Freie Liebe und andere Geschichten - Ali Smith - E-Book

Freie Liebe und andere Geschichten E-Book

Ali Smith

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Beschreibung

Ein Mädchen entdeckt im Rotlichtviertel von Amsterdam ganz unerwartet das berauschende Gefühl sexueller Freiheit. Eine Kinokartenabreißerin träumt sich aus ihrem Leben heraus und in die unbegrenzten Möglichkeiten der Filme hinein. Ein Fotograf besucht seine alte schottische Heimat und lernt von einer Neunjährigen, auf Dächer zu klettern und Steine übers Wasser springen zu lassen … Unbändige Lebenslust spricht aus den Erzählungen der schottischen Autorin Ali Smith, die Freude an der Entdeckung der Welt, die Begeisterung über Worte und ihre Kraft, der Rausch des Aufbruchs und der erwachenden Sehnsucht, das unglaubliche Glücksgefühl, Liebe zu finden. Und wie gut es ist, eine Frau zu sein.

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Zum Buch

Ein Mädchen entdeckt im Rotlichtviertel von Amsterdam ganz unerwartet das berauschende Gefühl sexueller Freiheit. Eine Kinokartenabreißerin träumt sich aus ihrem Leben heraus und in die unbegrenzten Möglichkeiten der Filme hinein. Ein Fotograf besucht seine alte schottische Heimat und lernt von einer Neunjährigen, auf Dächer zu klettern und Steine übers Wasser springen zu lassen … Unbändige Lebenslust spricht aus den Erzählungen der schottischen Autorin Ali Smith, die Freude an der Entdeckung der Welt, die Begeisterung über Worte und ihre Kraft, der Rausch des Aufbruchs und der erwachenden Sehnsucht, das unglaubliche Glücksgefühl, Liebe zu finden. Und wie gut es ist, eine Frau zu sein.

Zur Autorin

ALI SMITH wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren und lebt in Cambridge. Sie hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht, ist Mitglied der Royal Society of Literature und wurde 2015 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. Für »Freie Liebe und andere Geschichten« wurde sie 1995 mit dem Saltire First Book Award ausgezeichnet. Inzwischen hat sie zahlreiche weitere renommierte Preise erhalten, zuletzt 2015 den Baileys Women’s Prize for Fiction.

ALI SMITH BEI BTBDie Zufällige. RomanDie erste Person. ErzählungenIm Hotel. Roman

ALI SMITH

Freie Liebe und andere Geschichten

Aus dem Englischen von Silvia Morawetz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel »Free Love and Other Stories« bei Virago Press, London.Die Arbeit an der vorliegenden Übersetzung wurde durch ein Stipendium des Landes Niedersachsen gefördert.

1. AuflageDeutsche ErstausgabeGenehmigte Taschenbuchausgabe April 2017btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenCopyright © der Originalausgabe 1995 Ali SmithCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 Luchterhand Literaturverlag und btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: semper smile, MünchenUmschlagmotiv: © Thomas Barwick/Getty ImagesSatz: Uhl + Massopust, AalenCP · Herstellung: scISBN: 978-3-641-19965-4V001www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlagBesuchen Sie unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de

Für Sarah, für Margaret,für Hardy und für Wood

Inhalt

Freie Liebe

Eine Geschichte vom Falten und Entfalten

Text für den Tag

Schnell vorbei

Jenny Robertson deine Freundin kommt nicht

Ins Kino

Toi, toi, toi

Kaltes Eisen

College

Beängstigend

Unglaublich, aber wahr

Die Welt mit Liebe

Freie Liebe

Mein erstes Mal war mit einer Prostituierten in Amsterdam. Ich war achtzehn, und sie hieß Suzi, und viel älter als ich dürfte sie nicht gewesen sein. Ich war schlecht gelaunt mit dem Fahrrad in der Stadt herumgefahren und eher zufällig ins Rotlichtviertel geraten; es war das angenehmste Rotlichtviertel, in das ich mich je verirrt habe. Die Frauen sitzen hier auf Stühlen in mit Fellen und Stoffen dekorierten Fenstern, die Brüste nackt, manchmal auch mehr, dünne Morgenmäntel und Federboas um die Schultern gebreitet. Es dauerte, bis ich kapierte, dass sie mich nicht deshalb so mürrisch und finster anblickten, weil ich glotzte, sondern weil ich keine Kundschaft war.

