Die falsche Herzogin - Marie Cordonnier - E-Book

Die falsche Herzogin E-Book

Marie Cordonnier

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Beschreibung

Frankreich Anfang des 17. Jahrhunderts, Liebe in Gefahr: Das prächtige Palais des Sonnenkönigs zeigt der bettelarmen Violaine de St. Hédé nur seine Schattenseiten. Sie gerät in einen Sumpf aus perversen Lastern und zügelloser Machtgier. Gehört der faszinierende, verbitterte Vicomte de la Chaise, dem sie ihr Herz geschenkt hat, ebenfalls zur schändlichen Clique des königlichen Bruders? Was weiß er von den schwarzen Messen und den gefolterten Opfern? Violaine nimmt tapfer den Kampf um den Geliebten auf.

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Marie Cordonnier

ISBN 978-3-86466-233-1
This ebook was created with BackTypo (  http://backtypo.com) by Simplicissimus Book Farm © 2014 by BestSelectBook_Digital Publishers Digitalised by DokuFactory Groß-Umstadt

Table of contents

1. Kapitel – Rambouillet 1666

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

EPILOG Juli 1670 – Avranches

1. Kapitel – Rambouillet 1666

»Dieses Geschaukel ist unerträglich. Könnt Ihr mir sagen, wie lange es noch dauert, bis wir Pontchartrain erreicht haben?«  »Woher soll ich das wissen, meine Verehrteste? Der Kutscher meinte gegen Abend!« »Aber es dämmert bereits, und draußen sieht man nichts als Bäume! Bäume! Bäume! Ich kann keine Bäume mehr sehen, Hercule! Unternehmt etwas! Sagt dem Kutscher, er soll schneller fahren!« Violaine de Saint Hédé biss sich auf die Unterlippe und betrachtete angelegentlich einen winzigen Riss in der Polsterung der altertümlichen Kutsche, die jenes Geschaukel hervorrief, welches Madame de Ramortin seit geraumer Zeit auf die empfindsamen Nerven ging. Madame, die ehrenwerte, grämliche Gattin von Monsieur Hercule de Ramortin, seines Zeichens Steuereintreiber Seiner Majestät, des allergnädigsten König Ludwig von Frankreich, empfand diese Reise als Zumutung. Zu Hause in Avranches hatten sie die Wunder der Hauptstadt gelockt, der Hof des Königs, Paris. Doch die Tage der Reise, die schlechten Herbergen und die noch miserableren Straßen hatten die Dame missgestimmt und dem Unternehmen den Glanz genommen. Violaine, die ihr in einer Mischung aus Zofe, Gesellschafterin und unbezahlter Sklavin zur Hand ging, war Zeugin ihres fortwährenden Missfallens und Opfer ihrer ständig schlechter werdenden Laune geworden. Dabei besaß Madame einen Umfang, der ihre Gestalt mit einer so mollig voluminösen Speckschicht polsterte, dass sie garantiert nicht so unter den Stößen der schlechten Straße litt wie das schmale, kindlich-zierliche junge Mädchen in dem einfachen, vielfach geflickten Wollgewand. »Mein Riechsalz, Mademoiselle!«, forderte sie nun, und Violaine reichte ihr stumm und gehorsam den bemalten Glasflakon aus einem Korb, der in ihrer Reichweite stand. Ein betäubender Duft nach Kampfer, Minze und anderen aromatisch-scharfen Ingredienzen breitete sich aus, als die Dame das Fläschchen öffnete und unter ihrer breiten Nase hin und herbewegte. »Diese Reise ist ein Albtraum«, jammerte sie dazu. »Könnt Ihr mir sagen, weshalb Euch Monsieur Colbert unbedingt persönlich sprechen will? Hätte es nicht genügt, einen Boten zu schicken?« Hercule de Ramortin, den die hereinbrechende Dämmerung nicht weniger beunruhigte als seine Gattin, hatte das Gejammer der Dame mindestens so satt wie diese die Reise. Er war ein gedrungener, stämmiger Mann, dessen hochrote Gesichtsfarbe von einer gefährlichen Höhe des Blutdrucks kündete und dessen verkniffene, schmale Lippen sich nie zu einem Lächeln verzogen. Wenn Violaine ihn verstohlen ansah, musste sie daran denken, dass man ihn in Avranches und Umgebung hinter seinem Rücken einen Betrüger und Blutsauger nannte. Es hieß, dass ein Gutteil seines Reichtums auf dunklen Wegen in seine Taschen gelangt war. Auch die letzten wenigen Sous des verstorbenen Hugo de Saint Hédé hatten dort eine neue Heimat gefunden, und Violaine erfreute sich an dem Gedanken, dass Monsieur Colbert, der kluge Handels- und Finanzminister Seiner Majestät, von diesen Machenschaften gehört haben könnte und den Verursacher deshalb zum Rapport bestellt hatte. Violaine zählte die Stunden, die sie in Gesellschaft dieses, nur nach außen hin ehrenwerten Paares verbringen musste. Aber es war nun einmal ihre einzige Möglichkeit gewesen, Paris zu erreichen. Der Tod ihres Vaters hatte sie ohne das geringste