Die Dunklen Künste: Der eiserne Kodex - David Mack - E-Book

Die Dunklen Künste: Der eiserne Kodex E-Book

David Mack

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Beschreibung

Doctor Strange trifft Jason Bourne: Die Flammen der Hölle befeuern den Kalten Krieg in diesem weltumspannenden Thriller, der Fortsetzung von Die Mitternachtsfront. 1954: In Südostasien jagt Cade Martin, Held der Mitternachtsfront während des Zweiten Weltkriegs, Geister und flieht vor seiner Vergangenheit. In den Vereinigten Staaten leitet Briet Segfrunsdóttir das streng geheime Programm des Pentagons für magische Kriegsführung. Und in Südamerika jagt Anja Kernova flüchtige Nazi-Zauberer mit Hilfe eines mächtigen magischen Buches, das als "Eiserner Kodex" bekannt ist. In dieser stetig gefährlicher werdenden Welt löst eine Zufallsbegegnung eine rasante internationale Suche nach Anja und dem Eisernen Kodex aus. Sie wird von Freund und Feind gejagt, bis sie schließlich im März 1954 auf das Bikini-Atoll gelangt. Dort werden beim Test einer gewaltigen Atombombe Wissenschaft und Magick aufeinanderprallen.

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Seitenzahl: 708

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DUNKLE KÜNSTE 2

DER EISERNE KODEX

DAVID MACK

Ins Deutsche übersetzt von

CLAUDIA KERN& HELGA PARMITER

Die deutsche Ausgabe von DUNKLE KÜNSTE 2: DER EISERNE KODEXwird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.Herausgeber: Andreas Mergenthaler, Übersetzung: Claudia Kern & Helga Parmiter; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Jana Karsch; Korrektorat: Peter Schild; Satz: Rowan Rüster; Cover-Illustration: Larry Rostant; Printausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohořelice.Printed in the EU.

Titel der Originalausgabe:

DARK ARTS 2: THE IRON CODEX

Copyright © 2019 by David Mack

Published by arrangement with Tom Doherty Associates. All rights reserved

Dieses Werk wurde im Auftrag von Tom Doherty Associates durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.

German translation copyright © 2022, by Cross Cult.

Print ISBN 978-3-96658-849-2 (April 2022)

E-Book ISBN 978-3-96658-850-8 (April 2022)

WWW.CROSS-CULT.DE

Für die Träume,die uns gegen den Strom vorwärtstragen

Inhalt

1954

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

GLOSSAR

DIE HIERARCHIE DER HÖLLE

DANKSAGUNG

Faustus: Wie kommt es dann, dass du außerhalb der Hölle bist? Mephistopheles: Ich bin nicht außerhalb, dies hier ist die Hölle!

– Christopher Marlowe, Die tragische Historie vom Doktor Faustus,Akt I, Szene 3

1954

8. JANUAR

Anjas Knie machte Bekanntschaft mit dem Schotter, als sie ihr Motorrad mit hoher Geschwindigkeit in die Kurve legte. Die Dämonen in ihrem Kopf kicherten bei der Aussicht auf ihr plötzliches Ableben, als die vom Vorderreifen aufgewirbelten Steine gegen ihre Lederkombi prasselten und an ihrer Brille abprallten. Die Kante des Hinterreifens kratzte haarscharf am Abgrund der unbefestigten Straße entlang. Kieselsteine rollten die Klippe hinunter in den nebelverhangenen Dschungel weit unten. Hinter der Kurve richtete sie sich auf und gab Gas.

Vor ihr, jenseits der Nebelschwaden, beschleunigte ihre Beute und vergrößerte ihren Vorsprung. Anjas 1953er Vincent Black Shadow war von ihrem Hersteller als das schnellste Motorrad der Welt angepriesen worden, aber das spielte auf Boliviens berüchtigter Todesstraße keine große Rolle. Die einspurige Schotterpiste schlängelte sich entlang eines mit Tropenwald bedeckten Berghangs. Wasserfälle tauchten oft ohne Vorwarnung auf und füllten die Straße mit tiefen Schlammpfützen. Der Dschungel unten war angeblich schon mit Nebel bedeckt gewesen, bevor die Menschheit überhaupt in Südamerika angekommen war.

Kondenswasser trübte die Anzeigen des Motorrads. Anja musste ihrem Gefühl für die Black Shadow vertrauen, als sie sie hart durch eine S-Kurve zwang, und sie betete für eine Gerade auf der anderen Seite, damit sie die Lücke zwischen ihr und ihrem flüchtenden Nazi-Ziel schließen konnte.

Kugeln zischten an ihrer rechten Schulter vorbei. Rinde explodierte an schlanken Baumstämmen. Steine sprangen von der schlammigen Erde hoch und rollten hinter Anja über die Straße.

Sie warf einen Blick in ihren rechten Spiegel. Vier Motorräder – aufgemotzte BMW-Touring-Bikes der gleichen Bauart wie das, hinter dem sie her war – verfolgten sie.

Sie wussten, dass ich ihn jagen würde, erkannte Anja. Das ist eine Falle.

Das Quartett kam immer näher. Sie befanden sich nur noch ein paar Sekunden hinter ihr.

Anja verfluchte sich selbst, weil sie unvorsichtig geworden war. Sie legte sich in die nächste Kurve und geriet so tief nach unten, dass sie spürte, wie die Seite ihres Beins über die Straße schleifte. Weitere Kugeln zischten über sie hinweg und verschwanden im Nebel. Sie schwang sich in den hinteren Teil der S-Kurve und zog ihre letzte Granate aus ihrem Patronengurt. Sie drückte den Hebel mit ihrer linken Hand herunter. »DANOCHAR«, sagte sie zu ihrem unsichtbaren dämonischen Träger, »nimm den Sicherungsstift der Granate – und nur den Stift.« Im Handumdrehen war der Sicherungsstift verschwunden.

Sie ließ die Granate aus ihrer Hand auf die neblige Straße fallen.

Nachdem sie um die nächste Kurve gefahren war, hörte sie die Explosion – gepaart mit den Schreien der Fahrer, die von der Druckwelle erfasst oder mit ihren kaputten Motorrädern in die dunstverhangenen Baumkronen unter ihnen geschleudert wurden. Das laute Krachen, mit dem Menschen und Maschinen durch die Äste brachen, erinnerte an Gewehrschüsse. Dann war es still auf der Straße hinter ihr.

Vor ihr kämpfte der Mann, den sie töten wollte, darum, seinen Vorsprung auszubauen.

Das Rauschen des Winds und das Knurren der Black Shadow verschmolzen miteinander, als Anja das Motorrad britischer Bauart an seine Grenzen trieb. Das Gefährt bahnte sich seinen Weg durch eine tiefe Pfütze. Anja nutzte ihr Gewicht, um es um ein paar enge, gefährliche Kurven zu wuchten. Dann schoss sie durch eine Nebelwand auf ein gerades Stück Straße, in dessen Mitte sich ihre Beute befand.

Sie gab erneut Gas und duckte sich tief, um den Luftwiderstand zu verringern. Ihre langen pechschwarzen Haare peitschten im Wind wie Schlangen.

Ich muss nur nahe genug herankommen, bevor er in die nächste Kurve geht …

Endlich wurde die Black Shadow ihrem Ruf gerecht. Sie fühlte sich an wie eine Rakete, als sie Anja bis auf fünf Meter an den flüchtenden Nazi heranbrachte. Sie folgte ihm durch die nächste Kurve – und wich in Richtung der Felswand zu ihrer Rechten aus, als er ein Jagdmesser blindlings über die Schulter schleuderte. Die Klinge flog an ihrem Kopf vorbei, dann war sie weg, aus dem Sinn.

Es reicht. Ich bin gekommen, um zu töten, nicht um zu jagen.

Anja rief noch einmal ihr dämonisches Arsenal zu Hilfe und beschwor die Spektralpeitsche von VALEFOR. Eine Bewegung aus dem Handgelenk ließ die massive Peitsche nach vorne schnellen. Die mit Widerhaken besetzte Spitze wickelte sich um den Hals ihres Ziels und Anja drückte auf den Bremshebel der Black Shadow.

Ihr Motorrad kam auf dem Feldweg zum Stehen und ihre Peitsche spannte sich. Sie riss den Nazi von seiner Maschine, die von der Klippe in den grauen Dunst zwischen den Bäumen stürzte. Der Nazi landete auf dem Rücken, während sein Motorrad verschwand. Aus dem undurchdringlichen Nebel war das Knacken zu hören, mit dem es durch schwere Äste krachte, ein Geräusch, das Anja an einen Hammer denken ließ, der Knochen bricht.

Sie schaltete die Black Shadow in den Leerlauf, sodass sie nur noch grollend schnurrte, und stellte sie dann auf ihrem Seitenständer ab. Ihre magische Peitsche blieb um den Hals ihres Ziels geschlungen, während sie sich auf den Mann zubewegte, um ihren Sieg über ihn perfekt zu machen.

Ein Ruck mit der Peitsche lenkte seine Aufmerksamkeit auf sie. »Sie sind Herr König, ja?«

Er spuckte sie an. »Du bist die Dschungelhexe.«

Es amüsierte sie, dass die Nazis, die sie fast ein ganzes Jahrzehnt lang durch Südamerika gejagt hatte, sie aus irgendeinem Grund für eine Einheimische hielten. Der Irrtum war verzeihlich, fand sie; die lange Zeit, die sie nun schon der Sonne und dem Wetter ausgesetzt war, hatte ihre einst blasse Haut gebräunt und ihre russische Herkunft wirkungsvoll verdeckt. Sie zog ihr Jagdmesser aus der Gürtelscheide und beugte sich hinunter. »Eine Bewegung und ich schneide Ihnen die Kehle durch.«

Er blieb reglos, zweifellos auch deshalb, weil die Peitsche des Dämons immer noch um seine Kehle gewickelt war. Der Riemen der Ledertasche des Mannes verlief diagonal über seinen Brustkorb. Sie durchtrennte ihn oberhalb seiner Schulter und nahe genug an seiner Kehle, um ihn einzuschüchtern.