Es war Abend, und ich war allein mit dem Fahrrad losgezogen. In einer schmalen Gasse war ich stehen geblieben, um mir meinen Pullover überzuziehen, und dabei war mein Rad umgekippt und die Kette herausgesprungen. Ich lehnte es an eine Hausmauer, damit ich besser an die Kette herankam, und da fielen mir die Karten auf, die an der Tür steckten. Es waren mehrere auf Englisch darunter, auf einer hieß es: Du brauchst Entspannung? Hier findest du sie. Ohne Zeitdruck. Läute bei Becky. Auf einer anderen stand: Unschlagbaren Service bietet Dieter. 2. Stock. Auf wieder einer anderen stand etwas über Uniformen und über Dominanz, daneben ein gezeichnetes Schulmädchen. Ich kicherte noch in mich hinein über die Schildchen, als ich ganz unten eines sah in winziger Schrift und verschiedenen Sprachen, Niederländisch, Französisch, Deutsch, Englisch und irgendwas Östliches; die englische Zeile verhieß Liebe für Männer und Frauen, Suzi, 3. Stock. Das und war unterstrichen.

Da ließ ich mein Rad an der Hauswand stehen und ertappte mich dabei, dass ich die Treppe hinaufstieg; an einer Tür im dritten Stock steckte dieselbe Karte, und an die klopfte meine Hand an. Für den Fall, dass ich wieder weg wollte, hatte ich eine Ausrede parat, wollte sagen, ich hätte mich verlaufen und ob sie mir den Weg zur Jugendherberge beschreiben könne. Doch sie machte die Tür auf und war so nett, dass ich sie sofort sympathisch fand und kein bisschen Angst hatte.

Die Wohnung bestand aus einem Zimmer mit angrenzendem Bad, ein paar Stühlen, dem Bett und einer Küchenecke, die mit einem Vorhang aus roten Kugelschnüren abgeteilt war wie auf Fotos aus den Sechzigern. An der Wand hing ein Poster des Leadsängers von a-ha, die in Europa gerade schwer angesagt waren, und sie sagte, er gefalle ihr, weil er ein Mann sei, aber aussehe wie eine Frau. Ich weiß noch, dass ich das sehr aufregend fand, etwas Derartiges so frei heraus gesagt zu hören war für mich völlig neu. Ich komme aus einer Kleinstadt; eines Abends waren meine Freundin Jackie und ich in einem Pub, und auf der anderen Seite saßen auch zwei Mädchen an einem Tisch; sie sahen ganz normal aus, eigentlich noch normaler als wir, hatten lange Haare und waren stark geschminkt, und als ich hinlinste, weil ich wissen wollte, was für Schuhe sie trugen, entdeckte ich, dass die eine ihren Fuß aus den hochhackigen Schuhen gezogen hatte und der anderen damit unter dem Tisch übers Schienbein strich. Das war sehr mutig, wenn ich jetzt daran zurückdenke; die beiden wären wahrscheinlich zusammengeschlagen worden, hätte jemand das mitgekriegt. Damals machte ich nur Jackie darauf aufmerksam, und sie sagte etwas in der Richtung, wie ekelhaft das sei, ich stimmte ihr wohl sogar zu, ich wollte nie anderer Meinung sein als sie.

Die Prostituierte sprach Englisch mit amerikanischem Akzent. Sie habe eine Stunde, sagte sie, ob mir das genüge, und obwohl ich keinen Schimmer hatte, sagte ich, ja, glaub schon. Ich zeigte ihr meine Hände, die von dem Rad ganz ölig waren, und sagte, ich sollte sie mir vielleicht waschen, und sie drückte mich auf einen der alten Sessel, kam mit einem Lappen und einer Waschschüssel wieder und wusch und trocknete sie mir. Dann machte sie Folgendes: Sie legte meine Hand auf ihren Mund und fuhr mit der Zunge zwischen meine Finger, dort, wo meine Finger aus der Hand kommen, schob sie vor und zurück und machte das bei allen so. Schon davon flog mir fast der Kopf weg.