Vermögen, ohne Hilfe und Unterstützung von Verwandten oder Bekannten, in einem baufälligen, kahlen Schloss zurückgelassen. Vor der Wahl stehend, ihren beiden Schwestern ins Kloster zu folgen oder Zuflucht bei Hélène, ihrer ältesten Schwester, zu suchen, hatte sich Violaines Waage zugunsten der weniger frommen Alternative geneigt. Hélène de Saint Hédé hatte als Einzige der fünf Töchter des ehrbaren Grafen eine annehmbare Partie gemacht. Sie lebte mit ihrem wohlhabenden Gatten in Paris, und die wenigen Briefe, die ihre Familie manchmal erreichten, erzählten von einem Leben in Luxus und Sorglosigkeit. Sicher würde sie es sich angelegen sein lassen, ihre jüngste Schwester, die den Vater bis zu dessen Tod gepflegt hatte, bei sich aufzunehmen. »Ihr könnt Euch ja bei Monsieur Colbert beschweren, sobald wir angekommen sind, meine Beste«, brummte in diesem Moment der Steuereintreiber. Wohl wissend, dass seine Angetraute in eitel Wohlgefallen und Komplimente zerfließen würde, wenn sie überhaupt je Gelegenheit erhielt, einen so wichtigen Mann wie den Generalintendant der Finanzen und des Königlichen Wirtschaftswesens zu begrüßen. Auch Violaine hatte bereits die Erfahrung gemacht, dass Madame den höher Gestellten mit kriecherischer Ergebenheit und den armen Seelen mit gnadenloser Härte begegnete. Sobald sie entdeckt hatte, dass die junge Comtesse de Saint Hédé außer ihrem alten und edlen Namen nicht einmal mehr einen ungeflickten, dritten Unterrock besaß, hatte sich ihr Ton dem Mädchen gegenüber gründlich geändert. Violaine hoffte nur, dass diese Fahrt endlich zu einem Ende kommen und sie die tyrannische Hexe endlich mit den Namen belegen konnte, die ihr angemessen waren. Sie beschäftigte sich in Gedanken damit, eine entsprechende Liste solcher Bezeichnungen aufzustellen, und im ersten Moment hielt sie das laute, peitschende Geräusch, das diese angenehme Beschäftigung unterbrach, für eine gebrochene Achse. Im selben Augenblick begann jedoch die Kutsche zu wanken und blieb mit einem Ruck stehen. Ihre Passagiere sahen sich noch fragend an, als sich die Ereignisse in so schneller Folge überstürzten, dass die junge Frau nicht mehr rekonstruieren konnte, was zuerst und was zuletzt passierte. Das raue Gebrüll heiserer Stimmen bewies ihr indes, dass es sich um einen Hinterhalt handeln musste. Weitere Schüsse folgten, dann der schreckliche Aufschrei eines tödlich getroffenen Mannes. Eine abstoßende Erscheinung riss die Tür der Karosse auf und streckte als Erstes eine bedrohlich aussehende Pistole herein, die sich auf die drei bleichen Reisenden richtete. »Raus mit euch!« Eine eindeutige Bewegung des matt schimmernden schwarzen Laufes unterstrich die Aufforderung. Hercule Ramortin kam so schnell auf die Füße, dass er seiner Gattin auf die raschelnden Taftröcke trat und Violaine zur Seite stieß. Schneller als die beiden Frauen hatte er begriffen, dass diese Galgenvögel keine Scherze machten. Ein grober Stoß beförderte ihn draußen in den Staub und befriedigte Violaines Sinn für Gerechtigkeit, der sich über seine rücksichtslose Feigheit empört hatte. »Vorwärts, du auch Alte, und deine Magd! Oder müssen wir euch erst Beine machen?« »Heilige Mutter Gottes, ein Überfall!« Madame de Ramortin fand endlich ihre Sprache wieder, und ihre Stimme wurde zunehmend schriller. »Ich wusste ja, dass wir besser nicht durch diesen Wald gefahren wären. Ich falle in Ohnmacht! Oooh, so helft mir doch!« Madame hatte beträchtliche Mühe, sich selbst und ihre gewaltigen Röcke durch den engen Eingang der Kutsche zu zwängen, und Violaine verschwand schier hinter ihr, als sie ebenfalls nach draußen kletterte. Ein kurzer Blick in die Runde zeigte ihr das ganze Ausmaß der Katastrophe. Die Kutsche mit dem Gepäck und den beiden Dienern lagen halb im Straßengraben. Der Kutscher hing mit einer bösen Wunde mitten in der Brust halb auf dem Bock und halb auf der Erde. Was mit dem zweiten Kutscher auf ihrem eigenen Gefährt passiert war, wollte sie lieber gar nicht wissen. Vier zerlumpte Halunken waren bereits dabei, die Koffer und Kisten der Ramortins zu öffnen und nach brauchbarer Beute zu durchsuchen. Zwei andere nahmen sich den Steuereintreiber und seine Gattin vor. Ein gefährlich aussehender Dolch überzeugte die zeternde Dame, sich von der Perlenschnur zu trennen, die sie über ihrem violetten Samtgewand trug. Das passende Ohrgehänge legte sie nicht schnell genug ab, und der Gauner griff selbst zu. Madame