Die ganze Geschichte und andere Geschichten - Ali Smith - E-Book

Die ganze Geschichte und andere Geschichten E-Book

Ali Smith

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kann man jemals die ganze Geschichte kennen? Oder auch nur einen Teil davon richtig? Oder gar herausfinden, was das alles bedeutet? Witzig und subversiv, spielerisch und phantasievoll zeigt die Sprachakrobatin Ali Smith, wozu Geschichten fähig sind. Sie erzählt von Bäumen und Büchern, Fliegen und Ungeheuern, von Sex, Kunst, Rausch und Liebe, sie stellt den Alltag auf den Kopf und macht das Bizarre normal. In zwölf Geschichten nimmt sie uns mit auf eine verblüffende Reise durch ein ganzes Jahr, von Februar bis Januar, bis der Kalender eine ganz neue Bedeutung gewinnt. So raffiniert, so schockierend, so vergnüglich kann Erzählen sein!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 258

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Kann man jeweils die ganze Geschichte kennen? Oder auch nur einen Teil davon richtig? Oder gar herausfinden, was das alles bedeutet? Witzig und subversiv, spielerisch und phantasievoll zeigt die Sprachakrobatin Ali Smith, wozu Geschichten fähig sind. Sie erzählt von Bäumen und Büchern, Fliegen und Ungeheuern, von Sex, Kunst, Rausch und Liebe, sie stellt den Alltag auf den Kopf und macht das Bizarre normal. In zwölf Geschichten nimmt sie uns mit auf eine verblüffende Reise durch ein ganzes Jahr, von Februar bis Januar, bis der Kalender eine ganz neue Bedeutung gewinnt. So raffiniert und grausam, so schockierend und vergnüglich kann Erzählen sein!

Autor

ALI SMITH wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren und lebt in Cambridge. Sie hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht und wurde mit zahlreichen renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet. Smith ist Mitglied der Royal Society of Literature und Commander of the Order of the British Empire.

ALI SMITH BEI BTBDie Zufällige. Roman Die erste Person. Erzählungen Im Hotel. Roman Freie Liebe und andere Geschichten Ganz andere Geschichten Beides sein. Roman

Ali Smith

DIE GANZE GESCHICHTE

UND ANDERE GESCHICHTEN

Aus dem Englischenvon Silvia Morawetz

Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »The Whole Story and Other Stories« bei Hamish Hamilton, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Quellen: Claire Lispector, Der große Augenblick.Deutsch von Luis Ruby © Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH, Frankfurt am Main. 2016, S. 9

Genehmigte Taschenbuchausgabe Juni 2018

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2003 Ali Smith

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © plainpicture/Mihaela Ninic

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

CP · Herstellung: sc

ISBN: 978-3-641-19963-0V002www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

zum Andenken anSorley Macdonaldfür Kate AtkinsonFreundin in allen Lebenslagenund für Sarah Woodvon ganzem Herzen

Inhalt

Allzweckgeschichte

Barbaren

Dann schnell

Mai

Paradies

Zerstörerisch

Der Buchklub

Glaub mir

Schottische Liebeslieder

Die Besten der Saison

Die Wärme der Geschichte

So fing es an

Danksagung

Alles auf der Welt begann mit einem ja. Ein Molekül sagte ja zu einem anderen Molekül, und so entstand das Leben. Doch vor der Vorgeschichte gab es die Vorgeschichte der Vorgeschichte und gab es das Nie und es gab das Ja.

Clarice Lispector

Allzweckgeschichte

Es war ein Mann, der hatte seinen Wohnsitz neben einem Kirchhof.

Na ja, nein, okay, es muss nicht unbedingt ein Mann gewesen sein; in diesem speziellen Fall war es eine Frau. Es war eine Frau, die hatte ihren Wohnsitz neben einem Kirchhof.

Obwohl heute, ehrlich gesagt, niemand mehr so spricht. Alle sagen Friedhof. Es sagt auch niemand mehr Wohnsitz. Mit anderen Worten:

Es war einmal eine Frau, die wohnte neben einem Friedhof. Morgens beim Aufwachen schaute sie aus dem hinteren Fenster und sah –

Genau genommen, nein. Es war einmal eine Frau, die wohnte neben – nein, in – einem Antiquariat. Sie bewohnte die Räume im ersten Stock und führte den Laden, der das gesamte Erdgeschoss einnahm. Dort saß sie, Tag für Tag, zwischen den Schädeln und Knochen gebrauchter Bücher, die in Regalen die gesamte Länge und Breite der langen schmalen Zimmer ausfüllten und in Stapeln, gefährdet wie Türme ohne Fundament, bis zum rissigen Stuck der Decke emporwuchsen. Ihre verzogenen oder gerillten oder noch unberührten Rücken waren gebleicht von Jahren in einem längst erloschenen Licht aus unbekannter Quelle, und doch waren sie alle einmal neu gewesen, gekauft in einer Buchhandlung, strahlend im Glanz anderer neuer Bücher. Jetzt waren sie hier, und bei jedem einzelnen kamen unerdenklich viele Gründe dafür in Frage, warum es schließlich in dem Bücherstaub gelandet war, der in der Luft lag und in dem die Frau an diesem Wintertag saß, allein, und das Gewicht der vielen Millionen Seiten spürte, über denen die Buchdeckel geschlossen waren und die vielleicht nie wieder das Tageslicht sahen.

