Die Eulenflüsterin - Tanja Brandt - E-Book

Die Eulenflüsterin E-Book

Tanja Brandt

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Beschreibung

"Ich war ein Kind, das nie gewollt war", sagt Tanja Brandt. Sehr schmerzhaft sind ihre Erinnerungen, sobald sie über ihr Elternhaus spricht. In ihrem Buch schreibt sie über ihren harten Lebensweg und die Liebe zu den Tieren, die sie daran erinnert, dass Träume wahr werden können. Auch lernt sie von ihren Tieren, was es braucht, um glücklich zu sein: Von Ingo, dem Schäferhund, alles über Geborgenheit. Von Bärbel Mitgefühl und Verlässlichkeit, und auch Gandalf zeigt ihr, wie wunderbar Fürsorge ist.

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Seitenzahl: 240

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Prolog: Frei und wild

Teil 1: Keine Wurzeln, keine Flügel

Kapitel   1: Unter Stallhasen

Kapitel   2: Molche, Mäuse und das Pferd

Kapitel   3: »A Spaceman Came Travelling«

Kapitel   4: Wohin gehöre ich?

Kapitel   5: Und es geht abwärts

Kapitel   6: Unter Fernfahrern

Kapitel   7: Ziny & Ingo

Kapitel   8: Neubeginn

Bildteil

Teil 2: Meine Tiere, mein Leben

Kapitel   9: Die Sprache der Tiere

Kapitel 10: Phönix

Kapitel 11: Poldi, Finchen & die Royals

Kapitel 12: Gandalf

Kapitel 13: Uschi

Kapitel 14: Klaus-Bärbel

Kapitel 15: Lenni

Kapitel 16: Rüdiger & Lusi-Lu

Kapitel 17: Alle meine Patienten

Kapitel 18: Eulenflüsterin

Nachwort: Ausblick

Danksagung

Weitere Titel der Autorin

Wo die Liebe hinfliegt

Liebe verfliegt nicht

Nimm’s federleicht

Ich flieg auf dich

Über das Buch

»Ich war ein Kind, das nie gewollt war«, sagt Tanja Brandt. Sehr schmerzhaft sind ihre Erinnerungen, sobald sie über ihr Elternhaus spricht. In ihrem Buch schreibt sie über ihren harten Lebensweg und die Liebe zu den Tieren, die sie daran erinnert, dass Träume wahr werden können. Auch lernt sie von ihren Tieren, was es braucht, um glücklich zu sein: Von Ingo, dem Schäferhund, alles über Geborgenheit. Von Bärbel Mitgefühl und Verlässlichkeit, und auch Gandalf zeigt ihr, wie wunderbar Fürsorge ist.

Über die Autorin

Die Fotografin und Falknerin Tanja Brandt bezeichnet Tiere als ihre absolute Leidenschaft. Mit ihren Schäferhunden lebt sie schon lange zusammen, heute hat sie außerdem zwei Wüstenbussarde, eine Schneeeule und den Steinkauz Poldi. Sie führte eine Spedition und fuhr zeitweise als Lkw-Fahrerin durch die Republik, bis sie sich entschloss in die Falknerei Bergisch Land nach Remscheid zu ziehen und sich ganz ihrer Leidenschaft, der Falknerei und Tierfotografie zu widmen.

TANJA BRANDT

DIEEULENFLÜSTERIN

Was ich von meinen Tierenüber das Leben lernte

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Unter Mitarbeit von: Angela Kuepper, München

Fotos im Innenteil: Tanja Brandt, Daniela Hofer, Daniela Oliva, Matthias Schotthöfer

Lektorat: Friedel Wahren

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

Einband-/Umschlagmotiv: © Tanja Brandt

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-8005-7

be-ebooks.de

lesejury.de

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Dieses Buch widme ich allen Tieren,die mit mir zusammengelebt haben, und denen,die es noch immer tun, den Menschen, die mich begleitet habenund noch immer begleiten – und ganz besonders Ingo,der mein Leben so verändert hat.

PROLOGFREI UND WILD

Am frühen Abend, wenn die Sonne hinter den Feldern untergeht, kehrt etwas Ruhe bei mir ein. Alle Eulen sind gefüttert, die gefiederten Patienten fürs Erste versorgt. Ingo, mein belgischer Schäferhund, strotzt vor Energie, will raus in die Natur, und auch ich sehne mich danach, die Seele ein wenig baumeln zu lassen. Und so sage ich Ingo Bescheid, dass wir noch einen kleinen Ausflug machen, nehme Phönix, meinen schlauen Wüstenbussard, auf die Hand, suche den Autoschlüssel, und schon kann es losgehen.