Ramortin schrie gellend auf, als er ihr den Schmuck abriss. Aber nur Violaine sah, gelähmt vor kaltem Entsetzen, auch das Messer durch die Luft zischen. Der Schrei brach mit einem hässlichen Gurgeln ab. Die Dame sank in einem Knäuel aus Samt und Blut zur Erde, während ihr Mörder nicht versäumte, auch die protzigen Ringe von den dicken Fingern zu ziehen. Violaine schlug die Hände vor den Mund, aber schon ihr erstickter Aufschrei hatte genügt, die Aufmerksamkeit des Räubers auf sie zu lenken. Er ließ von seinem Opfer ab und trat näher. Der blutverschmierte Dolch blitzte vor ihren Augen, aber er stach nicht zu, sondern drückte lediglich mit der Spitze ihre Hände nach unten. Völlig unter Schock starrte das junge Mädchen in ein wüstes, vernarbtes Gesicht, dessen kleine, funkelnde Augen sie an eine bösartige Ratte erinnerten. »Sieht so aus, als gäbe es bei diesem Vögelchen hier wenig zu ernten«, sagte er über die Schulter zu seinem Kameraden, der eben Monsieur Ramortin mit der gleichen fachlich-brutalen Zielsicherheit ermordet hatte wie jener es zuvor mit dessen Gemahlin getan hatte. »Aber immerhin können wir uns ein wenig mit der Kleinen amüsieren. Ein bisschen mager ist sie, aber sicher noch nicht oft gebraucht. Ein Jüngferchen, das sicher eine weiche Haut und sanfte Brüste hat. Packt das Zeug zusammen, schirrt die Pferde ab, und dann lasst uns mit ihr verschwinden.« Violaine war unfähig, sich gegen den groben Griff zu wehren, der sie am Arm packte und davonschleifte. Sie konnte nicht einmal richtig gehen, ihre Füße verhedderten sich in den Röcken, und sie stürzte halb auf die Knie. Sie versuchte sich mit den Händen abzustützen. Die Brombeerranken, in die sie dabei fasste, brachten sie endlich zur Besinnung. Von einem Herzschlag zum anderen wurde aus dem wehrlosen, zitternden Mädchen eine rasende Furie, die sich mit Händen und Füßen gegen den Mann wehrte, in dessen Gewalt es sich befand. Violaine hatte den Vorteil der Überraschung, so dass es ihr tatsächlich gelang, das scharfe Messer an sich zu bringen, das der Bandit wieder in seinen Gürtel gesteckt hatte. Violaine stach blindlings zu. Wüstes Gebrüll verriet, dass sie getroffen hatte, und plötzlich war sie frei. Aber in dem Moment, als sie erneut die Waffe hob, peitschte ein Schuss und der Kopf ihres Widersachers verwandelte sich in eine schaurige Maske aus Blut und Tod. Der Reiter, der in der Dämmerung des frühen Sommerabends mit zwei Pistolen plötzlich zwischen den Bäumen aufgetaucht war, fuhr wie ein Blitz unter die völlig überraschten Ganoven. Ein weiterer Schuss, und auch der Mörder von Madame Ramortin stürzte zu Boden. Der Rest der Bande ließ von seiner Beute ab und zückte die Messer und die Degen. Der Fremde warf die leeren Schusswaffen zu Boden, sprang mit einem mächtigen Satz aus dem Sattel und stellte sich der Übermacht. Sogar Violaine konnte erkennen, dass sie es mit einem Manne zu tun bekamen, der den Kampf beherrschte. Innerhalb kürzester Zeit lagen zwei weitere Männer am Boden, und die übrig gebliebenen beiden flohen Hals über Kopf in den Wald hinein. Das junge Mädchen fand sich plötzlich allein mit einem Fremden und so vielen Toten, wie es sie noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Die plötzliche Stille des Waldes nach dem Klirren der Degen, dem Gebrüll und den Schmerzensschreien, dröhnte in Violaines Ohren. Sie starrte das blutige Messer in ihrer Hand an, und die Bäume begannen sich plötzlich vor ihren Augen zu drehen. »Oh, nein! Ihr wart so tapfer, Ihr werdet diesen ersten Eindruck von Eurer Stärke nicht zerstören, indem Ihr jetzt in Ohnmacht fallt! Reißt Euch gefälligst zusammen, Jungfer!« Violaine hörte die Worte wie durch einen Schleier. Ärgerliche Worte, die sie erbosten, die nahtlos zu den Ermahnungen ihres Vaters passten, der nie eine Beschwerde über das karge Leben zugelassen hatte, das er mit seinem letzten Kind in einer halbverfallenen Burg führte. »Kein dummes Getue, Mädchen! Auf wen soll ich mich denn sonst verlassen, wenn nicht auf dich? Du bist eine Saint Hédé, vergiss das nicht!« Es verwunderte sie nicht im Geringsten, dass man ihr nicht einmal erlaubte, in Ohnmacht zu fallen, wenn sie mit Mord und Totschlag konfrontiert wurde. Sie unterdrückte auch den ärgerlichen Ausruf, nach dem ihr zumute war. Stattdessen ließ sie den Dolch fallen und betrachtete ihre Hände, die, von den Dornenhecken zerkratzt und verletzt, so blutig und schmutzig waren, dass sie sich nicht einmal damit die schmerzenden Schläfen massieren konnte. »So ist es gut«, lobte der Fremde, als sei sie eine preisgekrönte Jagdhündin, die soeben ein besonders schweres Kunststück vollbracht hatte. »Und nun sagt mir, wer diese armen Teufel sind?