Von Gleich zu Gleich - Ali Smith - E-Book

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Ali Smith

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Beschreibung

Eine Engländerin und eine Schottin – kann das gehen?

Ein faszinierender, ungewöhnlicher Liebesroman voller Rätsel und raffinierter Spiegelungen: Die Geschichte von Amy und Ash, einer Engländerin und einer Schottin, deren Begegnung in jungen Jahren so intensiv ist und so dramatisch endet, dass sie ihr ganzes späteres Leben bestimmt.

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Seitenzahl: 504

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Ali Smith

Von Gleich zu Gleich

Roman

Aus dem Englischen

von Silvia Morawetz

Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel Like bei Virago Press, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich daraufhin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage Copyright © der Originalausgabe 1997 Ali Smith Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Der Verlag konnte nicht alle Rechteinhaber ausfindig machen. Berechtigte Ansprüche mögen bitte dem Verlag gemeldet werden. Satz: Greiner & Reichel, Köln

eISBN 978-3-641-19968-5V001

www.luchterhand-literaturverlag.deUnser LiteraturBlog: www.transatlantik.defacebook.com/luchterhandverlag twitter.com/LuchterhandLit

www.randomhouse.de

Für Sarah Wood von ganzem Herzen

und für Don Smith allzeit guten Fang

Gerade, was heißt das schon? Eine Linie ist gerade oder eine Straße, aber das menschliche Herz, oh, nein, seine Wege sind gewunden wie ein Pfad durchs Gebirge.

Tennessee Williams

Meine Geschichte hat eine Moral – mir ist ein Freund abgängig –

Emily Dickinson

Exegi dies, exegi das. Mal angenommen, ich bin verliebt, erdrückt von der Liebe Wucht oder beschwingt von ihrem Hauch. Nicht nur angenommen. Ich bin es wirklich. Vergebens drängen Horden, Nachgebor’ne, Richter sich dahin, wo ich mit meiner Liebe gestern ging.

Edwin Morgan

Budding trees, autumn leaves, a snowflake or two – all kinds of everything remind me of you.

Dana

Alle Archetypen sind zweifelhaft, aber einige sind zweifelhafter als andere.

Angela Carter

Inhaltsverzeichnis

WidmungAmy Ash DanksagungCopyright

Amy

Amy steht an der Bahnsteigkante und sieht hinunter auf die Gleise. Sie sind sauber und silbern, es sind wohl die Räder der durchfahrenden Schnellzüge, von denen sie so glänzen. Stumpfe Holzschwellen liegen zwischen den Gleisen wie die Sprossen einer Leiter. Über Amys Kopf zanken sich Spatzen in den Dachsparren des Bahnhofshäuschens. Holzrauch liegt in der Luft, oder irgendwo verbrennt jemand Laub.

Solche Städte sind die besten. Züge halten hier nicht immer. Manchmal fährt einer durch und vorbei, ohne auch nur seine Geschwindigkeit zu verringern, so schnell, dass die Lautsprecherstimme die Leute ermahnen muss, von der Bahnsteigkante zurückzutreten, damit sie nicht mitgerissen werden.

Amy dreht den Kopf in die eine Richtung, wo sie weit in die Ferne sehen kann, so als führte sie direkt in den Himmel. Auf der anderen Seite erstreckt sich die Ferne in die entgegengesetzte Richtung, durchschneidet mit einer geraden Linie aus Licht und Raum die künstlich errichteten Ränder der Stadt. Sie stellt sich den tunnelförmigen Raum vor, der an den Wohnungen und Häusern und den nur aus Fenstern bestehenden Bürotürmen vorbeiführt, durch das heruntergekommene Gewerbegebiet, wo es nach brennenden Reifen riecht, und hinaus in schäbiges offenes Land.

Sie hat die Füße so weit über die Bahnsteigkante hinausgeschoben, wie es geht. Wippt auf den Fersen, testet sich. Aber es werden schon Leute auf sie aufmerksam, es könnte sie jemand erkennen, und wegen Kate tut sie deshalb so, als suche sie unter der Bahnsteigkante nach etwas, das sie fallen gelassen oder verloren hat. Nein, nichts zu sehen. Ist es das? Na schön, dann ist es eben weg. Sie gibt auf, tritt zurück und geht unter der viktorianischen Uhr durch, die über der Automatiktür zur Eingangshalle hängt. Ein Blick zur Uhr. Sie darf nicht zu spät zu Kate kommen. Das muss aufhören.

Amy Shone. So ein Nachname verfolgt dich dein Leben lang. Bei allem wähnst du, damals, früher, in den strahlenden Tagen, hättest du das besser hingekriegt. Natürlich nur, wenn du dir es gestattest.

Amy Shone und Kate Shone. Wenn Amy etwas unterschreiben muss, sieht es aus, als habe sie Amy Shore geschrieben. Es sind die einzigen Wörter, die Kate Amy je hat schreiben sehen, und sie findet das lustig, wo sie doch jetzt direkt am Meer wohnen. Kate mag es, dass sie Shone heißt. Kate Shone, Kathleen Shone, Kate Shone, spricht sie sich vor. (Kathleen Räbchen kommt eher hin, sagt Amy und stupst sie mit dem Wattepäckchen in die Rippen, als sie sie nach dem Duschen abtrocknet.) Kate Shone klingt wie aus einer Geschichte, sagt Kate. Als käme ich in dieser Geschichte in ein Zimmer voller Leute, und in dem Moment muss der, der die Geschichte erzählt, das sagen – Kate Shone, Kate leuchtete –, denn was Besseres fällt dem dazu nicht ein.

Nicht dem, ihm fällt nichts ein – oder ihr, verbessert Amy sie, während sie ihr die Haare durchkämmt. Aber eigentlich kommt’s darauf nicht an, sagt sie noch. Darauf kommt es überhaupt nicht an.

Die Leute drehten sich alle um, sagt Kate, als die Tür aufging. Kate Shone. Sie machte ihrem Namen die ganze Nacht alle Ehre. Das Licht, das sie ausstrahlte, war so hell, dass man damit sehen konnte, es hat den Palast so hell erleuchtet, dass Leute, die meilenweit entfernt wohnten, sich fragten, was los war, und Vögel, die meilenweit entfernt in ihren Nestern schliefen, aufwachten und dachten, es sei Tag, und zu singen anfingen. Sie strahlte, weil sie ein wunderschönes Ballkleid anhatte, das allerschönste im ganzen Ballsaal.

