Shadowmarch. Band 3 - Tad Williams - E-Book

Shadowmarch. Band 3 E-Book

Tad Williams

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Beschreibung

Vielfältig sind die Bedrohungen des Landes Eion. Von Norden dringt im Schutz undurchdringlichen Nebels ein Elbenheer vor, und im Süden schmiedet der machtbesessene Herrscher Sulepis Eroberungspläne. In diesen Wirren lastet auf Prinz Barrik und seiner Schwester Briony eine übergroße Aufgabe. Eine riesige Elbenarmee überschreitet die Schattengrenze, und nichts scheint sie aufhalten zu können. Als Barrick in die Hände der heimtückischen Feinde fällt, ist Briony gezwungen, aus der Südmarkfeste zu fliehen. Ist es das Schicksal der Völker Eions, zwischen den Armeen der Elben und des Autarchen zerrieben zu werden? Gelingt es Briony, in der Fremde Unterstützung zu finden, um den Thron zurückzuerobern? Und ist Barrick der Herausforderung gewachsen, die ihn immer weiter in die Schattenlande hineinführt ...? Ein echter Tad Williams: vielschichtig erzählt und voller Spannung von der ersten bis zur letzten Seite. Seine »Otherland«-Tetralogie ist eines der großen Meisterwerke der modernen Phantastik und wurde zum Weltbestseller. Mit der »Shadowmarch«-Trilogie knüpft er an seinen ersten großen Erfolg, die Saga um den »Drachenbeinthron«, an.

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Seitenzahl: 1144

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BAND 3

DIE DÄMMERUNG

Aus dem Englischen vonCornelia Holfelder-von der Tann

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Hobbit Presse Paperback

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Shadowrise« im Verlag DAW Books New York

© 2010 by Tad Williams

Für die deutsche Ausgabe

© 2010, 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Birgit Gitschier, Augsburg

Unter Verwendung einer Illustration von Max Meinzold, München

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94958-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10162-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Wie schon die ersten beiden Bände widme ich auchShadowmarch 3 – Die Dämmerung unseren Kindern Connor Williams und Devon Beale, die mich weiterhin mit einer ungeheuren Liebe erdrücken. Sie sind die coolsten Kids der Welt.

Inhalt

Zusammenfassung Band 1– DIE GRENZE

Zusammenfassung Band 2– DAS SPIEL

Vorspiel

ERSTER TEIL DER SCHLEIER

1 Nur eine Theaterkrone

2 Eine Straße unterm Meer

3 Im Seidenwald

4 Ohne Herz

5 Ein Tröpfchen Seelenfrieden

6 Abgebrochene Zähne

7 Ein Platz an der Tafel des Königs

8 Falke und Weih

9 Tod in den Äußeren Hallen

10 Die Schläfer

11 Parieren und Zustechen

12 Zwei Barmherzige und ein Dichter

13 Tropfen von der Nadel

14 Drei Narben

ZWEITER TEIL MANTEL

15 Die befleckte Taube

16 Im Pilzgarten

17 Fischköpfe

18 König Hesper ist unpässlich

19 Träume von Blitzen und dunkler Erde

20 Die Dornenbrücke

21 Die fünfte Laterne

22 Der Flickenmann

23 Die Zunft der Kallikan

24 Zu viel für tausend Dichter

25 In Schlaf

DRITTER TEIL Leichentuch

26 Von ganz unten

27 Eintagsfliegen

28 Die Einsamen

29 Grund zum Hass

30 Licht am Fuß der Treppe

31 Ein Stück Schnur

32 Ein riskantes Unternehmen

33 Kinder in Käfigen

34 Der Sohn des Ersten Steins

35 Ringe, Keulen und Dolche

36 Auge in Auge mit der Stachelschweinfrau

37 Unter einem knochenweißen Mond

38 Erobererheere

39 Eine weitere Biegung des Flusses

Personen

Orte

Dinge und anderes

Dank

ZusammenfassungBand 1– DIE GRENZE

Südmarksburg, die nördlichste Menschenstadt, versteht sich seit zweihundert Jahren als Bollwerk gegen die Qar – das Elbenvolk, das zwei Kriege gegen die Menschen geführt hat. Derzeit ist das Land Südmark in einer schwierigen Lage: Der König, OLIN EDDON, wird in einem fernen Staat in Geiselhaft gehalten, und seinen drei Kindern, dem Kronprinzen KENDRICK und den Zwillingen BARRICK und BRIONY, fällt es zu, über das Königreich und das Volk zu wachen. Ausgerechnet in diesen ohnehin unsicheren Zeiten hat sich auch noch die Schattengrenze – die Grenze zwischen den Menschenlanden und dem nebligen, in ewigem Zwielicht liegenden Reich der Qar – nach Südmark hin verschoben.

Eines Nachts wird Kendrick in der eigenen Burg ermordet. SHASO DAN-HEZA, Brionys und Barricks Mentor, soll das Verbrechen begangen haben, und alles spricht gegen ihn. Briony ist zwar nicht restlos von seiner Schuld überzeugt, aber durch vielerlei andere Probleme abgelenkt, nicht zuletzt durch die schwierige Aufgabe, zusammen mit Barrick, ihrem kränklichen, wütenden Zwillingsbruder, die Regentschaft auszuüben.

Tatsächlich wird die Lage in Südmark mit jedem Tag verwirrender und bedrohlicher. CHERT und OPALIA, ein Ehepaar vom Zwergenvolk der Funderlinge, das im Fels unter Südmarksburg lebt, beobachten, wie geheimnisvolle Reiter von jenseits der Schattengrenze ein Kind auf südmärkischem Terrain aussetzen. Der Junge ist ein Großwüchsiger, wie die Funderlinge normalgroße Menschen nennen, aber die beiden geben ihm den Funderlingsnamen FLINT und nehmen ihn mit in ihr Haus im Fels unter der Burg. Unterdessen beschäftigt sich CHAVEN, der königliche Hofarzt, geradezu besessen mit einem mysteriösen Spiegel und dem noch mysteriöseren Etwas, das darin zu wohnen scheint.

Prinzessin Briony gibt die Schuld am Tod ihres älteren Bruders nicht zuletzt dem Hauptmann der königlichen Garde, FERRAS VANSEN, der in ihren Augen nicht genug für Kendricks Schutz getan hat. Vansen seinerseits hegt für Briony Eddon Empfindungen, die allein schon wegen des Standesunterschieds ungehörig und absurd sind. Er kann sich nur stumm fügen, als sie ihn, auch als Bestrafung, zum Schauplatz eines Qar-Überfalls diesseits der Schattengrenze schickt.

YNNIR, der blinde König der Qar, verfolgt eine vorerst undurchschaubare Strategie gegenüber Südmarksburg und dessen Herrscherfamilie: Die Aussetzung des Jungen in der Nähe der Burg war nur der Anfang. Doch sie zeitigt bereits Folgen: Bei Kendricks Beisetzung erblickt die Großtante der Eddon-Kinder den Knaben Flint und fällt beinah in Ohnmacht. Sie ist sich sicher, ihr außereheliches Kind gesehen zu haben, dessen Geburt sie verheimlichte und das spurlos verschwand – allerdings vor über fünfzig Jahren.

Ynnir ist nicht der einzige Qar mit bedeutsamen Plänen. FÜRSTIN YASAMMEZ, eine der mächtigsten Qar-Führerinnen, hat ein Heer um sich versammelt und zieht in Richtung Schattengrenze, um die Menschenlande anzugreifen.

Gleichzeitig stellen sich Barrick und Briony neue Probleme. Ihr wichtigster Ratgeber, AVIN BRONE, berichtet ihnen, die TOLLYS, ein mächtiges, ambitioniertes Adelsgeschlecht der Markenlande, beherbergten an ihrem Hof Agenten SULEPIS’, des AUTARCHEN VON XIS. Dieser Gottkönig des Südkontinents scheint nun auch den gesamten Nordkontinent erobern und versklaven zu wollen. (Der offenkundige Wahnsinn dieses Gewaltherrschers spricht aus seinem Umgang mit dem Mädchen QINNITAN, einer kleinen Tempelnovizin, die er zu einer seiner vielen Ehefrauen erklärt und in seinem ›Frauenpalast‹ genannten Harem untergebracht hat. Seltsamerweise besteht jedoch die einzige Aufmerksamkeit, die ihr dort zuteil wird, in einer Art religiöser Unterweisung und drogenartigen Tränken, die ihr die Priester einflößen.)

Auf dem Nordkontinent spitzt sich die Lage zu. Ferras Vansen und sein Trupp werden über die Schattengrenze gelockt. Mehrere seiner Männer fallen monströsen Kreaturen zum Opfer, und ehe die restlichen wieder in die Menschenlande zurückfinden, sieht Vansen den Heerzug, den Yasammez in Richtung Markenlande führt.

MATTY KETTELSMIT, ein mittelloser südmärkischer Dichter, soll für den augenscheinlich einfältigen Schankknecht GIL einen Brief an die Eddons schreiben. Leicht verdientes Geld, glaubt Kettelsmit, doch die Sache endet damit, dass er verhaftet, vor Avin Brone gebracht und des Hochverrats bezichtigt wird. Prinzessin Briony hat Mitleid mit ihm, befiehlt seine Freilassung und macht ihn sogar zu ihrem Hofdichter. So schwer die Zeiten auch für alle anderen sind – Kettelsmit scheint das Glück hold.

Die Qar zerstören die Stadt Milnersford, und Briony beschließt, ein südmärkisches Heer zu entsenden, um den Vormarsch der Zwielichtler aufzuhalten. Zu ihrem Erstaunen will ihr Bruder Barrick mit gegen die Qar reiten. Er hat seiner Schwester gestanden, dass ihr Vater Olin an einer Form von Wahnsinn leidet, der Barrick seinen verkrüppelten Arm verdankt. Barrick glaubt, diesen Wahnsinn geerbt zu haben und deshalb ebenso gut sein Leben für das Königreich aufs Spiel setzen zu können. Als Briony ihm das Vorhaben nicht ausreden kann, beauftragt sie Ferras Vansen, der wieder aus den Schattenlanden zurückgekehrt ist, ihren Bruder um jeden Preis zu beschützen.