»Nicht bewegen«, wiederholte Anja. Mit einer spiralförmigen Handbewegung befahl sie VALEFORS Peitsche, den flüchtigen deutschen Kriegsverbrecher an Hand- und Fußgelenken zu fesseln. Als sie sicher war, dass er sich nicht rühren konnte, hob sie seine Tasche auf und durchwühlte ihren Inhalt. Das meiste war genau das, was sie zu finden erwartet hatte: Ersatzmagazine für die Luger des Mannes, die immer noch in ihrem Holster an seiner rechten Hüfte steckte; ein paar Bündel Bargeld in verschiedenen Währungen, die sie alle einsteckte. Sie drehte die Tasche auf den Kopf und schüttelte sie. Eine Elfenbeinpfeife, ein Beutel mit Tabak, ein Bleistift, eine Handvoll fast wertloser Münzen und ein abgenutzter alter Kompass fielen heraus. Die Tasche schien leer zu sein, aber sie fühlte sich für Anja immer noch schwer an. Sie murmelte: »Was versteckst du da drin?«

Mit beiden Händen tastete sie das Innere der Tasche ab. Schließlich fand sie mehrere versteckte Innentaschen, die unter großen Klappen verborgen waren. Ihr Gefangener wälzte sich auf dem Boden, als sie die Schnürung der Klappen öffnete. Eine Tasche enthielt etwas, das aussah wie eine Auswahl an Kunstgegenständen. Aus dem anderen Geheimfach zog sie ein in Leder gebundenes Journal. »Na«, sagte sie und klappte das Buch auf, um den handgeschriebenen Inhalt zu studieren, »das ist aber interessant.« Die wenigen vollständigen Wörter und Sätze, die es enthielt, waren auf Deutsch gekritzelt, aber Anjas unterjochter Dämon LIOBOR ermöglichte es ihr, jede menschliche Sprache mit Leichtigkeit zu lesen. Leider war der Dämon keine Hilfe, wenn es darum ging, die Akronyme und Abkürzungen zu entziffern, die den größten Teil der Seiten füllten.

Sie zeigte ihrem Gefangenen das aufgeschlagene Journal. »Erklären Sie Ihre Kürzel.«

»Brenn in der Hölle, Hexe.«

»Irgendwann, ja.« Sie blätterte eine weitere Seite um und bewunderte das hochwertige Leinenpapier. »Ich weiß, dass sich Ihre Thule-Gesellschaft unter dem Namen Schwarze Sonne neu formiert hat, als eine Anspielung auf Herrn Himmler. Aber was ist Odessa? Ist das Ihr Netzwerk hier in Südamerika? Das Netzwerk, das Sie alle nach Kriegsende nach Argentinien gebracht hat?«

Er schwieg beharrlich weiter, während in der Ferne das leise Brummen von Motoren erklang.

Anja war klar, dass Herr König keine nützlichen Informationen liefern würde. Zumindest nicht in der begrenzten Zeit, die ihr noch blieb, bevor weitere seiner Kollegen eintrafen. Normalerweise hätte sie eine Konfrontation mit seinesgleichen nicht gefürchtet, aber sie hatte schon zu lange Dämonen unterjocht gehalten. Ihre Kopfschmerzen hatten sich verschlimmert und waren in der letzten Woche fast nicht mehr weggegangen. Sie schreckte davor zurück, ihre Morphiumdosis über das von ihr als sicher angesehene Maß hinaus zu erhöhen. Bald würde sie die meisten ihrer gebundenen Dämonen freisetzen müssen, eine Woche damit verbringen, sich zu erholen, und dann die Dämonen oder andere Geister erneut unterjochen. Es war Zeit für sie, sich zurückzuziehen und ihre nächsten Schritte zu planen.

Aber zuerst musste sie das Problem mit Herrn König angehen.

Mit einem Schwung ihrer linken Hand befreite sie ihn von der dämonischen Peitsche. Frei, aber immer noch auf den Knien, grinste König Anja an. »Wir werden dich finden, Dschungelhexe.«

»Ihre Lakaien werden es versuchen. Aber bevor ich Sie in die Hölle schicke, möchte ich, dass Sie meinen Namen kennen.« Sie ballte die rechte Hand zur Faust und das unheilige Talent von XENOCH fügte dem Nazi Qualen zu, die schlimmer waren, als die menschliche Vorstellungskraft es sich ausmalen konnte. Sie hob seinen Körper mit BAELS Telekinese vom Boden hoch und genoss seinen schmerzverzerrten Gesichtsausdruck. »Mein Name ist Anja Kernova.« Sie schleuderte ihn hoch in die Luft, als würde er nichts wiegen. Während er auf den Dschungel zustürzte, traf sie ihn mitten im Fall mit einem Feuerball, der von HABORYM stammte. Sein brennender Leichnam verschwand durch den Nebel und das Dschungeldach und wurde von den Schatten verschluckt.

Unheimliche Stille legte sich über das Tal. Anja nahm sich einen Moment Zeit, um die Einsamkeit zu genießen. Um sie herum türmten sich schroffe Berge auf, aber die neblige Atmosphäre des Dschungels hatte sie alle mit der Beschaffenheit verblassender Erinnerungen durchtränkt.

Dann wurde das Dröhnen der Motorräder in der Ferne lauter.

Sie steckte das Odessa-Journal in ihre Jacke und schwang sich auf ihre Black Shadow. Die Maschine grollte, als sie den Gang einlegte, und sie raste nach Süden – die dunkle Reiterin der Hölle allein auf der Straße des Todes.

Wie die meisten Herrenclubs in der Londoner Metropole zeichnete sich auch das Eddington durch sein gedämpftes Ambiente aus. Die Innenausstattung wirkte, als wäre sie aus feinstem Mahagoni und schwarzem Marmor gearbeitet worden. Das Einzige, was in der Haupthalle älter war als das Leder der Stühle, waren die Porträts der Gründungsmitglieder, die die Wände säumten und mit ewiger Verachtung auf diejenigen herabblickten, die das Pech hatten, nach der industriellen Revolution geboren worden zu sein.

Versteckt in einem halb privaten Vorraum stand Dragan Dalca, um seine drei elegant gekleideten Gäste zu begrüßen, die vom Chef-Steward des Eddington, Mr. Harris, zu ihm geführt wurden.

»Meine Herren.« Harris zeigte auf Dragan. »Ihr Gastgeber, Mr. Dalca.«

»Danke, Harris.« Dragan deutete in Richtung der freien Plätze um seinen Tisch. »Bitte, nehmen Sie Platz.« Auf eine unausgesprochene Aufforderung von Harris hin sagte Dragan zu den drei Geschäftsleuten, die alle Aktenkoffer trugen: »Sie müssen durstig sein. Was dürfen wir Ihnen bringen?«

»Gordon’s Martini«, sagte der Franzose. »Trocken wie die Gobi.« Harris nickte.

Der Amerikaner fragte: »Haben Sie Bourbon?«

Harris versuchte, nicht pikiert auszusehen. »Ich fürchte nein, Sir. Darf ich Ihnen einen Scotch Whisky anbieten?«

»Einen doppelten Macallan Twenty-five«, sagte der Amerikaner.

Harris bestätigte die Bestellung mit einem Nicken, dann sah er den Russen an. »Sir?«

»Das Gleiche.«

Dragan fing Harris’ Blick auf. »Doppelter Wodka mit Eis.«

Die Geschäftsleute verstauten ihre Aktentaschen alle gleichzeitig unter dem Tisch.

Harris trat zurück, zog den dicken kastanienbraunen Vorhang des Vorzimmers zu, um den Männern etwas Privatsphäre zu geben, und ging davon, um sich um die Getränke zu kümmern. Endlich war Dragan mit seinen Gästen allein. Er begrüßte das Trio mit einem halbherzigen Lächeln. Der Franzose ergriff als erster das Wort. »Aus Ihrer Nachricht ließ sich herauslesen, dass dieses Treffen privat sein würde.«

»Das sehe ich nicht so«, sagte Dragan. »Und ich bin nicht verantwortlich für Ihre Schlussfolgerungen.«

Die allgegenwärtige Stimme in Dragans Gedanken nörgelte: «Mach schon.»

Dragan ließ sich auf seinem Sessel mit der hohen Rückenlehne nieder und faltete die Hände. »Sie drei sind hier, weil ich versprochen habe, Ihre Aktienkurse und Marktanteile zu erhöhen.«

»Wir wissen, was Sie versprochen haben«, sagte der Amerikaner, seine wachsende Ungeduld war nicht zu übersehen. »Jetzt wollen wir Einzelheiten.« Der Franzose und der Russe nickten zustimmend.

«Überspring den Small Talk», forderte die Stimme in Dragans Psyche.

Sei ruhig und lass mich das machen. Dragan rutschte ein Stück nach vorne und setzte ein unaufrichtiges Lächeln auf. »Sie drei vertreten Flugzeugbauunternehmen, die in letzter Zeit im Rennen um Kunden auf dem internationalen Markt ins Hintertreffen geraten sind. Und ich bin sicher, Sie alle wissen, warum.«

»Diese Arschlöcher von de Havilland«, schimpfte der Amerikaner.