Kate hat es momentan gerade mit Ballsälen und Ballkleidern. Vor einer Woche hat sie bei einer Freundin zu Hause Disneys Cinderella gesehen, und wenn Amy jetzt im Wohnwagen aus dem Fenster sieht und Kate allein in den Dünen spielt, kann sie vermuten, dass Cinderella eines dieser Spiele ist, dass Kate umringt ist von hilfsbereiten Tieren, die ihr aus den am Strand gefundenen Sachen ein schönes Kleid machen.

Kates neuester Witz ist: Warum haben sie Cinderella aus der Fußballmannschaft rausgeschmissen? Sie ist vom Ball weggerannt. Den hat sie in der Schule gehört. Diese Schule gefällt ihr viel besser als die letzte, in die sie gegangen ist, als sie in dem Hotel, in dem Amy gearbeitet hat, im Kellergeschoss gewohnt haben, wo die Flecken an der Wand wie Farn aussahen und von der Feuchtigkeit kamen. Die anderen in ihrer Klasse vergessen allmählich, sie wegen ihres Akzents zu hänseln und weil sie in einem Wohnwagen statt in einem richtigen Haus wohnt; ab und zu kommen inzwischen sogar welche und klopfen leise an die untere Hälfte der Tür, damit Kate zum Spielen rauskommt. Kate fügt sich gut ein. Kate hat diese Aufgabe sehr gut gelöst. Kate hat sich spürbar gesteigert. Kate ist ein vielversprechendes Kind. Sie wohnen jetzt so lange hier, dass Kate schon mehrmals Zeugnisse bekommen hat, Blätter, die Amy faltet und in den Schrank legt, wenn Kate sie ihr vorgelesen hat. Außerdem wird Kates Stimme hörbar voller, sie spricht die Vokale klarer, es klingt mehr nach Schottisch. Vor zwei Wochen hat sie Amy auf die Hauptpost mitgeschleppt und ihr eine Postkarte gezeigt, eine Ansicht des Spielplatzes in der Nähe des Strands, und obwohl man nicht richtig erkennen kann, wer auf dem Foto drauf ist – dafür sind sie zu weit entfernt –, sieht es ein bisschen aus wie sie beide, wie Amy (dunkles Haar), die Kate (helles Haar) auf einer Schaukel anschiebt. Sie haben sich die Karte gekauft und mit Klebestreifen an die Schranktür im Schlafraum des Wohnwagens geklebt.

Amy nennt den Wohnwagen einen Glückstreffer. Als sie hier ankamen, taten sie, was sie an einem neuen Ort immer tun: Sie schauten sich den Campingplatz an, was gut ist, wenn man sich nützliche Dinge borgen will, ein Seil oder Wasser in Plastikbehältern oder Sachen von einer Wäscheleine. Sie kamen genau in dem Moment am Büro des Platzbetreibers vorbei, als Angus den Zettel anbrachte. Kate las vor, damit Amy kapierte, was da stand. Helfer gesucht. Amy hat Kate gefragt, ob es ihr hier gefällt. Dann hat sie sie über die Straße zum Strand geschickt und kurz gewartet. Sie ist hinter dem Büro herumgegangen und hat sich gründlich umgesehen. Hat sorgfältig so lange am Dichtungsring eines außen angebrachten Wasserhahns herumgefingert, bis kaltes Wasser unter der Tülle hervorquoll und in den Abfluss sickerte. Hat dann den Kopf durch die offene Luke am Vordereingang zum Büro gesteckt. Der Mann, der an seinem Schreibtisch saß, Angus, stand überrascht auf, schob den Stuhl zurück; der wäre beinahe umgekippt. Entschuldigen Sie, sagte Amy. Da hinten ist einer ihrer Wasserhähne nicht ganz dicht. Wenn Sie einen Schraubenschlüssel haben, kann ich das bestimmt für Sie reparieren.

Das Gute an dem Job ist die kostenlose Unterkunft, der Glückstreffer, und das sogar über den Winter, wenn der Campingplatz geschlossen ist. Amy muss den Platz trotzdem weiter bewachen, die älteren, fest abgestellten Wagen auf Schäden durch Witterung oder Vandalismus kontrollieren und sich um den Anrufbeantworter kümmern, auf dem Leute Buchungswünsche für den nächsten Sommer hinterlassen; um die Post kümmert sich Angus selbst. Es ist Amys leichtester Job seit Jahren, und die zwei großen möblierten Räume, ein Schlafzimmer und eines, das Küche, Esszimmer und Diele ist, sind inklusive. Sie haben Strom- und Gasanschluss, müssen zur Toilette und zum Duschen allerdings in den Toilettenblock gegenüber gehen. Im Sommer ist es schwierig, zur gewünschten Zeit unter die Dusche oder an eine Waschmaschine zu kommen. Im Jahr zuvor war der Winter kalt, aber mit dem Calor-Gasofen erwärmt es sich hier drin schnell. Kate mag diese Heizöfen, sie riechen warm und orange. Zu Weihnachten waren sie voriges Jahr den ganzen Nachmittag über die Einzigen an ihrem Strand, und bis es zu dunkel wurde, um noch etwas zu sehen, haben sie vom Pier bis zu den Felsen mit Treibholz Bilder in den Sand gemalt, und als es richtig dunkel wurde, sind sie den ganzen Strand abgelaufen und haben alle Weihnachtslieder gesungen, die sie kennen. Wenn ihnen ein Text nicht eingefallen ist, hat Amy etwas erfunden. Wir sind die drei Könige aus dem Morgenland. Das Autofahren ist uns unbekannt. Wir sind ziemlich dick, das ist unser Missgeschick, denn die Autos sind so klein, in die passen wir nicht rein.

Kate kommt aus dem Wind herein und bringt einen Stoß kalter Luft mit. Sie trägt den Sand über die Teppichreste von der Tür bis zur Frühstückstheke. Amy schlägt vor, dass sie noch mal rausgeht und sich richtig schüttelt. Aber selbst danach sind ihre Sachen und ihr Scheitel noch mit Sand besprenkelt. Winzige Körnchen kleben ihr im Gesicht.

Amy brät Speck und kocht Kartoffeln und grüne Bohnen.

Pfui Spinne, sagt Kate.

Du wirst es schon essen, Kate. Was anderes hab ich nicht bekommen, sagt Amy.

Kate lässt sich auf die Couch plumpsen, schiebt ein dickes Stück Treibholz weg und übermalt die alten Gesichter am beschlagenen Fenster mit neuen.

Amy, was haben wir für eine Postleitzahl?

Keine Ahnung, sagt Amy. Das musst du Angus fragen.

Wir haben gerade Alte Grabstätten gespielt, sagt Kate.

Ich glaub, das kenn ich gar nicht. Du und wer noch?, fragt Amy.