Das Antiquariat befand sich in einem Sträßchen abseits vom Zentrum eines kleinen ländlichen Orts, den im Sommer nur selten Touristen besuchten und in dem der Handel seit 1982 merklich eingebrochen war, seit dem Jahr, in dem die Königinmutter, die gebrechlich aussah und ihren Hut wegen des Winds mit der Hand auf den Kopf drückte, das Band an der Umgehungsstraße durchgeschnitten hatte, die die Fahrt in die Großstadt stark verkürzte, das Halten in dem Dorf aber ziemlich erschwerte. Dann hatte die Bank zugemacht und schließlich das Postamt. Es gab einen Lebensmittelhändler, aber die meisten Leute fuhren die sechs Meilen bis zum Supermarkt. Der Supermarkt führte auch Bücher, aber nur wenige.

Ab und zu kam jemand in das Antiquariat und suchte etwas, wovon er oder sie im Radio gehört oder in der Zeitung gelesen hatte. In der Regel musste sich die Frau im Laden dafür entschuldigen, dass sie es nicht hatte. Jetzt zum Beispiel war Februar, und vier Tage lang war niemand gekommen. Ab und zu stieg mal ein Stubenhocker im Teenageralter um halb fünf aus dem Schulbus aus, der zwischen dem Dorf und der Stadt verkehrte, drückte schüchtern die Tür auf und blickte mit dem Entzücken, das man jemandem sogar von hinten ansieht, an den Schultern, am Rücken oder an der Kopfhaltung, zu dem unendlichen Versprechen der Bücher hinauf. Das war aber schon eine Weile nicht mehr vorgekommen.

Die Frau saß in dem leeren Laden. Es war später Nachmittag. Wurde bald dunkel. Sie beobachtete eine Fliege im Schaufenster. Für Fliegen war es noch früh im Jahr. Die Fliege flog im Uhrzeigersinn Schleifen, ließ sich dann auf Der große Gatsby von F. Scott Fitzgerald nieder und wärmte sich in der spärlichen Spätwintersonne.

Oder – nein. Halt:

Es war einmal eine Fliege, die rastete kurz auf einem alten Taschenbuch im Schaufenster eines Antiquariats. Sie hatte dort in einem Moment der Wärme einen Zwischenstopp vor dem Weiterflug eingelegt, zu dem sie jetzt jeden Augenblick starten würde. Es war keine besondere oder seltene Fliege, auch keine Fliege, deren Art einen interessanten Namen trug – Raubfliege oder Mordfliege zum Beispiel, Wollschweber oder Dickkopffliege, Tanzfliege oder Wurmlöwe, Schnepfenfliege oder Stilettfliege. Es war nicht einmal eine Schnake oder Bremse, auch keine Mücke. Es war eine gewöhnliche Stubenfliege, musca domesticus linnaeus, aus der Familie der Diptera, was bedeutet, dass sie zweiflüglig ist. Sie stand auf dem Umschlag eines Buchs und atmete durch ihre Tracheen ein und aus.

Sie war als nicht mal einen Millimeter langes Ei in einem Dunghaufen auf einem anderthalb Meilen entfernten Bauernhof abgelegt worden und durch die Nahrung, die sie in dem Dunghaufen fand, zu einer beinlosen Made geworden. Dann war sie, schließlich nahte der Winter, durch bloße Muskelkontraktionen fast vierzig Meter gerobbt. Hatte fast vier Monate in dem Grus am Fuß einer Mauer unter hohen Heustapeln in einer Scheune geruht. Während einer kurzen Phase milden Wetters am vorigen Wochenende hatte sie die Puppenhaut durchstoßen und war herausgeklettert, jetzt eine sechs Millimeter lange Fliege. Hatte unter einem Vorsprung des Scheunendachs die Flügel zum Trocknen ausgebreitet und gewartet, bis ihr Leib in der überraschend frühlingslinden Luft, die von den Balearen heraufzog, ausgehärtet war. Durch einen fliegengroßen Spalt im Scheunendach war sie an ebendiesem Morgen in den Rest der Welt aufgebrochen und auf der Suche nach Licht, Wärme und Nahrung über eine Meile weit im Zickzack geflogen. Als die Frau, der das Antiquariat gehörte, das Küchenfenster aufmachte, damit der Dampf vom Essenkochen abzog, war die Fliege hereingeflogen. Jetzt schied sie aus und regurgitierte, was Fliegen tun, wenn sie sich irgendwo niederlassen.