Sie gab mir eine Tasse sehr starken Kaffee und ein Glas Rotwein, sagte, ich solle mir selber aus der Flasche nachschenken, die sie auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Sessel stehen ließ, legte dann die Arme um meinen Hals und küsste mich, öffnete meine Kleider und zog mir die Jeans aus, und ich saß da und staunte. Sie nahm meine Hand und führte mich zum Bett, schlug nicht einmal die Decke zurück, es war August und warm, und hinterher zeigte sie mir, was ich umgekehrt bei ihr machen sollte, obwohl ich mir das schon vorstellen konnte. Schließlich sah sie erst auf die Uhr und dann mich an, lächelte und zuckte die Achseln. Wir zogen uns wieder an, ich holte meine Brieftasche heraus und blätterte die Gulden durch, doch sie legte die Hand auf meine und klappte die Brieftasche zu. Es ist umsonst, sagte sie, das erste Mal sollte immer frei sein, und als sie mich zur Tür brachte, fragte sie, ob ich lange in Amsterdam sei und ob ich noch einmal wiederkäme. Das würde ich sehr gern, sagte ich und stieg so benommen die Treppe hinunter, dass ich, als ich unten ankam, auf mein Rad stieg und losfahren wollte, keine Sekunde lang an die abgesprungene Kette dachte und mir fast das Kinn am Lenker aufgeschlagen hätte. Ich schob das Rad also zur Jugendherberge zurück, vorbei an den mit Laub gesprenkelten Kanälen, in denen die Spiegelbilder der hohen Gebäude schwappten, und fand, dass das Leben voller Wunder war, voller Möglichkeiten. Ich blieb stehen, lehnte mich aufs Geländer und sah mir an, wie die Abendsonne aufs Wasser traf, wie beide sich schimmernd trennten und wieder zusammenflossen, mit ein und derselben Bewegung, in ein und demselben Moment.

In der Jugendherberge machte mir Jackie die Kette wieder drauf. Wir waren seit der Schule befreundet, sie war eine Klasse über mir gewesen, und auch wenn wir nun studierten, waren wir Freundinnen geblieben. Wir hatten uns das Sommergeld für diese Reise zusammengespart. Ich hatte seit Ende Juni in dem Souvenirladen auf dem Campingplatz bedient, und sie hatte in der Touristeninformation am Schalter für die Bed-and-Breakfast-Buchungen gestanden; viel hatten wir zwar nicht verdient, aber es reichte für die Hin- und Rückfahrt mit dem Nachtbus nach Amsterdam.

Damals war Jackie blond und jungenhaft und golden. Eines Tages war sie mir aufgefallen, als sie auf der Mauer am Haupteingang der Schule saß, und ich dachte, sie sieht aus wie in gelbes Licht getaucht, so als hätte ein feines, sanftes Feuer sie rundherum angesengt. Bei einer Party, wir saßen in einer dunklen Ecke, hatte Jackie mich angestupst und nur mit ihrem Blick auf einen hübschen, verwegen aussehenden Jungen aufmerksam gemacht, der auf einer Couch gegenüber lümmelte und uns beobachtete, und mir ins Ohr geflüstert: Siehst du den? Heute Abend brauche ich bloß zu lächeln, weißt du, mehr ist nicht nötig.