Roddy und Catriona. Kate stützt die Ferse auf das alte Buch, das unter dem Tischbein liegt, damit der Tisch nicht mehr wackelt. Auf dem Buchrücken steht ein langes Wort in Gold. HERAKLIT. Das Buch sieht zu nett und zu alt aus, als dass man den Fuß draufstellen sollte.

Du kennst doch Miss Rose?, sagt Kate. Wir nehmen in der Schule gerade Skara Brae durch, weißt du.

Der Speck spritzt. Ihr nehmt was durch?, fragt Amy.

Das ist auf den Orkneys, da hatte ein Sturm den ganzen Sand weggeweht, und dann haben die Archäologen es gefunden, stell dir vor, die haben ein komplettes altes Dorf gefunden, das hat da druntergelegen.

Kate formt das Wort Archäologen stumm mit den Lippen, kontrolliert, ob sie es richtig ausgesprochen hat, bevor sie weitererzählt.

Unser Projekt, wie wir uns das Leben damals vorstellen, weißt du, wie wir das machen?

Ein Ort auf den Orkneys, ja, ich glaub, davon hab ich schon mal gehört, sagt Amy.

Jedenfalls, sagt Kate vor dem Fenster, auf das sie stark geschwungene Linien gemalt hat, Vögel über die Gesichter, Alte Grabstätten spielen geht so: Du legst dich in den Sand, und du musst dich wirklich richtig flach hinlegen, so flach, als ob ’ne Tonne Sand auf dir drauf wär und du dich nicht bewegen kannst. Und dann liegst du, und der Sturm kommt und bläst den ganzen Sand über dir weg, und du wachst am Strand auf, wo du eingeschlafen bist, und wenn du aufstehst, bist du ganz woanders, wo du vorher noch nie gewesen bist, auch wenn du dich da ja hingelegt hast und die ganze Zeit da warst. Und dann erforschst du diesen Ort. Amy?

Kate nennt Amy beim Vornamen, auch wenn sie auf der Straße oder in Geschäften mit ihr spricht oder wenn sie auf dem Pausenhof der Schule von ihr erzählt, und das ist einer der Gründe, warum manche Leute hier nicht begeistert sind, wenn ihre Kinder sich mit Kate Shone abgeben, die sich zwar nicht wie ein Kesselflicker anhört, aber schließlich nicht besser wohnt.

Wusstest du zum Beispiel, dass vierhundert verschiedene Insekten oder Lebewesen auf einem einzigen Baum, auf dem sie wohnen, ihr Auskommen finden?, sagt Kate, und sie spricht das Wort Auskommen, als sei es ein sehr wichtiges Wort, eines, das sie gerade gelernt hat. Und wusstest du, dass dieser eine Baum so viel Luft produziert, dass es, glaub ich, für zehn Leute für ein ganzes Jahr reicht?, sagt sie. Und, Amy?

Ja, was?

Kate hat sich den ganzen Nachmittag überlegt, ob sie das fragen soll. Können wir eine Katze haben?, sagt sie.

Noch nicht, sagt Amy.

Kate weiß, was das bedeutet. Sie schiebt ihre grünen Bohnen mit der Gabel auf dem Teller hin und her. Das ist nicht fair. Es gefällt ihr hier.

Was möchtest du nach dem Essen machen?, fragt Amy. Rausgehen, einen Spaziergang?

Im Dunkeln spazieren gehen kann ich nicht leiden, sagt Kate mürrisch. Ich geh zu Angela, Byker Grove angucken. Alle haben einen Fernseher. Angela hat sogar einen Fernseher in ihrem Zimmer.

Herbstgeruch liegt in Kates Haar. Hier oben riecht man sogar den Wechsel der Jahreszeiten. Amy erinnert sich nicht, dass sie das früher schon mal erlebt hätte.

Einmal, es dürfte ungefähr drei Jahre her sein, etwa um dieselbe Jahreszeit, hat sie sie vor einem der großen Warenhäuser, den British Home Stores, vor den Schaufenstern mit der Weihnachtsdeko stehen lassen, war das in Birmingham?, sie ist sich nicht sicher. Als sie vier Stunden später wiederkam, bloß um nachzusehen, für alle Fälle, hatte sich das Einkaufsgewühl aufgelöst, und Kate war noch da, saß, in ihren Fleece-Anorak eingemummt, vor der Tür des geschlossenen Ladens auf der Erde.

Das Meer ist eine schwarze wogende Masse, rollt seinen Schaum vor ihren Füßen hin und her. Weit draußen sieht sie kleine Lichter im Dunkeln. Kate saß immer noch vor der Kaufhaustür, ein kleines Häufchen Münzen zu ihren Füßen. Sie lächelte, verschlafen von der Kälte, öffnete ihre kleine Hand über dem Silber und dem Kupfer. Ich hab gesagt, dass ich kein Geld will, sagte sie. Ich hab gesagt, wir haben genug Geld.

Das war das letzte Mal, dass sie Kate irgendwo zurückgelassen hat. Das erste Mal, da war sie noch sehr klein, hat zum Verrücktwerden gebrüllt und konnte nicht sprechen, hat Amy Kate, als sie eingeschlafen war, gegenüber einer Polizeiwache neben einem Abfallkorb ins Gras gelegt. Sie selbst hat sich auf eine Bank gesetzt und zugesehen. Eine Frau ist stehen geblieben. Sie sah aus, als ob ein Kind bei ihr gut aufgehoben wäre. Sie hat Kate mit dem Fuß angestupst. Die Frau hatte die Tür zur Polizeiwache noch nicht aufgedrückt, da waren sie schon weg. Sie waren schon weg, da war die Frau noch nicht mal halb über die Straße.

Das Meer, wie es heute ist, dick und dunkel und Salz, schiebt den Abfall und den groben Kies in glatten Schichten übereinander. Die harten Kanten der Felsen pieksen durch die Kleider hindurch in die Haut. Unter den Fingern fühlt Amy Kratzer auf dem Stein: unleserliche Graffiti.

Sie hat sich dabei ertappt, dass sie wieder die sinnlosen Sachen macht. Oben in einem mehrgeschossigen Parkhaus, außer Atem nach der Betontreppe, im vierten Stock, wo die Stufen im Freien enden. Wenn du da runtersiehst, steigt dir die Luft zu Kopf. Die kleine Stadtfläche vor dir, die Berge im Norden. Du sitzt auf einem harten Erdbuckel im Stechginster und dem hohen gelben Gras, im Geröll und Müll einer verwahrlosten Baustelle hinter einer Zeile aus Wohnhäusern und Läden, die mit Brettern vernagelt und mit Farbe besprüht sind. Drei kleine Mädchen schauen aus sicherer Entfernung herüber. Eines schwingt einen Stecken durch das Gras, ruft, alles in Ordnung mit Ihnen? Du streckst dich rücklings im Gras aus. Hast Stechginster vor grauem Himmel über dir. Konzentrierst dich darauf.