Unter der Burg, in Funderlingsstadt, ist der sonderbare Junge Flint verschwunden. Mit Hilfe eines der winzigen DACHLINGE findet ihn Chert schließlich in den noch tiefer gelegenen heiligen Stätten der Funderlinge, den sogenannten Mysterien. Dort ist Flint irgendwie auf eine Insel inmitten eines unterirdischen Sees gelangt, wo die mächtige Steinfigur steht, die die Funderlinge den Leuchtenden Mann nennen. Chert bringt den Jungen nach Hause zurück. Einen magischen Gegenstand, den der Junge aus den Mysterien mitgebracht hat, wird Chert später gemeinsam mit dem Schankknecht Gil der dunklen Fürstin Yasammez übergeben, der Anführerin der Qar-Truppen, die vor Südmarksburg lagern.

Es ist mitten im Winter, und das südmärkische Heer ist gegen die Qar gezogen. Briony wird von HENDON TOLLY öffentlich provoziert, verliert die Beherrschung und fordert ihn zum Zweikampf, den er ihr jedoch verweigert. Der Vorfall ist für Briony eine weitere Demütigung vor dem versammelten Hofadel, der sie zum Teil ohnehin für zu jung und instabil (und als Frau prinzipiell für untauglich) hält, Südmark zu regieren. Als sie später ihrer schwangeren Stiefmutter ANISSA einen Besuch abstatten will, trifft sie zu ihrer Überraschung den Hofarzt Chaven, der einige Zeit aus der Burg verschwunden war.

Auf dem Südkontinent gelingt es unterdessen Qinnitan, aus dem Frauenpalast von Xis zu fliehen und an Bord eines Schiffes zu gelangen, das zum Nordkontinent segelt.

Im Norden erweisen sich die Qar als zu stark und trickreich für das südmärkische Heer: Prinz Barrick und die übrige Armee werden vernichtend geschlagen. Barrick selbst wird beinah von einem Riesen getötet, doch Yasammez befiehlt, sein Leben zu schonen. Für einige kurze Augenblicke bleibt sie mit ihm allein und schickt ihn dann weg. In einer Art Trance reitet er in Richtung Schattengrenze. Ferras Vansen sieht es; als er den verwirrten Prinzen nicht aufhalten kann, begleitet er ihn, um ihn zu beschützen, wie ihm Prinzessin Briony aufgetragen hat.

Indessen nimmt Brionys Besuch bei ihrer Stiefmutter eine schreckliche Wendung, da Anissas Dienerin sich nicht nur als Kendricks Mörderin entpuppt, sondern sich abermals mit Hilfe eines magischen Steins in eine dämonische Kreatur verwandelt, um auch Briony zu töten. Dank Brionys Mut findet jedoch die Kreatur selbst den Tod. Durch den Schock setzen bei Anissa die Wehen ein.

Briony lässt ihre Stiefmutter in Chavens Obhut zurück und geht ins Verlies, um ihren Mentor Shaso zu befreien, dessen Unschuld an Kendricks Tod ja jetzt erwiesen ist. Als seine Fesseln gelöst sind, sehen sich beide jedoch plötzlich von Hendon Tolly attackiert, der das Geschehen schon die ganze Zeit manipuliert hat. Er will es so hinstellen, als ob Shaso Briony ermordet hätte, um sich selbst des Throns zu bemächtigen. Doch Briony und Shaso kämpfen sich frei, und mit Hilfe loyaler SKIMMER, Angehöriger eines wasserliebenden Volkes, das ebenfalls in Südmarksburg lebt, gelingt ihnen die Flucht. Aber Briony hat ihre Heimat in den Klauen ihrer schlimmsten Feinde zurückgelassen, ihr Bruder ist spurlos verschwunden, und Yasammez und die mörderischen Qar belagern die Burg.

ZusammenfassungBand 2– DAS SPIEL

BRIONY EDDON und ihr Zwillingsbruder BARRICK, die Erben des verschollenen Königs von Südmark, sind getrennt worden. Ihre Burg und ihr Land kontrolliert jetzt HENDON TOLLY, ein skrupelloser Verwandter. Ein Heer des rachsüchtigen Elbenvolks der QAR belagert Südmarksburg.

Nachdem sie Hendon entrinnen konnten, finden Briony und ihr Mentor SHASO in einer nahegelegenen Stadt bei einem Landsmann von Shaso Unterschlupf, doch ihre Zufluchtsstätte wird bald schon angegriffen und niedergebrannt. Briony kann als einzige entkommen, ist jetzt aber allein und ohne Unterstützung. Hungrig und krank versteckt sie sich im Wald.

Barrick, getrieben von einem inneren Drang, den er selbst nicht versteht, reitet durch die Elbenlande immer weiter nach Norden, begleitet von dem Gardehauptmann FERRAS VANSEN. Bald schon ergänzt ein dritter Reisegefährte den kleinen Trupp: GYIR DAS STURMLICHT, ein enger Gefolgsmann der Qar-Heerführerin YASAMMEZ, der von ihr beauftragt wurde, einen Spiegel – eben jenen Gegenstand, den der Knabe FLINT bei sich hatte, als er zu Füßen des Leuchtenden Mannes tief unter der Südmarksburg gefunden wurde – YNNIR, dem blinden König der Qar, zu überbringen. Doch Barrick und seine Gefährten werden von einem Monster namens KITUYIK gefangen genommen, einem Halbgott, der die Minen von Großetiefen wieder in Betrieb genommen hat, weil er darin einen Weg sieht, sich die Macht der schlafenden Götter anzueignen.

Briony Eddon begegnet der Halbgöttin LISIYA, einer Waldgottheit, deren große Zeiten längst vorbei sind. Lisiya führt Briony zu MAKSWELLS MIMEN, einer fahrenden Schauspieltruppe, die auf dem Weg nach Süden in das mächtige Königreich Syan ist. Briony schließt sich den Mimen an, sagt ihnen aber nicht, wie sie wirklich heißt und wer sie ist.

Ganz im Norden der Schattenlande, in der Elbenstadt Qul-na-Qar, liegt KÖNIGIN SAQRI im Sterben, und König Ynnir vermag ihr nicht mehr zu helfen. Seine letzte Hoffnung ist offenbar das Geschehen rund um jenen Spiegel, den gegenwärtig Gyir das Sturmlicht bei sich trägt. Dieser Spiegel und ein Abkommen, das sich auf ihn bezieht und ›Pakt des Spiegelglases‹ heißt, sind das einzige, was die rachsüchtige Yasammez und ihr Elbenheer davon abhält, Südmarksburg zu zerstören.

In der Zwischenzeit hat QINNITAN, die entflohene junge Braut SULEPIS’, des AUTARCHEN VON XIS, in Hierosol, der südlichsten Hafenstadt des Nordkontinents, ein Auskommen gefunden. Sie ahnt nicht, dass der Autarch den skrupellosen Söldner DAIKONAS VO ausgeschickt hat, sie ihm zurückzubringen, und ihn durch einen potentiell tödlichen Zauber auch aus der Entfernung zwingt, seinen Befehl zu erfüllen. Warum Qinnitan für den Autarchen so wichtig ist, bleibt ein Rätsel.

Die Qar lagern zwar immer noch vor Südmarksburg, unternehmen jedoch keinen Angriffsversuch. In der Burg hat sich der Dichter MATTY KETTELSMIT in ELAN M’CORY verliebt, Hendon Tollys unglückliche Geliebte. Als Elan merkt, dass Kettelsmit ihr ergeben ist, bittet sie ihn, ihr zu helfen, Selbstmord zu begehen. Er gibt ihr jedoch nur so viel Gift, dass sie bewusstlos wird, und schmuggelt sie dann aus dem Palast, um sie vor Hendon zu verstecken.

Tollys Macht beruht vor allem darauf, dass er sich zum Protektor des neugeborenen ALESSANDROS ernannt hat, des Sohns von König Olin und dessen zweiter Frau Anissa. Die Qar-Belagerung und sonstige Belange des Königreichs scheinen Tolly wenig zu interessieren.

Unterdessen sitzt Olin in der Stadt Hierosol im Süden des Kontinents gefangen, wo er zufällig Qinnitan sieht, die als Dienstmagd im Palast arbeitet. Er glaubt, an ihr etwas seltsam Vertrautes wahrzunehmen. Viel Zeit, dem nachzugehen, bleibt ihm jedoch nicht, da die gewaltige Flotte des Autarchen von Süden heransegelt und Hierosol belagert. Der Protektor von Hierosol, der Olin gefangen hält, übergibt ihn dem Autarchen im Tausch gegen seine eigene Unversehrtheit. Welches Interesse der Gottkönig von Xis am Herrscher eines kleinen nördlichen Landes haben könnte, ist vorerst unklar.

In Großetiefen sind Barrick Eddon und die übrigen Gefangenen des Halbgotts Kituyik dafür bestimmt, bei einem Ritual geopfert zu werden, das den Weg zu den Landen der schlafenden Götter eröffnen soll, doch der Elbe Gyir opfert sich vorher selbst, um die Wächterwesen des Halbgottes mit ihrem eigenen Sprengstoff zu vernichten. Gyir stirbt, und Vansen fällt durch ein magisches Portal ins Nichts. Barrick, der von Gyir den für König Ynnir bestimmten magischen Spiegel übernommen hat, kann sich allein aus den Minen herauskämpfen und fliehen. Mit dem Raben SKURN als einzigem Begleiter macht er sich auf die lange, einsame Reise durch die Schattenlande zur Elbenstadt Qul-na-Qar. Nur im Traum trifft Barrick zuweilen eine weitere Gefährtin – Qinnitan, der er nie leibhaftig begegnet ist, deren Gedanken aber aus irgendeinem Grund seine finden können.