Vor Millionen von Jahren erstreckte sich in der Kölner Bucht eine riesige Sumpflandschaft, in der Urwälder mit meterhohen Farnen und Schuppenbäumen gediehen. Über die Zeit hinweg entstand daraus Torf und aus diesem wiederum die Braunkohle.

Die Wälder sind rar geworden, sie mussten längst dem Tagebau weichen. Doch seit immer mehr Abschnitte rekultiviert wurden, spürt man hier wieder etwas von der ursprünglichen Natur, die sich ihren Raum zurückerobert.

Mit dem Auto nähern wir uns den weiten Feldern. Ingo kaut auf seinem Ball herum, auf der Rückbank sitzt Phönix still im Transportkäfig. Hier leben Dachse mit ihren langen, schwarz-weiß gestreiften Köpfen. Feldhamster wurden wieder angesiedelt, dickwangige kleine Kerle, die vom Aussterben bedroht sind. Auch Fasane, Rebhühner und Singvögel, unter ihnen seltene Exemplare wie der Steinschmätzer, finden hier einen neuen Lebensraum.

Die Sonne steht schon tief, ihr Licht zaubert eine wahre Symphonie an Goldtönen hervor. Niemals hätte ich erwartet, dass sich die Natur in einer industriell genutzten Gegend in solcher Schönheit zeigen kann. Wir fahren über einen Feldweg, der von hohen Wiesen voller Mohnblumen gesäumt ist. Ein Stück voraus sitzt ein Habicht auf einem Pfahl, für mich einer der faszinierendsten Greife überhaupt. Er jagt in der Luft, am Boden, über dem Wasser. In seiner Wildheit erinnert er mich manchmal an Ingo und seine Rasse, die Malinois. Einmal losgelassen, kann man beide kaum mehr bremsen. Links von mir vollführt eine Rohrweihe ihren Gauklerflug. Plötzlich klappt sie die Flügel zusammen und sticht ins Feld.

Es ist ein Landstrich, der mich immer wieder aufs Neue überrascht mit seiner Vielfalt an Tieren. Seine Weite lädt ein zum Träumen von einer Zeit, als es noch mehr unberührte Gebiete gab, als die Wildtiere Deutschlands nicht verdrängt wurden von versiegelten, zubetonierten Flächen und intensiver Landwirtschaft.

Als wir uns der Kante nähern, hinter der die Gruben beginnen, halte ich an. Ingo springt aus dem Auto, kaum dass ich die Tür zu seiner Transportbox öffne. Dann kommt Phönix an die Reihe. Mit ihren gelben Fängen klettert sie auf meine Hand, die schwarzen Krallen spüre ich kaum mehr.

Wind ist aufgekommen, lässt das Gras wogen und plustert das dunkle Gefieder an Phönix’ Kopf. Der Blick aus ihren braunen Augen erfasst die Gegend bis ins kleinste Detail. Ich lasse sie fliegen, sie schießt schnell wie ein Pfeil davon. Wie keines meiner Tiere verkörpert sie Kraft, Schnelligkeit und einen unbändigen Freiheitdrang. Die über einen Meter breiten Schwingen ihres muskulösen Körpers tragen sie über die Wiesen hinweg und auf den Abgrund zu, bis sie sich in einem weiten Bogen von hinten nähert und auf meiner Schulter landet. Ingo schnellt hoch in die Luft, als wollte er es ihr gleichtun, und rast davon. Phönix gewährt ihm etwas Vorsprung, dann hebt sie ab, holt ihn ein und fliegt dicht über seinen Kopf hinweg. Und während die beiden selbstvergessen umhertollen, renne ich hinterher und tauche ein in ihre Welt, von der ich ein Teil sein darf. Jetzt fällt alles von mir ab. Die ganze Hektik, der ganze Stress. Die Unsicherheit, dieses nagende Gefühl, nie genug zu sein, die Enttäuschungen meines Lebens. Bin ich mit den Tieren zusammen, zählt all das nicht mehr, was ist und früher war. Dann gibt es nur diesen einen Moment, und er fühlt sich wahr an und echt.

Ingo, Phönix und ich sind uns ähnlich, wir lieben die Freiheit und in sind der Lage, im Spiel die Welt ringsum völlig zu vergessen. Ingo ist mein Seelentröster, mein bester Freund und meine rechte Pfote. Früher war er ein aggressiver Außenseiter, der niemanden an sich heranließ und seinen Platz im Leben erst fand, als die Eulen zu uns kamen. Beharrlich durchbrach Poldi, mein kleiner Steinkauz, die unsichtbare Mauer, die Ingo um sich gezogen hatte, und adoptierte ihn als Freund und Beschützer. Mehr war nicht nötig gewesen, um Ingo zum fürsorglichsten aller Hunde zu machen.