Vor dem Einkaufszentrum, wo du verfolgst, wie sich die Zeit von Sekunde zu Sekunde ändert, die Temperatur auf der Digitalanzeige im Fenster der Baugesellschaft aber gleichbleibend 8 Grad beträgt. Du lässt den Kopf nach hinten auf die Banklehne fallen, kaltes Metall in deinem Nacken; Passanten sehen dich im Vorübergehen an. Auf dem Bahnsteig, wo du über die Kante hinweg auf die Gleise schaust. Die vielen Leute dort, weil sie sich mit jemandem treffen oder irgendwohin fahren, die Fahrkarten in den Händen, in den Manteltaschen, in den Handtaschen. Du hast keine Fahrkarte. Das ist dein Geheimnis.

Sie denkt an die drei Mädchen, die sie angestarrt haben. Das große hat etwas zu seinen Freundinnen gesagt, es sah aus wie verrückt und Scheiße. Sie denkt an das Dach des verlassenen Parkhauses. Sie könnte jederzeit noch weiter nach Norden gehen. Die Gipfel der Berge da sind schon mit Schnee bedeckt.

Oder unter Wasser. Sie könnte geradewegs ins Meer laufen und spüren, wie der Grund mit Freuden unter ihr nachgibt und die Kälte sich um sie legt, bis sie es nicht mehr spürt und das Wasser sich über ihr schließt, als wäre nichts geschehen.

Kein Mensch käme da und fände dich.

Dann lacht sie und hört sich gegen den Lärm des Meeres anlachen. Kate kommt zur Tür hereingestürmt und sagt, ist das windig, es ist windiger als sonst was; sie zeigt am Fenster auf die Bäume zwischen Campingplatz und Hauptstraße und sagt: Guck mal, siehst du, immer, wenn die ihre Blätter schütteln, kommt der Wind wieder. Die Bäume müssten aufhören, ihre Äste so zu schütteln. Dann wäre es auch nicht mehr so windig. Kate hat einmal zugesehen, als sich der Nebel über die Berge senkte, als sie gerade hier angekommen waren, und kam gleich angerannt und hat zu ihr gesagt: Das ist Geschichte, komm mal Geschichte angucken.

Always something there to remind mealways something there to remind meI was bornto love youand I will never be freeyou’ll always be a part of me

Immer wieder derselbe Text mit denselben kurzen Aussetzern. Die Zeilen purzeln übereinander wie Geschirr beim Polterabend. Amy ist gereizt, dann gegen ihren Willen belustigt. Wie vulgär das ist. Die Plattennadel in ihrem Kopf hängt.

Kate rennt vorneweg, als sie von Angela zum Campingplatz zurückgehen. Angela McEchnie ist das eher langweilig aussehende Mädchen aus Kates Klasse, mit dem sie sich angefreundet hat. Gut möglich, schätzt Amy, dass das Satellitenfernsehen bei Angela zu Hause etwas damit zu tun hat. Sie wird sich daran gewöhnen müssen, abends länger ohne Kate auszukommen.

Angela McEchnies Mutter weiß nicht recht, was sie von Kate Shone halten soll. Sie weiß nicht recht, ob es ihr passt, dass sie dauernd herkommt. Das sagt sie zu ihrem Mann, als die Shones zur Tür hinaus sind. Die hausen auf einem Campingplatz. Ein Vater fehlt in der Gleichung komplett. Es klingt so englisch, wie sie reden. Gut, sie will fair sein, so englisch wie die Theatertruppe mit den Ziegen, die bei Patersons auf dem Bauernhof eingezogen ist, diese Jongleure, die auch Massage machen und mit ihrem Gemüse reden, sind sie nicht.

Aber Angela stellt neuerdings alle möglichen Fragen, und das kommt bestimmt davon, dass sie mit der kleinen Shone zusammen ist. Zum Beispiel warum sie sonntags in die Kirche gehen, wozu das gut sein soll. Und warum Leute in Häusern wohnen, wenn sie in einem Wohnwagen wohnen und überall hinfahren könnten, wo sie wollten. Sie haben Eintrittskarten für den Zirkus, der nächste Woche in die Stadt kommt. Als sie in Angelas Alter war, hat Mrs. McEchnie den Zirkus geliebt. Sie hat ihre Brüder gebettelt, sie mitzunehmen. Die Löwen und die Seehunde und alles. Aber Angela sagt jetzt, sie will nicht mitgehen, weil dreimal darfst du raten, wer ihr gesagt hat, Zirkus wär den Tieren gegenüber gemein.

Die schnappen untereinander die erstaunlichsten Sachen auf, was?, sagte sie, als Amy kam, um Kate abzuholen.

Amy bedachte Mrs. McEchnie mit einem offenen Lächeln.

Wie neulich, redete Angelas Mutter weiter. Neulich hat Angela mir erzählt, Kate hätte ihr gesagt, es gäbe zwei Sorten Einkaufszentren. Die eine Sorte, das wären die üblichen mit den Läden und den Pflanzen und den Fahrstühlen, aber es gäbe noch eine ganz besondere Sorte, die bestünde halb aus Läden, halb aus Pferden.

Amy guckte perplex. Dann lachte sie. Oh, verstehe, sagte sie. Einkaufszentauren. Verstehe.

Oh, haha, natürlich, sagte Mrs. McEchnie verdattert.

Kate und Angela saßen und sahen Angelas Vater zu, der in seinem Sessel lag und herumzappte. Eine Musiksendung aus den Sechzigern blieb einen kurzen Moment länger auf dem Bildschirm als die anderen Kanäle; er tastete an den Seiten des Sessels nach seinen Zigaretten. Kate und Angela lachten über die auf dem Kopf der Sängerin sich türmenden Haare. Sie machten nach, wie sie bei jeder neuen Phrasierung dramatisch die Arme ausstreckte. Nicht lange, und die zwei kugelten sich vor Lachen auf dem Fußboden.

Lacht ihr zwei nur, sagte Angelas Mutter, aber so eine Frisur war damals der allerletzte Schrei. Wenn ihr ein bisschen älter geworden seid, denkt ihr bestimmt genauso.

Ich nicht, sagte Kate.

Ich auch nicht, sagte Angela.

Ich jedenfalls hab mir die Haare gerne so hoch toupiert, als ich ein Mädchen war, sagte Angelas Mutter. Deine Mutter wahrscheinlich auch, Kate.

Niemals, sagte Kate.