Inzwischen haben Briony und die fahrenden Schauspieler Tessis erreicht, die prächtige Hauptstadt von Syan. Dort treffen sie DAWET DAN-FAAR wieder, den ehemaligen Gesandten des Protektors Ludis Drakava, der König Olin in Hierosol gefangen hielt. Doch sie werden allesamt von syanesischen Soldaten gefangen genommen, und nur Dawet kann entfliehen. Briony und die Schauspieler werden der Spionage bezichtigt. Um ihre Gefährten zu retten, offenbart Briony, wer sie wirklich ist – die Prinzessin von Südmark.

Ferras Vansen, der zunächst in scheinbar endloses Dunkel stürzte, findet sich auf einer seltsamen, traumartigen Reise durch das Land der Toten, begleitet von seinem verstorbenen Vater. Als er schließlich von dort entkommt, ist er nicht mehr jenseits der Schattengrenze, sondern in Funderlingsstadt unter der Südmarksburg. Der Hofarzt CHAVEN hält sich jetzt ebenfalls bei den Funderlingen auf, um sich vor Hendon Tolly zu verstecken.

Im fernen Hierosol fällt Qinnitan dem Häscher Daikonas Vo in die Hände, der sie zu Sulepis bringen will, doch der Autarch ist bereits aus Hierosol abgesegelt und auf dem Weg in das kleine nördliche Königreich Südmark. Außer seinem getreuen Obersten Minister PINNIMON VASH hat er auch noch einen Gefangenen bei sich – den Nordländerkönig OLIN EDDON. Daikonas Vo konfisziert ein anderes Schiff und reist seinem grausamen Herrn hinterher.

Vorspiel

Erzähl mir die Geschichte zu Ende, Vogel.« Der Rabe legte den Kopf schief. »Welche Geschichte?«

»Die vom Gott Kupilas – Krummling, wie ihr ihn hier nennt. Erzähl, Vogel. Es pisst vom Himmel, mir ist kalt, ich habe Hunger und irre in der grässlichsten Gegend der Welt herum.«

»Unsereins ist auch nass und hungrig«, rief ihm Skurn in Erinnerung. »Hat kaum was gefressen in letzter Zeit, grad mal einen zerquetschten Kokon dann und wann.«

Diese Vorstellung hob Barricks Laune auch nicht gerade. »Erzähl einfach weiter. Bitte.«

Der Rabe glättete sein verkrustetes Gefieder, jetzt schon deutlich milder gestimmt. »Na ja, wenn Ihr meint. Wo war unsereins denn stehengeblieben?«

»Wie er seine Urgroßmutter traf. Und sie wollte ihn lehren …«

»Ah ja. Weiß es jetzt wieder, unsereins. ›Ich werde dir beibringen, in den Landen der Leere zu reisen‹, sagte die Urgroßmutter zu Krummling, ›jenen Landen, die neben allen Dingen sind und an jedem Ort, so nah wie ein Gedanke und so unsichtbar wie ein Gebet.‹ War’s das, was unsereins zuletzt erzählt hat?«

»Ja, genau.«

»Könnt Euch vielleicht vorher noch was zu essen beschaffen, unsereins?« Skurn war wieder bester Dinge. »Ist voll von Pfeifmotten, dieses Stück Wald …« Er sah Barricks Gesichtsausdruck. »Nun gut, Prinz Ist-mir-alles-nicht-gut-genug – aber gebt bloß nicht Skurn die Schuld, wenn Ihr vor lauter Magenknurren mitten in der Nacht aufwacht …«

»Krummling verbrachte lange Tage an der Seite seiner Urgroßmutter Leere, lernte alles über die Geheimnisse ihres Landes und seiner Straßen und wurde noch weiser, als er ohnehin schon war. Er lernte viele Tricks, wie man im Land seiner Urgroßmutter reisen konnte, und sah viele Dinge, wenn niemand merkte, dass er hinschaute. Und wenn sein Körper auch verkrüppelt war und sein eines Bein kürzer als das andere, sodass sein Gang klang wie ein Wagen mit einem gebrochenen Rad, klicketti-klack, klicketti-klack, konnte Krummling schneller reisen als irgendwer sonst – selbst sein Vetter Trickser, den die Menschen Zosim nennen.

Trickser war der Fixeste von der ganzen Sippe der drei Brüder, der schlaue Herr der Straßen und der Dichtkunst und der Verrückten. Der clevere Trickser hatte sogar manche von Leeres Geheimnissen ganz allein herausbekommen, aber er hatte seine Urgroßmutter auch »Alte Windstimme im Brunnen« genannt, wenn er nicht ahnte, dass sie zuhörte. Daraufhin hatte sie dafür gesorgt, dass Trickser nichts mehr über ihr Land und dessen Seltsamkeiten lernte.

Krummling aber war ihrem Herzen nahe, und ihn lehrte sie alles. Je mehr Krummling lernte, je mehr Worte und Kräfte ihm zuwuchsen, desto ungerechter fand er es, dass sein Vater getötet und seine Mutter geraubt worden war, dass seine Onkel und alle seine übrigen Verwandten in der Verbannung im Himmel saßen, während die, die ihnen das angetan hatten, und vor allem die drei mächtigsten Brüder – Perin, Kernios und Erivor, wie ihr sie nennt –, auf Erden lebten und lachten und sangen. Darüber sann Krummling lange nach, bis ihm schließlich etwas einfiel – der schlauste und listigste Plan, den es je gab.

Alle drei Brüder hatten jetzt Wachen und Beschützer um sich, die über furchterregende Kräfte verfügten, also genügte ein einfacher Überfall nicht. Der Wassermann Erivor hatte Wölfe des Meeres rings um seinen Thron und Giftquallen, und außerdem waren da seine Wasserkrieger, die den ganzen grünen Tag und die ganze grüne Nacht über ihn wachten. Der Himmelsmann Perin wohnte in einem Palast auf dem höchsten Berg der Welt, umgeben von seiner Sippe, und er hatte den mächtigen Hammer Donnerschlegel, den Krummling selbst für ihn gemacht hatte und der die Welt zerschlagen konnte, wenn er nur lange genug auf sie einhämmerte. Und der Steinherr (Kernios, wie Euer Volk ihn nennt) hatte zwar nicht so viele Gefolgsleute, lebte aber in seiner Burg tief in der Erde inmitten der Toten und war bewehrt mit Tricks und Worten, die einem die Augen aus dem Kopf brennen oder die Knochen in brüchiges Eis verwandeln konnten.

Doch eine Schwachstelle hatten alle drei Brüder, und das war die Schwachstelle, die jeder Mann hat: die eigene Frau. Denn in den Augen ihrer Frauen, so heißt es ja, sind selbst die Erstgeborenen nicht besser als irgendjemand sonst.

Schon lange hatte der schlaue Krummling Freundschaftsbande zu den Frauen zweier der Brüder geknüpft: zu Nacht, die Himmelsmanns Gemahlin war, und zu Mondfrau, die von Steinmann verstoßen und dann von seinem Bruder Wassermann zur Frau genommen worden war. Beide Frauen beneideten ihre Männer um deren Freiheiten und wünschten, sie könnten auch draußen in der Welt herumlaufen, lieben, wen sie wollten, und tun, wonach ihnen der Sinn stand. Also gab Krummling jeder von beiden einen Trank, damit sie ihn ihrem Gemahl in den Weinbecher schüttete, und erklärte dazu: ›Davon werden eure Männer die ganze Nacht schlafen, ohne auch nur ein einziges Mal aufzuwachen. Und während sie in tiefem Schlaf liegen, könnt ihr tun, was euch beliebt.‹

Nacht und Mondfrau freuten sich über Krummlings Geschenk und versprachen, es noch am selben Abend zu benutzen.

Der dritte Bruder, der kalte, harte Steinmann, hatte Krummlings Mutter Blume – Zoria, wie ihr sagt – gefunden, als sie nach dem Ende des Krieges allein und verloren umherirrte. Er hatte sie mitgenommen, um sie zu seiner Frau zu machen, und seine bisherige Gemahlin Mondfrau in die Welt hinausgejagt. Steinmann hatte Krummlings Mutter einen neuen Namen gegeben, Helle Morgenröte, doch obwohl er sie mit Gold und Edelsteinen und anderen Gaben der schwarzen Erde schmückte, lächelte sie nie und sprach auch nicht, sondern saß immer nur da wie eine der Toten, über die Steinmann auf seinem dunklen Thron herrschte. Also ging Krummling jetzt im Dunkeln zu seiner Mutter und erzählte ihr von seinem Plan. Er musste nicht lügen, nicht vor ihr, die sie hatte mit ansehen müssen, wie ihr Gemahl getötet, ihr Sohn gepeinigt und ihre Familie verbannt wurde. Als er ihr den Trank gab, sagte sie immer noch nichts und lächelte auch nicht, küsste Krummling aber mit ihren kalten Lippen aufs Haupt, ehe sie sich abwandte und wieder in den endlosen Gängen von Steinmanns Haus verschwand. Nur ein einziges Mal noch sollte Krummling sie wiedersehen.

Als alles eingeleitet war, ging Krummling zuerst zu Wassermanns Haus tief drunten im Meer. Er reiste durch die Lande seiner Urgroßmutter Leere, wie sie es ihm beigebracht hatte, damit ihn niemand in Wassermanns Haus kommen sähe. Krummling glitt an den Wölfen des Meeres vorbei wie eine kalte Strömung, und wenn sie auch ahnten, dass er in der Nähe war, vermochten sie ihn doch nicht zu packen und mit ihren scharfen Zähnen in Stücke zu reißen. Ebenso wenig konnten ihn die Giftquallen stechen – Krummling schlüpfte zwischen ihnen hindurch, als wären sie nur Seerosen.