Der Franzose nickte. »In der Tat. Die Comet 1, um genau zu sein.«

»Sie ist das Einzige, worüber meine Kunden reden«, sagte der Russe. »Sie ignorieren ihre Schwächen und sehen nichts als ihre Düsentriebwerke. ›Das ist die Zukunft‹, sagt man mir ständig.«

»Und das ist sie«, sagte Dragan. »Wenn niemand das Unternehmen daran hindert, wird de Havilland den Markt für mindestens ein weiteres Jahrzehnt dominieren, wenn nicht länger. Vorausgesetzt natürlich, dass nichts … Bedauerliches geschieht.«

Diesmal sorgte seine wenig subtile Andeutung bei seinen Gästen für hochgezogene Augenbrauen. Der Russe beugte sich vor. »Welche Art von Unglück könnte ein solches Potenzial entgleisen lassen?«

Dragan griff in sein Jackett und zog ein filigranes, goldenes Zigarettenetui hervor. Er öffnete es, holte eine Gauloises heraus und zündete sie mit einem Streichholz an, das er an der Tischkante anriss. Er wedelte mit dem Streichholz, bis die Flamme erlosch, nahm einen tiefen Zug des vollmundigen türkischen Tabaks und atmete dann durch die Nasenlöcher aus. »Wenn Sie, meine Herren, daran interessiert sind, das Schicksal von de Havilland umzukehren und Ihr eigenes zu verbessern, wird es Sie vielleicht interessieren, dass die Comet 1 trotz ihres frühen Erfolgs von zwei fatalen Mängeln geplagt wird, die beide von de Havilland mühsam verheimlicht werden.«

Diese Enthüllung weckte das Interesse des Amerikaners. »Welche Art von Mängeln?«

»Es reicht wohl zu sagen, dass der eine eine Frage der Technik, der andere eine Frage des Materials ist. Zusammen könnten sie ausgenutzt werden, um die Position von de Havilland auf dem Markt zu untergraben.«

Der Franzose war skeptisch. »Und Sie wissen das … woher?«

»Zwei Vorfälle«, sagte Dragan. »Letzten März ist eine Comet 1A während des Starts vom Flughafen Karachi abgestürzt. Die Pressesprecher von de Havilland haben es auf einen Pilotenfehler geschoben …«

Der Russe schaltete sich ein: »Der Unfall der Canadian Pacific Air?«

»Ja«, sagte Dragan. »Knapp zwei Monate später ist eine weitere Comet 1 abgestürzt, nur wenige Minuten nach dem Start in Kalkutta. Alle sechs Besatzungsmitglieder und siebenunddreißig Passagiere kamen dabei ums Leben.«

»Ich habe den Bericht gelesen«, sagte der Amerikaner. »Darin wird der Absturz auf eine Gewitterböe zurückgeführt.«

Dragan zuckte mit den Schultern. »Ich bestreite nicht, dass der Sturm ein Faktor war. Aber er war nicht die Ursache. Früher oder später wird eine Comet 1 während des Flugs eine Katastrophe erleben, die sie nicht auf die Piloten oder das Wetter schieben können.« Er stachelte sie mit einem durchtriebenen Grinsen an. »Früher, hoffe ich, um Ihrer Arbeitgeber willen.«

Der Franzose sah ihn scharf an und war offensichtlich fasziniert. »Also, was hat das zu tun mit …«

Der Vorhang öffnete sich und gab den Blick auf Harris frei. In einer Hand trug er ein Tablett mit den Getränken für die Männer. Er verteilte die Drinks und sagte diskret zu Dragan: »Telefonanruf für Sie, Sir.«

»Danke, Harris.« Dragan stand auf und schenkte seinen Gästen ein entschuldigendes Lächeln. »Verzeihen Sie mir, meine Herren. Ich werde umgehend zurückkehren.« Die anderen entschuldigten ihn mit höflichem Nicken.

Dragan durchquerte die Haupthalle in schnellem, aber würdevollem Tempo. Kurz bevor er die Pförtnerloge erreichte, sah er sein Spiegelbild in der Glastür einer Trophäenvitrine und hielt inne, um sein schwarzes Haar zu glätten und ein paar verirrte Barthaare in seinen dünnen Schnurrbart zurückzustreichen. Dann holte er sich den Hörer des Telefons vom Pförtner und spannte die Schnur um eine Ecke in die Garderobe, damit er seinen Anruf wenigstens mit einem Mindestmaß an Privatsphäre entgegennehmen konnte.

Da er wusste, dass nur eine Person auf der Welt ihn im Eddington erreichen konnte, knurrte er: »Was ist, Müller?«

»Ich entschuldige mich für die Störung«, antwortete Heinrich Müller, der überhaupt nicht wie der Mann klang, der noch ein Jahrzehnt zuvor der Kommandant von Hitlers gefürchteter Gestapo gewesen war, »aber es gibt Neuigkeiten aus Bolivien.«

Hoffnung schwoll in Dragans Brust, das Produkt eines ungerechtfertigten Optimismus. »Sie hat den Köder geschluckt?«

»Ja. Na ja, nein. Nicht ganz.« Müllers Tonfall klang niedergeschlagen und beschämt. »Sie hatten recht, sie hat die Straßen nach La Paz beobachtet. Aber sie ist nicht auf den Lockvogel hereingefallen.«

»Wenn sie nicht hinter dem Lockvogel her war, woher wissen Sie dann, dass sie …« Die Erkenntnis traf Dragan wie eine heiße Dusche, die ohne Vorwarnung eiskalt wurde. »Was ist passiert? Was ist schiefgelaufen?«

Müller stieß einen bleiernen Seufzer aus. »König und seine Wachen. Sie hat sie alle auf der Todesstraße ausgeschaltet.« Nach einer verlegenen Pause fügte er hinzu: »Und sie hat sein Tagebuch erbeutet.«

Schimpfwörter stauten sich in Dragans Mund, die Flut an Flüchen war zu groß, als dass er sie hätte aussprechen können. Er wusste, dass er im Eddington nicht unangenehm auffallen durfte. Stattdessen ballte er eine Faust und zählte bis fünf, während er tief durchatmete.

Seine nervtötende innere Stimme war nicht so rücksichtsvoll.

«Das ist eine Katastrophe. Bring das unter Kontrolle, sofort!»

Ruhe! Ich kümmere mich darum.

»Müller«, sagte er schließlich, »trommeln Sie alle zusammen, die wir entbehren können, und bringen Sie sie nach La Paz. Finden Sie die Frau so schnell wie möglich. Bringen Sie sie mir lebendig, wenn Sie können, aber Ihre oberste Priorität …«

»Ist, das Buch zurückzuholen«, sagte Müller. »Ich weiß, Sir.«

»Ich rate Ihnen, das zu tun. Wenn Sie oder Ihre Männer Anja Kernova töten, bevor wir das Buch finden, vergrabe ich Ihre Leiche so tief, dass selbst der Teufel sie nicht finden kann.«

Müller gab immer noch hohle Beteuerungen von sich, als Dragan den Hörer an den Pförtner zurückgab, der ihn wieder auf die Gabel des Telefons hinter seinem Pult legte.

Einundzwanzig Schritte bis zurück zum Vorraum, sagte sich Dragan. Atme durch und setz dein Lächeln wieder auf, bevor du durch den Vorhang trittst.

Leise Unterhaltung füllte den Raum zwischen seinen Gästen, als er sich wieder zu seinem Sessel zurückschlängelte. »Ich danke Ihnen für Ihre Geduld, meine Herren. Ich habe jeden von Ihnen gebeten, die erste Hälfte meines Honorars als Vorschuss mitzubringen. Und ich habe Sie hier zusammengebracht, weil ich sichergehen will, dass alle, die davon profitieren, ihren fairen Anteil zahlen – ich werde keine Schmarotzer tolerieren. Sie zahlen alle oder der Handel ist geplatzt.«

»Und wofür bezahlen wir?«, fragte der Russe.

»Dafür, Ihrem stärksten Konkurrenten einen sehr öffentlichen Rückschlag zuzufügen. Einen, der ihn ruinieren wird und für den er die gesamte Schuld auf sich nehmen wird.«

Der Amerikaner musterte ihn mit durchtriebener Miene. »Und wann könnte ein solches Ereignis stattfinden?«

»Übermorgen, am Nachmittag. In Rom.«

Die Gäste an Dragans Tisch wechselten misstrauische, konspirative Blicke. Der Russe nickte. »Das wäre eine äußerst wertvolle Wendung des Schicksals.«

»Und jetzt wissen Sie, warum mein Honorar so hoch ausfällt«, sagte Dragan. »Meine Bedingungen sind einfach. Die Hälfte Ihrer Zahlung im Voraus, in bar. Die andere Hälfte wird fällig, wenn ich mein Versprechen erfüllt habe. Sollte ich nicht liefern, erhalten Sie Ihre Einlagen in voller Höhe zurück, ohne Wenn und Aber.« Er legte die Fingerspitzen aneinander und beugte sich vor. »Aber für den Fall, dass einer von Ihnen denkt, Sie könnten die zweite Hälfte Ihrer Zahlung verweigern, sollten Sie Folgendes wissen: Ich bin noch nie betrogen worden und das wird mir auch in Zukunft nicht passieren. Haben Sie mich alle verstanden?«

Ängstliches Nicken bestätigte, dass seine Gäste wussten, er machte keine leeren Drohungen.

»Hervorragend. Danke, dass Sie gekommen sind. Ich freue mich darauf, Sie alle am Elften wiederzusehen.«

Die Geschäftsleute kippten den Inhalt ihrer Gläser herunter, erhoben sich vom Tisch und zogen sich leise durch die Haupthalle zurück, bevor sie durch die Eingangstür verschwanden.

Dragan warf einen Blick durch den Tisch in die Aktenkoffer, indem er RA’UMS Gabe der Allsicht nutzte. Er war erfreut zu sehen, dass jede Aktentasche vollgepackt war mit Bargeld – amerikanische Dollar, französische Francs und russische Rubel.

Er nippte an seinem Wodka, dann winkte er dem Steward.