Mrs. McEchnie warf ihrem Mann einen Blick zu. Dann sah sie Amy an. Die wird ihrer Mutter jeden Tag ähnlicher, sagte sie laut und lächelte.

Ja, stimmt, sagte Amy, ja. Stimmt wirklich, dachte sie. Es traf sie immer noch wie aus heiterem Himmel, war jedes Mal eine Überraschung. Sie sah auf den Fernsehschirm: Sandie Shaw ging barfuß über eine Bühne, davor, weiter unten, die Köpfe der sich wiegenden Teenager. Sandie Shaw blieb am Bühnenrand stehen, würde gleich einen neuen Song anfangen.

Nein, dafür sind Sie wahrscheinlich zu jung, Mrs. Shone, sagte Angelas Mutter freundlich. Sie hatten vermutlich grüne Haare und Sicherheitsnadeln, oder wie diese Mode damals war, was?

Amy lächelte höflich, machte ein verbindliches Geräusch. Komm jetzt, Kate, sagte sie und zog sie am Kragen ihres Pullovers. Wo ist dein Mantel?

Sie hatte keinen an. Als sie kam, hab ich noch gesagt, stimmt’s, Kate, ohne Mantel ist es aber heute schrecklich kalt, sagte Mrs. McEchnie.

Mir ist nicht kalt. Ich brauch keinen Mantel, sagte Kate.

Danke, dass sie es mit ihr ausgehalten haben, sagte Amy. Sie ist ein Rabauke.

Na, wenigstens holt sie ihr Kind ab, sagte Angelas Mutter zu ihrem schlafenden Mann, als sie gegangen waren. Wenigstens braucht das Kind nicht allein im Dunkeln auf dieser Straße am Meer nach Haus zu gehen, das rechne ich ihr schon an. He, Stuart. He!

Schnee ist eine gute Idee. Schnee deckt gnädig alles zu. Legt sich leise über alles, lässt alles still werden, kühlt alles bis auf Stillstand herunter, weht in die Ritzen der Borke an den Bäumen, füllt die Zwischenräume zwischen den hellen kurzen Grashalmen, biegt sie um und hält sie nieder, setzt sich fraglos auf alles, was kalt genug und im Freien gelassen worden ist. Guter trockener Schnee fällt lautlos und macht alles weiß. Hier oben hält er sich manchmal tagelang an den Häusern und auf Mauern und Zäunen, je nachdem, aus welcher Richtung der Wind kommt.

Für Schnee ist es noch nicht kalt genug. Amy schaltet das Licht aus, geht ans Fenster. Der Mond steht am Himmel. In Nächten wie dieser sieht man, wie das Meer hinter dem Parkplatz und den Dünen aufleuchtet und pulsiert.

Zwei Tropfen Kondenswasser laufen innen langsam über die Scheibe; bevor sie auf dem Fensterbrett ankommen, hält sie den einen mit dem Finger auf, damit der andere hineinlaufen kann. Sie lehnt sich auf der Couch zurück und trocknet sich den nassen Finger an der Reisedecke, die ein billiges Karomuster in einem grässlichen Blau hat, mit Rot und Gelb und Weiß und Schwarz gekreuzt wie auf dem Stadtplan einer Alptraumcity. Feine Sandstreifen liegen in den Falten der Decke wie Strände oder wie Wüsten auf dem Atlas.

Es ist sehr spät, viel zu spät, als dass Kate noch wach sein dürfte. Amy steht auf, als sie es hört, stellt sich an die Tür zum Schlafraum, linst an der Stelle, wo die Tür nicht richtig schließt, durch den schmalen Spalt. Im Schlafraum ist es dunkel, nur ein rückwärts aus dem Parkplatz setzendes Auto leuchtet kurz herein. Es kommen gern mal Leute aus der Stadt hierher und lassen vor lauter Liebe die Scheiben im Auto anlaufen.

Die Lichtkegel schwenken über Kate hinweg, die auf dem Rücken liegt, die Arme über der Decke, und die Hände hochhält. Sie spielt anscheinend ein Abzählspiel, biegt die Finger um und sagt leise murmelnd etwas auf. Amy versteht nicht genau, was sie spricht. Es klingt rhythmisch wie ein Fahrplan oder wie ein Gedicht.

Amy lehnt sich gegen die Tür und geht behutsam und leise hinein. Kate spricht die Namen von Straßen und von kleinen und großen Städten. Einen nach dem anderen zählt sie die Orte auf, an denen sie schon gewohnt haben. Als sie bei der Stadt ankommt, in der sie jetzt wohnen, kehrt sie an den Anfang zurück und geht die Liste von vorn durch.

Kathleen Shone, du solltest eigentlich schlafen, sagt Amy sanft. Setzt sich auf das Bett. Kate legt den Kopf auf ihren Schoß. Welche Geschichte möchtest du heute Abend hören?, sagt Amy und zieht die Decke über sie beide.

Die von dem Mädchen, das aus dem Berg fliehen kann, du weißt schon, welche ich meine, murmelt Kate schläfrig in Amys Strickjacke.

Also gut. Die geht folgendermaßen. Es war einmal ein Mädchen, das wanderte um den Berg herum auf die andere Seite, weil es dachte, dort schmecken die Brombeeren süßer und die Welt sei voller Wunder und ganz anders als auf dieser Seite des Berges, wo sie wohnte. Das Mädchen wanderte und wanderte, aber es bekam nicht heraus, wo seine Seite des Berges aufhörte und wo die andere Seite des Berges anfing. Es setzte sich auf einen Stein und ruhte sich aus, wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn ab und aß die Brote, die es mitgenommen hatte. Da öffnete sich unter ihm der Berg, die Wiese und die Erde teilten sich und verschluckten es und schlossen sich über ihm, und als das Mädchen die Augen aufmachte, war es in einer düsteren feuchten Kammer gefangen, tief im Innern des Berges, und die Mauern der Kammer waren aus Stein und Erde und Felsen und so dick, dass das Mädchen weder Vögel noch Schritte hörte, sondern überhaupt nichts, keinen Piep.

Amy braucht nicht nach unten zu sehen, um zu wissen, dass Kate, die warm in ihren Armen liegt, schläft.

Alles weiß von dieser Küste bis zur anderen, von Ost bis West und bis ganz nach Norden und ganz nach Süden. Weiß bis unten ans Ende des Blatts. Am unteren Rand, an der Ecke, mit groben Strichen in allen Farben gemalt, ein flaches eckiges Haus mit vier Fenstern und einem Schornstein. In orangen Kringeln steigt Rauch aus dem Schornstein auf. Im Garten Blumen, fast so groß wie das Haus. Ein Gartenweg, ein Zaun, ein Tor. Grün für das Gras. Eine rote Haustür, eine schwarze Katze. Über dem Haus, in dickem, leuchtendem Wachsmalkreidengelb, die Sonne: lächelnd.