« »Monsieur Ramortin und seine Gattin, Steuereintreiber Seiner Majestät des Königs in Avranches. Er war auf dem Weg zu Monsieur Colbert. Heiliger Sankt Michael, sind sie alle tot? Die Diener und Kutscher auch?« »Ja, die Kerle haben ganze Arbeit geleistet. Wartet hier, ich werde die Toten in die Kutsche legen. Es geht nicht an, dass sie liegen bleiben, bis die Gendarmen sich um den Überfall kümmern.« Violaine säuberte sich mechanisch ihre geschundenen Hände mit einem kleinen Leinentuch, das sie in dem Täschchen an ihrem Gürtel trug. Jetzt endlich fand sie die Zeit, ihren Retter ins Auge zu fassen, der sie vor dem Tod und vor Schlimmerem bewahrt hatte. Sie wagte nicht daran zu denken, welch grauenvolles Schicksal sie in den Händen dieser Bande erlitten hätte. Sie sah einen großen, braunhäutigen jungen Mann, der, in schwarzes Leder gekleidet, den Eindruck sehniger Kraft und Geschicklichkeit vermittelte. Er hatte beim Kampf seinen Hut verloren. Deshalb bemerkte sie, dass er das dichte, schwarze Haar ungewöhnlich kurz trug. Eben zerrte er die bedauernswerte Madame de Ramortin in die Kutsche, und Violaine erinnerte sich mit Schrecken, dass sie sich im Augenblick des Überfalles gewünscht hatte, die Reise möge zu Ende gehen und sie diese Dame nie Wiedersehen. Francine hätte sie für ihre unchristlichen Wünsche gescholten. Sie predigte stets Demut und Gehorsam. Beides fiel Violaine gleich schwer, aber jetzt bekreuzigte sie sich und murmelte ein Ave-Maria. Sie hatte einem kurzfristigen Verdruss nachgegeben, aber sie hatte der Unglücklichen beileibe nicht den Tod gewünscht. »Ist Euer Gepäck dort dabei?« Statt zu antworten fasste Violaine nach einer schäbigen, dünnen Stofftasche, die so ärmlich aussah, dass sie noch nicht einmal das Begehr der Räuber geweckt hatte. Sie enthielt alles, was sie besaß. Der Fremde runzelte die Stirn und kam mit merkwürdig schwerfälligen Schritten näher. Erst jetzt fiel Violaine auf, dass er ein Bein nachzog. Ebenfalls registrierte sie die Geste, mit der er an seinen rechten Oberschenkel fasste und kaum merklich zusammenzuckte. »Ihr seid verletzt! Die Kerle haben Euch verwundet!«, rief Violaine. »Nein, eine alte, nicht verheilte Wunde, die keine Kämpfe mag! Nun kommt, meine Kleine. Ich werde versuchen, die Kutsche nach Pontchartrain zu schaffen, ehe es Nacht wird. Ich nehme an, Ihr nehmt lieber bei mir auf dem Bock Platz, als bei Monsieur und Madame. Sie sind zwar sehr friedlich, aber es ist nicht jedermanns Sache, mit einem halben Dutzend Leichen zu reisen.« Er hatte eine befremdliche Art die Dinge auszudrücken. Doch Violaine war viel zu erschüttert von den Ereignissen, dass sie dagegen zu protestieren wagte. Lediglich seine formlose Anrede weckte ihren Widerspruchsgeist. »Mein Name ist Violaine de Saint Hédé, Monsieur!« Sie erhielt ein so flüchtiges Lächeln, dass sie es sich vermutlich nur eingebildet hatte, aber die Antwort bewies, dass er ihren Einspruch glatt überhört hatte. »Hinauf mit Euch, Kleine! Ich möchte nicht das Risiko ein gehen, dass unsere flüchtigen Freunde Verstärkung herbeiholen.« Sie wurde ausnehmend unhöflich um die Taille gepackt und auf den Kutschbock verfrachtet. Es gelang ihr gerade noch, ihre Tasche festzuhalten, damit sie nicht zurückblieb. Dann saß ihr Retter bereits neben ihr, sortierte die Zügel und trieb die Pferde an. Seinen schwarzen Hengst hatte er am Wagen festgebunden, und das offensichtlich hervorragend geschulte Tier folgte dem Gefährt gehorsam. Der Fremde hatte seinen Hut wieder tief in die Stirn gedrückt und wandte Violaine ein scharfes Raubvogelprofil zu. Tief eingegrabene Falten in seinem Mundwinkel verstärkten den Eindruck von Härte und Konzentration. Er wirkte älter als er vermutlich war. Hatte er Schmerzen? Violaine konnte sich des Eindrucks nicht erwehren. Weshalb sonst sollte er die Lippen so aufeinander pressen? »Lasst mich Eure Wunde versorgen«, bot sie an. »Ich verstehe etwas davon. Ich habe meinen Vater bis zu seinem Tod gepflegt, und er hat mir eine leichte Hand im Umgang mit Verletzungen nachgesagt.« »Ihr könnt Eure Samariterdienste tun, wenn wir in Sicherheit sind, Kleine!