Das hatte mich sehr beeindruckt, und später hielt ich ihr den Kopf, als sie sich, weil sie Bier und Wein durcheinandergetrunken hatte, auf der Toilette im Obergeschoss übergeben musste; anschließend saßen wir auf der Treppe und lachten über das Mädchen, deren Party es war und die das Erbrochene der anderen mit einem dieser kleinen Autostaubsauger aufsaugte; von da ab waren wir Freundinnen. Keine Ahnung, warum sie mich mochte, ich glaube, weil ich ruhig und dunkelhaarig war und von allen für klug gehalten wurde. Ich fand Jackie sehr schön, für mich sah sie aus wie Jodie Foster, in die ich damals verknallt war, nur noch besser. Das hatte ich schon gedacht, als wir noch zusammen zur Schule gingen, und dachte es auch zu der Zeit, obwohl Jodie Fosters Filmkarriere gerade an einem Tiefpunkt angelangt war.

Solche Gedanken hatte ich seit Jahren, und es wurde immer schwieriger, sie für mich zu behalten. Im Grunde hatte ich keine Wahl. Als wir in Amsterdam angekommen waren und Jackie sah, dass dort Leute dicke Brocken Hasch auf der Straße verkauften, war sie moralisch empört, so war sie eben. Aber der Nachtbus hatte mir einen tollen Vorwand dafür geliefert, den Kopf an ihre Schulter zu lehnen, die Nase in ihr blondes Haar zu drücken und mich schlafend zu stellen, weswegen ich an unserem ersten Tag in Amsterdam sehr müde war und wie in Trance herumlief. Das ist es mir wert, sagte ich mir.

Jackie hatte gleich mit einem Jungen aus Edinburgh angebandelt, den wir in der Küche der Jugendherberge kennengelernt hatten; Alan und sie waren schon dicke Freunde, und er hatte sie für diesen Abend zu einem Turnier eingeladen, bei dem er als Schwertkämpfer mitmachte; deswegen war ich mit lausiger Laune in die Stadt geradelt. Nach meiner Rückkehr in die Jugendherberge hatte ich blendende Laune, aber nun war Jackie, die doch nicht zum Schwertkampf gegangen war, eingeschnappt, weil ich aus irgendeinem Grund glücklich war und ihr nicht sagen wollte, wo ich gewesen war.

Von Stund an konnte nichts mir meine Ferien verderben, es machte mir nichts mehr aus. Und von Stund an war Jackie ungewöhnlich nett zu mir; das war verwirrend, denn wir waren zwar beste Freundinnen, gifteten uns aber die meiste Zeit ziemlich an. Am nächsten Tag lieh sie sich auch ein Fahrrad, und wir fuhren an den Kanälen und den dicht an dicht parkenden Autos entlang, tranken Bier und aßen Eis unter Café-Sonnenschirmen, besuchten das Van-Gogh-Museum und das Rembrandthaus und das Rijksmuseum voller altniederländischer Bilder, wir gingen in einen Laden, in dem man dabei zusehen konnte, wie sie Schuhe machten. Am nächsten Tag fuhren wir mit den Rädern zu einer modernen Kunstgalerie; dort hatten sie im Untergeschoss eine Raumskulptur, bei der Leute, die als Gesichter Uhren hatten, an einer Bar saßen. Wir schlenderten eine Weile durch die Galerie, und oben verlor ich Jackie aus den Augen und schlummerte auf einer Holzbank ein. Als ich aufwachte, saß sie dicht neben mir, den Arm auf meiner Schulter. Ich richtete mich auf, und sie rückte nicht weg; wir saßen da und schauten auf das Bild, vor dem ich eingenickt war, ein riesiges Rechteck aus roter Farbe mit einem dünnen Streifen Blau auf der linken Seite. Jackie drückte ihr Bein fest an meines. Gefällt dir das?, fragte sie, den Blick zum Bild, und ich sagte ja, und sie schlug vor, dass wir jetzt gemeinsam die Heineken-Brauerei besichtigen sollten.