Mein Wüstenbussard verkörpert Schönheit und Mut, beides habe ich nicht. Phönix besitzt großes Selbstbewusssein, eine Eigenschaft, die ich von mir überhaupt nicht kenne. Phönix ist meine Kraft, meine Eleganz, mein Augenlicht und mein Stolz, auch wenn sie mitunter hitzköpfig und zornig sein kann. Zugleich ist sie Ingo und mir gegenüber voller Ergebenheit und Treue.

Auch heute lässt sie uns nicht aus den Augen. Zu dritt steigen wir den kleinen Hügel hinab. Zusammen mit Ingo und Phönix setze ich mich an die Kante und lasse die Beine über dem Abgrund baumeln.

Die Farben der Grubenabschnitte weit vor uns wechseln von Schmutzigbraun über Lehmgelb zu Sandfarben. Ein Reh huscht durch die Grube, sein hellbraunes Fell vor dem gleichfarbigen Hintergrund ist kaum auszumachen. Das Tier ist eines von über hundert Rehen, die inzwischen hier leben. Wie schnell die Natur sich erholen kann, wenn man sie lässt!

Ich spüre den Wind im Haar, er streicht über Ingos Fell, über Phönix’ braune und kupferfarbene Federn. Ein wenig fühle ich mich wie der letzte Mohikaner, allein und doch nicht einsam, nicht mit meinen Tieren. Das Sonnenlicht hat einen leicht rötlichen Ton angenommen. In meiner Fantasie werden die Gruben zu Canyons, und wir verschmelzen mit der Umgebung.

Ich lasse mich zurücksinken ins duftende Gras und blicke auf die wilden Bussarde hoch über uns. Hier fühle ich mich frei wie der Wind, wie die Wolken, wie der Himmel über mir … Ein Sperber fliegt so schnell vorbei, dass ich ihn kaum erkenne. Gandalf, meine Weißgesichtseule, sieht die Habichtartigen immer lange vor mir und stößt dann einen seiner unnachahmlichen Laute aus, um mich zu warnen.

Eulen und Greifvögel sind unglaublich stark. Man sieht ihnen ihre Kraft nicht an, aber sie steckt in ihnen. Und doch unterscheiden sich beide grundlegend voneinander. Wenn eine der Eulen mich bei einem Ausflug begleitet, geht es ganz anders zu als mit Phönix. Die Eulen muss ich im Auge behalten – Phönix hat uns immer im Blick. Sie sind anmutig und erhaben in ihrem Flug – Phönix schießt mit der geballten Kraft ihrer Schwingen davon. Mein Wüstenbussard ist voller Ergebenheit und Treue – den Eulen muss ich treu ergeben sein. Phönix spiegelt meine Hektik; wenn ihr etwas nicht schnell genug geht, schlägt sie mit dem Fang oder schreit mich auch mal an. Die Eulen hingegen entschleunigen mein Leben, unser aller Leben. Sie sind zur einen Hälfte wild, und mit der anderen blicken sie dir in die Seele. Sie halten die Zeit für dich an.

Ob Eulen oder Greife: Mich fasziniert an ihnen, dass sie in Wahrheit keine domestizierten Tiere sind, sondern sich einen Teil ihrer Ursprünglichkeit bewahrt haben. Und dennoch hören sie auf Kommandos, sind anhänglich, suchen die Nähe zu mir, und das bewegt mich jedes Mal aufs Neue.

Wenn ich mit den Tieren unterwegs bin, hat die Vergangenheit keine Macht mehr über mich. Dann gibt es kein Versagen, keinen Neid, keine Falschheit – nur Ruhe, Vertrauen und ein unsichtbares Band, das uns verbindet. Es ist nicht so, als würde ich die Menschen nicht auch lieben, wenngleich das in meinem Leben nicht oft auf Gegenseitigkeit beruhte. Selbstbewusstsein wurde mir nicht vermittelt. Nie hatte ich das Gefühl, etwas gut zu machen oder gut zu können. Nie wurde ich gelobt oder gefördert. Nie war ich genug, wie viel Mühe ich mir auch gab. In Gegenwart der Tiere spielt all das keine Rolle. Sie nehmen mich so, sie lieben mich so, wie ich bin. Und sie rufen in mir jene Eigenschaften hervor, die tief in mir verschüttet waren: die Fürsorglichkeit, die Treue, die Verantwortung, die Opferbereitschaft, die Fähigkeit, Geborgenheit zu schenken. Dann ist es so, als hätte ich das als Kind selbst erfahren.