«, bekam sie zur Antwort. »Der Wald von Rambouillet ist keine Gegend, in der man sich nach dem Einbruch der Dunkelheit länger aufhalten sollte. Seit der König mit einer ausgebildeten Polizeitruppe gegen das Gesindel in Paris vorgeht, haben sich viele Banden wieder auf die Räuberei der Landstraßen verlegt. Es ist gefährlich, ohne Eskorte unterwegs zu sein. Wie es aussieht, hat Euer Freund der Steuereintreiber am falschen Ende gespart.« »Ich muss Euch danken«, besann sich Violaine endlich auf ihre Erziehung, die anfangs von Francine von übergroßer Frömmigkeit geprägt und später von ihrem Vater größtenteils vernachlässigt worden war. »Ihr habt mir das Leben gerettet!« »Endgültig wohl erst, wenn wir Pontchartrain mit heiler Haut erreichen«, warnte er sie vor übereilter Erleichterung, und Violaine verstummte bestürzt. Sie umklammerte ihren Sitz mit beiden Händen und suchte bang den Waldrand zu beiden Seiten ab. Jeder Schatten, jeder Umriss verbarg plötzlich Gefahr. Erst als sich nach geraumer Zeit die Bäume lichteten und sie das freie Feld erreichten, wagte sie sich zu entspannen. Besonders erlöst fühlte sie sich allerdings dennoch nicht. Die schrecklichen Szenen des Überfalls standen vor ihren Augen, und sie presste im Schutz der dunklen Wollröcke ihre zitternden Knie aneinander. Sie hatte in den vergangenen 19 Jahren ein sehr bescheidenes und ärmliches, aber dennoch behütetes Leben geführt. Niemals war sie mit nackter Gewalt oder gar mit sterbenden und kämpfenden Menschen konfrontiert worden. Mit Ausnahme ihrer Schwestern, ihres Vaters und der wenigen Bauern, die das karge Land bewirtschafteten, hatte sie kaum Menschen gesehen. Sein Stolz hatte es dem Marquis verboten, die Freundschaften und Kontakte zu pflegen, die seiner Stellung angemessen gewesen wären. Dass ihm zudem auch die Mittel dafür fehlten, ging niemand etwas an. Sein Tod hatte Violaine zwar die Freiheit geschenkt, aber nicht die Mittel, dieses Geschenk zu genießen. Sie hatte geahnt, dass es nicht einfach sein würde, wenn sie ihre Heimat und ihre Sicherheit aufgab. Aber dass dieser Entschluss ihr Leben bedrohen würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Alles schien mit einem Schlag so verworren und gefährlich geworden zu sein. Sie wusste nicht einmal den Namen des Mannes, der sie durch die sinkende Dämmerung fuhr. »Ihr habt Euch noch nicht vorgestellt«, platzte sie denn auch so mahnend heraus, als befänden sie sich bei einem Empfang bei Hofe und nicht auf einer Kutsche, die man mit Fug und Recht als Leichenwagen hätte bezeichnen können. »Verzeiht meine Unhöflichkeit!« Unter dem Schatten der schwarzen Hutkrempe blitzten weiße Zähne, und dieses Mal war das Lächeln unverkennbar. »Mein Name ist Raimond de Marivaux, Vicomte de la Chaise. Zu Euren Diensten, Mademoiselle. Ihr werdet mich nicht so geschliffen wie die Kavaliere des Hofes finden. Ich bin Soldat, kein Chevalier.« »Soldat? Wir führen doch keinen Krieg?«, wunderte sich Violaine. »Über dem Meer schon«, entgegnete der Vicomte ernst. »Ich habe die letzten Monate in Algerien beim Kampf gegen die Heiden verbracht. Das hat sich ein wenig negativ auf meine höfischen Umgangsformen ausgewirkt. Aber wenn Ihr ehrlich seid, meine Kleine, dann habt Ihr vorhin auch keinen Höfling, sondern einen Krieger gebraucht.« »Ihr macht Euch lustig über mich«, murmelte Violaine gekränkt. Sie besaß nicht mehr als diesen sehr empfindlichen Stolz, und der hatte die kaum verhüllte Verachtung des Steuereintreiberpaares schon schwer ertragen. Doch die Lässigkeit dieses Mannes erboste sie erst recht. Etwas in ihr verlangte merkwürdigerweise danach, von ihm bewundert und respektiert zu werden. Welch unsinnige Idee, rief sie sich selbst zur Ordnung und straffte die schmalen Schultern unter ihrem Kleid so sehr, dass die mürben Nähte bedenklich knirschten. »Ist Euch schon einmal aufgefallen, dass Zorn einen Menschen länger aufrecht erhält als Trost?«, fragte er, als habe er ihre Gedanken gelesen. »Trost schwächt, aber Zorn gibt Kraft und verleiht die Energie, auch ausweglose Situationen zu meistern.« »Wollt Ihr mir ein Leben im Zorn empfehlen?« Violaine fand diesen Mann äußerst merkwürdig. »Die Kirche lehrt uns christliche Demut und Bescheidenheit!« Zumindest hatte Francine das behauptet, ehe sie den Schleier nahm. »Und heiligen Zorn!«, fügte er hinzu und ließ die Peitsche über den Pferderücken knallen. Es lag etwas in seiner Stimme, das Violaine schweigen ließ. Was für ein seltsamer, eigenartiger Mann!