Rutsch rüber, du dickes träges Murmeltier.

Wenn du dich daran erinnerst, erinnerst du dich auch noch an die richtige Reihenfolge der Farben. Kates Lieblingsfarbe ist Indigo. Obwohl sie, als sie überlegt, nicht mehr genau weiß, wie Indigo aussieht. Ihr Lieblingswort für eine Farbe ist Indigo, aber ihre Lieblingsfarbe ist Türkis. Indigo. Indianer. Türkis. Purpur. Miss Rose hat das von dem Murmeltier an die Tafel geschrieben. Träge bedeutet faul. Billy Jamieson wollte wissen, ob ein Murmeltier mit Murmeln spielt. Miss Rose hat sich das Lachen verbissen und gesagt, nein, damit habe das nichts zu tun. Dann hat sie ihnen das mit dem Regenbogen beigebracht. Rot, dann Orange, dann Gelb, dann Grün, dann Blau, dann Indigo, dann Lila.

Im Toilettenblock auf dem Campingplatz, dem für Frauen, riecht es feucht und in Türnähe nach Desinfektionsmittel. Als es im Sommer richtig heiß war, hat es dort nach den Kulturbeuteln der Mütter und der alten Frauen gerochen, die mit unter den Morgenmänteln rausguckenden Schuhen oder Pantoffeln im Tau Fußspuren im Gras hinterlassen haben; in der Luft hing der Geruch der vielen verschiedenen Zahncremes. Aquafresh heißt die, die sie und Amy haben, die hat den besten Geschmack. Im Toilettenblock für die Männer riecht es immer nach Desinfektionsmittel, egal, ob es Sommer ist oder nicht.

Einmal ist im Sommer diese Sache passiert. Rachel und Nicky haben hinten aus ihrem Auto gewinkt, als ihre Mutter und ihr Vater mit ihnen und dem Wohnwagen nach Hause gefahren sind, und Kate hat auch tschüs gewinkt, und im selben Moment kam eine andere Familie auf den Platz gefahren, und bei denen saß Sandy hinten im Auto, der Junge aus Dundee, den sie später am Souvenirladen getroffen hat, und als sein Auto reingefahren kam, hat er zu winken angefangen, weil er dachte, Kate winkt ihm! Aber das waren Ferienfreunde, und die sah man nicht wieder, wenn sie weggefahren waren. Das eine Mal mit Rachel und Nicky auf dem Feld, das war echt schrecklich: Die Mädchen aus der Siedlung waren gekommen, die großen, und die eine hat Rachel geschubst, bis auf die Steine rauf, und die eine Gemeine, die große Schwester von Jackie Robertson aus Kates Klasse, hat gesagt, sie müssten alle das grüne Zeug essen. Na los, wird’s bald! Wenn nicht, setzt es Ohrfeigen. Na los! Das schmeckt gut, da machen sie Vivil draus. Iss das jetzt, du, hat sie gesagt und Kate in die Schulter geboxt, und Nicky hat geweint, und deshalb hat Kate bloß dagestanden und die Gemeine genauso angestarrt, und als die ihr das Zeug in den Mund gestopft hat, ist sie weiter stehen geblieben und hat bloß geguckt, und dann hat eine Mutter sie zum Abendbrot gerufen, und die andere, nicht Jackies Schwester, hat Nicky noch mal geschubst, und sie sagten, wehe, ihr seid nicht da, wenn wir wiederkommen, wir verdreschen euch, und sie und Rachel und Nicky rannten zurück und versteckten sich hinter dem Toilettenblock, aber sie waren in Sicherheit, denn auf den Campingplatz hätten sich die Mädchen nicht getraut. Den ganzen Nachmittag hatte Kate den fiesen grünen Geschmack im Mund. Vielleicht konnte man sich einfach vorstellen, dass Grün halt so schmeckte. Wenn Grün so schmeckte, würde Blau nach Salz schmecken wie das Meer. Aber in Wirklichkeit war das Meer grau. Weiß würde nach Sahne oder Milch schmecken. Aber Weiß war keine richtige Farbe. Orange würde nach Orangen schmecken. Wonach würde Indigo schmecken? Amy weiß das bestimmt. Im Sommer war es dieses Jahr so heiß, dass manches in der Ferne wellig wurde, wenn man hinsah. Hitzeflirren hieß das und war eine optische Täuschung. Der eine Junge, Sandy, hat ihr die Postkarte mit der Burg drauf geschickt. Der war ewig da, fast zwei Wochen. Angus brachte ihnen die Postkarte aus dem Büro rüber. Wir sind jetzt in Fort William, stand darauf, da ist Jahrmarkt.

Kate klettert auf das geschlossene Campingplatztor, springt von oben runter und rennt über die Straße und runter zum Strand. Wo gestern Abend das große Feuer war, ist jetzt ein schwarzer Ring an einer Stelle, bis zu der die Flut nicht steigt. Abgebrannte Feuerwerkskörper liegen überall im Sand, es ist noch früh, die hat noch niemand anders gefunden. Kate ist selig. Schnell hebt sie einen auf, einen zweiten. Obwohl sie nach der Nacht im Freien feucht und kalt sind, riechen sie noch verbrannt. Sie schüttelt den Sand von einem ab, er ist schwarz um die Öffnung, aus der die Farben und Funken herausgesprüht sind, das Papier ist bunt, wo es nicht verbrannt ist und abblättert. Das schwarze Zeug geht ab, sie hat es an den Fingern.

Sie bückt sich schnell und hebt einen Feuerwerkskörper auf, der neben ihrem Fuß liegt. Wirft ihn hoch und sieht ihm beim Fallen zu. Wirft einen anderen hoch, bis über ihren Kopf, sieht zu, wie er in den Sand plumpst. Sie stopft sich die Feuerwerkskörper mit dem wenigsten Schwarz vorn unters Kleid und den Pullover und sieht sich um. Meilenweit entfernt ist ein Mann mit einem frei laufenden Hund am Strand unterwegs, Jungs fahren auf einem Fahrrad am Wasser entlang, Kate hört sie brüllen und sich streiten. Sie zieht den Kopf ein, hält die abgebrannten Feuerwerkskörper mit dem Kinn und den Armen fest und rennt über den Sand rauf zu den Steinen, zwischen denen Pfützen sind, bemüht sich, ganz leise zu sein.