Tiere messen uns nicht an Äußerlichkeiten, sie spüren, was in uns steckt. Manchmal denke ich, wie schön und authentisch das Leben auf dieser Erde wäre, wenn wir alle so miteinander umgingen und vor allem das Wesentliche in unserem Gegenüber erkennen könnten.

Ingo, Phönix, die Eulen und ich haben auf Umwegen zusammengefunden. Jedes meiner Tiere hat neben den Besonderheiten seiner Art einen ganz eigenen Charakter, eigene Ängste und Vorlieben. In all den Jahren habe ich gelernt zu beobachten, zuzuhören und zu verstehen, was sie brauchen und was sie mit ihren Reaktionen ausdrücken möchten. Ich habe ihre Sprache gelernt. Es ist eine Kommunikation, die keiner Worte bedarf, leise, achtsam, voller Respekt für das andere Wesen.

Um all das geht es in diesem Buch: um meine schwierige Kindheit, all die Tiere, die ich anschleppte, das wachsende Chaos. Um den Neubeginn nach einer schweren Krankheit und das Fotografieren. Um die Sprache der Tiere und ihren einzigartigen Charakter. Vor allem aber um die Freundschaft zu meinen Tieren, um den Spaß, den wir haben, die Verrücktheiten unseres Zusammenlebens und die Tatsache, was es bedeutet, geliebt zu werden so wie man ist.

TEIL 1KEINE WURZELN,KEINE FLÜGEL

Tiere und kleine Kinder

sind die Spiegel der Natur.

Epikur von Samos

KAPITEL 1UNTER STALLHASEN

Meine früheste Erinnerung betrifft die Stallhasen, die meine Großmutter im Garten hinter ihrem Haus hielt. Tagein, tagaus saßen sie in ihren länglichen Verschlägen und mümmelten vor sich hin. Eines Tages suchte mich meine Oma … und entdeckte mich inmitten der Hasen. In Windeln saß ich im Käfig, ein Stöckchen in der Hand, um sie, wenn nötig, vom Beißen abzuhalten. Das Stroh pikste mich, aber das war mir egal. Das braune Fell der Tiere fühlte sich so seidig unter meinen kleinen Fingern an, und sie lagen mit ihren weichen, warmen Körpern auf meinen strammen Beinen und schmusten mit mir.

Oft hatte meine Oma mich gewarnt, den Stallhasen ja nicht zu nahe zu kommen, weil sie bissen. Doch bei mir taten sie das nie, sie waren meine allerersten Freunde.

Das muss Ende der Sechzigerjahre gewesen sein. Geboren wurde ich im Juni 1968. Von dem legendären Zeitgeist jenes Jahres war auch in Stuttgart, wo ich aufwuchs, etwas zu spüren. Tausende Studenten gingen in den Großstädten Westdeutschlands auf die Straße, skandierten »Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren« und protestierten gegen verkrustete Traditionen, den Vietnamkrieg und manches mehr. Und das betraf nicht nur Deutschland. Woodstock, Flower-Power, die Beatles … die Menschen sehnten sich nach Freiheit und Frieden. Frauen wollten nicht länger bloß das adrette Aushängeschild ihres Mannes sein, der Wunsch nach Selbstbestimmung wurde laut, und die Rocksäume wurden immer kürzer.

Diesen Wunsch nach Freiheit muss auch meine Mutter gespürt haben. Die Hippiezeit hatte sie voll und ganz im Griff, als sie meinen Vater in der Kneipe kennenlernte, in der sie kellnerte.

Meine Mutter war um die achtzehn Jahre alt, als ich mich ankündigte. Vermutlich hatte sie sich ihr Leben ganz anders vorgestellt und war überfordert von der Aussicht auf ein schreiendes kleines Bündel, das Liebe und Aufmerksamkeit einforderte. Kinder, so heißt es, sind ein Zeichen der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst. Aber nicht immer spiegeln sie die Sehnsüchte derer wider, die sie in die Welt setzen. Meine Mutter erzählte mir später, sie sei aus der Kneipe geradewegs in den Kreißsaal gelaufen, barfuß, mit schmutzigen Füßen und dick getuschten Wimpern. Das Gesicht war voller verlaufener Schminke, und sie musste sich ständig übergeben, als sie mich zur Welt brachte.