Als er schließlich Wassermann in dessen Gemach fand, von dem Trank, den ihm Mondfrau verabreicht hatte, in tiefem Betäubungsschlaf, da hielt Krummling inne, denn ihn überkam ein sonderbares Zögern. Wassermann hatte nicht mitgetan, als die anderen beiden Brüder Krummling gepeinigt hatten, und Krummling hasste ihn nicht so sehr wie Himmelsmann und Steinmann. Aber Wassermann hatte Krieg gegen Krummlings Familie geführt. Er hatte mitgeholfen, Krummlings Mutter zur Witwe zu machen, und hatte gemeinsam mit seinen Brüdern Krummlings restliche Sippe in den Himmel verbannt. Und außerdem würde, solange Wassermann auf Erden wandelte, das Blut von Feuchtes Sippe, Krummlings Feinden, fortleben. Also bestand Krummlings Gnade darin, dass er Wassermann nicht weckte, damit er seinem Los ins Auge sähe, sondern einfach nur eine Tür zu einem Teil von Leeres Landen öffnete, wo niemand je gewesen war, einem geheimen Ort, den selbst seine Urgroßmutter vergessen hatte, und den schlafenden Wassermann da hindurchstieß. Als Erivor der Wassermann aus der Welt verschwunden war, machte Krummling die Tür wieder zu.

Er verließ das unterseeische Haus auf seinen geheimen Wegen und überlegte, ob er sich Himmelsmann oder Steinmann als nächsten vornehmen sollte. Von den drei Brüdern war Himmelsmann der stärkste und grausamste, und er hatte sich zum Herrn aller Götter gemacht. Er herrschte in seinem Palast auf dem Berg namens Xandos – Stab –, und dieser Götterhof schützte ihn wirksamer als alle Mauern. Seine Söhne Jägersmann, Reitersmann und Schildträger waren fast so stark wie er, und auch seine Töchter Weisheit und Wildnis konnten fast jeden Krieger besiegen, erst recht aber einen Krüppel wie Krummling. Insofern wäre es sinnvoll gewesen, Himmelsmann in seiner gewaltigen Festung als Letzten anzugreifen.

Aber tatsächlich war es der kalte, stumme Steinmann und nicht sein zorniger Bruder, den Krummling am meisten fürchtete.

Also reiste er auf Leeres Wegen zum Berg Stab, und Feuchtes gesamte Sippe fühlte seine Gegenwart, vermochte ihn aber weder zu sehen, noch zu hören oder zu riechen. Nur Jägersmann der Scharfäugige und Wildnis die Flinkfüßige ahnten ungefähr, wo er war. Die grausame, schöne Wildnis rannte hinter Krummling her, bekam ihn aber nicht richtig zu fassen und riss nur ein Stück von seinem Hemd ab. Jägersmann schoss einen magischen Pfeil ab, der tatsächlich die verborgenen Wege erreichte, die Krummling ging, und sein Ohr kerbte, sodass ihm Blut auf die Schulter und die elfenbeinerne Hand tropfte. Doch aufhalten konnten ihn beide nicht, und gleich darauf war er in Himmelsmanns Palast, wo der Hausherr von dem Trank in tiefem Schlaf lag.

›Wach auf!‹, schrie er den schlafenden Himmelsmann an. Sein Feind sollte wissen, was ihm geschah, und durch wen.

›Wach auf, Poltermaul – dein Ende ist da!‹

Himmelsmann war sehr stark, auch nach Krummlings Trank noch. Er sprang von seinem Lager auf, ergriff seinen mächtigen Hammer Donnerschlegel, der so groß war wie ein Heukarren, und schwang ihn. Doch er verfehlte Krummling und zerschmetterte sein eigenes Riesenbett.

›Mach dir nichts draus‹, erklärte ihm Krummling. ›Dieses Bett brauchst du nicht mehr. Bald wirst du in einem anderen schlafen – einem kalten Bett an einem kalten Ort.‹

Himmelsmann brüllte Krummling an, er sei ein Verräter, und schleuderte dann seinen Hammer mit der ganzen Kraft seines mächtigen Arms. Wäre ein anderer als Krummling sein Ziel gewesen, ganz gleich, ob Gott oder gewöhnlicher Mann, hätte ihn Donnerschlegel in Stücke gehauen und die Stücke zu Kohle verbrannt. Doch der Hammer verharrte mitten im Flug.

›Glaubst du, ich würde dir eine Waffe schmieden, die du gegen mich gebrauchen könntest?‹, fragte ihn Krummling. ›Du nennst mich einen Verräter, aber du hast meinen Vater – deinen eigenen Bruder – heimtückisch angegriffen und getötet. Jetzt bekommst du, was du verdienst.‹

Und Krummling kehrte Himmelsmanns Hammer gegen den Gott selbst, und das Dröhnen der Schläge war wie Donnerhall. Himmelsmann Perin rief nach seiner Familie und seinen Gefolgsleuten, damit sie ihm zu Hilfe kämen. Alle, die auf dem Berg Stab wohnten, eilten herbei. Doch Krummling öffnete eine Tür zu Leeres Landen, und ehe Himmelsmann noch ein Wort sagen konnte, hieb er wieder mit dem gewaltigen Hammer nach ihm und schleuderte ihn in die offene Tür.

Leeres Lande zogen an Himmelsmann wie ein Windsog, aber Himmelsmann hielt sich mit aller Kraft seiner mächtigen Hände am Fußboden fest. Er ließ nicht los, vermochte sich aber auch nicht aus Leeres Reich wieder in die Welt zu ziehen. Als Krummling das sah, lächelte er, ging zurück zur Tür von Himmelsmanns Gemach, öffnete sie und versteckte sich dahinter. Alle übrigen Götter und Göttinnen des Berges, Weisheit und Schildträger und die ganze Sippe, stürmten herein. Als sie ihren Herrn in solcher Gefahr sahen, rannten sie zu ihm, packten ihn an den Armen und wollten ihn wieder hereinziehen, doch Leeres Zauber war so stark, dass sie nicht dagegen ankamen. Während sie sich mühten, trat Krummling aus seinem Versteck und zu dem dürren Gott Greistum, der zuhinterst stand. Greistum hatte Himmelsmann gar nicht zu fassen bekommen, aber er zog an Weisheit, die an Jägersmann zog, der wiederum Himmelsmanns Hand umklammerte.

›Ich erinnere mich wohl, wie du auf den Leichnam meines Vaters gespuckt hast‹, sagte Krummling zu Greistum, hob dann die bronzene Hand und die elfenbeinerne Hand und gab dem Alten einen Stoß. Greistum stolperte vorwärts und fiel gegen Weisheit, die wiederum gegen Jägersmann fiel, und die ganze Schar, die ihrem Herrn zu Hilfe geeilt war, taumelte in Leeres Lande. Da löste sich auch Himmelsmanns Griff, und sie stürzten ins kalte Dunkel, alle miteinander.

Krummling lachte, als er sie fallen sah, lachte noch lauter, als sie brüllten und Verwünschungen ausstießen, und lachte am allerlautesten, als sie verschwunden waren. Er hatte lange an all dem Bösen getragen, das sie ihm getan hatten, und verspürte kein Mitleid.

Einer von Himmelsmanns Sippe jedoch war nicht herbeigeeilt, um seinem Herrn zu helfen. Das war Trickser, der nie etwas tat, was er anderen überlassen konnte. Als er sah, was geschehen war – dass Himmelsmann, der stärkste aller Götter, besiegt und verbannt worden war –, da bekam Trickser es mit der Angst. Er rannte aus dem Palast der Götter, seinen Vater Steinmann zu warnen.

Und als Krummling schließlich von dem hohen Berg Xandos hinabstieg und zu Steinmanns Haus lief, war der flinke Trickser schon vor ihm dort angelangt. Krummling hatte nicht wie geplant die Überraschung auf seiner Seite, und als er ans mächtige Tor von Steinmanns Haus kam, fand er es verschlossen und verriegelt und von vielen Kriegern bewacht. Doch das konnte Krummling nicht aufhalten. Auf Wegen, die nur er und seine Urgroßmutter kannten, stahl er sich an den Kriegern vorbei, bis er schließlich vor dem Gemach von Steinmann selbst stand. Trickser hatte seinen Vater gewarnt und wollte sich gerade davonschleichen, aber Krummling stellte ihn, und es kam zum Kampf. Krummling packte Trickser um die Kehle und ließ nicht wieder los. Trickser verwandelte sich in einen Stier, eine Schlange, einen Falken und selbst in eine Flamme, doch Krummling ließ ihn immer noch nicht los. Schließlich gab Trickser auf, nahm wieder seine eigentliche Gestalt an und bettelte um sein Leben.

›Ich habe ja versucht, deine Mutter zu retten‹, winselte Trickser. ›Ich habe versucht, ihr zur Flucht zu verhelfen. Und ich war doch immer dein Freund! Als alle anderen gegen dich waren, habe ich für dich gesprochen. Und als sie dich verjagten, habe ich dich da nicht aufgenommen und dir Wein zu trinken gegeben?‹

Krummling lachte. ›Du wolltest meine Mutter für dich, und du hättest sie dir genommen, wäre sie nicht geflohen. Du hast nicht für mich gesprochen, du hast für niemanden Partei ergriffen – so machst du es immer, damit du dich dann auf die Seite des Siegers schlagen kannst. Und mich aufgenommen und mir Wein gegeben hast du nur, um mich betrunken zu machen und aus mir herauszubekommen, wie man all die magischen Dinge macht, die ich für Himmelsmann und die anderen gefertigt hatte, aber meine Elfenbeinhand hat mich beschützt, indem sie den Becher zerbrach, deshalb scheiterte dein Plan.‹ Er hob Trickser am Hals hoch und trug ihn in Steinmanns Gemach. Krummling fürchtete den Herrn der dunklen Erde immer noch, aber er wusste, dass er es so oder so zu Ende bringen wollte.