Auf den meisten Feuerwerkskörpern kann man die Namen noch lesen: Blütenrausch. Feuervogel. Römisches Licht. Kometenrohr. Vulkan. Shooting Star. Mondrakete. Kate reiht sie vor dem großen Stein auf. Das Römische Licht, der Shooting Star und die Mondrakete haben unten Plastikspitzen dran, damit man sie in die Erde stecken kann; Kate steckt sie in den Sand. Dann klettert sie auf den großen Stein und beugt sich in den Spalt. Die Plastiktüte ist noch da; vorsichtig zieht sie sie heraus.

Bis zu dem großen Stein kommt das Meer nicht, und in der Plastiktüte bleiben das Buch aus der Bibliothek und die Tiere trocken. Sie greift hinein, tastet nach dem Känguru. Das gefällt ihr von den Tieren, die sie sich genommen hat, am besten. In der Pfütze am Stein tunkt sie seine Nase ins Wasser. An einer Stelle, wo der Sand trockener ist, legt sie sich auf den Bauch und drückt mit den langen Beinen und dem Schwanz Känguruspuren in den Sand.

In ihrer Tüte hat sie auch das Clydesdale-Pferd mit den Löchern in der Seite und den Plastikwagen, dessen Geschirr in diese Löcher eingehakt wird, außerdem das Löwenjunge und den sitzenden Schäferhund mit den aufgestellten Ohren. Das Löwenjunge ist viel größer als die anderen Tiere, sogar größer als das Wagenpferd, der Löwenschwanz allein ist schon fast so lang wie das Pferd. Kate baut sie alle zusammen am Pfützenrand auf. Dann setzt sie den Hund hoch oben auf einen Felsvorsprung. Sie stellt das Känguru in den Pferdewagen und zieht so weit um die Pfütze herum, wie ihr Arm reicht, einen Weg. Sie hängt das Pferd aus und schiebt statt seiner das Känguru in das Geschirr, dann zieht das Känguru das Pferd an den Ausgangspunkt zurück. Das Löwenjunge schwimmt auf der Seite, sein Kopf und eine große Tatze ragen aus der Pfütze heraus. Kate nimmt es und probiert, ob sie mit seiner Tatze die Napfschnecken von den glitschigen Steinen unter Wasser abkratzen kann.

Ihre anderen Tiere hat sie im Wohnwagen, aber die hier sind ihr am wichtigsten. Eins nach dem anderen sind sie in ihrer dunklen Tasche heimlich zu den Steinen gewandert, niemand weiß es. Eins nach dem anderen hat sie beim Morgengebet im Klassenzimmer eingesteckt, hat es leise von dem schmalen Fensterbrett neben ihrer Schulter gezogen, auf dem Zoo- und Hoftiere in einer Reihe stehen. Kate kann ihre Augen zumachen und durch einen schmalen Schlitz trotzdem noch sehen, und so passt sie auf, dass niemand sie beobachtet und dass Miss Rose gerade woanders hinguckt, meist zum Fenster hinaus, während die Stimmen die Wörter sprechen. Man braucht bloß den richtigen Moment abzuwarten. Man braucht bloß rüberzulangen. Sie denkt daran, die Abstände zwischen den übrigen Tieren im Lauf des Tages auszugleichen, damit niemand etwas merkt. Nur noch einmal wird sie das Böse machen. Von all den auf dem Fensterbrett stehenden Tieren möchte sie bloß noch den Affen unbedingt haben.

Sie weiß, dass sie die Tiere nicht hätte nehmen sollen. Andere Kinder aus der Klasse mögen sie vielleicht auch und freuen sich über sie. Sie weiß das, möchte die Tiere aber trotzdem haben, mehr als die anderen. Weil sie die Tiere nicht alle für sich haben darf, hat sie ja überhaupt nach dem orangen Känguru gegriffen. Manchmal aber, wenn sie nachts noch wach ist, hat sie bei dem Gedanken an die Tiere ein schlechtes Gefühl im Bauch. Sie hat sie gestohlen, das ist wie lügen oder anderen wehtun. Das soll man nicht.

Roddy erzählt dauernd Lügen. Nicht der Lehrerin oder anderen Erwachsenen, aber wenn man draußen mit ihm spielt. Der erzählt ständig Geschichten, sagt Angela dazu. Sein Vater ist beim Fischen auf See. Oder sein Vater ist Skipper auf einem neuen Boot und musste nach Neuseeland fahren. Oder sein Vater ist nach Aberdeen gefahren, einen neuen Caravan kaufen, und kommt Weihnachten mit einem brandneuen Auto wieder, einem silbernen Vauxhall, designt für das neue Millenium. Dabei weiß doch jeder, dass sein Vater mit auf dem untergegangenen Fischerboot war, einige aus den Klassen über und unter ihnen hatten Väter und Brüder, die auch ertrunken sind. Amy sagt, Roddy tut mit seinen Geschichten niemandem weh. Ist mein Vater auch tot?, hat Kate sie gefragt. Ich weiß es nicht, hat Amy gesagt, ich weiß nicht, ob er lebt oder nicht, Kate, ich weiß nicht einmal, wer er ist, ist das wichtig? Und Kate hat dann beim nächsten Mal zu Roddy gesagt, es ist nicht wichtig, wenn man keinen Vater hat. Da ist Roddy weinend nach Hause gelaufen und wollte nicht mehr mit Kate sprechen und wollte auch nicht zum Spielen rauskommen und nichts, aber jetzt sind sie beste Freunde, sogar bessere als Kate und Angela, obwohl Roddys Mutter Kate nicht mehr bei sich zu Hause haben will, nicht zum Computerspielen und noch nicht mal zum Fernsehen, darum muss Kate zu Angela gehen.