Es war, um ganz genau zu sein, eine weibliche Fliege, deren Leib länger ist als beim männlichen Exemplar und deren rote Facettenaugen auch weiter auseinanderstehen. Ihre Flügel waren dünne, makellose, fein geäderte Membranen. Sie hatte einen grauen Leib und sechs Beine mit jeweils fünf biegsamen Gelenken, und sie war an Beinen und Leib komplett mit feinsten Borsten bedeckt. Ihr Gesicht war samtbraun-silbern gestreift. Ihr langes Maul lief in mehreren Wülsten aus, mit denen sie Flüssigkeiten aufsaugen und feste Stoffe, wie Zucker, Mehl oder Pollen, einspeicheln konnte.

Mit ihrem Rüssel speichelte sie das Foto der Schauspieler Robert Redford und Mia Farrow auf dem Umschlag der Penguinausgabe des Großen Gatsby von 1974 ein. Der bot aber, wie Sie sich denken können, nur wenig, was für eine Stubenfliege wirklich von Interesse war, die sich vordringlich ernähren und fortpflanzen muss, über eine Million Bakterien an sich haben und ein Überträger von allem Möglichen sein kann, angefangen von gewöhnlicher Diarrhö bis hin zu Ruhr, Typhus, Cholera, Poliomyelitis, Milzbrand, Lepra und Tuberkulose, und die es spürt, wenn ein Feind sie jeden Moment in sein Netz ziehen oder mit einer Fliegenklatsche erschlagen kann oder dass es, falls sie dieser Bedrohung entgeht, jeden Moment so kalt werden kann, dass sie ihr Leben aushaucht und damit das aller zehn Generationen, die sie in dem Jahr auf den Weg bringen, das aller neunhundert Eier, die sie legen kann, sofern sie in den durchschnittlich zwanzig Lebenstagen einer durchschnittlichen Stubenfliege dazu kommt.

Nein. Bleiben Sie dran. Denn:

Es lag einmal eine Ausgabe des 1974 bei Penguin erschienenen amerikanischen Romanklassikers Der große Gatsby von F. Scott Fitzgerald im Schaufenster eines stillen Antiquariats in einem Dorf, das nicht mehr viele Menschen besuchten. Das Buch hatte hundertachtundachtzig nummerierte Seiten und war die zwanzigste Auflage des Romans bei Penguin – wo er allein 1974 dreimal nachgedruckt worden war; seine Popularität verdankte sich zu einem Teil der Verfilmung des Buchs, die in dem Jahr unter der Regie von Jack Clayton herauskam. Der Umschlag, einst leuchtend gelb, war schon stark verblasst, ehe das Buch überhaupt in den Laden gelangte, und noch mehr verblichen, seit es dort im Schaufenster lag. Ihn schmückte ein Standfoto in einem Rahmen im Stil der zwanziger Jahre, auf dem Robert Redford und Mia Farrow, die Stars des Films, ebenfalls ziemlich blass aussahen, auch wenn Redford noch fesch war mit seiner Golfkappe und Farrow mit ihrem schmeichelnden Schlapphut der Sepiaton, in den der Stand von Sonne und Licht auf dem Glas sie zufällig gerade tauchte, ziemlich gut stand.