Mein Vater, um einige Jahre älter als meine Mutter, konzentrierte sich ganz auf sein Maschinenbaustudium, und anfangs war es vor allem die Mutter meiner Mutter, die mich großzog. Sie war die wichtigste Person in meinem Leben und auch die Einzige in der Familie, der ich spürbar etwas bedeutete. Sie allein gab mir das Gefühl, vielleicht sogar ein kleines bisschen willkommen zu sein.

Meine Oma schenkte mir unermüdlich all ihre Liebe und Fürsorge. Sie lebte allein, und ich war lange Zeit überzeugt davon, dass ihr Mann, mein Opa, gestorben sei. Liebevoll sprach sie von ihrem Kurti, und in meiner Fantasie hatten die beiden eine glückliche Ehe mit ihren vielen Kindern geführt. Erst Jahre später erfuhr ich auf Umwegen, dass mein Großvater gar nicht tot war. Offenbar hatte er meine Großmutter immer verprügelt und sie irgendwann wegen einer Jüngeren sitzen lassen. Doch nie verlor sie ein schlechtes Wort über ihn, das war nicht ihre Art.

Alles an meiner Oma war weich, ihre Haut ganz zart, der Körper füllig. Unter ihrer Kleidung trug sie ein Mieder, das nach Gummi roch. Es war ein Geruch, den ich immer mit ihr verband, zusammen mit dem nach Tee. Wenn sie nicht arbeitete, saß sie gemütlich in ihrem breiten Fernsehsessel, strickte oder handarbeitete und ließ mich spielen. Als ich ein Baby war, schenkte sie mir eine Schnuffeldecke, die sie aus einem alten Kopfkissenbezug gefertigt hatte, und es sollte für viele Jahre keine Nacht in meinem Leben geben, in der ich mein Gesicht nicht in diese Decke gekuschelt hätte. Ich besitze sie noch heute.

Oma trank ständig Tee aus hauchdünnen Porzellantassen, die aussahen, als könnten sie jeden Moment zerbrechen. Wenn es wieder Zeit für einen Tee wurde, durfte ich die Teeschublade aufziehen und einen Beutel für sie aussuchen. Irgendwie sahen sie alle gleich aus und rochen auch so, aber es war eine der Aufgaben, mit denen meine Oma mich in ihr Leben einband und mir dieses spezielle Gefühl gab, wichtig zu sein.

Das Haus, in dem wir wohnten, lag an einer Hauptstraße. Es war eines dieser typischen Einfamilienhäuser, ziemlich hässlich, mit einem kleinen Garten dahinter. Ich krabbelte über die Wiese mit dem hohen Gras, setzte mich zu meinen Freunden, den Stallhasen, oder versuchte, unter dem Zaun hindurchzugelangen, zu unseren Nachbarn. Sie hatten nämlich einen Schäferhund, der eine geradezu magische Anziehungskraft auf mich ausübte. Ich wünschte mir von klein auf einen großen Hund, einen Beschützer, der mir zur Seite stand, wenn die Dunkelheit aufzog und mit ihr meine Ängste hervorkrochen.

Abends, wenn es Schlafenszeit wurde, brachte Großmutter mich ins Bett und blieb bei mir. Und weil ich oft weinte, hielt sie mein Füßchen, bis ich eingeschlafen war.

Warum ich weinte? Ich weiß es nicht mehr.

Wenn ich an die allerersten Jahre meiner Kindheit zurückdenke, fällt es mir wie den meisten von uns schwer, mich zu erinnern. Wohnte meine Mutter überhaupt mit im Haus? Wo war mein Vater? Wie standen die beiden zueinander? Fragen, die ich auch heute nicht beantworten kann.

Aber vielleicht sind genau diese Lücken in meiner Erinnerung ein Wegweiser durch meine Kindheit. Wir besitzen einen ungeheuren Überlebensinstinkt; so wie der Körper sich schützt, schützt sich auch die Psyche, indem sie schmerzliche Erfahrungen verdrängt oder abspaltet.

In jener Zeit machte man sich noch keine großen Gedanken darüber, wie sich die Gefühle und Gedanken einer Mutter während der Schwangerschaft auf das Ungeborene auswirken. Doch inzwischen kennt man die Folgen, wenn ein Kind ohne große Freude im Bauch der Mutter heranwächst. Und das betrifft nicht allein die schwer greifbare seelische und emotionale Komponente, sondern auch messbare Werte wie den Blutfluss, die Immunabwehr, die Bildung neuronaler Netze und die Hormonausschüttung während und nach der Geburt. Die Gefühlswelten von Mutter und Kind sind eng verbunden. Ängste, Abwehr, Panik, Erregungsmuster, denen der heranwachsende Fötus ausgesetzt ist, haben einen nachweisbaren Einfluss auf die Entwicklung des Kindes.