Der würdevolle Engländer mittleren Alters kam an seinen Tisch. »Sir?«

»Die Aktenkoffer unter meinem Tisch«, sagte Dragan. »Bitte bringen Sie sie zu Mr. Holcombe und sagen Sie ihm, dass ich die gesamte Summe in Leerverkäufe von De-Havilland-Aktien investiert haben möchte.«

»Ich werde mich sofort darum kümmern, Mr. Dalca.«

»Danke, Harris.«

Dragan genoss die Stille des Clubs, die ihn umfing, während Harris und ein Mitglied seines Personals die Aktentaschen voller Bargeld zu den wartenden Händen von Dragans Broker schleppten.

In vierundzwanzig Stunden werde ich ein sehr reicher Mann sein, sinnierte er. Jetzt muss ich mir nur noch das Buch von dieser russischen Schlampe besorgen … und dann wird der Gerechtigkeit Genüge getan.

9. JANUAR

Eine Lüge zu leben hatte sich für Briet Segfrunsdóttir als angenehmer Zustand erwiesen.

Es war über acht Jahre her, dass die OSS sie im selbst gewählten Exil in Nordfinnland aufgespürt hatte. Als die Agenten an ihre Tür geklopft hatten, hatte sie gedacht, der Tag der Abrechnung sei gekommen und dass sie dort seien, um sie nach Den Haag zu bringen – oder um ihr eine Kugel in den Kopf zu jagen, weil sie an den Kriegsverbrechen der Nazis beteiligt gewesen war. Stattdessen waren all ihre Sünden im Rahmen der Operation Paperclip getilgt worden, einer amerikanischen Geheiminitiative, die sich darum bemühte, die Wissenschaftler und Ingenieure – und, wie sich herausstellte, auch die Zauberer – des besiegten Deutschen Dritten Reichs zu finden und sie in den Dienst des neuen Herrschers der Welt zu stellen: der alleinigen atomaren Supermacht, den Vereinigten Staaten von Amerika.

Seitdem hatten sie ihr ein Leben geschenkt, das weit besser war, als sie es verdient hatte.

Sie hatte eine unscheinbare, an Bedeutungslosigkeit grenzende Berufsbezeichnung, gepaart mit einem großzügigen Gehalt und Zusatzleistungen. Ein dreistöckiges Sandsteinhaus im Herzen von Georgetown. Immunität vor internationaler Strafverfolgung. Riesige Vorräte an Ausrüstung, Personal und Geld standen ihr zur Verfügung, um ihre magische Forschung zu unterstützen. Die Amerikaner hatten ihr sogar ihre isländische Staatsbürgerschaft gelassen, obwohl sie sie als eine der ihren eingebürgert hatten.

Alles, was sie im Gegenzug verlangten, war, dass sie ihr Schild, ihr Schwert und ihr allsehendes Auge sein sollte. Es war der beste Deal, den Briet auf dieser Erde bekommen würde, und das wusste sie.

Also, fragte sie sich, als ihr Wecker um Punkt sieben Uhr klingelte, warum ist mein Magen ein bodenloses Loch des Grauens? Ein Klatschen mit der Hand brachte den Wecker zum Schweigen. Als einziges Mitglied ihres Haushalts mit einem Job, der halbwegs regelmäßige Arbeitszeiten verlangte, schlief Briet auf der linken Seite des großen Betts, in der Nähe des Beistelltischs und der Uhr. Ihre Liebhaber – Alton Bloch, ein ehemaliger Buchhalter und aufstrebender Beat-Poet, und Park Hyun, eine Koreanerin, die sechs Monate zuvor als Flüchtling aus ihrer kriegsgebeutelten Heimat nach Amerika gekommen war – wechselten sich damit ab, in der Mitte des Bettes zu liegen.

Heute war Hyun an der Reihe. Sie döste vor sich hin, ohne zu bemerken, wie Briet und Alton sich aus der Decke schälten und sich der unbarmherzigen Kälte dieses Wintermorgens aussetzten. Ein schriller Wind rüttelte an den Schlafzimmerfenstern.

Alton kratzte sich an seiner behaarten Brust. »Ich setze mal Wasser auf.«

Briet küsste seine stoppelige Wange. »Du bist der Beste.« Sie schlüpfte ins Bad, um sich die Zähne zu putzen und zu duschen.

Eine halbe Stunde später tappte sie die Treppe hinunter. Für die Arbeit trug sie ein einfaches dunkelblaues Kleid, die feuerroten Haare hatte sie unter einem Handtuch auf dem Kopf zusammengerollt. Als sie auf dem Weg in die Küche durchs Wohnzimmer ging, drang leise eine Jazzmelodie von Lester Young mit dem Oscar Peterson Trio aus den Stereolautsprechern des Plattenspielerschranks.

In der Küche hatte Alton ein einfaches Frühstück aus pochierten Eiern, Roggentoast und Tee vorbereitet. Seine Beharrlichkeit, jeden Morgen aufzustehen, um Briet das Frühstück zu machen, war eine der vielen kleinen Gefälligkeiten, die ihn bei ihr beliebt gemacht hatten. Er war nicht besonders hübsch – er ging auf die Vierzig zu, sein braunes Haar war schütter, und er hatte genau den Körperbau, den man von einem langjährigen Büroangestellten erwarten würde –, aber Briet liebte ihn für die Kunst in seiner Seele.

Und für seinen gewaltigen Schwanz. Sie war ja auch nur ein Mensch.

Sie aßen ohne Small Talk, denn er respektierte ihre Vorliebe für Stille, besonders am Morgen. Danach, während er das Geschirr abwusch, nahm sie sich ein paar Minuten Zeit, um sich nach oben zurückzuziehen und sich um Frisur und Make-up zu kümmern. Dann ging sie in ihr Arbeitszimmer, um sich mit einem Gefährten zu beschäftigen, der seit der Vorkriegszeit an ihrer Seite war: ihrem Rattenfamiliaris Trixim.

Trixim war aus Magick geboren und hatte seine weltliche Verwandtschaft um einiges überlebt. Briet schrieb seine Langlebigkeit zumindest teilweise dem Ausmaß zu, mit dem sie den rotäugigen schwarzen Nager verwöhnte und liebkoste. Er stellte sich auf seine Hinterbeine und knabberte eifrig, als sie ihn mit kleinen Häppchen Gruyère fütterte, und er leckte ihr die Hühnerleberpastete von der Fingerspitze, ohne sie zu beißen.

»Braver Junge, Trixim«, sagte sie und kraulte seinen Kopf, bevor sie ihm über den Rücken streichelte. »Sei kein Unruhestifter – bleib in deinem Käfig, bis ich heute Abend nach Hause komme.« Er bekräftigte ihre Anweisung, indem er ihr Handgelenk mit der Seite seines Gesichts anstupste.

Draußen vor dem Haus hupte es.

Aus dem ersten Stock rief Alton: »Dein Wagen ist da!«

»Ich komme.« Sie ließ ein paar letzte Käsestücke in Trixims Käfig fallen, eilte hinaus und schloss die Tür ihres Arbeitszimmers ab.

Am Fuß der Treppe küsste sie Alton, der ihr den taubengrauen Mantel hielt, damit sie hineinschlüpfen konnte. »Danke, mein Liebster«, sagte sie.

Er öffnete die Haustür und ließ einen Hauch kalter Morgenluft herein. »Ruf mich an, wenn du heute Feierabend hast. Ich mache Beef Wellington.«

»Das werde ich. Tschüssi.« Sie winkte zum Abschied, während sie die Treppe hinab und über den Gehweg zu einem schwarzen Lincoln Continental hüpfte, der vor dem Eingangstor ihres Sandsteinhauses stand. Sein Chauffeur wartete neben der Beifahrertür.

Der Fahrer öffnete die Tür und Briet kletterte ins Innere des Wagens, wo es angenehm warm war. Auf der Sitzbank lagen die Morgenausgaben der New York Times und der Washington Post. Als Gewohnheitstier griff Briet nach der New York Times und überflog die Schlagzeilen, um ein Gefühl für den Tag zu bekommen.

Wie es für eine Samstagszeitung typisch war, gab es keine Balkenschlagzeile. Der auffälligste Artikel war in der linken oberen Ecke versteckt: US-STANDPUNKT ZU ROTEN UND JAPAN ERHÄLT EINE BREITSEITE VON SEOUL. In der mittleren Spalte stand: PRÄSIDENT SOLL EINE STÄRKERE ROLLE BEI DER DURCHSETZUNG DER POLITIK ÜBERNEHMEN. Die anderen Top-Storys waren ähnlich düster: Vorschläge für neue Steuern, ein drohender Arbeiterstreik in den Häfen der Nation, Thailand drängte darauf, dass Indochina sich ihm anschließen solle, um einen antikommunistischen Block zu bilden … und dann, direkt oberhalb der Falte, die begrabene Schlagzeile:

NEUE BOMBENTESTS IM PAZIFIK GEPLANTGrößte Wasserstoffexplosion könnte erzielt werden

Der Eröffnungssatz des Artikels behandelte die Angelegenheit, als wäre sie nichts Besonderes: »Die Atomenergie-Kommission kündigte heute Abend Pläne für eine weitere Reihe von Tests für Atom- und wahrscheinlich Wasserstoffwaffen auf den Pacific Proving Grounds der Regierung an.«

Haben sie mich deshalb gebeten, an einem Samstag zu kommen?

Sie verwarf den Gedanken so schnell, wie er gekommen war. Atomwaffen machten Briet Angst und sie musste sich oft ins Gedächtnis rufen, dass diese und die damit verbundenen Probleme ausdrücklich nicht in ihren Aufgabenbereich fielen. Kernspaltungsbomben waren ihrer Meinung nach eine Verlockung zur Effekthascherei, nichts, was ein vernünftiger Mensch jemals wieder eingesetzt sehen wollte.

Zwei Bomben auf Japan waren mehr als genug, grübelte sie.

Jedenfalls hatten die Vereinigten Staaten Briet damit beauftragt, eine persönlichere Art der Verteidigung zu leiten. Eine, die auf ihre seltenen und gefährlichen Talente zugeschnitten war.

