbirnen in leeren Fluren und zahllosen verschlossenen Türen, und trotzdem merkten sie, dass Mrs. Needle sie in der Tat nicht dorthin führte, wo sie im Jahr zuvor geschlafen hatten. Mit einer batteriebetriebenen Sturmlaterne in der Hand glitt sie wie eine Erscheinung vor ihnen her und blieb schließlich in einem Korridor stehen, den Tyler nicht wiedererkannte.
|36|»Da wären wir, Kinder.«
»Ist das hier nicht in Ihrem Teil des Hauses?«, fragte Lucinda.
»Ja, Lucinda«, sagte die Haushälterin streng. »Mein Arbeitszimmer ist ganz in der Nähe – mein Büro, würdet ihr wohl sagen. Deshalb weiß ich, dass ihr euch hier wohlfühlen werdet. Schlaft gut.«
»Warum können wir nicht wieder unsere alten Zimmer haben?«, fragte Tyler.
»Weil es so beschlossen wurde«, antwortete sie und klang bereits ein wenig unfreundlicher. »So kann ich euch besser im Auge – Pardon, ich meine, hier kann ich mich besser um euch kümmern.«
Die angewiesenen Zimmer lagen nebeneinander und schienen beide auf einen Hof hinauszublicken. Es war zu dunkel, um Genaueres zu erkennen, nur dass sie in einem der oberen Stockwerke waren, hatte Tyler mitbekommen. Mrs. Needle knipste erst im einen, dann im anderen Zimmer die Deckenbeleuchtung an, und sie sahen, dass beide Zimmer mit dunkler Holztäfelung und Blümchentapeten aus lang vergangenen Zeiten ausgestattet waren. Das einzig Moderne waren die Koffer der Kinder, die offensichtlich schon vorher hochgebracht worden waren. »Jetzt macht euch bettfertig«, sagte die Engländerin. »Es ist spät.«
Tyler putzte sich die Zähne und begab sich in sein Zimmer. Er war von dem Zimmerwechsel nicht begeistert – es war ihm beim ersten Mal schwer genug gefallen, sich in den Irrgängen des Farmhauses zurechtzufinden –, aber er war zu müde und zu satt, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Er überlegte sich gerade, ob er zu Lucinda hinübergehen sollte, um noch |37|ein bisschen über diesen ereignisreichen Tag zu plaudern, als das Schloss seiner Tür klickte. Bis er aufgesprungen und hingerannt war, hörte er schon Lucinda verblüfft und empört an ihre Tür hämmern. Tyler rüttelte am Knauf, doch er ließ sich nicht drehen – die Tür blieb zu.
Die Hexe hatte sie eingesperrt.
|38|
4
Wütend, aber hundemüde setzte sich Lucinda auf ihr Bett und beschloss, zu ignorieren, dass ihr Bruder nebenan vor Zorn auf Tür und Wände einschlug.
Na schön, dann waren sie eben eingesperrt. Ihr gefiel es ja auch nicht, aber heute Abend konnten sie nichts mehr dagegen unternehmen, also warum konnte ihr Bruder sie dann nicht einfach in Ruhe schlafen lassen?
Endlich wurde es still in Tylers Zimmer. Lucinda holte ein Buch aus ihrem Koffer, einen alten Roman aus Mamas Bestand und begann, in ihr Kissen gekuschelt zu lesen. Das Buch hieß und handelte von einer ungarischen Familie während des Ersten Weltkriegs. Die Handlung war spannend, und sie war müde genug, um einfach darin zu versinken. Umso mehr erschrak sie, als es plötzlich an ihr Fenster klopfte: Mit einem lauten Schrei ließ sie das Buch fallen.
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