Gekauft hatte den Roman 1974 für 30 Pence in einer Buchhandlung in Devon Rosemary Child, die zweiundzwanzig war und unbedingt erst das Buch lesen wollte, bevor sie sich den Film ansah. Zwei Jahre später heirateten Rosemary und ihr Verlobter Roger. Sie taten ihre Bücher zusammen und spendeten die Dubletten einem Krankenhaus in Cornwall. Eines langen heißen Julinachmittags 1977 aus dem Bibliothekswagen auf Station 14 gezogen hatte ihn Sharon Patten, ein vierzehnjähriges Mädchen mit gebrochener Hüfte, das mit einem Streckverband im Bett lag und sich langweilte, denn Wimbledon war vorbei. Ihr Vater hatte sich offensichtlich gefreut, als er es zur Besuchszeit auf Sharons Nachttisch liegen sah, und auch wenn sie nach der Hälfte zu lesen aufhörte, ließ sie es während ihres ganzen Krankenhausaufenthalts dort neben dem Wasserkrug liegen und nahm es heimlich mit nach Hause, als sie entlassen wurde. Drei Jahre später war ihr egal, was ihr Vater von ihrem Tun und Lassen hielt, und sie schenkte das Buch ihrem Schuldfreund David Connor, der an die Uni gehen und Anglistik studieren wollte, mit den Worten, das sei das langweiligste Buch auf der Welt. David las es. Es war perfekt. Es war genauso wie das Leben. Alles ist wunderschön, alles ist hoffnungslos. Auf dem Schulweg murmelte er Zitate daraus vor sich hin. Als David zwei Jahre später in den Norden ging, an die Uni in Edinburgh, nun ein reifer Achtzehnjähriger, verehrte er es, wie er mehrmals im Seminar äußerte, auch wenn es einen Tick pubertär und das unterschätzte Zärtlich ist die Nacht Fitzgeralds eigentliches Meisterwerk war. Der Tutor, der jedes Jahr an die hundertfünfzig unterirdische Erstsemesteraufsätze über den Großen Gatsby korrigieren musste, nickte bedächtig und gab David eine gute Examensnote. 1985, er hatte sein Studium mit einer Eins mit Sternchen abgeschlossen und eine Stelle im Personalmanagement ergattert, verkaufte David alle Bücher, die er fürs Studium gebraucht hatte, für dreißig Pfund an ein Mädchen namens Mairead. Mit Anglistik konnte Mairead nichts anfangen – die gab keine brauchbaren Antworten – und beschloss, stattdessen Wirtschaft zu studieren. Sie verkaufte die Bücher weiter und schlug einiges mehr dabei heraus als David. Der große Gatsby ging für 2,00 £ weg, das Sechsfache des ursprünglichen Preises, und zwar an Gillian Edgbaston, eine Studentin im ersten Studienjahr. Sie kam nicht dazu, das Buch zu lesen, und ließ es im Regal des gemieteten Hauses zurück, als sie 1990 auszog. Brian Jackson, der Besitzer des vermieteten Hauses, packte es in eine Kiste, die fünf Jahre hinter der Gefriertruhe in seiner Garage stand. 1995 kam seine Mutter Rita zu Besuch und entdeckte es, als Brian die Garage ausräumte, in der offenen Kiste, die einfach so auf dem Kies auf seiner Einfahrt stand. Der große Gatsby!, sagte sie. Das habe ich seit Jahren nicht mehr gelesen. Brian sieht noch vor sich, wie sie es in dem Sommer, zwei Jahre vor ihrem Tod, las, die Beine auf dem Sofa hochgelegt, die Nase tief im Buch. Bei sich zu Hause hatte seine Mutter ein ganzes Zimmer voller Bücher. Als sie 1997 starb, packte er sie in Kisten und gab sie einer registrierten karitativen Einrichtung. Die registrierte karitative Einrichtung suchte sich das Wertvolle heraus und versteigerte den Rest in Kartons mit je dreißig gemischten Taschenbüchern an Antiquariate im ganzen Land.

Die Frau in dem stillen Antiquariat hatte ihren bei der Auktion ersteigerten Karton aufgemacht und müde die Augenbrauen gehoben. Noch ein Großer Gatsby.

Der große Gatsby. F. Scott Fitzgerald. Jetzt als großer Kinofilm. Das Buch lag im Schaufenster. Die Seiten und Ränder waren schmuddelig gelb. Das lag an dem Papier, das für die alten Penguin Modern Classics verwendet wurde; solche Bücher halten naturgemäß nicht ewig. Jetzt saß eine Fliege in der schwachen Nachmittagssonne auf dem Umschlag.

Doch die Fliege stob plötzlich in die Luft davon, denn ein Mann hatte die Hand zwischen die Bücher in der Auslage geschoben und nahm es hoch.

Jetzt:

Es war einmal ein Mann, der streckte die Hand aus und nahm eine ältere Ausgabe des Großen Gatsby von F. Scott Fitzgerald aus dem Schaufenster eines stillen Antiquariats in einem kleinen Dorf. Er drehte das Buch um und ging damit zur Kasse.

Wie viel kostet das, bitte?, fragte er die grau aussehende Frau.

Sie nahm es ihm ab und sah auf der Umschlaginnenseite nach.

Das hier kostet ein Pfund, sagte sie.

Hier hinten steht dreißig Pence, sagte er und zeigte auf die Rückseite.

Das ist der Preis von 1974, sagte die Frau.

Der Mann schaute sie an. Er hatte ein schönes Lächeln. Das Gesicht der Frau hellte sich auf.

Na ja, es ist schon sehr verblichen, sagte sie, ich lasse es Ihnen für fünfzig.

Abgemacht, sagte er.

Möchten Sie eine Tüte dafür?, sagte die Frau.

Nein, das geht so, sagte er. Haben Sie noch mehr?

Noch mehr Fitzgerald?, sagte die Frau. Ja, unter F. Ich zeig’s …

Nein, sagte der Mann. Ich meine, noch mehr Große Gatsbys.

Sie möchten noch eine Ausgabe von Der große Gatsby?, sagte die Frau.

Ich möchte alle, die Sie dahaben, sagte der Mann lächelnd.