Steinmann Kernios traute niemandem, deshalb hatte er den Trank von Krummlings Mutter nicht getrunken. Er stand bereit, in seiner fürchterlichen grauen Rüstung, den schrecklichen Speer Erdstern in der Hand. Er war im Vollbesitz seiner Kräfte und in seinem eigenen Palast. Doch vor allem hatte er noch eine weitere Waffe, und als Krummling auf Leeres Wegen sein Gemach betrat, zeigte er sie ihm.

›Hier ist deine Mutter‹, sagte Steinmann, ›die ich in mein Haus aufgenommen habe und die es mir mit Verrat vergolten hat.‹ Steinmann hielt Helle Morgenröte fest gepackt, die Speerspitze an ihrer Kehle. ›Wenn du dich mir nicht ergibst und dich nicht mit eben jenen Zaubern Leeres, die dir erlaubten, meine Brüder zu töten, hier und jetzt selbst bindest, wird sie vor deinen Augen sterben.‹

Krummling rührte sich nicht. ›Deine Brüder haben mehr Gnade erfahren, als sie meiner Familie zuteilwerden ließen. Sie sind nicht tot, sie schlafen nur in kalten, leeren Landen, wie auch du es bald tun wirst.‹

Steinmann lachte. Sein Lachen, so heißt es, war wie Wind aus einer Gruft. ›Und das soll besser sein als der Tod? Für immer im Leeren zu schlafen? Wie dem auch sei, dir wird solche Gnade, wie du es nennst, nicht zuteilwerden. Du wirst dich selbst vernichten, oder aber deine Mutter wird ihr Leben lassen, und dann töte ich dich ohnehin.‹

Krummling hob Trickser hoch, der noch immer im Griff seiner Bronzehand um Atem rang. ›Und was ist mit deinem Sohn?‹

Steinmanns Stimme war wie das garstige Grollen eines Erdbebens. ›Ich habe viele Söhne. Wenn ich überlebe, kann ich noch weitere zeugen. Wenn nicht, ist mir gleich, wer mich überlebt. Mach, was du willst.‹ Krummling warf Trickser von sich. Eine ganze Weile sahen er und Steinmann sich an wie Wölfe, die sich über einem erlegten Tier belauern, beide nicht willens, den ersten Schritt zu tun. Da fasste Krummlings Mutter plötzlich mit zitternden Händen die scharfe Speerspitze, schnitt sich damit selbst die Kehle durch und sank in einem Blutschwall auf den Boden von Steinmanns Gemach.

Steinmann zögerte nicht. Während Krummling noch auf seine Mutter starrte, die am Boden ihr Leben aushauchte, warf der Herr der schwarzen Erde den mächtigen, blutverschmierten Speer genau auf Krummlings Herz. Krummling versuchte, Erdstern zu gebieten, aber Steinmann hatte die Waffe mit seinen eigenen mächtigen Zauberworten belegt, und Krummling hatte keine Gewalt über sie. Ihm blieb gerade noch die Zeit, einen Schritt zur Seite zu tun, in Leeres Lande. Der Speer flog an ihm vorbei und traf die Wand mit solcher Wucht, dass der halbe Palast einstürzte und alle Lande ringsum erzitterten und erbebten.

Als Krummling wieder aus Leeres Straßen hervortrat, stürzte sich Steinmann auf ihn. Sie rangen lange Zeit, während um sie herum der Palast zusammenbrach. So gewaltig war ihre Stärke und so erbittert ihr Ringen, dass das Gestein der Erde selbst zertrümmert und zermalmt wurde, die Felsgipfel herabstürzten und zu Staub zerfielen, das Land sich senkte und das Meer von allen Seiten hereinbrach, sodass sie schließlich auf einer Steininsel mitten im Wasser kämpften.

Schließlich hielten sie sich gegenseitig an der Kehle. Steinmann war stärker, und Krummling blieb nichts anderes übrig, als wieder in die Wege des Dunkels zu entweichen, aber Steinmann ließ nicht los und wurde mitgerissen. Während sie durchs Leere stürzten, bog Steinmann Krummlings Rücken durch, bis er ihm beinah das Rückgrat brach. Krummling konnte nicht mehr atmen und nicht mehr denken, so mörderisch war Steinmanns Griff.

›Jetzt schau mir in die Augen‹, sagte Steinmann. ›Dann wirst du ein Dunkel sehen, das größer ist als alles, was Leere je erschaffen oder auch nur erdenken könnte.‹

Beinah wäre das Krummlings Ende gewesen, denn hätte er dem Herrn der Schwarzen Tiefen in die Augen gesehen, wäre er in den Tod hinabgezogen worden, doch er wandte den Blick ab und grub die Zähne in Steinmanns Hand. Das war ein solcher Schmerz, dass Steinmann seinen Griff lockerte und Krummling ihn ganz abschütteln konnte. Und Steinmann fiel und fiel ins trübe, kalte Dunkel.

Krummling wanderte eine Zeitlang benommen und verwirrt in den entlegensten Teilen von Leeres Landen umher, doch schließlich fand er zu Steinmanns Haus zurück, wo der Leichnam seiner Mutter lag. Er sank neben ihr auf die Knie, merkte dann aber, dass er nicht weinen konnte. Stattdessen berührte er die Stelle, wo sie ihn geküsst hatte, beugte sich dann über die Tote und küsste ihre kalte Wange.

›Ich habe die vernichtet, die dich vernichtet haben‹, erklärte er ihrem reglosen Körper.

Ohne Vorwarnung durchfuhr ihn ein schrecklicher Schmerz, als Steinmanns mächtiger Speer sich in seine Brust bohrte. Krummling kam taumelnd auf die Beine. Trickser trat aus dem Schattendunkel, wo er sich versteckt hatte. Der Gott der boshaften Streiche lachte und sprang fröhlich umher.

›Und jetzt habe ich dich vernichtet‹, rief Zosim der Trickser. ›Alle Großen außer mir sind tot, und ich allein herrsche jetzt über die ganze Welt und die sieben mal sieben Berge und die sieben mal sieben Meere!‹

Krummling griff mit der Bronzehand und der Elfenbeinhand an den Speer Erdstern, der ihn gefällt hatte. Die mächtige Waffe ging in Flammen auf und verbrannte zu Schlacke. ›Ich bin nicht vernichtet‹, sagte Krummling, obgleich schwerverwundet. ›Noch nicht … noch nicht …‹«

Erst als sich das Schweigen so lange hinzog, dass er schon merkte, wie er einnickte, sah Barrick auf. »Vogel? Skurn? Was geschah dann?« Er riss die Augen auf. »Wo bist du?«

Gleich darauf kam ein überwiegend schwarzes Etwas mit schwerem Flügelschlag aus dem ewiggrauen Himmel herab, im Schnabel irgendein grässliches Gezappel.

»Mmm«, sagte das schwarze Etwas, während ihm noch die Mehrzahl der Beine vergeblich strampelnd aus dem Schnabel hing. »Fein. Erzählt es Euch später zu End, unsereins. Hat nämlich ein ganzes Nest von denen hier entdeckt. Schmecken genau wie tote Maus, eh sie zu aufgebläht ist und platzt. Soll unsereins Euch auch ein, zwei davon holen?«

»O Götter«, stöhnte Barrick und wandte sich angeekelt ab. »Wo immer ihr seid, ob lebendig oder tot, bitte, gebt mir Kraft.«

Für so viel Dummheit hatte der Rabe nur ein verächtliches Schnauben. »Um Kraft zu beten, reicht nicht. Essen muss man, wenn man bei Kräften bleiben will.«

ERSTER TEILDer Schleier

1 Nur eine Theaterkrone

Soweit ich feststellen konnte, gibt es auf den beiden Kontinenten und den Inseln des Meeres keinen Winkel, wo man sich nicht von Elbenvölkern erzählte. Ob das jedoch heißt, dass diese Wesen einst überall lebten, oder ob nur die Menschen die Überlieferung an die jeweiligen Orte mitbrachten, vermag niemand zu sagen.

Eine Abhandlung über die Elbenvölker Eions und Xands

Die Tempelglocke läutete zum Mittagsgebet. Briony hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen – sie war schon eine Stunde später dran als versprochen, hauptsächlich wegen Lord Jino und seinen endlosen raffinierten Fragen.

»Bitte, Mylord«, erklärte sie im Aufstehen, »es tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich zu meinen Freunden.« Nach all den Monaten bei der fahrenden Schauspieltruppe war es so schwer, sich wieder wie eine Prinzessin zu bewegen und zu benehmen – es fühlte sich mindestens so gespielt an wie jede der Rollen, die sie bei Makswells Mimen verkörpert hatte. »Ich ersuche Euch inständig um Verzeihung.«

»Mit Freunden meint Ihr die Schauspieler?« Erasmias Jino zog eine sorgsam gezupfte Augenbraue hoch. Der syanesische Hofadlige sah aus wie ein Geck, aber das war nur die hiesige Mode: Jino war bekannt für seinen scharfen Verstand und hatte zudem drei Männer bei vom Ehrengericht verfügten Duellen getötet. »Hoheit, Ihr wollt doch gewiss nicht weiterhin so tun, als könntet Ihr mit solchen … Leuten tatsächlich befreundet sein. Sie haben Euch ermöglicht, unerkannt zu reisen – eine clevere List, wenn man sich auf gefährlichen Straßen durch ein unsicheres Land fortbewegen muss –, doch die Zeiten dieser Tarnung sind vorbei.«

»Dennoch muss ich sie treffen. Es ist meine Pflicht.« Sie musste zugeben: An dem, was er sagte, war etwas dran. Sie hatte die Schauspieler nie wie richtige Freunde behandelt, sondern alles Wichtige über ihre Person für sich behalten. Die Mimen hatten sie in ihr Leben eingelassen, aber Briony Eddon hatte diese Offenheit nicht erwidert: Sie waren ehrlich zu ihr gewesen, sie umgekehrt ganz und gar nicht.