In der Heineken-Brauerei bekommt man bei einem Rundgang gezeigt, wo und wie das Bier gebraut wird, die verschiedenen Stadien des Brauvorgangs, die Abfüllung des fertigen Biers in Flaschen, das Aufkleben der Etiketten und die Auslieferung an die Kunden. Bei jeder Station bekommt man ein großzügiges Glas Bier, und die Teilnehmer des Rundgangs rufen Cheers oder Prost und trinken es aus. Dann geht es in den Verwaltungstrakt, wo es noch mehr Bier gibt. Nach dem Rundgang durch die Brauerei waren wir so betrunken, dass wir keinen Meter mehr hätten fahren können und unsere Räder in einem Park an einen Baum lehnen und uns auf dem Rücken ins Gras legen mussten, wo wir grundlos kicherten und in den Himmel schauten. Nicht dass wir noch nie zuvor beide betrunken gewesen wären, aber dieses Mal war es irgendwie anders, und wir saßen am späten Nachmittag im Gras, und ich erzählte Jackie alles, was ich seit Jahren fühlte, und sie sah mich getroffen an, als ob ich sie geschlagen hätte, und sagte, genau dasselbe habe sie auch gefühlt. Dann legte sie die Arme um mich und küsste mich auf den Mund, den Hals und die Schultern, wir küssten uns, mitten in Amsterdam, und niemand nahm Notiz davon. Auch als die Nachwirkung des Heineken vorbei war, blieb die des Nachmittags erhalten, bis zum Ende des Urlaubs, und ich ging, bei ihr untergehakt, durch die Straßen, Jackie streckte nachts in der Jugendherberge im Stockbett unter mir den Arm aus und drückte die Hand an meinen Rücken, wir hielten in einem Raum voller Schlafender im Dunkeln Händchen. Sehr romantisch. Amsterdam war sehr romantisch. Wir fotografierten uns gegenseitig auf dem Fischmarkt, irgendwo habe ich das Foto noch. Wir gingen Bootfahren auf einem See und knipsten uns gegenseitig beim Rudern.

Am Tag vor unserer geplanten Abfahrt fuhr ich unter dem Vorwand, ein Geschenk besorgen zu müssen, aber allein, mit dem Rad noch einmal in das Rotlichtviertel und ließ mein Rad wieder unten an der Haustür stehen. Diesmal musste ich eine halbe Stunde warten. Suzi erinnerte sich an mich, das weiß ich genau, denn hinterher setzte sie sich auf, lächelte, verwuschelte mir die Haare und sagte, es ist schade, Liebling, aber das zweite Mal musst du bezahlen. Es war gut, aber nicht so gut wie beim ersten Mal, und es kostete mich ein Vermögen. Und außerdem musste ich ja ein Geschenk für Jackie besorgen; ich weiß noch, es war teuer, erinnere mich aber nicht mehr, was ich ihr schließlich gekauft habe. Ich glaube, einen Ring.

Als wir wieder zu Hause waren, konnten wir natürlich nicht mehr Arm in Arm durch die Straßen gehen, aber ein wenig Zeit schnappten wir uns doch, trafen uns nach der Arbeit hinter den Häusern ahnungsloser Leute, in Gassen und Durchgängen zwischen Garagen, auf der Ladefläche des Vans ihres Vaters, der im Dunkeln am Fluss abgestellt war. Sonst ging es nur bei ihr oder mir zu Hause im Wohnzimmer, wenn die anderen schon im Bett waren, auf dem Fußboden oder auf der Couch, und immer musste eine der anderen den Mund zuhalten, wenn uns beiden der Atem stockte.

Richtig liebten wir uns das erste Mal in der Damentoilette auf dem Busbahnhof, als wir von Amsterdam zurückkamen; die Hände unter den Kleidern, gegen die Wand und die abgesperrte Tür gelehnt, in den Minuten, bevor ihr Vater eintraf und uns und unsere Rucksäcke nach Hause fuhr. Es war eines der aufregendsten Dinge, die ich in meinem ganzen Leben getan habe, auch wenn Jackie es immer als unser schäbiges erstes Mal bezeichnete. Ungefähr einen Monat später ging ich an der Touristeninformation vorbei und sah durchs Schaufenster Jackie, die im Hinterzimmer mit dem Jungen knutschte, der auf den Touristenbooten im Kaledonischen Kanal arbeitete. Das fand ich wesentlich schäbiger, wie ich mich erinnere. Andererseits ist schäbig ein relativer Begriff; jemand, der uns dabei beobachtet hat, wie wir eines Abends im Theater zwischen den Sitzen Händchen gehalten haben, fand es so schäbig, dass er es unseren Müttern in anonymen Briefen mitteilte. Wir mussten uns ganz schön anstrengen, um es abzustreiten, aber damals hat es uns noch enger zusammengebracht. Wir mussten dem Anonymus dankbar sein. Kürzlich wohnten Jackie und ich noch einmal eine Zeitlang in derselben Stadt, und wir waren immer nett zueinander, wenn wir uns gelegentlich über den Weg liefen. Zumindest das sind wir uns schuldig, das wissen wir beide.