2. Kapitel

Das Aufsehen, das Monsieur Ramortin und seine Gattin in der Herberge zum >Goldenen Kreuz< in Pontchartrain als Tote erregten, hätte beiden im Leben höchst geschmeichelt. Der Wirt, Maître Thibaud, schickte sogleich einen Knecht nach dem Gendarmerie-Posten und einen zweiten zum Pfarrer, damit die Totengebete gesprochen wurden. Die junge Dame, die das Gemetzel dank der Hilfe des Vicomte überlebt hatte/bekam das beste Zimmer im ersten Stock des Hauses und wurde von der Wirtin persönlich versorgt. Obwohl keine besondere Freundin von Wasser, sah die Dame Emilie ein, weshalb Mademoiselle de Saint Hédé geradezu versessen auf einem Bad bestand. Sie wollte sich den Schmutz der Ereignisse abwaschen. Wer konnte schon sagen, was dem armen Ding zugestoßen war, so zerzaust und bleich wie es aussah. Violaine bedankte sich bei der Wirtin für die Fürsorge, schickte die Frau aber letztendlich so energisch aus dem Zimmer, dass diese in der Küche wenig zu erzählen hatte. Violaine war daran gewöhnt, sich selbst zu versorgen. Sie hatte Hemmungen, sich vor einer Fremden auszuziehen, um sich in den mit Leinen ausgelegten Zuber mit dem dampfenden Wasser zu setzen. Erst als sich die Tür hinter Dame Emilie geschlossen hatte, löste sie die Bänder und Schlaufen des Kleides, schlüpfte aus den bescheidenen Unterröcken und öffnete das Mieder. Sie breitete sorgsam ihr Hemd über einen Stuhl, löste als letztes ihre Haare und ließ sich in das warme Wasser gleiten, das nach Lavendel und Rosmarin roch. Mit geschlossenen Augen lehnte sie ihren Kopf auf die Kante des Zubers und versuchte, sich auf die Wohltat des Wassers zu konzentrieren. Die Bilder zu vertreiben, die vor ihren Augen erschienen, sobald sie die Lider senkte, erwies sich jedoch als schwierig. Heiliger Sankt Michael, sie durfte nicht zulassen, dass die Ereignisse dieses Tages Macht über sie gewannen. Furcht war das Letzte, was sie gebrauchen konnte, wenn sie ihr Leben selbst in die Hände nehmen wollte! Ein Geräusch an der Tür ließ sie auffahren, und ehe sie auch nur einen Laut von sich geben konnte, stand Raimond de Marivaux im Zimmer. Für einen Herzschlag schien es beiden, als würde die Zeit stehen bleiben. Das behaglich eingerichtete Gastzimmer mit dem breiten Bett, den polierten Möbeln und dem prasselnden Kaminfeuer war hell beleuchtet. Kerzen brannten in vielarmigen Ständern und überfluteten mit ihrem Schein das Mädchen in der Wanne ebenso, wie den Mann an der Tür. Zum ersten Mal sah Violaine das edle, bräunliche Gesicht mit den scharfen Zügen und den überraschend grünen Augen unter den nachtschwarzen Haaren in vollem Licht und mit klarem Bewusstsein. Das Antlitz eines Kriegers mit den Augen eines Zauberers. Noch nie hatte sie einen so göttlich schönen Mann gesehen. Unfähig sich zu rühren, konnte sie nur schauen. Raimond de Marivaux hingegen reagierte vollkommen irdisch. Bisher hatte er Violaine für ein tapferes, eher unscheinbares Mädchen mit einer spitzen Zunge gehalten. Was da vom Wasser halb verhüllt in dem Zuber ruhte, war jedoch alles andere als unauffällig. Das hässliche Gewand hatte einen vollkommenen, zart gebauten Körper mit langen Beinen, sanft gerundeten Hüften und bezaubernd rosig gekrönten, üppigen Brüsten verborgen. Das ungewöhnliche Ebenmaß dieser fragilen Gestalt, verschlug ihm die Sprache. Er suchte ihren Blick. Irritiert tauchte er in honigfarbene Katzenaugen, deren goldene Reflexe auch im hellen Braun der wilden Locken zu leuchten schienen, die über ihre Schultern fielen und in einzelnen feuchten, bezaubernden Strähnen ihre Gestalt umschmeichelten. Eine Venus. Eine unschuldig, verführerische Nymphe mit Haaren, die in allen Tönen des jungen Herbstwaldes schimmerten. Die Nymphe erholte sich jedoch wesentlich schneller als Raimond von ihrem Schreck. »Hinaus!«, schrie sie wutentbrannt. Sie schoss aus dem Wasser hoch und fasste nach dem Leinentuch, das die Wirtin bereitgelegt hatte. Es schmiegte sich vom Wasser feucht um ihre Hüften und zeichnete die Vertiefung ihres Schoßes nach. Das Begehren sprang den Vicomte an wie ein Raubtier. Es stand in seinen Augen, und Violaine konnte sich nicht rühren, weil sie dieser leidenschaftliche Blick bis in die Tiefen ihrer Seele bannte. Dann aber verschleierte sich das Grün, wurde dunkel. Die Gestalt schwankte, und Violaine registrierte endlich die Schweißtropfen, die auf seiner Stirn standen und die kalkige Blässe, die unter seiner Bräune lauerte. Sie begriff, dass er sich mit letzter Kraft aufrecht hielt und verzichtete auf all die üblen, anschaulichen Beschimpfungen, die bereits auf ihrer Zunge lagen. Sie zerrte das Tuch über den Brüsten fest, verließ die Wanne und lief zu ihm. Sie legte den Arm, den er gegen den Türstock stemmte, um ihre Schultern und schleppte ihn zum Bett. Sie reichte ihm kaum bis zur Schulter auf bloßen Sohlen, aber sie hatte erstaunlicherweise die Kraft, ihn ganz sanft auf das Lager gleiten zu lassen, wo er mit geschlossenen Augen und heftig atmend liegen blieb. Vorsichtig berührte Violaine sein verletztes Bein. Ihre Fingerkuppen erspürten feuchtes Blut. »Ihr seid des Wahnsinns!