Unerwünscht zu sein ist ein Erbe, das sich in einen Menschen einbrennt, und unerwünscht fühlte ich mich defintiv. Wenn die erste Erfahrung Ablehnung ist, zieht sie sich durch das ganze Leben und wiederholt sich in Endlosschleifen. Es fällt schwer, Vertrauen zu fassen, Selbstbewusstsein aufzubauen, Bindungen einzugehen.

Wie mag es in meiner Mutter ausgesehen haben, als sie erfuhr, dass sie so jung ein Kind bekam? Meine Oma hatte darauf bestanden, dass ich kein uneheliches Kind werden sollte. Ob meine Eltern sich liebten? Es fühlt sich seltsam an, das nicht zu wissen. Hätte ich es nicht spüren müssen? Jedenfalls gestaltete sich unser Familienleben ganz anders als bei meinen Freundinnen, wie ich in den folgenden Jahren feststellen sollte. Doch dazu später mehr.

Diese schwer zu fassende Beziehungslosigkeit, die mir zu Beginn meines Lebens entgegenschlug, zog sich weiter durch meine Kindheit und Jugend, und sie hält noch immer an. Nie fühlte ich mich von anderen Menschen um meiner selbst willen wahrgenommen und wertgeschätzt. Da Kinder magisch denken und alles auf sich beziehen, war ich schnell davon überzeugt, selbst an allem schuld zu sein. Ich war nicht genug. Nicht hübsch, nicht lieb, nicht begabt genug. Ich versagte auf ganzer Linie, denn es gelang mir nicht einmal, was doch allen Kindern irgendwie gelingt – das Herz der Eltern zu gewinnen. Natürlich hinterließ das Spuren in meinem Verhalten; ich wurde schwierig im Umgang und später rebellisch.

Ein Mangel an Liebe und Zuwendung ist für ein Kind ebenso fatal wie der Mangel an Nahrung; das Gefühl, nicht wirklich lieb gehabt zu werden, ist schwer zu ertragen. Um sich zu schützen, machen Kinder nicht die Eltern, sondern andere Umstände für die Flut bedrohlicher Gefühle verantwortlich. Es wächst die Angst vor der Dunkelheit, vor dem Keller, vor der Nacht.

Doch immerhin hatte ich meine Oma. Und sie hielt weiterhin mein Füßchen.

Irgendwann musste meine Großmutter das Haus verkaufen, denn einer ihrer Söhne hatte den Besitz verspielt. Sie zog in eine Mietwohnung in Stuttgart-Möhringen, einen ländlicheren Ortsteil der Großstadt. Noch immer verbrachte ich viel Zeit mit ihr. In ihrer Arbeitskammer stand eine Nähmaschine, die mit einem Pedal betrieben wurde. Hier saß sie oft und nähte Stofftiere, während ich zusah. Die gesamte Wohnung war voll von Puppen aus allen möglichen Ländern. Die Puppensammlung bedeutete ihr viel, und dennoch ließ sie mich ganz selbstverständlich damit spielen. Bei ihr durfte ich einfach alles.

Ich fand die Puppen ganz nett, sie hatten hübsche runde Gesichter, feine Kleidchen und seidiges Haar, ganz anders als mein schwer zu bändigendes blondes Kraushaar. Um mit ihnen Mutter und Kind zu spielen, fehlte mir das Vorbild, also beschäftigte ich mich auf andere Weise mit ihnen. Ich schnitt ihnen die Haare ab. Manche traf es noch härter, und sie büßten ihre Arme ein. Mit ihren Kurzhaarfrisuren gefielen sie mir jedoch nicht mehr, und ich wollte nicht länger mit ihnen spielen.

Viel spannender fand ich die Tatsache, dass meine Oma einen Schrank voller Diamanten besaß. In Unmengen von Schachteln steckten Tütchen mit Schmucksteinen aller Art. Da gab es blaue, türkis- und lilafarbene Exemplare, polierte, glänzende, klare und eben die geschliffenen Diamantensteine, die mir ungeheuer kostbar vorkamen.

Ich hatte auch normales Spielzeug, Knete und manches mehr, aber vor allem wünschte ich mir ein Haustier. Ich mochte kleine Hunde, doch die großen liebte ich. Schäferhunde und Dobermänner faszinierten mich ganz besonders wegen ihrer Ausstrahlung. Sie waren die wahren Beschützer.