Ich aber datiere den Beginn meiner ersten Liebe auf jenen August in Amsterdam, und wir waren mit Unterbrechungen über fünf Jahre zusammen, bevor wir endgültig losließen. Von Zeit zu Zeit denke ich noch daran, und dann sehe ich als Erstes immer vor mir, wie die Sonne auf dem Wasser einer fremden Stadt tanzt, sich trennt und wieder verschmilzt, und ich sehe mich selber dort, mittendrin und frei, berauscht von der Luft und vor mich hin lachend, ein breites Grinsen im Gesicht und die Brieftasche in meiner Hose noch voller sauberer neuer Scheine.

Eine Geschichte vom Falten und Entfalten

Mein Vater sitzt im Schlafzimmer an der Rückseite des Hauses auf dem Bett, streicht mit der einen Hand leicht über das erhabene Muster des Chenille-Überwurfs, der über die Steppdecken gebreitet ist, und hat eine Frauenunterhose in einem sehr hellen Rosa in der anderen. Um vier Uhr nachmittags brennt im Zimmer schon Licht.

Das Zimmer riecht sauber und luftig, irgendwie nach Talkumpuder. Es hat eingebaute Kleiderschränke, in denen, öffnet man sie, ordentlich aufgehängte Kleidung zum Vorschein kommt, die passenden Schuhe jeweils paarweise darunter auf dem Schrankboden. Es gibt auch eingebaute Fächerkommoden, diese hier ist voller Geschenke, die von Freunden und von den Kindern stammen; die auf der einen Seite warten auf ihren Einsatz, die auf der anderen Seite sind für eine sinnvolle Wiederverwertung als Geschenke für Freunde und andere Verwandte bestimmt. In einer anderen liegen Fotoalben, die, beginnend mit dem ersten, über vierzig Jahre abbilden. Neben dieser Kommode hängt ein Spiegel, um den ringsherum Kinderfotos angeordnet sind, die mit den Ecken in dem dünnen Spalt zwischen Glas und Rahmen klemmen. Auf dem Frisiertisch vor dem Spiegel Parfümflaschen, eine Brille und Lederhandschuhe, die noch die Form der Hände bewahren, die sie trugen. In einer Schublade liegen Schmuckkästchen, kleine Plastikkästchen mit dem Schriftzug Silvercraft auf dem Deckel, darin Halsketten, Broschen und Ringe, lagenweise an Watte geschmiegt; für alle Fälle sind die Kästchen unter einer Zeitschrift namens Annabel, Ausgabe Neujahr 1977, versteckt. Das Titelblatt verheißt die Jahreshoroskope.

Zu beiden Seiten des Doppelbetts, auf dem mein Vater sitzt, stehen Nachttische. Auf dem einen ein Radiowecker und ein noch akkurat aufgereihter Vorrat an Krimis und Angelbüchern, auf dem anderen drei kleine Tablettendosen, die, wenn man sie aufschiebt, in mehrere Fächer unterteilt sind. Daneben stehen Tropfen und Tabletten in Fläschchen aus Plastik, unterschiedliche Größen nebeneinander wie bei einem Architekturmodell für ein kompliziertes Gebäude. Jeder Nachttisch hat eine Lampe für sich, und auf dem mit den Plastikfläschchen liegt neben der Lampe noch die Steuereinheit für eine Heizdecke.