Die Frau ging zu dem Regal und zog vier weitere Große Gatsbys heraus. Dann ging sie nach hinten ins Lager und schaute dort nach.

Macht nichts, sagte der Mann. Fünf genügen. Zwei Pfund für alle zusammen, was meinen Sie?

Sein Auto war ein alter Mini Metro. Der Rücksitz quoll über von diversen Ausgaben des Romans. Der Mann zog ein paar unter den Fahrersitz gefallene Exemplare hervor, damit sie ihm beim Fahren nicht unter die Füße oder die Pedale gerieten, und warf die gerade gekauften Bücher über die Schulter nach hinten auf den Haufen, ohne auch nur hinzusehen. Er ließ den Motor an. Das nächste Antiquariat war sechs Meilen entfernt, in der Stadt. Seine Schwester hatte ihn am Freitag vor zwei Wochen angerufen. James, ich sitze in der Badewanne, hatte sie gesagt. Ich brauche F. Scott Fitzgeralds Der große Gatsby.

F und wie weiter?, hatte er gefragt.

Sie wiederholte es. Ich brauche so viele wie möglich.

In Ordnung, sagte er.

Er arbeitete für sie, denn sie bezahlte gut; sie hatte ein Stipendium.

Hast du das mal gelesen?, fragte sie.

Nein, hatte er gesagt. Muss ich?

Wir machen so weiter, sagte sie. Stemmen uns gegen den Strom – und treiben doch stetig zurück, dem Vergangenen zu. Verstehst du?

Was ist mit Benzingeld, wenn ich durch die Gegend fahren und Bücher auftreiben soll?, sagte er.

Du hast fünfhundert Pfund bekommen, von denen du fünfhundert Bücher kaufen sollst. Wenn du sie für weniger kriegst, kannst du das Restgeld behalten. Außerdem zahle ich dir noch zweihundert für deine Mühe. Stemmen uns gegen den Strom. Das ist perfekt, nicht?

Und Benzingeld?, hatte er gesagt.

Von mir aus, kriegst du, sagte sie seufzend.

Denn:

Es war einmal eine Frau, die saß in der Badewanne und hatte gerade ihren Bruder angerufen und ihn gebeten, so viele Exemplare des Großen Gatsby für sie aufzutreiben wie möglich. Sie schüttelte die Tropfen vom Telefon ab, ließ es über den Wannenrand auf den Badezimmerteppich fallen und zog schnell den Arm ins Wasser zurück, denn er war kalt.

Sie sammelte die Bücher, weil sie Boote in Originalgröße aus Gegenständen baute, aus denen Boote sonst nicht gemacht werden. Vor drei Jahren hatte sie ein einen Meter langes Boot aus Narzissen gemacht, die sie und ihr Bruder nachts aus Vorgärten in der ganzen Stadt gestohlen hatten. Sie hatte es im Kanal ihres Wohnorts ausgesetzt und war hineingestiegen. Das Wasser ging ihr fast sofort bis zu den Füßen, dann bis zu den Knien und den Schenkeln, und schließlich stand sie brusthoch im eiskalten Wasser, und die Narzissen, die sich voneinander gelöst hatten, schwammen rings um sie herum.

Es war aber eine kleine Menschenmenge zusammengelaufen, die zusah, wie das Boot unterging, und die Geschichte hatte große Beachtung in den lokalen Medien gefunden und ein bisschen sogar landesweit. Gesponsert von Interflora, die ihr so viel zahlten, dass sie keine Arbeitslosenunterstützung mehr brauchte, machte sie ein neues Boot, anderthalb Meter lang, für das sie verschiedene Blumen, von Lilien bis zu Schneeglöckchen, mischte. Es ging ebenfalls unter, aber diesmal wurde für ein Kunstprojekt gefilmt, wie es, mit ihr drin, sank. Das brachte ihr den gutbezahlten Kunstauftrag ein, noch mehr überraschende Boote zu machen. In den letzten zwei Jahren hatte sie drei und dreieinhalb Meter lange Boote aus Bonbons, Laub, Uhren und Fotografien gebaut und jedes mit großem Aufwand in einem anderen britischen Hafen zu Wasser gelassen. Keines war weiter als fünfundzwanzig Meter zur See gefahren.

Der große Gatsby, dachte sie in der Wanne. Das Buch war ihr aus ihrer Jugend noch erinnerlich, und als sie im Wasser lag und grübelte, was sie als Nächstes tun sollte, damit ihr das Stipendium nicht entzogen wurde, war es ihr plötzlich eingefallen.

Das war perfekt, dachte sie und nickte sich zu. Wir machen so weiter. Die letzte Zeile aus dem Buch. Sie zog die Schultern unter Wasser, damit sie warm blieben.

Und damit sind wir schon am Ende angekommen:

Das zwei Meter lange Boot aus Großen Gatsbys, die sie mit wasserunlöslichem Dichtungsmittel verklebt hatte, wurde im Frühjahr im Hafen von Felixstowe ausgesetzt.