Sie beendete ihre Durchsicht der beiden Zeitungen, als ihr Fahrer den Wagen vor dem Eingang des Pentagons auf der North Rotary Road anhielt. Während der Fahrt war kein einziges Wort zwischen ihnen gefallen, so wie bei jeder anderen Fahrt, die sie gemeinsam gemacht hatten. Schließlich hatte es keinen Sinn zu versuchen, Lamien in ein Gespräch zu verwickeln. Die namenlosen Dämonen waren Kreaturen von geringer Intelligenz und reiner Bosheit; sie waren zuverlässig für einfache Aufgaben, solange sie unter fester Kontrolle blieben, aber sie würden nie für ihre »Sozialkompetenz« bekannt werden.

Briet ließ die Zeitungen auf dem Sitz zurück, als sie das Auto verließ und durch den ersten von mehreren Sicherheitskontrollpunkten zwischen ihr und ihrem endgültigen Ziel ging.

Offiziell war sie als zivile Forschungsassistentin eines mittleren Marineoffiziers gelistet, und das war es, was sie ihren beiden Liebhabern erzählt hatte. Es würde ihr rein gar nichts bringen, wenn sie ihnen die Wahrheit darüber sagte, wer sie wirklich war, oder über die wahre Natur ihrer Arbeit für das Verteidigungsministerium.

Nach einem langen Spaziergang durch die scheinbar endlosen Korridore des Pentagons, die fast alle gleich aussahen, brachte ein langsamer Aufzug – dessen Zugang im Untergeschoss von nicht weniger als drei bewaffneten Marines bewacht wurde – sie zu einer Unterebene, die auf keinem offiziellen Plan des Pentagons verzeichnet war. Mehr als zweihundert Meter unter der Erde bewachte ein weiteres Trio von Marines mit permanentem Stirnrunzeln eine massive runde Stahltür.

Ein Marine überprüfte ihren Ausweis, während ein anderer bereit war, sie zu erschießen, falls dieser der Überprüfung nicht standhielt. Der verantwortliche Marine erteilte ihr die Freigabe, der dritte Mann öffnete die Tür und führte sie durch das gewaltige Portal in Amerikas bestgehütetes Geheimnis.

Das Silo.

Der Hauptraum wirkte allein durch seine Größe einschüchternd. Die fünfeckige Grube maß hundertfünfzig Meter in der Breite und von ihrem wassergefüllten Tiefpunkt bis zu ihrer Decke war sie fast dreihundert Meter hoch. Auf einem Drittel des Weges vom Boden entfernt führte ein Stahlgitterlaufsteg zur Beschwörungsbühne, einer Plattform, die wie ein gleichseitiges Fünfeck geformt war und über dem Zentrum der Grube hing. An der Decke waren Industrieleuchten angebracht, die den Laufsteg und die Bühne in weißes Licht tauchten. Die Seiten der Plattform waren von Feuerschalen mit Holzkohle auf zwei Meter hohen Ständern umgeben.

Während magischer Rituale tanzten orangefarbene Flammen in den Kohlenbecken und die Lichter wurden ausgeschaltet, um alles jenseits des Bühnenrands in Dunkelheit zu hüllen. Bei eingeschaltetem Licht waren die Hochgeschwindigkeitskameras und elektromagnetischen Sensoren, die die Wände zierten, deutlich sichtbar. So beängstigend das Silo auch wirkte, Briet wusste, dass seine wahren Wunder hinter den vielen beidseitig verspiegelten Beobachtungsfenstern verborgen waren.

Dutzende von Unterebenen umgaben das Silo und waren vollgepackt mit denkenden Maschinen, die die Wissenschaftler Computer nannten. Sie waren strombetrieben und speicherten Informationen auf Magnetbandspulen. Die Daten, die die Sensoren und Kameras sammelten, wurden von einer Armee von Technikern, Physikern, Ingenieuren und – für Briet am überraschendsten – Juristen überwacht. Während die Wissenschaftler daran arbeiteten, die exotischen Partikel und Energien der Magick zu quantifizieren, um sie auf die rein wissenschaftliche Ebene zu reduzieren, beschäftigten die Anwälte sich damit, die verworrenen Begriffe und Formulierungen der dämonischen Pakte zu entwirren. Sie schienen davon überzeugt zu sein, dass sie Wege finden würden, Schlupflöcher in den Verträgen der Hölle auszunutzen und dadurch den Teufel selbst auszutricksen, um den Vereinigten Staaten besondere Vorteile zu verschaffen.

Während Briet allein auf ihrer Zauberbühne stand, spürte sie einen Anflug von Nostalgie.

Ich vermisse die Tage, als ich meine Magick ohne ein beschissenes Publikum anwenden konnte.

Schritte auf dem Laufsteg hallten in dem höhlenartigen Raum wider. Briet drehte sich um und sah, wie der Betriebsleiter des Silos, Frank Cioffi, die Brücke überquerte. Frank war in Briets Augen der Inbegriff des Langweilers. Blass von den Jahrzehnten, die er in geschlossenen Räumen verbracht hatte, jemand, der die Sonne nicht kannte. Glatzköpfig und mit Brille, mit einem Gesicht, das so schlicht war, dass es problemlos in jeder Menschenmenge untergehen konnte. Er trug das Outfit, das zum Klischee für das Auftreten von Ingenieuren und Wissenschaftlern geworden war: eine schwarze Hose, ein weißes, kurzärmeliges Hemd mit verdeckter Knopfleiste, eine schmale Krawatte, ein Einstecketui in der Brusttasche mit Kugelschreibern und einem Rechenschieber, schwarze Socken und mattschwarze Schnürschuhe.

Hinter ihm folgten zwei Männer und zwei Frauen, die sie alle noch nie zuvor gesehen hatte. Fremde. Das verheißt nichts Gutes.

Es dauerte ein paar Minuten, bis die Gruppe die Plattform erreichte. Briet schob ihre Langsamkeit auf Franks kurze Beine, schlecht sitzende Hose und seine schlechte Gesundheit. Soweit Briet herausgefunden hatte, war er kein übler Mensch, aber er war auch kein Ausbund an Integrität oder Mut. Außerdem hatte sie noch nie jemanden gesehen, der eine derartige Gabe besaß, gute Kleidung furchtbar aussehen zu lassen.

Frank versuchte, der Kritik, die man offensichtlich bereits an ihrer Miene ablesen konnte, mit einem fröhlichen »Guten Morgen, Briet!« zuvorzukommen.

»Ersparen Sie mir den Quatsch, Frank.« Sie hob ihr Kinn und deutete damit auf die vier Fremden hinter ihm. »Wer zum Teufel sind die?«

»Ihre neuen Tanisten.« Er drehte sich um und versuchte, sie vorzustellen. »Das ist …«

»Nein«, unterbrach ihn Briet. »Das mache ich nicht noch einmal.«

Sein Lächeln verflüchtigte sich und ließ seine Wangen resigniert erschlaffen. »Ich habe meine Befehle.«

»Das ist mir egal. Das ist das dritte Mal in neun Jahren! Jedes Mal, wenn ich ein Team von Adepten auf Vordermann bringe, werden sie versetzt und irgendein Bürokrat schickt mir vier Neulinge. Ich habe es satt, Frank.«

»Sie wissen doch, wie es hier läuft, Bree. Es geht nur darum, Redundanzen in unserem Verteidigungsplan zu schaffen. Sollte Washington je von einer russischen Atombombe getroffen werden, brauchen wir magische Verteidigungsteams an sicheren Orten, die bereit sind weiterzumachen, wenn wir weg sind.«

Sie ging um Frank herum und begutachtete die neueste Gruppe von Dilettanten. Einer der Männer sah chinesisch aus, der andere war blass und blond. Beide waren schlank und sehnig, mit von Entbehrungen gezeichneten Gesichtszügen. Briet wählte den Quasi-Albino aus. »Du. Welcher Dämon wurde durch Salomons dreiundvierzigstes Siegel gebunden?«

Er sah aus wie ein Kaninchen, das kurz davor ist, überfahren zu werden. »Ähm …«

»Halt die Klappe.« Briet zeigte auf den Chinesen. »Du?«

»SARGATANAS?«

»Fragst du mich oder sagst du es mir?«

Er fasste sich ein Herz. »Ich sage es Ihnen. Es ist SARGATANAS.«

»Falsch. Es ist SABNOCK. Sag nichts mehr, es sei denn, ich gebe dir die Erlaubnis.«

Briet drehte sich zu den beiden Anwärterinnen um. Die größere der beiden war dunkelhäutig und trug ihr Haar in einem dramatischen Afro. »Ich mag deine Haare. Dämonen auch. Wenn du diese Frisur bei einem Experiment trägst, garantiere ich dir, dass ein Dämon dir jedes einzelne Haar vom Kopf reißen wird. Schneid das Ganze ab, heute noch.«

Die getadelte Frau sank in sich zusammen. Briet sah die letzte neue Adeptin an. Die zweite Frau war klein, muskulös und trug ihr Haar in einem engen Dutt. Ihre Finger waren schwielig und ihre Augen besaßen einen scharfen Blick. Sie schien Kompetenz auszustrahlen. Aber Briet musste sich sicher sein.

»Um durch die Flammen von PARAGO zu sprechen, was muss man opfern?«

»Steinsalz und Merkur-Weihrauch aus schwarzem Nelkenpulver.«

Das war die richtige Antwort, die ohne Zögern und unmissverständlich gegeben wurde. Für Briet war bereits klar, welcher ihrer vier neuen Adepten schnell in die Führungsrolle der Gruppe aufsteigen würde.