Zwei Kommodenschubladen sind herausgezogen, die eine weiter als die andere. In der mittleren liegen Haarbürsten und Kämme und eine Kollektion von Lippenstiften. Diese Schublade riecht angenehm, wächsern und sehr intensiv nach Make-up. Man sieht und riecht in dem Zimmer die, die es gerade verlassen und im Gehen noch das Kosmetiktuch mit dem Abdruck ihrer Lippen zusammengeknüllt und in den Papierkorb aus Blech geworfen hat; ihre Bewegung durch den Raum hat die Luft umgeschichtet wie eine Brise bei feuchter Witterung, aber es ist Winter, und das große Licht brennt, macht das Zimmer grell, und mein Vater sitzt auf dem Bett und sieht auf seine Füße oder den Boden.

Die Hose, die er in der Hand hat, ist glatt, die Bügelfalte ist noch erkennbar. In der herausgezogenen Schublade unter der mit den Lippenstiften und Bürsten liegt Damenunterwäsche, und auf dem Bett rings um meinen Vater ist noch mehr davon ausgebreitet, Damenschlüpfer von Marks and Spencer, glatte Baumwolle in Pastellfarben, hellem Blau, Rosa und Pfirsich, kleine wackelige Stöße, aufs Geratewohl herausgeholt, sauber, weich vom Tragen und Waschen. Mein Vater hat große, derbe Finger, die dunkel aussehen im Vergleich zu der zarten rosa Hose, die er hält; er wirkt, als sei es ihm gar nicht bewusst, dass er sie in der Hand hat. Er schaut auf seine Füße. Neben den Unterhosen, die wie freundliche Farbtupfer um ihn herumliegen, sieht er ganz deplaciert aus, wie ein Bauernbursche in einem Roman von Thomas Hardy, der ein Mädchen anschmachtet, das er nicht haben kann und dem er auf dem mit Wiesenblumen übersäten Hang nur die eine hinhält, die er gepflückt hat, weil er nicht weiß, was er sagen soll.

In der offenen Schublade liegen noch andere Schlüpfer, weiß, etwas größer und länger, die dem Leib mehr Halt geben und aus einem Material bestehen, das glänzt, wenn das elektrische Licht darauffällt. Mein Vater hebt den Blick vom Boden zur Schublade und wendet sich um zu uns, die wir in der Tür stehen. Dann betrachtet er die Sachen aus der ersten Schublade, die er als Erstes auszuräumen beschlossen hat. Was, sagt er. Was soll ich damit bloß machen?

Er ist fünfundzwanzig, als der Krieg aus ist, er hat sich für älter ausgegeben, damit sie ihn bei der Marine nehmen. Sein von Bomben getroffenes Schiff mit den darin Ertrunkenen ist in den Hafen in Kanada geschleppt worden, und als sie den Rumpf des Schiffes geöffnet haben, sind mit dem Wasser die aufgedunsenen Leiber herausgeschossen; die rätselhafte Lähmung seiner Arme, deren Muskeln nicht mehr reagieren wollten, hat er überwunden. Seine Mutter wird demnächst an Krebs sterben, und seit kurzem hat er wieder die Alpträume von den über sie hinwegfliegenden Flugzeugen, und genau zu diesem Zeitpunkt blödeln der Elektriker und sein Lehrling bei der Arbeit im Frauenschlafsaal des Fliegerhorsts der WAF ein bisschen herum, während die Frauen woanders Dienst tun. Die Elektriker legen Leitungen in Räumen, in die Männer in der Regel nicht hineinkommen, und sind aufgregt wie kleine Jungs, weil sie zwischen den Betten der Frauen und deren vermuteten Gerüchen schalten und walten dürfen. Der Raum selber ist kein bisschen aufregend, sondern trist und von zweckmäßiger Nüchternheit. Die Betten sind identisch und auf identische Weise gemacht, das Laken über die Decke geschlagen, das Kissen daruntergesteckt, alles ordentlich gerade und straffgezogen; ein Holzstuhl und ein kniehoher verschließbarer Stahlschrank stehen neben jedem Bett, und die Männer sind unbeaufsichtigt, weil heute der Elektriker das Sagen hat.