Nun ja, die meisten waren ehrlich gewesen. »Wenn ich es recht verstehe, habt Ihr sie alle freigelassen bis auf Finn Teodorus. Er hat behauptet, Botschaften von Lord Brone für Euren König zu haben. Ich bin Avin Brones rechtmäßige Herrscherin, und er hätte mir diese Botschaften niemals vorenthalten, das weiß ich. Also würde ich sie gern hören.«

Jino lächelte und kämmte sich mit den Fingern durch den Bart. »Mag sein, dass Ihr sie hören werdet, aber diese Entscheidung, Prinzessin Briony, liegt bei meinem Herrn, König Enander; er wird Euch heute noch zu sich rufen.« Die Nennung der beiden Titel in einem Satz war kein Zufall: Jino erinnerte sie daran, dass sie selbst dann im Rang unter dem syanesischen König stünde, wenn sie in ihrem eigenen Land wäre – was sie nicht war.

Lord Jino erhob sich mit einer Grazie, um die ihn die meisten Frauen beneidet hätten. »Kommt. Ich bringe Euch jetzt zu den Schauspielern.«

Vater weg, Kendrick weg, Barrick … Sie versuchte die Tränen, die plötzlich auf ihrem Lidrand zitterten, am Herabrinnen zu hindern. Shaso und jetzt auch noch Dawet. Alle weg, die meisten tot – wenn nicht gar alle … Sie versuchte sich zu fassen, ehe der syanesische Hofadlige etwas merkte. Und jetzt muss ich mich auch noch von Makswells Mimen verabschieden. Es war ein seltsames Gefühl, diese Einsamkeit. Bisher hatte sie Einsamkeit immer als etwas Vorübergehendes betrachtet, etwas, das es auszuhalten galt, bis sich die Umstände wieder normalisierten. Jetzt hatte sie zum ersten Mal das Gefühl, dass es vielleicht gar nichts Vorübergehendes war, dass sie womöglich lernen musste, so zu leben, hoch erhobenen Hauptes wie eine Statue, hart wie Stein, aber inwendig hohl. Gänzlich hohl …

Jino führte sie durch den Palast, dann durch einen der großen Gärten von Weithall und in einen stillen Wandelgang, der sich eine der hohen Palastmauern entlangzog. So eine riesige Anlage – der Palast allein schon so groß wie ganz Südmarksburg und Südmarkstadt zusammen. Und sie kannte hier keine Menschenseele, hatte niemanden, dem sie vertrauen konnte …

Verbündete. Ich brauche Verbündete in diesem fremden Land.

Die Mitglieder der südmärkischen Theatertruppe saßen auf einer Bank in einem fensterlosen Gelass, unter den wachsamen Blicken mehrerer Bewaffneter. Die meisten schienen ohnehin schon verängstigt, und Briony vor sich zu sehen, jetzt offiziell als ihre rechtmäßige Regentin ausgewiesen und in den kostbaren Gewändern, die ihr Jino beschafft hatte, machte es nicht gerade besser. Estir Makswell, deren letzte Worte zu Briony wütend und hässlich gewesen waren, erbleichte sogar und duckte sich, als rechnete sie damit, geschlagen zu werden. Von all den Schauspielern auf der Bank wirkte nur der junge Feival nicht eingeschüchtert. Er musterte sie von Kopf bis Fuß.

»Na, die haben Euch ja fein ausstaffiert!«, sagte er anerkennend. »Aber steht grade, Mädel, und tragt die Kleider, als wärt Ihr die Figur!«

Briony musste unwillkürlich lächeln. »Ich glaube, ich hab’s verlernt.«

Der lüsterne Nevin Kennit betrachtete sie ebenfalls staunend. »Bei den Göttern, es ist wirklich wahr. Welch ein Gedanke – wenn ich mich nur etwas mehr bemüht hätte, hätte ich eine leibhaftige Prinzessin pudern können!«

Estir Makswell schnappte nach Luft. Ihr Bruder Pedder fiel von der Bank, und zwei Wachen senkten die Hellebarden, für den Fall, dass dies der Beginn eines allgemeinen Aufruhrs war. »Heilige Zoria, bewahre uns!«, rief Estir heiser und starrte auf die scharfen Hellebardenblätter. »Kennit, du Narr, du bringst uns noch alle aufs Schafott!«

Briony musste innerlich lächeln, hatte aber das Gefühl, vor Jino und den Wachen keinen allzu vertrauten Umgang mit den Schauspielern an den Tag legen zu dürfen. »Seid versichert, dass, sollte ich empört sein, allein Kennit den Preis für seine unbezähmbare Zunge zu zahlen hätte.« Sie sah den Stückeschreiber streng an. »Und wenn ich die Anklageschrift gegen ihn verläse, würde ich damit beginnen, wie er einmal meinen Bruder und mich ›die Zwillingswelpen, gezeugt vom Windspiel Dünkel mit der läufigen Hündin Dummheit‹ nannte. Oder vielleicht auch mit seiner Äußerung über meinen verschleppten Vater, er sei ›Ludis Drakavas königliches Arschspielzeug‹. Ich denke doch, jeder dieser Punkte würde genügen, um den Scharfrichter seines Amtes walten zu lassen.«

Nevin Kennit stöhnte etwas zu laut, um einen überzeugenden reuigen Sünder zu geben – der Mann war entweder ziemlich furchtlos oder vom jahrelangen Trinken abgestumpft. »Seht ihr?«, wandte er sich an seine Gefährten. »Das hat man von Jugend und Nüchternheit. Ihr Gedächtnis ist entsetzlich gut. Welch Fluch, nie auch nur die kleinste törichte Bemerkung zu vergessen. Hoheit, ich bemitleide Euch.«

»Ach, haltet den Mund, Kennit«, sagte Briony. »Ich werde Euch nicht für Dinge zur Verantwortung ziehen, die Ihr gesagt habt, als Ihr nicht wusstet, wer ich bin, aber Ihr seid nicht halb so charmant oder brillant, wie Ihr Euch einbildet.«

»Danke, Hoheit.« Der Stückeschreiber und Schauspieler deutete eine Verbeugung an. »Da ich eine recht hohe Meinung von mir habe, belässt mir das immer noch ein formidables Maß an Charme.«

Briony konnte nur den Kopf schütteln. Sie wandte sich an Dowan, den sanften Riesen, den sie besonders gern hatte. »In Wahrheit bin ich nur gekommen, um mich von euch allen zu verabschieden. Ich werde mein Bestes tun, damit sie Finn bald freilassen.«

»Dann ist es also wirklich wahr?«, fragte Dowan Birk. »Ihr seid wirklich … die, von der sie sagen, dass Ihr’s seid, Fräulein? Hoheit?«

»Ich fürchte ja«, sagte sie. »Ich wollte Euch nicht belügen, aber ich hatte Angst um mein Leben. Ich werde nie vergessen, wie freundlich Ihr zu mir wart.« Sie wandte sich an die übrigen und brachte selbst für Estir ein Lächeln auf. »Ihr alle. Ja, selbst Meister Kennit, obwohl in seinem Fall die Freundlichkeit mit Lüsternheit und der unerschöpflichen Begeisterung für den Klang seiner eigenen Stimme gepaart war.«

»Ha!« Pedder Makswell rappelte sich wieder hoch, jetzt schon besserer Dinge. »Wieder ein Treffer für sie, Kennit.«

»Was kümmert’s mich«, sagte der Stückeschreiber obenhin. »Wo doch die Herrscherin aller Südmärker erklärt hat, dass ich die Hälfte des Charmes des charmantesten Mannes der Welt mein eigen nenne.«

»Aber ich bin nicht die Herrscherin aller Südmärker.« Briony sah zu Erasmias Jino hinüber, der der gesamten Vorstellung mit einem höflichen Lächeln gefolgt war, wie ein Theaterzuschauer, der am Vorabend Besseres gesehen hatte. »Und deshalb dürft ihr nicht dorthin zurück – noch nicht.« Sie wandte sich an den syanesischen Adligen: »Die Nachricht, dass ich hier bin, wird doch nach Südmark gelangen?«

Er zuckte die Achseln. »Wir werden es nicht geheim halten – wir stehen nicht im Krieg mit Eurem Land, Prinzessin. Ja, uns hat man gesagt, Tolly schütze nur den Thron bis zur Rückkehr Eures Vaters … oder wohl auch der Euren.«

»Das ist gelogen. Er wollte mich töten.«

Jino hob die Hände. »Sicher habt Ihr recht, Prinzessin Briony. Aber es ist … kompliziert.«

»Seht ihr?«, fragte sie jetzt wieder die Schauspieler. »Deshalb müsst ihr hier in Tessis bleiben, zumindest, bis ich genauer weiß, was ich tun werde. Spielt eure Stücke. Ich fürchte allerdings, für die Rolle der Zoria werdet ihr euch eine andere Schauspielerin suchen müssen.« Sie lächelte wieder. »Es dürfte gewiss nicht schwer sein, eine bessere zu finden.«

»Eigentlich fand ich, Ihr macht Euch ganz gut«, erklärte Feival. »Nicht so gut, dass sie mich vergessen würden, Zosim und den anderen Göttern sei Dank, aber doch ganz ordentlich.«

»Was er sagt, stimmt«, pflichtete ihm Dowan Birk bei. »Ihr könntet immer noch eines Tages eine große Schauspielerin werden, wenn Ihr nur ein wenig daran arbeiten würdet.« Er sah sich um und wurde rot, als die anderen lachten.