«, schimpfte sie, ohne sich darum zu kümmern, dass sie nur ein Tuch trug und dass sich ihre Haare wie eine Wolke um Gesicht und Schultern legten. »Lasst Euch helfen. Nein, bleibt liegen! Ich schneide die Hose auf.« Sie überhörte den erstickten Protest und holte die kleine Stickschere aus der Reisetasche, die zu ihren kostbarsten Besitztümern gehörte. Francine hatte sie ihr überlassen, als sie ins Kloster ging. Allein, das steife Leder der Reithose widerstand dem kleinen Gerät. Erst als sie sein Messer zu Hilfe nahm, gelang es ihr, das Kleidungsstück aufzuschneiden, nachdem sie ihm die Stiefel ausgezogen hatte. Er lag regungslos, und sie wusste nicht genau, ob er ohnmächtig vor Schmerzen oder nur ruhig war. Eine hässlich schwärende Wunde knapp oberhalb des Knies verunstaltete den sehnigen Oberschenkel. Violaine rang erschreckt nach Luft. Irgendjemand hatte sie wohl ausgebrannt, aber er musste es mit der Brutalität eines Schlächters getan haben. Kein Wunder, dass der arme Mann vor Schmerzen halb besinnungslos war. Violaine überwand ihre Bestürzung schnell. Sie hatte lange genug ihren Vater gepflegt, um über Wunden und ihre Behandlung Bescheid zu wissen. Hugo de Saint Hédé war bei der Jagd von einem wütenden Keiler angefallen worden und erst nach jahrelangem Siechtum an den Folgen seiner Verletzungen gestorben. Es hatte nie genügend Geld für gelehrte Doktoren oder reisende Quacksalber gegeben. Violaine war auf die Hilfe der Kräuterfrauen angewiesen gewesen, die für ein junges Lamm oder einen ordentlichen Batzen Butter bereit waren, ihre Geheimnisse zu verraten. Sie hatte zugehört und gelernt. An manchen Tagen, wenn ihr Vater tatsächlich schmerzfrei war und Zukunftspläne schmiedete, hatte sie sich dafür belohnt gefühlt. Der größte Teil ihrer Reisetasche enthielt die kostbaren Reste ihrer häuslichen Apotheke, und Raimond de Marivaux profitierte ahnungslos davon. Als er wieder zu sich kam, trug er einen sauberen weißen Leinenverband, und der Schmerz in seinem Bein war einem kaum wahrnehmbaren Druck gewichen. »Ich danke Euch«, murmelte er müde. »Wo habt Ihr um diese Zeit einen Arzt herbekommen?« Er suchte ihren Blick und stellte fest, dass sie bis zum Hals in das ausgebürstete, klägliche Wollkleid gewandet war, in dem er sie kennen gelernt hatte. Die Haare geflochten und fest unter eine Haube gestopft, war sie wieder das Bildnis einer sittsamen Jungfer, welche die Augen niederschlug, wenn man mit ihr sprach. »Ich habe Euch verbunden«, antwortete sie leise. »Ich hoffe, Ihr seht mir nach, dass ich Eure Hose deswegen zerschnitten habe. Ich wusste nicht, wie ich sonst an die Wunde hätte kommen sollen, nachdem Ihr das Bewusstsein verloren hattet. Ihr solltet ruhen und nicht durch die Lande reiten. Das ist Leichtsinn, was Ihr tut.« »Und das ausgerechnet von Euch, meine Kleine«, entgegnete er sarkastisch. »Ihr solltet mir für diesen Leichtsinn dankbar sein. Oder sehnt Ihr Euch nach der geschmackvollen Abendunterhaltung, die Euch ein paar Galgenvögel in ihrem Unterschlupf bieten könnten?« Violaine konnte nicht in Abrede stellen, dass sie ihm Dank schuldete. Gleichzeitig jedoch ärgerte sie sich über die arrogante Überheblichkeit, mit der er sie behandelte. Auch verwundet und schwach büßte er nichts von seiner grenzenlosen Anmaßung ein. Dies war entschieden ein Mann, der sich von niemand Vorschriften machen ließ. Aber auch sie wusste, was sie wollte. »Mein Name ist Violaine de Saint Hédé«, sagte sie betont. »Ich bin es nicht gewöhnt, dass man mich Kleine nennt, und ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr davon absehen würdet. Es missfällt mir.« »Es missfällt Euch? In der Tat...« Ein unterdrücktes raues Gelächter schüttelte den Mann, der sich auf den Unterarm aufstützte und sich höher aufsetzte. Ehe sie reagieren konnte, hatte er sie am Arm gepackt und zu sich gezogen. Halb auf seine Brust gelehnt, hatte Violaine nur die Wahl unwürdig zu zappeln oder still zu halten. Sie entschied sich für letzteres und sah ihn vorwurfsvoll an. »Ihr habt das Benehmen einer Herzogin, Madame«, grinste er mitten in diesen anklagenden, ernsten Blick hinein, »die Garderobe einer Dienstmagd und den Körper eines verführerischen Engels. Bedauerlicherweise bin ich kein Herzog sondern ein Krieger. Krieger pflegen sich zu nehmen, was sie wollen.