Der Bruder der Künstlerin trug über dreihundert Exemplare des Buchs zusammen und fuhr dafür bis nach Wales und nach Schottland. In einigen Ortschaften, durch die er kam, ist es bis heute nicht leicht, den Großen Gatsby antiquarisch aufzutreiben. Das Ganze kostete ihn genau einhundertdreiundachtzig Pfund fünfzig. Das Restgeld behielt er. Da er auch jemand war, der sich vor dem Essen stets die Hände wusch, trug er keinen Schaden durch etwaige Ablagerungen davon, die die Fliege weiter vorn in der Geschichte auf dem Umschlag des Buchs hinterlassen hatte, das er in dem stillen Antiquariat erstand.

Diese Ausgabe des Großen Gatsby, in die einige Besitzer – Rosemary Child, Sharon Patten, David Connor, Rita Jackson – auf die Umschlaginnenseite mit Tinte ihren Namen geschrieben hatten, wurde in den Bug des Boots geleimt, das sich dreihundert Meter auf See hielt, bevor schließlich Wasser eindrang und es unterging.

Die Fliege, die an dem Tag auf dem Buch verweilt hatte, verbrachte den Abend auf der Lampenfassung, zwei Meter über dem Boden schwebend. Das tun Fliegen abends für gewöhnlich. Diese Fliege war keine Ausnahme.

Die Frau, die das Antiquariat führte, freute sich sehr, dass sie ihre Exemplare des Großen Gatsby alle auf einmal verkauft hatte, noch dazu an einen lächelnden jungen Mann. Sie stellte eine Ausgabe von Dantes Göttlicher Komödie an den leeren Platz ins Fenster und breitete dabei die ersten Seiten aus. Staub flog auf. Sie pustete noch mehr Staub von der Oberseite des Buchs und wischte ihn vom Ladentisch ab. Betrachtete ihre mit Bücherstaub beschmierte Hand. Es war Zeit, die Bücher abzustauben, sie alle aufzuklappen und zu schütteln. Damit wäre sie bis weit in den Frühling beschäftigt. Zuerst die Literatur, dann die Sachbücher, dann alle Untergruppen. Ihr Herz war leicht. Noch an dem Abend fing sie beim Buchstaben A an.

Die Frau, die neben einem Friedhof wohnte, Sie erinnern sich, die von vorn? Sie schaute aus ihrem Fenster und sah – ach, aber das ist eine andere Geschichte.

Und was ist, zuallerletzt, mit dem Mann von ganz vorn, mit dem wir angefangen haben, dem Mann, der seinen Wohnsitz neben einem Kirchhof hatte?

Er führte ein langes glückliches und trauriges und sehr ereignisreiches Leben, und das über Jahre und Jahre und Jahre, bevor er starb.

Barbaren

Ich habe das wirklich erlebt.

Es geschah an einem Nachmittag im Frühling vor nicht so langer Zeit, Mitte der Neunziger. Ein Mann kam in die Buchhandlung, in der ich arbeitete. Er sah aus wie ein Bankangestellter oder Buchhalter oder wie irgendein Geschäftsmann, hatte gepflegtes Haar und lief mit Anzug und Schlips herum. Ich richtete mich auf. Ich hatte schon Ärger auf Arbeit und wollte nicht noch mehr Ärger bekommen. Der Mann sah aus, als könnte er wichtig sein.

Die Buchhandlung, in der ich damals arbeitete, war eher vom alten Schlag, und den Ärger hatte ich, weil ich nicht passend gekleidet war. Kurz vor dem Tag, von dem ich spreche, war ich in einem Sweatshirt zur Arbeit gekommen, auf dem ein Designer-Slogan drauf war. Auf meinem Rücken stand IM TRAUM HAST DU DEN WEG GESEHEN UND DU WARST VOLLER FREUDE. Das Sweatshirt hatte für einigen Wirbel unter den Angestellten gesorgt, und ich musste im Büro des Chefs antanzen, der mich (sozusagen) am Schlafittchen packte und zusammenstauchte, weil ich ständig Hosen trug, aber nie einen Rock, und der mir, das war noch nie da gewesen, dreißig Pfund als Beihilfe gab, damit ich mir zwei ordentliche Blusen kaufte. Der Unmut im Aufenthaltsraum für die Angestellten war ziemlich groß, weil ich Geld für Kleidung bekam. Die älteren Angestellten, allesamt starke Raucher, fanden das empörend, obwohl sie sich vorher auch schon über mich empört hatten, weil ich mich nicht kleidete, wie es sich gehörte, und die jungen Angestellten, die gereizt in dem dicken Zigarettenqualm saßen, fanden es ungerecht und wollten auch eine Blusenbeihilfe haben.