Neben meiner wachsenden Angst vor der Dunkelheit hatte ich aber auch Träume. Ich malte mir aus, wie es wäre, später einmal eine Buchautorin zu sein. Das lag sicher daran, dass meine Großmutter in Stuttgart in der Bibliothek arbeitete.

Ich liebte die Bibliothek mit den vielen Büchern und dem Geruch nach altem, abgegriffenem Papier, das unzählige Geschichten beherbergte. Dazu die hohen kühlen Räume, die Stille, der Steinboden, auf dem meine Schritte widerhallten, wenn ich neben meiner Oma herumhüpfte … Ich war fest davon überzeugt, dass die Bibliothek ihr gehörte. Natürlich bewunderte ich sie, nicht nur für diesen wirklich ungeheuerlichen Besitz, sondern auch deshalb, weil sie jedes Kreuzworträtsel lösen konnte. Sie kannte alle gesuchten Wörter, wenn ich sie danach fragte. Und das Größte war: Während sie am Empfang der Bibliothek saß, ließ sie mich im Zimmer nebenan Bücher schreiben. Es war ein riesiger heller Raum mit einer breiten Fensterfront und gesäumt von unzähligen Regalen. Während meine Großmutter ihrer Arbeit nachging, die ihr genug Zeit für die geliebten Kreuzworträtsel ließ, durfte ich mich an einen der Schreibtische setzen. Dort schnitt ich aus Magazinen Indianerpferde und alles Mögliche aus, beklebte damit leere Seiten und schrieb auf einer uralten, riesigen schwarzen Schreibmaschine, auf der immer das E festhing. Schon bald taten mir die Finger weh, so schwer gingen die Tasten. Buchautorin war mein absoluter Traumberuf. Ich stellte mir vor, dass Schriftsteller den ganzen Keller voller Bücher hatten, die sie an all ihre Freunde verschenken konnten, und dazu Unmengen von Geld. Geld, von dem man sich eine kleine Farm mit lauter Tieren kaufen konnte. Mehr Geld, als man im ganzen Leben ausgeben würde. Und was ganz wichtig war: Buchautoren konnten überall frei herumlaufen, ohne erkannt zu werden wie Politiker oder Sänger. Denn erkannt werden, das wollte ich nicht. Mir war der Gedanke viel lieber, mich mit meinen Geschichten zu verstecken.

Meine Oma war ganz und gar von mir überzeugt. Sie sah mich, wie ich war, und liebte mich rückhaltlos. Natürlich war es nichts als Unsinn, was ich da aufklebte und tippte. Aber meine Großmutter schenkte mir dennoch das Gefühl, dass ich etwas Besonderes geschaffen hatte. Dass ich ein großes Talent hatte. Und es tat gut, solche Anerkennung zu erfahren, zu wissen, dass man lieb gehabt wurde.

Die Zeit, die ich in der Obhut meiner Großmutter verbrachte, war wie so vieles Gute in meinem Leben begrenzt. Noch bevor ich in die Schule kam, beschlossen meine Eltern, in einen kleinen Ort rund zwanzig Kilometer südlich von Stuttgart zu ziehen, sodass ich meine Oma vorerst nicht mehr so häufig sehen konnte, wie ich es mir gewünscht hätte. Und so wurde ich herausgerissen aus meiner kleinen heilen Welt, in der ich zaghaft Wurzeln geschlagen hatte.

KAPITEL 2MOLCHE, MÄUSE UND DAS PFERD

Wenn Freunde mir von früher erzählen, erinnern sie sich an Kindergeburtstage, an Weihnachtszauber, an Geschichten, die ihnen vorgelesen wurden. Und wenn sie dann fragen: »Wie war das bei dir?«, kann ich nur antworten: »Ich erinnere mich nicht.«

An Geburtstage, an das Gefühl, dass meine Eltern sich freuten und feiern wollten, dass es mich gab, habe ich keine einzige Erinnerung. Was Weihnachten angeht, schon eher … Da war ich regelmäßig bei Freundinnen und staunte über die feierliche Stimmung, den geschmückten Baum, den Duft, der durch die Räume zog

Überhaupt staunte ich, wenn ich bei Freundinnen war, staunte, wie anders sie lebten. Sie konnten mit ihren Eltern über alles reden. Sie spielten sogar miteinander! Beim gemeinsamen Essen mussten wir nicht die Klappe halten, sondern wurden gefragt, was wir erlebt hatten, wie unser Tag war, was schön war, was uns bedrückte. Meine Freundinnen hatten auch Haustiere – Katzen, Hunde, sogar Pferde. Es war ein richtiges Familienleben, für mich eine fremde Welt.