Trotzdem nahm sie Frank zur Seite. »Die Sache gefällt mir nicht.«

»Mir auch nicht. Aber es ist ja nicht so, als ließe die Regierung uns eine Wahl.«

»Sagen Sie mir wenigstens, wohin die letzte Gruppe geschickt wurde.«

Frank schüttelte den Kopf. »Sie wissen, das kann ich nicht. Selbst wenn sie es mir sagen würden, was sie nicht tun, wäre es streng geheim.« Er senkte seine Stimme und setzte eine entschuldigende Miene auf. »Tun Sie uns beiden einen Gefallen: Machen Sie keinen Ärger. Jedes Mal, wenn so etwas passiert, kriegen Sie einen Anfall. Das macht die Chefetage nervös. Und glauben Sie mir – das wollen Sie nicht. Wenn etwas die Oberen verängstigt, ist ihr erster Instinkt immer derselbe: Töte es.« Er warf den neuen Adepten einen Blick zu und flüsterte: »Tun Sie einfach, wofür man Sie bezahlt.«

Er klopfte ihr auf die Schulter, als wären sie Verschwörer, die sich abgesprochen hatten, obwohl Briet in Wirklichkeit kurz davor stand, an die Decke zu gehen. Aber sie wusste, dass es eine Legion von Soldaten, Wissenschaftlern und Spezialisten gab, die sie auf Schritt und Tritt beobachtete. Wenn sie rebellierte oder hier im Silo den Anschein erweckte, eine Dissidentin zu sein, würden die Marines zwischen ihr und dem Ausgang dafür sorgen, dass sie das Pentagon niemals lebend verließ.

Sie wandte sich ihren Adepten zu. Hinter ihnen watschelte Frank über die Stahlgitterbrücke, zurück zur Wand des Silos. Briet klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit ihrer Adepten auf sich zu ziehen. »Mit einer Ausnahme seid ihr die am schlechtesten vorbereitete Gruppe von Adepten, die mir je untergekommen ist. Also werden wir heute damit beginnen, die Grundlagen der zeremoniellen Magick zu wiederholen. Passt auf, was ich euch sage, denn dieses Wissen wird euch lange genug am Leben erhalten, dass ihr den Versuch wagen könnt, die Kunst zu meistern. Jegliche Magick, vom einfachsten Trick bis zum großartigsten Wunder, basiert auf der Beschwörung und Kontrolle von Dämonen. Es gibt keine Ausnahmen. Macht man einen Fehler bei seinen Glyphen, seinen Schutzzaubern oder den materiellen Komponenten seines Rituals, ist man sehr schnell tot.«

Sie umkreiste die Adepten, musterte sie und lotete ihre Reaktionen aus, während sie fortfuhr. »Eine Person, die Magick praktiziert, ist ein Adept. Die niedrigste Stufe eines Adepten ist ein Novize. Danach kommt der Akolyth. Schließlich folgt die höchste Klasse, die Karcist genannt wird. Ich bin eine Meister-Karcistin. Drei von euch sind so erbärmlich, dass ich denke, man sollte euch eher Aspiranten als Novizen nennen. Wenn einer von euch die erste Woche des Trainings lebend übersteht, werde ich mir vielleicht die Mühe machen, eure verdammten Namen zu lernen.

Die Beschwörung einer Präsenz, ob höllischen oder himmlischen Ursprungs, wird als Experiment bezeichnet. Der Magicker, der ein Experiment durchführt, wird Anwender genannt. Diejenigen, die dem Magicker assistieren, werden Tanisten genannt. Einen Dämon eine Aufgabe erfüllen zu lassen, besonders eine, die in einiger Entfernung ausgeführt wird, nennt man eine Entsendung. Wenn ein Karcist einen Dämon schickt, um einer Person zu schaden oder sie zu entführen, wird das Ziel als Patient bezeichnet. Wenn euch diese Begriffe altmodisch und steril vorkommen, gebt Aristoteles die Schuld. Aber sagt es mir nicht, es ist mir egal.

Karcisten erhalten Macht durch das Unterzeichnen dämonischer Pakte. Wenn ihr einen Handel mit einem Gesandten oder Herrscher der Hölle abschließt, verdient ihr euch das Recht, Pakte mit allen Dämonen zu schließen, die ihm unterstehen. Aber wählt euren Patron mit Bedacht. Es gibt sechs Gesandte der Hölle, aber ihr könnt nur einen als Patron haben. Wählt man einen geringeren Gesandten, lässt sich dieser leichter beeinflussen, aber er wird nicht so viel zu bieten haben. Wählt man einen der größeren Dämonen, könnte man sich auf alle Ewigkeit als sein Sklave wiederfinden.«

Briet beendete ihre Umrundung der Adepten und stellte sich in die Mitte des ihr angestammten Platzes auf der Beschwörungsbühne, den Anwenderkreis. »Das schwierigste Kunststück in der Magick ist das sogenannte Unterjochen. Das geschieht, indem man einen Dämon dazu zwingt, seinen Geist an unser eigenes Fleisch zu binden, sodass man seine Kräfte als die eigenen verwenden kann. Einige dieser Verbindungen sind durch die Bedingungen eures Paktes mit dem Dämon begrenzt; in manchen Fällen wird ein Dämon so lange gebunden bleiben – und nur so lange – wie ihr körperlich und geistig stark genug seid, um ihn im Bann zu halten. Aber seid gewarnt: Sich einen Dämon untertan zu machen ist elende Arbeit. Selbst einen einzigen in eurem Bann zu halten wird eure Eingeweide in Schlamm verwandeln. Ihr werdet Albträume und Nasenbluten haben und euer Leben wird sich wie ein permanenter verdammter Kater anfühlen. Ein Dämon, der in euch gefangen ist, wird euch dazu bringen, Löcher in eure Haut zu kratzen und euch die Haare auszureißen. Wenn ihr zu viele Dämonen bindet oder sie zu lange haltet, kann euch die Belastung in den Wahnsinn treiben. Und es liegt in der Natur der Dämonen, euch in dem Moment zu verlassen, in dem eure Kraft schwindet oder eure Konzentration nachlässt. Gerade dann, wenn ihr sie am meisten braucht, werden sie euch immer verraten.« Sie klatschte in die Hände und verbarg ihre Belustigung, als alle vier Adepten blinzelten, als wären sie aus einer Trance erwacht. »Also … irgendwelche Fragen?« Die vier Adepten schüttelten den Kopf. Briet zeigte auf die Männer und die große Frau. »Ihr drei, geht und lest das Buch der schwarzen Magie von Waite. Denkt nicht mal daran, wieder einen Fuß in diesen Raum zu setzen, bevor ihr es nicht auswendig kennt.« Sie fragte die kleine Frau: »Hast du deine Werkzeuge schon hergestellt?«

»Nein, Ma’am. Aber ich habe eine Ausbildung in Metallverarbeitung und Glasbläserei erhalten. Ich bin bereit anzufangen.«

»Melde dich bei Sergeant Chapman auf Unterebene neun. Sie wird dich an der Elektroschmiede einweisen. Je eher wir dich ausrüsten, desto besser.« Mit beiden Händen wedelnd, scheuchte sie ihre Adepten in Richtung Metallsteg. »Das war’s für heute. Alle raus. Geht.«

Briet stand allein auf der Plattform und beobachtete, wie ihre neuesten Schüler davongingen. Wie lange werde ich brauchen, um diese Stümper auszubilden? Und wenn ich das getan habe, wie lange wird es dauern, bis sie durch dieselbe Drehtür verschwinden, die mir meine letzten zwölf Adepten geraubt hat? Sie achtete darauf, dass ihr Gesicht ihre Wut oder ihr wachsendes Misstrauen nicht verriet und spähte zu den unzähligen Fenstern und Kameras hoch.

Redundanzen, von wegen. Was verschweigen mir diese Leute?

Das war eine Frage, die niemand im Silo beantworten wollte, aber Briet war es leid, darauf zu warten, dass sie sie in ihre Pläne einweihten. Auf die eine oder andere Weise würde sie die Wahrheit erfahren – ob es ihren Meistern gefiel oder nicht.

9. JANUAR

TEIL II

Im rechtlichen Sinne war El Alto eine eigene Stadt, vollkommen getrennt von der angrenzenden bolivianischen Hauptstadt La Paz. In der Praxis jedoch war sich Anja sicher, dass die Stadt El Alto ohne die Lebenskraft von La Paz verdunsten würde wie Schweiß in einer Wüste.

Der Großteil der Stadtbevölkerung bestand aus amerikanischen Ureinwohnern, aber niemand schien in dem heruntergekommenen Sektor der Stadt zu leben, in dem Anja ihren Unterschlupf eingerichtet hatte. Das Gebäude war ein schmaler Kasten, drei gedrungene Stockwerke hoch, mit einer umlaufenden, drei Meter hohen Mauer, alles aus dem gleichen billigen roten Backstein gefertigt. Das Haus war durch ein Eisentor am Haupteingang und Wellblechbarrieren vor der engen Garage auf Straßenebene geschützt. Das mittlere Stockwerk bestand aus einem weitläufigen Raum mit Wänden und Boden aus gebleichtem Beton. Die darin herrschende Leere machte ihn zum idealen Beschwörungsort, genau wie die Lage des Hauses an der nordwestlichen Ecke des El Alto International Airport. Alle lauten oder störenden Geräusche, die von Anjas weit entfernten Nachbarn oder zufälligen Passanten wahrgenommen werden könnten, würden auf den Flughafen geschoben werden, lange bevor jemand auf die Idee käme, dass es sich um das Brüllen von Dämonen oder die Schreie der Verdammten handeln könnte.

Sie lebte zurückgezogen in der obersten Etage des Gebäudes, einem L-förmigen Raum, der die Nord- und Ostseite der großen Dachterrasse einrahmte. Es gab fast keine nennenswerten Einrichtungsgegenstände. Die wenigsten Mietwohnungen in der Umgebung von La Paz waren möbliert zu haben. Anja hatte gelernt, sich klaglos an Situationen wie diese anzupassen; sie hatte ihren Schlafsack, ein Dach über dem Kopf und eine funktionierende Glühbirne, die an einem ausgefransten Draht von der Stuckdecke baumelte. Verglichen mit den Nächten, die sie während des Großen Vaterländischen Kriegs bei der Roten Armee verbracht hatte, war das hier Luxus.