« Ehe Violaine begriffen hatte, was er damit meinte, hatte er seinen Mund auf den ihren gedrückt. Seit mit Francine auch die letzte ihrer Schwestern vor vielen Jahren in ein Kloster gegangen war, hatte Violaine niemand mehr geküsst. Ihr Vater hatte zu besonderen Gelegenheiten ihre Stirn mit trockenen, nichts sagenden Lippen berührt, und die Aufmerksamkeiten der Hirten und Bauernburschen galten den Mädchen ihres Standes und nicht der letzten Saint Hédé. Es war das erste Mal, dass sie die Lippen eines Mannes auf den ihren spürte. Das junge Mädchen erschauerte in den Armen Raimond de Marivaux. Ein unbekanntes, fremdes Gefühl brach in Violaine auf. Eine Mischung aus Neugier, Begehren und Furcht ließ sie zögern, die intime Berührung dieses Mundes zu dulden, der jetzt ihre Lippen kostete, die Mundwinkel mit der Zunge berührte und sich dann mit der Gewalt eines Sturmes über sie legte. Etwas sagte Violaine, dass sie sich dagegen wehren müsse, dass er ihr Gewalt antat. Allein, da war auch ein anderes Empfinden. Eines, das unter diesem Kuss aufblühte wie eine Blume unter dem ersehnten Regen; das tief in ihr geschlummert, aber nie auch nur die geringste Nahrung erhalten hatte. Es hieß sie, sich in diese Arme zu schmiegen und die Lippen der gierigen, leidenschaftlichen Zunge zu öffnen, die in sie eindrang und sie eroberte. Ihr Herz raste, und die Hitze überflutete ihren ganzen Körper. Sie begriff erst mit einer gewissen Verzögerung, dass es nicht nur dieser heiße Kuss war, der solche Glut auslöste, sondern dass es auch die Hände waren, die auf ihren Brüsten lagen, die sie durch den Stoff berührten, so dass die Knospen von innen antworteten und sich hart und schamlos nach außen drängten, dieser Hand entgegen, die so köstliches Fieber hervorrief. Ein leises, heiseres Lachen brachte Violaine in die Wirklichkeit zurück. Halb verwirrt, halb atemlos erkannte sie, dass sie sich aus dem Griff des Vicomte ganz leicht befreien konnte. Dass er ihr keine Gewalt antat. Sie zuckte zurück und fuhr sich mit den Händen über die Schläfen, kontrollierte den tadellosen Sitz der gebändigten Zöpfe und schöpfte endlich tief Atem. Die wenigen Sekunden genügten, damit sie sich wieder unter Kontrolle bekam. »Auch Krieger sollten die guten Sitten respektieren«, sagte sie in einem Ton, den sie von ihrer Schwester Francine übernommen hatte. Francine, die Schwester Pförtnerin eines Franziskanerinnen-Klosters, hatte das mutterlose Mädchen bis zu dessen dreizehntem Lebensjahr aufgezogen. Ihre strenge Moral, ihre pedantische Ordnungsliebe und ihre Frömmigkeit hatten das Maß aller Dinge für Violaine gebildet, wenngleich sie an diesen hohen Vorgaben immer wieder gescheitert war. »Die guten Sitten, du lieber Himmel«, der Mann auf dem Bett schüttelte sich vor Lachen. »Du bist wirklich ein seltsames Geschöpf, mein Kleines. Was sind schon gute Sitten? Das Leben ist grausam und brutal. Erinnert Euch an die armen Teufel, die heute ihr Leben verloren haben. Denkt Ihr, Gott ist gnädig? Welch ein Irrtum!« Violaine spürte eine unterschwellige Anklage in seinen Worten, eine Verzweiflung, die sie nicht genau zu fassen vermochte. »Man könnte meinen, Ihr habt noch nie im Leben den besänftigenden Einfluss einer Mutter oder Schwester gefühlt«, murmelte sie. »Nicht nur den«, verbesserte der Verletzte sarkastisch. »Auch den unbeirrbaren eines Vaters, den ich in meiner jugendlichen Dummheit nicht akzeptieren wollte. Ich war zu stolz, um ihm zu glauben, und das Schicksal hat mir die Quittung dafür präsentiert. Bringt mich nicht dazu, zu philosophieren, kleine Herzogin. Es würde Euch schlecht bekommen. Ich bin ein Anhänger der Zyniker geworden, nachdem mir Gottes Weitsicht und Güte Anlass zum Zweifel gegeben haben.« »Ich bin keine Herzogin«, verbesserte Violaine energisch. »Ich habe Euch zu meiner Herzogin erhoben«, behauptete der junge Mann hartnäckig. »Oder ist es Euch lieber, ich behandle Euch wie die Kammerzofe der Frau Steuereintreiberin? Na, bitte! Würdet Ihr die Freundlichkeit besitzen, den Wirt zu bitten, uns etwas Essen zu bringen? Ich habe das Gefühl, ich könnte einen halben Ochsen verspeisen. Und wenn er in seinem Keller Wein von der Loire hat, wäre es schön. Ich habe seit mehr als einem Jahr auf diesen Genuss verzichtet. Nun, weshalb zögert Ihr? Was ist?« Violaine errötete beschämt. »Verzeiht ... aber ... besitzt Ihr Geld? Ich habe keines, deswegen habe ich mich dieser bedauernswerten Reisegesellschaft angeschlossen, gegen meine Dienste als Zofe und Gesellschafterin. Ich wage nicht, den Wirt zu bitten, wenn ich weiß, dass wir seine Mühen nicht entlohnen können ...« Der Kranke lachte, oder war es ein Husten? »Keine Sorge, kleine Herzogin. Wir werden den guten Maître Thibaud fürstlich entlohnen. Er soll Küche und Keller für uns plündern. Wenn ich schon sonst kein Vergnügen haben werde, so doch wenigstens das der Völlerei ...« Violaine ging ohne ein weiteres Wort. Sie wusste nicht genau, was ihr Retter mit diesem rätselhaften Satz sagen wollte. Unbewusst hatte sie jedoch den Eindruck, es wäre auch besser nicht nachzufragen, weil er sonst seine Pläne ändern könnte. Hatte sie eigentlich Angst vor ihm oder nicht? Wenn ja, war es eine andere Furcht als jene, die sie bei dem Überfall verspürt hatte. Es war etwas anderes, etwas fremderes und noch besorgniserregenderes! Etwas, das völlig neu in ihr Leben getreten zu sein schien und das sie außerordentlich beunruhigte.

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