An dem Tag, von dem ich spreche, trug ich so eine ordentliche Bluse. Sie kratzten beide, und ich konnte den eingeschüchterten, abgestumpften Menschen, der ich mit ihnen am Leib geworden war, nicht leiden. Doch ich lächelte dem Mann zu, der hereingekommen war. Er war kein Vergleich zu dem anderen Mann weiter drüben an dem Regal, in dem Die Chronik des zwanzigsten Jahrhunderts stand.

Noch vor ein paar Wochen hatte die Chronik, irgendwo in der Mitte des Jahrhunderts aufgeschlagen, immer auf dem Lesepult gelegen, das der Buchhandlung extra dafür vom Verlag des Buchs zur Verfügung gestellt worden war. Wir drei, die im Erdgeschoss arbeiteten, hatten beschlossen, das Lesepult wegzuräumen, weil der eine Kunde jeden Tag kam und immer sein nasses Taschentuch an der Rückseite des Pults aufhängte, während er in der Chronik las. Es war jeden Tag das Gleiche: Er kam herein, hängte es an der Rückseite über das Pult, las mehrere Stunden, befühlte es dann und prüfte, ob es trocken war, faltete es zusammen, steckte es sich in die Manteltasche und verließ den Laden.

Zu uns in den Laden kamen ständig Leute, die sich merkwürdig benahmen. Es war eine Buchhandlung, die schon Hunderte von Jahren existierte, die ganze Zeit in diesem alten Gebäude voller versteckter Winkel, überraschender Auf- und unerwarteter Durchgänge. In der Buchhandlung waren schon Menschen gestorben. Die langjährigen Angestellten erzählten im Aufenthaltsraum durch den ausgepusteten Rauch in gedämpftem Ton oft von dem Tag, als einer die Dame gefunden hatte, die tot zwischen ihren Einkaufstaschen lag, die Beine von sich gestreckt, mit verrutschtem Mantel und einem erstaunten Ausdruck auf dem Gesicht, oder von dem Tag, als jemand anders den Mann fand, der im dritten Stock des Treppenhauses auf einem Fensterbrett saß und geradeaus starrte, tot.

Wir hatten einen Kunden, der Bücher stahl und wiederbrachte, nachdem er sie gelesen hatte, sie ins Regal zurückschob und sich neue zum Mitnehmen aussuchte. Das war unser Manokleptiker. Ein anderer Kunde schlummerte, an die Regale gelehnt, immer ein. Das war unser Narkoleptiker. Wir hatten eine Kundin, die hereinkam, jedes einzelne Buch in die Hand nahm, das auf dem Tisch mit den Neuerscheinungen lag, und blitzschnell die Seiten umblätterte, als fotografiere sie alles mit den Augen ab. Das war unser Kritikaster. Die beiden alten Damen, die zu jeder Lesung erschienen, die in der Buchhandlung stattfand, damit sie den kostenlosen Wein trinken konnten, nannten wir Mackintosh und Mrs Stock (Mrs Stock ging am Stock). Im Erdgeschoss arbeitete ich wesentlich lieber; in meiner ersten Abteilung, in einem Raum im zweiten Stock gleich neben einer Treppe, mussten wir immer hinter den Leuten herputzen, wenn sie im Bereich Wahre Kriminalfälle uriniert hatten und es im Neonlicht wieder von den Rücken von Büchern wie Tod im Morgengrauen, Der Yorkshire-Ripper, Massaker, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Das perfekte Opfer und Das Faber-Buch vom Morden tropfte. Die Pinkler waren unsere Barbaren.

Unser Name für den Mann mit dem Taschentuch war Bazille. An dem Tag, an dem wir das Lesepult forträumten, blieben wir drei alle in der Nähe des Kassentischs, stupsten uns flüsternd gegenseitig an und beobachteten das Geschehen. Er kam wie gewohnt herein. Baute sich dort auf, wo das Pult gestanden hatte. Dann kam er zum Kassentisch herüber. Barbara starrte zu Boden. Ich starrte auf meine Hände, die auf dem Tisch lagen. Er bat Andrea, ihm zu zeigen, wo er Die Chronik des zwanzigsten Jahrhunderts fand.

Andrea errötete. Sie war die Bereichsleiterin für das Erdgeschoss. Sie hob den Arm und wies auf die Stelle in der Sachbuchecke. Sagte dann: Warten Sie, ich zeige es Ihnen. Sie ging mit ihm hin und wies auf den Platz im Regal, an dem das Buch stand. Wir verfolgten alle, wie er das Buch auf Lesehöhe im Regal aufschlug, sein nasses Taschentuch aufschüttelte und es am Regalbrett aufhängte; es baumelte vor den Büchern im Fach darunter. Als es getrocknet war, klappte er das Buch zu, steckte das Taschentuch dahin zurück, wo er es hervorgezogen hatte, und ging.