Briony aber lachte nicht. Es gab ihr einen Stich, ihn so reden zu hören, als könnte es für sie ein Leben geben, in dem alles anders wäre, eins, das sie leben könnte, wie sie wollte – denn das war ganz und gar unmöglich. »Dank Euch, Dowan.« Sie erhob sich. »Habt keine Sorge – wir werden bald eine Unterkunft für euch finden.« Und bis dahin konnte Briony die Schauspieler in ihrer Nähe behalten und über die Idee nachdenken, die ihr gekommen war. »Also, lebt wohl bis zu unserem nächsten Treffen.«

Als die Schauspieler von zwei Wachen hinausgeführt wurden, löste sich Kennit aus dem Grüppchen und kam noch einmal zu Briony zurück. »Um ehrlich zu sein«, flüsterte er, »in dieser Rolle gefallt Ihr mir besser, Kind. Ihr spielt den Part einer Herrscherin höchst überzeugend. Bleibt dabei, und ich prophezeie Euch glänzende Kritiken.« Er gab ihr einen flüchtigen, von Weindunst begleiteten Kuss – wie war er an Wein gekommen, fragte sie sich, hier in König Enanders Gewahrsam? –, ehe er den anderen nach draußen folgte.

»Nun denn«, sagte Jino, »das war ja alles höchst … interessant. Irgendwann müsst Ihr mir erzählen, wie es ist, mit solchen Leuten zu reisen. Doch jetzt erwartet Euch eine gehobenere Vorstellung – eine Hofsondervorstellung, könnte man sagen.«

Es dauerte einen Moment, bis sie verstand, was er meinte. »Der König?«

»Richtig, Hoheit. Seine erhabene Majestät, der König von Syan, wünscht Euch zu sehen.«

Briony wäre unter den ersten gewesen, die zugaben, dass der Thronsaal zu Hause in Südmark zwar würdevoll und beeindruckend war, doch keineswegs ehrfurchtgebietend. Die Decke zierten kostbare alte Steinmetzarbeiten, aber die waren in dem dunklen Raum schwer zu erkennen, außer an Festtagen, wenn alle Kerzen brannten. Der Saal war hoch, doch nur im Vergleich zu den übrigen Räumen der Burg – in vielen vornehmen Häusern der Markenlande gab es höhere Säle. Und die Buntglasfenster, die einst ihre kindliche Vorstellung vom Himmel geprägt hatten, waren noch nicht mal so schön wie die des großen Trigonatstempels in der äußeren Befestigungsanlage, jenseits des Rabentors. Dennoch hatte Briony immer geglaubt, ihr Zuhause könne sich nicht groß von den anderen Herrscherpalästen Eions unterscheiden. Ihr Vater war schließlich König, und sein Vater und Großvater waren ebenfalls Könige gewesen – die Herrscherlinie ging viele Generationen zurück. Viel prächtiger konnten die Monarchen von Syan, Brenland und Perikal auch nicht leben, hatte sie gedacht. Doch hier im berühmten Weithallpalast waren ihr diese Illusionen schnell genommen worden.

Seit ihrer Gefangennahme, seit dem Moment, da die von Soldaten umgebene Kutsche das Fallgitter und das Tor passiert hatte und in den Palasthof eingefahren war, fühlte sie sich wie ein dummes Kind. Wie hatte sie je glauben können, ihre Familie sei etwas anderes als schlichter Provinzadel – genau wie die stumpfsinnigen ländlichen Barone an ihrem Hof, über die sie und Barrick sich immer lustig gemacht hatten? Und jetzt stand sie neben Jino hier im Thronsaal, dem riesigen Raum, der jahrhundertelang das Herz des gesamten Kontinents gewesen war und immer noch das Machtzentrum eines der mächtigsten Länder der Welt war, und ihre naive Anmaßung von einst steckte ihr in der Kehle wie ein Hühnerknochen.

Allein schon die Größe des Weithall-Thronsaals! Er war doppelt so hoch wie der größte Tempel Südmarks, die Decke bemalt und mit so wundervollen, bis ins kleinste Detail meisterlich gestalteten Steinreliefs geschmückt, als hätte ein ganzes Funderlingsvolk hundert Jahre daran gearbeitet. (Und genau so verhielt es sich auch, wie sie später herausfinden sollte, nur dass die Syanesen ihr Kleines Volk Kallikan nannten.) Jedes der in leuchtenden Farben prangenden Fenster wirkte so groß wie das Basiliskentor zu Hause in Südmark, und es waren Dutzende, sodass der ganze Saal von Regenbogen gekrönt schien. Der Boden war ein wirbelndes Muster aus schwarzen und weißen Marmorquadraten, ein kompliziertes, rundes Mosaik namens Perinsauge – weltberühmt, wie ihr Erasmias Jino erklärte, als er sie darüberführte. Sie folgte ihm, vorbei an dem riesigen, leeren Thron und den gepanzerten Rittern in Blau, Rot und Gold, die feierlich an den mächtigen Wänden des Thronsaals standen, so reglos und stumm wie Statuen.

»Ihr müsst mir irgendwann gestatten, Euch die Gärten zu zeigen«, sagte der Marquis. »Gewiss, der Thronsaal ist prächtig, aber die königlichen Gärten sind wirklich außergewöhnlich.«

Ich verstehe, was du sagen willst, Mann – so sieht ein richtiges Königreich aus. Ihr heiter-gelassener Gesichtsausdruck verriet nichts, aber Jinos hochmütige Art setzte ihr zu. Du hältst nicht viel von Südmark und unseren kleinen Problemchen und willst mich daran erinnern, was wahre Macht und Größe sind. Ja, ich habe verstanden. Du denkst, die Krone meiner Familie ist nicht mehr wert als die Theaterkrone aus Holz und Goldfarbe, die ich auf der Bühne getragen habe.

Aber der Mut und der Geist eines Königreichs sind nicht klein, nur weil das Königreich klein ist, dachte sie.

Jino führte sie ans andere Ende des Thronsaals, zu einer Tür, flankiert von Wachen in ähnlichem Blau und Rot wie das der Ritter entlang der Wände. »Das Kabinett des Königs«, sagte Jino, als er die Tür öffnete und sie mit einer Handbewegung zum Eintreten aufforderte. Ein Herold in einem himmelblauen Heroldsrock mit dem berühmten syanesischen Wappen – Schwert und blühender Mandelzweig – fragte sie nach Rang und Namen und stieß dann mehrmals seinen Stab mit dem goldenen Heroldssymbol auf den Boden.

»Briony te Meriel te Krisanthe M’Connord Eddon, Prinzregentin der Markenlande«, verkündete er so beiläufig, als wäre sie an diesem Tag bereits die vierte oder fünfte Prinzessin, die durch diese Tür trat. Und vielleicht war sie das ja tatsächlich: Zwei, drei Dutzend Wachen, Diener und hübsch gekleidete Höflinge füllten den prächtig ausgestatteten Raum, und wenn auch viele herblickten, zeigte doch kaum einer größeres Interesse.

»Ah, natürlich, Olins Kind!«, sagte der bärtige Mann auf der hochlehnigen Polsterbank und winkte sie näher heran. Er war streng und dunkel gekleidet und hatte eine tiefe, kräftige Stimme. »Ich erkenne seine Züge in Euren. Welch unerwartetes Vergnügen.«

»Danke, Majestät.« Briony knickste. Enander Karallios war der mächtigste Herrscher Eions und sah auch so aus. Er hatte in den letzten Jahren etwas Fett angesetzt, trug es aber, groß und stattlich wie er war, mit Würde. Sein Haar war noch fast schwarz, nur mit wenigen grauen Fäden durchwirkt, und sein Gesicht war, obgleich von Fleischpolstern gerundet, doch immer noch imposant: die Stirn hoch, die Augen weit auseinanderliegend, die Nase ausgeprägt, sodass man durchaus verstehen konnte, warum er in jüngeren Jahren als überaus gutaussehender Prinz gegolten hatte. »Kommt, Kind, setzt Euch. Wir freuen uns, Euch zu sehen. Euer Vater ist uns lieb und teuer.«

»Ganz Eion ist er lieb und teuer«, sagte die Frau in dem wunderschönen, perlenbestickten Kleid neben ihm. Das musste Ananka te Voa sein, dachte Briony, schon von Hause aus eine mächtige Edelfrau, zudem und vor allem aber als Geliebte von Königen bekannt. Briony schockierte es etwas, sie so offen an Enanders Seite sitzen zu sehen. Die zweite Gemahlin des Königs war vor einigen Jahren gestorben, doch dem Klatsch zufolge, den Briony bei Makswells Mimen mitbekommen hatte, war diese Ananka erst vor kurzem aufgetaucht, nachdem sie ihren vorherigen Geliebten Hesper, den König von Jael und Jellon, verlassen hatte.

Hesper, der elende Verräter …!

Beim Gedanken an ihn hätte Briony beinah mitten im Hofknicks das Gleichgewicht verloren. Es gab nur wenige Menschen auf der Welt, die Briony unter der Folter leiden sehen wollte, aber Hesper war einer davon. Sie fragte sich, ob Ananka an Hespers Seite gesessen hatte, als der auf die Idee verfallen war, Brionys Vater Olin gefangen zu nehmen und an Ludis Drakava zu verkaufen. Wenn sie in die harten, stechenden Augen dieser Frau sah, schien ihr das nur zu leicht vorstellbar.