Zu Hause war ich nach wie vor ein bisschen wie Aschenputtel, bekam abgetragene Klamotten und fühlte mich, als wäre ich allen nur lästig. Wenn man es nicht anders kennt, findet man sich irgendwie damit ab. Wenn man aber sieht, dass andere Kinder von ihren Eltern besser behandelt werden, dann denkt man, diese Missachtung muss an einem selbst liegen.

Inzwischen war mein Bruder geboren. Meine Eltern hatten ihn sich gewünscht, liebten ihn ganz augenscheinlich, und das befeuerte meine kindliche Eifersucht. Meine Mutter wuselte um ihn herum und fand alles, was er tat, süß und großartig. Das konnte ich überhaupt nicht nachvollziehen. Er lag in seiner Wiege, brabbelte und sabberte vor sich hin, und alle waren entzückt. Später saß er in seinem Hochstuhl, brabbelte und sabberte wie zuvor, und noch immer waren alle entzückt. Dabei konnte er nicht mal mit mir spielen. Natürlich triezte ich ihn dann und wann, auch wenn das selten gut für mich ausging, weil meine Mutter ständig ein Auge auf ihn hatte. Wenn er im Garten auf der Wiese saß wie ein dicker Buddha, warf ich ihm Steinchen auf den Kopf. Einmal sperrte ich ihn in die Garage. Und ich schnitt ihm alle Haare ab, wie früher Omas Puppen. Ich bekam Ohrfeigen, wurde ausgeschimpft, weil ich so unausstehlich war, im Gegensatz zu meinem Bruder, den jeder nur lieb haben konnte.

Zu allem Überfluss teilten wir uns ein Zimmer in der neuen Wohnung in Steinenbronn. Stundenlang saß er auf dem Boden und spielte mit seinen Matchbox-Autos. »Brumm, brumm«, ging es die ganze Zeit, und das auch noch mit Einsatz von jeder Menge Spucke. Es war zum Fürchten mit ihm.

Meine Oma ließ sich von dem Getue um meinen Bruder nicht anstecken, sie liebte mich nach wie vor unverbrüchlich und hielt große Stücke auf mich.

Ich sah sie nun ja viel seltener, denn Stuttgart-Möhringen war zu weit entfernt, als dass ich allein mit dem Bus hätte zu ihr fahren können. Ab und zu, am Wochenende, setzte meine Mutter mich in ihren uralten beigen VW-Käfer und fuhr mich zu ihr. Die Scheibenwischer quietschten; wenn ich eine kurze Hose trug, klebten meine Beine an den Sitzen fest, und es roch richtig muffig. Den Geruch habe ich heute noch in der Nase. Aber dann war ich wieder im Reich meiner Oma mit all den Puppen und Stofftieren, und die Welt war in Ordnung.

Es war eine große Wohnung, in der wir nun lebten, mit einer riesigen Küchenzeile. Das Beste daran: Sie lag im Erdgeschoss, und durchs Fenster konnte ich gleich auf die Terrasse klettern. Niemand merkte, wenn ich mich wegschlich, und oft war ich bis in die Nacht hinein auf dem Spielplatz.

Der Ort lag inmitten einer Hügellandschaft, umgeben von Wäldern, abfallenden Hängen und Feldern. In der Nachbarschaft gab es ein Geisterhaus, in dem niemand lebte und in dem sich in meiner Fantasie die gruseligsten Geschichten abspielten.

Jeden Tag war ich draußen in der Natur. Das war meine Welt, und sie war schön und voller Abenteuer. Im nahen Tal floss ein Bach, ich nannte ihn den »Alten See«. Hier lag ich stundenlang im Gras und beobachtete die Kröten, baute Staudämme und fing Molche. Oft schmuggelte ich die Molche mit nach Hause und errichtete ihnen ein kleines Biotop in einer Waschschüssel auf der Terrasse. Leider kletterten sie in unbeobachteten Momenten hinaus und verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Da ich mir so sehr ein Haustier wünschte und es mit den Molchen einfach nicht klappen wollte, sammelte ich Mäusenester ein und versteckte die Tierchen in den Schubladen und im Kleiderschrank. Auch verletzte Vögel schleppte ich an. Meine Mutter war alles andere als begeistert, sie hatte für Tiere nicht viel übrig, und meine Aktionen trugen nicht unbedingt dazu bei, dass sich das änderte.