Mit einer Wodkaflasche in der linken Hand blätterte Anja mit der rechten Hand im Odessa-Journal.

Die Seiten des ledergebundenen Buchs waren vollgepackt mit Initialen, Adressen, Aneinanderreihungen von Buchstaben und Zahlen ohne Kontext sowie Randbemerkungen in einer Vielzahl von Sprachen – hauptsächlich Deutsch, aber auch Latein, Griechisch, Arabisch, Hebräisch, Japanisch und ein paar, die Anja nicht kannte. Außerdem gab es grob gezeichnete Darstellungen von obskuren dämonischen Siegeln und Beschwörungskreisen, gefolgt von Anweisungen in Fußnoten. Es war ein Buch voller Rätsel, Mysterien und Geheimnisse.

Der Inhalt hingegen war zum Teil sehr eindeutig.

Anja blätterte durch lange Passagen in deutscher Sprache, fasziniert von den verborgenen Machenschaften der »Rattenlinien«, einem Untergrundnetzwerk, das von der römisch-katholischen Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg organisiert worden war. Sein Zweck war es, Nazis aller Couleur – vom kleinen Angestellten bis zum meistgesuchten Kriegsverbrecher – zu helfen, aus Europa zu fliehen und in Südamerika eine neue Identität anzunehmen. Die Beteiligung eines mit den Nazis sympathisierenden katholischen Bischofs namens Alois Hudal war 1947 aufgedeckt worden, nicht aber das wahre Ausmaß der Verschwörung. Der katholische Prälat hatte die Flucht von Tausenden Nazis nach Argentinien, Uruguay, Paraguay, Chile und Bolivien ermöglicht.

Ich wusste es, ärgerte sich Anja beim Lesen. Während des gesamten Zweiten Weltkriegs hatten die katholische Kirche und der Vatikan standhaft ihre Neutralität in Bezug auf den Konflikt beteuert. Doch wenn das Odessa-Journal ein wahrheitsgetreuer Bericht war, hatte die katholische Kirche die Welt belogen. Von wegen neutral. Sie haben sich auf die Seite der Faschisten gestellt. Auf die der Kriegsverbrecher.

Einen Moment lang schwelgte sie in Fantasien über Rache an den Mitgliedern der katholischen Kirche, die den Nazis geholfen hatten, aber dann erinnerte sie sich an die Bedingungen des Abkommens. Der gleiche Waffenstillstand, der verhinderte, dass sich Weiß- und Schwarzmagicker gegenseitig in ihre heiklen Experimente einmischten, verbot ihr auch direkte Angriffe auf den Klerus.

Ein teuflischer Gedanke schlich sich in ihren Kopf.

Israels Kabbalisten sind nicht an das Abkommen gebunden.

Genauso schnell, wie sie die Idee erwogen hatte, verwarf sie sie wieder. Die Israelis leben ohnehin schon auf Messers Schneide. Das Letzte, was sie tun wollen, ist, sich den Vatikan zum Feind zu machen.

Sie legte das Tagebuch beiseite und wühlte sich durch den restlichen Inhalt der Ledertasche, die sie dem deutschen Motorradfahrer abgenommen hatte. Darin befanden sich kleine Fläschchen mit ätherischen Ölen, sowohl gewöhnlichen als auch seltenen – Sandelholz, Kampfer, Abramelin, römische Kamille und Jasmin-Absolute; Federkiele, die aus den Federn von Adlern, Krähen, Schneeeulen und Gänsen gefertigt waren, zudem drei Fläschchen mit Tinte, die jeweils mit TINTENFISCH, INDIEN und PAKTTINTE beschriftet waren.

Das Ziel des heutigen Abends war definitiv ein Karcist, schloss Anja. Vielleicht sogar der Anführer eines der neuen Zirkel der Schwarzen Sonne, die ich gejagt habe. Das und die Informationen über die Rattenlinien machen dieses Buch bestimmt wertvoll für den Mossad. Sie blätterte zum Ende des Buchs und studierte das Mandala der Schwarzen Sonne, das auf die Innenseite des hinteren Einbandes gezeichnet war. Aber wie wertvoll? Genug, um sie zu überzeugen, mir bei der Übersetzung des Eisernen Kodex zu helfen?

Neun Jahre. So lange kämpfte Anja schon damit, aus dem uralten Grimoire, bekannt als der Eiserne Kodex, schlau zu werden. Es war ihr von ihrem verstorbenen Meister Adair Macrae vermacht worden, dem einzigen Menschen, den sie je gekannt hatte, der tatsächlich gelernt hatte, wie man das Buch für Magick verwendete, die auf der Macht von Engeln beruht. Er hatte es einmal benutzt, um Engel an sich selbst und an sie zu binden, und er hatte sie bei einem bestimmten Ritual angeleitet, um ihren Mitstreiter – und Adairs geschätzten Schüler – Cade Martin aus einem sechsmonatigen Exil in der Hölle zu befreien.

Seitdem hatte sie es nicht geschafft, auch nur ein einziges beschissenes Wort aus dem Buch zu übersetzen.

Sie wusste, dass es eine Ressource von enormer Macht war. Adair hatte ihr das selbst gesagt und sie hatte aus erster Hand erlebt, wozu man es verwenden konnte. Aber die Seiten enthielten keine simplen Dinge wie Diagramme. Alle Anweisungen waren in Proto-Henochisch geschrieben, der Sprache, die von Engeln in der Epoche vor dem Sündenfall benutzt worden war. Folglich war dämonische Hilfe nutzlos, wenn man versuchte, die langen Passagen des Buches zu interpretieren. Wie ihr Waffenbruder es einmal ausgedrückt hatte, war der Versuch, Proto-Henochisch zu lesen, für Dämonen gleichbedeutend damit, sich die Augen mit Lauge auszuwaschen.

Und so lag das Buch in seinem Versteck, ungeöffnet und unberührt, und verhöhnte sie.

Ich war so sicher, dass ich es meistern würde. Stattdessen macht es mich zum Idioten.

Eine Zeit lang hatte sich das Buch in der Obhut einer Gruppe von Kabbala-Gelehrten befunden. Als Praktizierende der Weißen Magick, der Paulinischen Kunst, konnten sie himmlische Hilfe in Anspruch nehmen, um das Buch zu lesen. Doch die wenigen Meister der jüdischen mystischen Tradition, die den Nazi-Holocaust überlebt hatten, waren nicht daran interessiert, einer goëtischen Magickerin wie Anja zu helfen, die Geheimnisse des Kodex zu entschlüsseln.

Es gab natürlich eine andere Alternative. Eine, die sich als schneller und weniger kostspielig erweisen könnte. Sie könnte sich einfach an Cade wenden und ihn um Hilfe bitten. Aber dann müsste Anja ihren Stolz hinunterschlucken, und das war eine Aussicht, die noch unangenehmer war als die, den Mossad zu bestechen.

Es lag nicht nur an der übernatürlichen Leichtigkeit, mit der der junge Amerikaner Proto-Henochisch lesen konnte. Oder weil er nach dem Krieg seine Macht als Karcist in einem Maße ausgebaut hatte, das Anja demütigend und entmutigend fand. Oder weil Anja vor ein paar Jahren das Risiko eingegangen war, sich mit ihm auf eine kurzlebige, heiße Affäre einzulassen, die Cade wohl tief unter die Haut gegangen war, die Anja aber das Gefühl gegeben hatte, ungeschützt, verletzlich und zutiefst verwirrt zu sein …

Belüg dich nicht selbst, schimpfte sie mit ihrem Ego. Deine schiefgelaufene Romanze ist genau der Grund, warum du nicht mit ihm reden willst. Du würdest lieber riskieren, vom Mossad erschossen zu werden, um auch nur eine Seite des Kodex übersetzt zu bekommen, als Cade in die Augen zu sehen und ihm die Wahrheit sagen zu müssen.

Es war kindisch. Feige. Unter ihrer Würde.

Aber es war einfach und es gab niemanden, der sie unter Zugzwang setzte.

Anja setzte die Flasche an und leerte den letzten Rest Wodka mit einem Zug. Ein ganzer Liter während einer Sitzung. Ich werde langsam so schlimm wie Cade. Sie ließ die leere Flasche in eine Ecke rollen, während sie sich rücklings auf ihre Bettrolle und das Kissen fallen ließ.

Sie starrte zur nackten Glühbirne über ihr hinauf, aber sie war zu müde, um aufzustehen, und lieh sich BAELS Hand, um an der Kette der Lampe zu ziehen und ihren winzigen Wohnraum in feuchte Dunkelheit zu tauchen. Er und der Schilddämon AMYNA waren die letzten, die sie in ihrem Bann gehalten hatte, nachdem sie alle anderen entlassen hatte. Sie wusste, dass sie sich völlig frei von Dämonen schneller erholen würde, aber Paranoia und Erfahrung zwangen sie, wann immer möglich mindestens einen Dämon zur Verteidigung und einen zum Angriff an sich gebunden zu halten.

Am nächsten Morgen würde sie sich in die Innenstadt von La Paz wagen. Obwohl der noch im Entstehen begriffene Staat Israel kein Konsulat oder eine Botschaft in Bolivien hatte, gab es in einem Bürogebäude im Stadtteil Sopacochi Briefkästen. Anja wusste, dass sie dort Nachrichten hinterlassen konnte, die zeitnah empfangen und beantwortet werden würden. Sie würde ihren Mossad-Kontakt wissen lassen, was sie gefunden hatte, und versuchen einzuschätzen, ob die Israelis daran interessiert waren – und wenn ja, in welchem Ausmaß.