Bevor es Fernseher und Radios und so was gab und in anderen Jahrhunderten, als es noch keine Thermometer gab oder nur selten und bloß reiche Leute welche hatten, haben Minister und Lords und solche Leute in speziellen Wettertagebüchern notiert, wie das Wetter ist. Sie haben festgehalten, wann das Getreide reif war, an welchen Tagen es richtig heiß und kalt war, haben notiert, wie lange der Schnee liegengeblieben ist. Miss Rose sagt, dass die Erde sich erwärmt und dass wir dieses Jahr den fünftheißesten Sommer überhaupt hatten, aber vielleicht nicht überhaupt, sondern seitdem Leute so was aufzeichnen. In der Schule sitzt Kate jetzt zwischen Catriona und Angela, und Catriona hat zu Hause eine riesige Sammlung von Puppen, aber die gehören ihrer Mutter, und Catriona und ihre Freundinnen dürfen sie nicht anfassen. Einige sind noch nie aus ihren Schachteln herausgekommen, und einige stehen in einem großen Glasschrank in der Diele. Diele. Kate sagt das Wort laut, spürt ihm mit dem Mund nach, überlegt, wie es wäre, wenn sie und Amy eine Diele hätten, eine Diele und ein Wohnzimmer und eine Küche, und alles verschiedene Zimmer. Zum Beispiel ist es bestimmt echt gut, ein eigenes Schlafzimmer zu haben. Bei Angela zu Hause sind das Wohnzimmer und die Diele ein einziges großes Zimmer, weil Angelas Vater eine Wand herausgerissen hat. Die Wände im Wohnwagen sind dünn, es würde nicht lange dauern, eine rauszureißen. An windigen Abenden fallen die Sachen im Wohnwagen von den Regalen und aus den Schränken. Losrennen und sie auffangen, bevor sie auf dem Boden landen, ist ein schönes Spiel. Am Freitag hatte Kate ihr Projekt schnell fertig, und sie hätte sich in die Bestenecke setzen und ein neues Projekt anfangen oder Angela helfen können, ihres fertig zu machen. Aber dann hätten Catriona und Gemma gemerkt, dass Angela noch weit zurücklag, deshalb nahm sich Kate lieber ein Buch aus dem Bücherregal und las still für sich.

Sie setzt sich in den Sand und betrachtet den Buchumschlag. Hundertundein Weltwunder. Das Buch ist voller Schwarzweiß- und Farbfotos. Kate sieht die Pyramiden und die Sphinx; aus dem Text unter dem Bild der Sphinx erfährt sie, dass ein französischer Soldat ihr bei Schießübungen die Nase abgeschossen hat. Sie blättert weiter. Da ist das von einem Künstler gemalte Bild eines Orts unter dem Meer namens Atlantis mit Fischen und Pflanzenteilen zwischen den eingestürzten Mauern, und da ist, von einem anderen Künstler, ein Bild von Gärten in der Antike. Die Fotografie einer riesigen Mauer. Kate liest, dass das ein Staudamm ist, mit dem Strom erzeugt wird. Ein Krater in einer Wüste, so groß wie zwanzig Fußballfelder, heißt es in dem Text. Der Krater stammt von einem kleinen Meteor. Da ist das erste Telefon, daneben Zeichnungen von Höhlenmenschen. Es gibt Fotos von Bergen. Einer sieht aus wie ein dicker Backenzahn: das Matterhorn, Schweizer Alpen, 4478 Meter. Der Berg ist schwarz und riesig und hat steile Klippen, unter denen Schnee liegt, sein Gipfel hängt in den Wolken.

Warum stei gen Menschen auf Berge? heißt es unter der Abbildung. Von Anbeginn seiner Ex ist enz an hat sich der Mensch aus tief stem Herzen danach gesehnt, die natürliche Welt zu er obern. Vielleicht kannte der eng lische Dichter Rud yard Kip ling die Antwort, als er schrieb:

Das Verborgne – geh es suchenGeh und such hinter den Bergen,Das Vergessne hinter den Höhen,Vergessen, wartet es auf dich – geh!

Sie steckt sich eine Haarsträhne in den Mund, wischt den Sand ab, der von ihrer Hand auf das Buch gekommen ist, hält es so, dass sie auch den Sand aus der Ritze zwischen den Seiten pusten kann. Nicht weit von hier sieht man auch Berge. Rud. Yard. Ob dieses Sehnen aus tiefstem Herzen etwas ist, was nur Männer machen? Das kann nicht sein. Im Sommer kam in den Nachrichten was über Kinder, deren Mutter Bergsteigerin war und auf einem oben im Schnee verschollen ist. Kate und ihre Klasse haben gebetet, auch für die Tochter und für den Sohn, als die Suche nach der Frau eingestellt wurde. Aber es war nicht der Berg von dem Foto, auf den sie gestiegen war. Welcher es war, ist nicht wichtig. Als Kate das denkt, fällt ihr Roddy ein.

Man könnte es vielleicht aber Ruth Yard aussprechen. Lustig, was manche Wörter für Geräusche machen, manchmal sind die ganz anders, als sie aussehen. Lustig ist auch, dass die Buchstaben, aus denen die Wörter bestehen, wie Menschen aussehen können. Je nachdem, in welchem Buch sie drin- oder auf welchem Schild sie draufstehen, je nachdem, wie sie geschrieben oder gemalt sind, sehen sie wie verschiedene Menschen aus. In dem Buch hier sehen die kleinen a aus wie nette kleine Leute mit dicken Bäuchen. Wenn die a anders geschrieben sind, so rund, sehen sie aus, als hätten sie lange Gesichter. Das große M bei Matterhorn sieht aus, als hätte es seine Spitzen für einen Kampf geschärft. Die e sehen manchmal aus, als lächelten sie, meistens aber bloß wie die hier, ganz gemein, so als lachten sie über etwas Grässliches. Kleine d sehen immer aus, als seien sie hellwach, und kleine g so, als wollten sie dir die Hand geben oder, wenn Kringel drunter sind, als staunten sie einen mit offenem Mund an.

Kate steht im Zeitungsladen gern hinten in der Bücherecke, wo man das Papier von den dicken Taschenbüchern riecht. Es wäre bestimmt nicht schlecht, mal über Nacht in dem Zeitungsladen eingeschlossen zu sein. Mit Seiten aus Büchern stopft Amy manchmal Löcher in der Wandverkleidung oder im Dach oder an der Tür des Wohnwagens, oder sie zündet am Strand das Feuer damit an, und wenn sie umziehen, wickelt sie die zerbrechlichen kleinen Sachen in Bücherseiten ein. Kate passt bei Büchern, die sie gerade liest, immer auf und versteckt sie vor Amy, damit die sie nicht einfach wegwirft. Wenn es sich um Schulbücher handelt, muss man dann jemandem erklären, wo die hin sind oder warum man eine Seite, die alle anderen haben, in seinem eigenen Buch nicht hat. Wenn Amy wüsste, was für gute Sachen in Büchern stehen, würde sie die nicht wegwerfen. Aber Amy kann nicht einmal die Wörter lesen, die an Geschäften oder Bussen dranstehen, sie sieht sie sich zwar genau an, schüttelt aber den Kopf und muss Kate fragen. Amy kann keine Geschichte in einem Buch lesen. Sie sagt, sie braucht das nicht, sie weiß genug über alles Mögliche, ohne sich Wörter oder Bilder in Büchern anzusehen. Das stimmt, denn Amy weiß tausenderlei Sachen. Amy sagt, man kann mehr Zeug im Kopf haben, als man je auf dem Rücken tragen kann, deshalb muss man sich entscheiden, was man mitschleppen will und was man am Straßenrand liegenlässt.

ENDE DER LESEPROBE