»Ihr seid beide sehr gütig«, sagte Briony, um einen ruhigen, festen Ton bemüht. »Mein Vater hat stets mit höchster Achtung und Zuneigung von Euch gesprochen, König Enander.«

»Und wie geht es ihm? Habt Ihr Nachricht von ihm erhalten?« Enander spielte an irgendetwas auf seinem Schoß herum, was sie ablenkte. Bei näherem Hinsehen erkannte sie ein Paar glänzende Äuglein, das unter seinem schweren Samtärmel hervorlugte. Es war ein kleines Tier, ein winziges Hündchen oder ein Frettchen.

»Ein paar Briefe, ja, aber seit ich Südmark verlassen habe nichts mehr.« Sie fragte sich, was die beiden dachten. Sie verhielten sich, als wäre das hier irgendeine Audienz – wussten sie denn nicht über ihre Situation Bescheid? »Eurer Majestät ist zweifellos bekannt, dass ich … nun, sagen wir, meine Heimat nicht aus freien Stücken verlassen habe. Einer meiner Untertanen … nein, ein Untertan meines Vaters, Hendon Tolly, bemächtigte sich auf verräterische Art des Throns der Markenlande. Ich habe ihn im Verdacht, meinen Bruder umgebracht zu haben und seinen eigenen ebenfalls.« Kendricks Ermordung war zwar in Wahrheit das einzige dieser Verbrechen, das sie Hendon Tolly nicht mit letzter Sicherheit anlasten konnte, doch dass er beim Tod seines Bruders Gailon die Hand im Spiel gehabt hatte, hatte er selbst zugegeben.

»Wie Ihr vermutlich wisst, sagt Lord Tolly anderes«, erwiderte Enander mit einem Gesichtsausdruck, als wäre ihm die Situation unangenehm. »Wir können nicht Partei ergreifen – nicht, ohne mehr zu wissen. Das werdet Ihr sicher verstehen. Lord Tolly behauptet, Ihr wärt davongelaufen und er schütze lediglich Olins letzten verbleibenden Erben, den kleinen Alessandros. So heißt der Junge doch?«, fragte er Ananka.

»Alessandros, ja.« Sie wandte sich wieder Briony zu. »Armes Kind!« Ananka war hübsch, benutzte aber zu viel Puder – er unterstrich die Falten in ihrem mageren Gesicht, statt sie zu kaschieren. Dennoch war sie die Sorte Frau, neben der sich Briony immer schon als tolpatschiges, dummes kleines Mädchen gefühlt hatte. »Was müsst Ihr gelitten haben! Und diese Geschichten, die zu uns gedrungen sind! Ist es wahr, dass Südmark von den Zwielichtlern angegriffen wurde?«

König Enander sah sie irritiert an, vielleicht, weil er nicht daran erinnert werden wollte, in welcher Schuld Syan aus früheren Elbenkriegen gegenüber Anglins Geschlecht stand.

»Ja, Mylady, es ist wahr«, sagte Briony. »Und, soweit ich weiß, auch noch nicht vorbei …«

»Aber Ihr, so sagte man uns, habt Euch inmitten einer Horde Bauern versteckt und seid geflüchtet – zu Fuß, den ganzen Weg von Südmark hierher! Wie schlau! Wie mutig!«

»Tatsächlich war es eine Theatertruppe … Mylady.« Briony hatte gelernt, ärgerliche Antworten hinunterzuschlucken, aber es schmeckte nicht gut. »Und ich bin nicht vor den Belagerern geflohen, sondern vor meinem eigenen verräterischen …«

»Ja, wir haben es gehört – welch eine Geschichte!«, unterbrach sie Enander, ehe sie noch mehr sagen konnte. Das war kein Zufall. »Aber wir kennen nur das nackte Gerüst – natürlich müsst Ihr es bald einmal für uns auspolstern. Mm-mm«, sagte er und hob die Hand, als für sie der Moment gewesen wäre, noch mehr dazu zu sagen. »Nicht jetzt, liebes Kind – Ihr müsst doch erschöpft sein von allem, was Ihr durchgemacht habt. Dafür ist noch genügend Zeit, wenn Ihr Euch wieder kräftiger fühlt. Wir sehen Euch heute beim Nachtmahl.«

Sie bedankte sich und machte einen weiteren Hofknicks. Heißt das, ich bin ein Gast?, fragte sie sich. Oder eine Gefangene? Ganz klar war das nicht.

Als Lord Jino sie aus dem Kabinett des Königs führte, kämpfte Briony gegen Zorn und Niedergeschlagenheit. Enander hatte sie höflich empfangen, und bisher hatten die Syanesen sie so gut behandelt, wie irgend zu erhoffen gewesen war. Hatte sie etwa erwartet, der König würde sich erheben, seine ewige Treue zu Anglins Geschlecht verkünden und ihr auf der Stelle ein Heer zur Verfügung stellen, damit sie heimkehren und die Tollys stürzen könnte? Natürlich nicht. Doch vom ganzen Gebaren des Königs her hatte sie das deutliche Gefühl, dass so etwas nicht nur jetzt nicht passierte, sondern nie passieren würde.

Mit diesen Gedanken war Briony so beschäftigt, dass sie beinah mit einem hochgewachsenen Mann zusammengeprallt wäre, der durch den Thronsaal auf das Kabinett zustrebte, aus dem sie gerade kam. Als sie vor Schreck stolperte, hielt er sie mit starker Hand fest.

»Verzeihung, edles Fräulein«, sagte er. »Seid Ihr wohlauf?«

»Königliche Hoheit«, sagte Jino. »Wir haben Euch noch nicht zurückerwartet.«

Briony strich ihre Gewänder glatt, um ihre Verwirrung zu überspielen. Königliche Hoheit? Dann musste dieser junge Mann Prinz Eneas sein. Sie fühlte ihren Atem etwas schneller gehen, als sie aufsah. War das wirklich der Jüngling, an den sie in jenem Jahr ihrer Kindheit so viel gedacht hatte? Er war allerdings so hübsch wie der Prinz, den sie sich ausgemalt hatte, groß und schlank, aber breitschultrig, mit etwas wirrem dunklem Haar, wie die Mähne eines Pferds nach einem langen, schnellen Ritt.

»Es gibt so viel zu erzählen«, sagte der Prinz. »Ich habe mich beeilt.« Er sah Briony verwundert an. »Und wer ist das?«

»Hoheit, gestattet mir, Euch Briony te Meriel te Krisanthe …«, hob Jino an.

»Briony Eddon?«, unterbrach ihn der Prinz. »Seid Ihr wirklich Briony Eddon? Olins Tochter? Aber was macht Ihr denn hier?« Plötzlich besann er sich auf seine Manieren, nahm ihre Hand und führte sie an seine Lippen, ohne jedoch den Blick von ihrem Gesicht zu wenden.

»Später werde ich Euch alles erklären, Hoheit«, sagte Jino. »Aber jetzt wird Euer Vater hören wollen, was Ihr über die Armeen des Südens zu berichten habt. Ist alles gut verlaufen?«

»Nein«, sagte Eneas. »Nein, ist es nicht.« Er wandte sich wieder an Briony. »Speist Ihr heute Abend mit uns? Sagt ja.«

»J-ja, natürlich.«

»Gut. Dann werden wir uns weiter unterhalten. Es verblüfft mich, Euch hier zu sehen. Gerade habe ich an Euren Vater gedacht – ich bewundere ihn nämlich sehr. Ist er wohlauf?« Er wartete keine Antwort ab. »Jino hat recht, ich muss gehen. Aber ich freue mich auf die Fortsetzung unseres Gesprächs.« Er nahm wieder ihre Hand und streifte sie ganz leicht mit den trockenen, vom Wind aufgesprungenen Lippen, sah ihr dabei aber ins Gesicht, als wollte er sich ihre Züge ganz genau einprägen. »Ich habe ihnen gesagt, Ihr würdet zu einer Schönheit heranwachsen«, sagte er. »Und ich hatte recht.«

Briony sah Eneas nach und merkte erst mehrere Atemzüge später, dass sie mit offenem Mund gaffte wie ein Dalerstroyer Schafhirt, der erstmals eine richtige Stadt sah. »Was hat er damit gemeint?«, sagte sie, halb zu sich selbst. »Er konnte doch nicht mal wissen, dass es mich gibt?«

Jino sah etwas unwirsch drein, tat aber sein Bestes zu lächeln. »Oh, der Prinz würde niemals lügen, Hoheit, und sich ganz gewiss nie zu einer Schmeichelei entwürdigen.« Er lachte ein wenig bitter. »Er meint es gut und ist gewiss ein prachtvoller junger Mann, aber seine höfischen Manieren lassen doch noch einiges zu wünschen.« Er straffte sich und machte eine auffordernde Armbewegung. »Gestattet, dass ich Euch jetzt in Eure Gemächer zurückgeleite, Prinzessin. Wir alle freuen uns darauf, beim Nachtmahl wieder das Vergnügen Eurer Gesellschaft zu haben, doch jetzt solltet Ihr Euch wirklich von Eurer strapaziösen Reise ausruhen.«

Brionys höfische Manieren mochten ja nach syanesischen Maßstäben etwas rustikal sein, aber sie verstand dennoch sehr genau, was Jino sagen wollte: Bitte, Kind, geht mir jetzt vom Hals, damit ich mich um wichtigere Angelegenheiten kümmern kann – die Angelegenheiten eines richtigen Königreichs, nicht so eines hinterwäldlerischen wie des Euren.

Es war eine weitere Erinnerung daran, dass Briony für die Syanesen bestenfalls eine Zerstreuung war, eher aber ein lästiges Problem. In jedem Fall hatte sie hier keine Macht, keine Freunde, auf die sie zählen konnte. Sie ließ sich durch den prächtigen, hallenden Thronsaal zurückgeleiten, vorbei an Grüppchen gaffender Höflinge und diskreterer, aber nicht minder neugieriger Bediensteter, und überlegte währenddessen, wie sie die Situation zu ihren Gunsten ändern könnte.