Bis dahin konnte sie nichts weiter tun, als frei von Albträumen zu schlafen.

Hört zu, mahnte sie ihr lästiges Dämonenpaar. Ein böser Traum, ein Nasenbluten oder auch nur eine Sekunde Migräne, und ich werde dafür sorgen, dass ihr beide ein Übermaß an Qualen erleidet, wenn ich euch das nächste Mal unterjoche. Wenn mich einer von euch verärgert, werdet ihr beide leiden. Habt ihr verstanden?

Ihre mentale Herausforderung wurde mit mürrischem Schweigen beantwortet.

Das dachte ich mir.

Sie hatte ihr nächtliches Ultimatum abgeliefert, schloss die Augen und fiel in einen tiefen, schwarzen Schlaf.

10. JANUAR

»Nehmt eure Plätze ein«, sagte Dragan zu seinen vier Tanisten. »Es ist Zeit.«

Der Festsaal war mit sorgfältigem Blick fürs Detail vorbereitet worden. Es gab einen großen Schutzkreis, mit jungfräulicher Kreide auf den Parkettboden gezeichnet. Darin war ein Pentagramm eingraviert, das die vier für Dragans Tanisten reservierten Stationen enthielt, und an dessen Spitze sich der Kreis seines Anwenders befand. Flammen tanzten träge auf Kerzen, die aus dem Bienenwachs eines neuen Bienenstocks gezogen worden waren; frisch geweihte Holzkohle glühte im Kohlenbecken neben Dragans Pult, auf dem sein Grimoire lag; die für das morgendliche Experiment benötigte Seite war aufgeschlagen. Ein gemischter Duft aus Kampfer und Sandelholz lag in der kalten Morgenluft.

Seine Tanisten traten in ihre Kreise und zogen die Kapuzen ihrer Messhemden tief ins Gesicht. Dragan schüttelte den Kopf über sie. Als ob das ihre Seele vor den Heerscharen der Hölle verbergen könnte. Das Niveau der Ausbildung ist gesunken, seit die Thule-Gesellschaft zur Schwarzen Sonne wurde.

Er rückte den Gürtel seiner eigenen Kutte zurecht und setzte sich die Papiermitra auf den Kopf, wobei er darauf achtete, dass der Name EL nach vorne zeigte. Dann trat er in den Anwenderkreis und schloss diesen feierlich mit der Spitze seines Schwerts. »Von diesem Moment an bis zum Ende des Experiments darf sich niemand von euch bewegen. Sprecht nicht mit dem Dämon, selbst wenn ihr angesprochen oder etwas gefragt werdet. Ein Wort, eine Bewegung, die nicht der Wahrheit entspricht, und ihr verdammt euch selbst zum Tode – und möglicherweise uns andere gleich mit. Also bleibt standhaft und schweigt.« Die Tanisten quittierten seine Anweisung mit langsamem, stoischem Nicken. »Lasst uns beginnen.«

Dragan wusste, was kommen würde und war dankbar, dass der Rest des Herrenhauses leer war. Der Herr, die Familie und die Dienerschaft waren alle im Urlaub. Ihre Abwesenheit und der einen Kilometer breite Streifen offenen Geländes zwischen dem Haupthaus und dem nächsten bewohnten Gebäude gewährten ihm und seiner Gruppe die dringend benötigte Privatsphäre.

Dragan legte sein Schwert quer über seine Fußspitzen, die in weißen Lederschuhen steckten. Er achtete darauf, dass das Schwert in dieser Position blieb, richtete sich auf und konzentrierte seine Gedanken auf die aufgeschlagene Seite seines Grimoire. Dann begann er das Ritual.

Unter seinem Gewand holte er einen kleinen Schmelztiegel hervor und stellte ihn vor seinen Füßen ab. Sobald das Gefäß den Boden berührte, kroch eine grüne Flamme aus der Schale empor. Dragan nahm eine Prise Weihrauch aus einem Beutel an seinem Gürtel und warf sie in die Flammen. Dann hob er seinen Zauberstab und stimmte mit ruhiger Stimme an: »Holocaust. Holocaust. Holocaust.«

Die smaragdgrünen Flammen tanzten höher und heller.

»Wir sollen GŌGOTHIEL anrufen, einen großen Fürst der Absteigenden Hierarchie. Bevor er fiel, gehörte er der Ordnung der Fürsten an. Seine Tugend ist, dass er Anweisungen in gutem Glauben befolgt. Bleibt jetzt standhaft.« Dragan stieß seinen Zauberstab in die auflodernden Flammen des Kohlenbeckens.

Eine Fontäne violetter Funken brach aus dem Schmelztiegel hervor, prallte von der hohen Decke ab und verteilte sich im Raum, der von markerschütterndem Heulen und gespenstischem Wehklagen widerhallte. Ein fauliger Geruch hüllte Dragan und seine Tanisten ein und auf einmal war der große Kreis von einem Strudel dichten Nebels umgeben, in dem Spektrallichter flackerten.

Über das infernalische Getöse hinweg rief Dragan: »Ich beschwöre Euch, großer GŌGOTHIEL, als Vertreter des Herrschers LUZIFER und seines geliebten Sohnes LUCIFUGE ROFOCALE, bei der Macht des Paktes, den ich mit Euch geschlossen habe, und bei den Namen ADONAY, ELOHIM, JEHOVAM, TAGLA, MATHON, ALMOUZIN, ARIOS, PITHONA, SYLPHAE, SALAMANDRAE, GNOMUS, TERRAE, COELUS, GODENS, AQUA und bei der gesamten Hierarchie der höheren Intelligenzen, die Euch gegen Euren Willen festhalten werden, venité, venité, submirillitor GŌGOTHIEL!«

Der Lärm rund um den Kreis schwoll an und die Dämpfe, die von Dragans Feuerschale aufstiegen, begannen nach brennender Fischgalle und eitrigen Exkrementen zu stinken. Außerhalb des Kreises stieg die Nebelwand höher und drehte sich schneller, angetrieben von einem heulenden Wind.

»Ich beschwöre Euch, GŌGOTHIEL, bei dem Pakt und bei den Namen, erscheine sofort!«

Dragan rammte seinen Zauberstab in die glühenden Kohlen zu seinen Füßen.

Der Raum schrie auf, aber der Dämon war nirgendwo zu sehen.

»Nun beschwöre ich Euch, LUCIFUGE ROFOCALE, den ich als Beauftragten des Herrn und des Herrschers der Herren befehlige, schickt mir Euren Boten GŌGOTHIEL, zwingt ihn, sein Versteck aufzugeben, wo auch immer es sein mag, und ich warne Euch …!« Ein weiterer Stoß seines Zauberstabes in die Flammen löste einen Donnerschlag aus und der Boden unter dem Haus erbebte mit schrecklicher Gewalt.

Er wollte gerade fortfahren, als Etwas Anderes sagte: HÖRT AUF MIT EUREN KLEINLICHEN QUÄLEREIEN. ICH BIN HIER.

Die Bestie manifestierte sich innerhalb einer Glyphe der Eindämmung einige Meter nordöstlich des großen Kreises. Seine gespaltenen Hufe waren sicher innerhalb des inneren Dreiecks der Glyphe gebunden und er konnte sich ohne die ausdrückliche Anweisung und Erlaubnis des Anwenders nicht über die Grenzen des Kreises hinauswagen. Im Gegensatz zu vielen der Gefallenen glich GŌGOTHIEL nicht einer unheiligen Vermählung verschiedenartiger Tiere. Seine Gestalt wirkte vage menschlich, aber abgemagert, als hätte man ihn bis auf die Knochen ausgehungert, und seine Haut war lederartig und schwarz. Am beunruhigendsten war sein seltsamer Kopf, der zu einer geschwungenen phallischen Form ohne Augen, aber mit einem Maul voller haifischartiger Zähne verzerrt war.

Er strahlte Verachtung aus, während er Dragan und seine Tanisten musterte.

WARUM STÖRT IHR MEINE RUHE? WAS WOLLT IHR VON MIR?

»Eine Entsendung, die Eurem Talent und Temperament entspricht. Ich beauftrage Euch, bei den Namen, die ich angerufen habe, und unter Androhung der Qualen, die Ihr erfahren habt, das Abbild des Luftfahrzeugs, das vor meinem geistigen Auge schwebt, zu betrachten. Wenn ich Euch entlasse, sollt Ihr euch sofort zu diesem Luftfahrzeug begeben, ohne Euch irgendjemandem innerhalb oder außerhalb des Luftfahrzeugs zu erkennen zu geben, und es auf seiner nächsten Reise begleiten. Sobald sich das Luftfahrzeug über einem Gewässer befindet, das tief genug ist, um sicherzustellen, dass sein Wrack nicht geborgen werden kann, sollt Ihr das Luftfahrzeug in Stücke reißen und nicht nur seine Zerstörung garantieren, sondern auch den Untergang aller Seelen an Bord. Außerdem werdet Ihr mir eine Vision dieser Entsendung zeitgleich zu ihrer Ausführung übermitteln, damit ich sicher sein kann, dass sie zu meiner Zufriedenheit ausgeführt wurde.«

Er spürte den Hass des Dämons auf ihn. Er war ebenso tief wie grenzenlos.

ICH KANN EUCH NICHT GEBEN, WAS IHR VERLANGT.

»Weigerung wird Euch nichts nützen«, warnte Dragan. »Entweder Ihr geht sofort und tut, was ich Euch befehle, oder ich entlasse Euch in keiner Weise, sondern behalte Euch hier bis an mein Lebensende und quäle Euch täglich, wie Euer Vater es gestattet.«

Die Bestie entblößte ihre Reißzähne zu einem spöttischen Grinsen. EUER LEBEN IST NUR EIN TAG FÜR MICH, ABKÖMMLING VON EVA. EURE QUALEN SIND NUR EINE SCHWACHE I