An dem Tag, von dem ich erzähle, war er auch da. Er war ja immer da. Ich konnte förmlich sehen, wie der Inhalt des Taschentuchs in der Luft verdunstete und durch die ratternde Zentralheizung im ganzen Laden verteilt wurde (angeblich hatten wir Frühling, aber an dem Morgen lag, als ich zur Arbeit fuhr, Reif auf den Kirchtürmen und auf den Dächern der endlosen Reihen der Mietshäuser). Als ich ihn vorhin beobachtete, hatte ich wieder einmal überlegt, ob ich im Buchhandel aufhören sollte. Hatte mich abgewendet, damit ich nicht mehr zu sehen brauchte, wie er in seinem Mantel mit dem herabhängenden grauen Gürtel dastand, und stattdessen zum Fenster hinausgeschaut in die belebten Straßen der Altstadt und auf die verrußten Mauern der Kirche und der Geschäfte, auf die vorüberfahrenden Taxis und auf die Leute, die vom Wind herumgestoßen wurden, als sie an der Ampel warteten, oder in der Straße, wo das Museum war, wegen des Wetters die Schultern hochzogen. Meine Bluse war mir unter den Armen zu eng. Ich reckte die Schultern und fragte mich, ob der Stoff reißen würde. Fragte mich, wie es sein mochte, im Museum zu arbeiten, bei den Hermelinen mit den Glasaugen und den ausgestopften Habichten und Füchsen, die hinter BITTE NICHT BEHRÜHREN-Schildern aufgestellt waren, den mit Draht zusammengehaltenen Dinosaurierknochen, die die große Eingangshalle bis zur Decke einnahmen, beim Geräusch vornehmen Absätzeklapperns auf Marmor, in der gewichtigen, gelehrten, methodischen Luft. Im Museum galten aber bestimmt ebenfalls irgendwelche Kleidervorschriften. Und bestimmt standen dort auch den ganzen Nachmittag Leute wie dieser Mann herum, hängten ihre Taschentücher zum Trocknen über die Zehenknochen ausgestorbener Arten, urinierten auf Raubtiere. Ich stand da und fragte mich, ob es in dieser Stadt überhaupt einen Arbeitsplatz für mich gab, wo ich nicht das Gefühl hätte, das Leben, das richtige Leben – das wichtige, weniger schmutzige −, fände woanders statt.

Dann kam der schick gekleidete Mann herein und stellte sich an den Ladentisch. Ich lächelte ihn an.

Kann ich Ihnen behilflich sein?, sagte ich.

Er legte seine Aktentasche auf den Kassentisch. Sie war groß, das Leder alt und verbeult. Ein Geschäftsmann hatte keine solche Aktentasche, vielleicht war er ja doch keiner. Vielleicht ist er Akademiker, dachte ich, denn von der Buchhandlung sind es nur ein paar Schritte zum Campus der Universität, die es seit dem Mittelalter in der Stadt gibt, und nun, da ich ihn für einen Akademiker hielt, sah ich auch, dass seine Haare ein bisschen lang und sein Anzug etwas abgetragen waren und dass da etwas Ausweichendes und Listiges in den Augen war, aus denen er mich ansah, was er beim Öffnen seiner Aktentasche tat. Ich blickte auf lauter glänzende Rücken brandneuer gebundener Bücher. Vielleicht war er Christ oder Vertreter für irgendwelche religiöse Literatur. Ich zog eine finstere Miene.

Ich bin Autor und Historiker, sagte er. Sie haben vermutlich von mir gehört. Und fast sicher haben Sie hier schon einige meiner Bücher verkauft.

Er nannte mir seinen Namen. Der sagte mir zwar nichts, ich nickte aber trotzdem und setzte ein entsprechend respektvolles Lächeln auf. Es war noch ein bisschen aufregend, wenn ein Autor in den Laden kam, damals, unmittelbar bevor Autoren ständig in Buchhandlungen auftraten, wie es heute der Fall ist. Es ist ziemlich nervtötend, dass man heute immer ein Gesicht und eine Stimme zusammen mit einem Buch parat haben muss und dass Gesicht und Stimme, Name und Körper des Autors alle Teil des Pakets sind, das für 9.99 £ über den Ladentisch geht, kleine, von ihm oder ihr abgeschälte Späne, die für die Leser zwischen die Seiten eingelegt werden wie Erratazettel oder Lesezeichen.

Der Mann zog ein Buch aus der Aktentasche und legte es auf den Ladentisch. Auf dem Umschlag war vorn ein Foto von Hitler. Ich las den Titel verkehrt herum. Irgendetwas mit wahre Geschichte.

Das ist mein neuestes Werk, sagte der Mann.

Ich öffnete den Mund und wollte ihn in die Abteilung mit den Geschichtsbüchern schicken. Er hob den Zeigefinger und gebot mir zu schweigen.