Frühling - Ali Smith - E-Book

Frühling E-Book

Ali Smith

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Beschreibung

Frühling, die Kraft, die verbindet und wandelt: Was verbindet einen unbekannten Regisseur, der um verlorene Zeiten trauert, und die Angestellte eines Flüchtlingszentrums, die in modernen Zeiten gefangen ist? Was haben Katherine Mansfield und Rainer Maria Rilke mit Twitter und Fake News zu tun? Und warum schafft es ein 12-jähriges Mädchen, verkrustete Strukturen zu sprengen und allen die Augen zu öffnen? Ali Smith erzählt die unmögliche Geschichte einer unmöglichen Zeit und stößt in einer Welt, die zunehmend von Mauern und Schließungen geprägt ist, eine Tür auf. Frühling, die Zeit der Hoffnung.

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Seitenzahl: 323

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Zum Buch

Frühling, die Kraft, die verbindet und wandelt.

Was verbindet einen unbekannten Regisseur, der um verlorene Zeiten trauert, und die Angestellte eines Flüchtlingszentrums, die in modernen Zeiten gefangen ist? Was haben Katherine Mansfield und Rainer Maria Rilke mit Twitter und Fake News zu tun? Und warum schafft es ein 12-jähriges Mädchen, verkrustete Strukturen zu sprengen und allen die Augen zu öffnen? Ali Smith erzählt die unmögliche Geschichte einer unmöglichen Zeit, beleuchtet das Wesen der Migration durch Shakespeares Stück »Perikles« und stößt in einer Welt, die zunehmend von Mauern und Schließungen geprägt ist, eine Tür auf.

Frühling, die Zeit der Hoffnung.

»Eines der ambitioniertesten Literaturprojekte der Gegenwart … Vier Bücher in vier Jahren, eines für jede Jahreszeit, und jedes für sich genommen ein Versuch, das Unbegreifliche zu begreifen.« SPIEGEL ONLINE

Zur Autorin

Ali Smith wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren und lebt in Cambridge. Sie hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht und zahlreiche Preise erhalten. Sie ist Mitglied der Royal Society of Literature und wurde 2015 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. Ihr Roman »Beides sein« wurde 2014 ausgezeichnet mit dem Costa Novel Award, dem Saltire Society Literary Book of the Year Award, dem Goldsmiths Prize und 2015 mit dem Baileys Women’s Prize for Fiction. Mit »Herbst«, dem ersten Band ihres Jahreszeitenquartetts, kam die Autorin 2017 zum vierten Mal auf die Shortlist des Man Booker Prize und stand in Deutschland auf der SWR-Bestenliste. Auch mit den Folgebänden eroberte sie die Besten- und Bestsellerlisten in England und in Amerika.

Zur Übersetzerin

Silvia Morawetz, mehrfach mit Stipendien ausgezeichnete Übersetzerin, hat u. a. Steven Bloom, Paul Harding, James Kelman, Joyce Carol Oates und Anne Sexton ins Deutsche übertragen.

Ali Smith

Frühling

Roman

Aus dem Englischen von Silvia Morawetz

Luchterhand

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Spring bei Hamish Hamilton, einem Imprint von Penguin Random House Ltd., London.
Copyright © der Originalausgabe 2019 Ali Smith Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Der Verlag konnte nicht alle Rechteinhaber ausfindig machen. Berechtigte Ansprüche mögen bitte dem Verlag gemeldet werden. Umschlaggestaltung: buxdesign | München, unter Verwendung einer Illustration von © Ruth Botzenhardt Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN: 978-3-641-22299-4V002
www.luchterhand-literaturverlag.defacebook.com/luchterhandverlag

Meinem BruderGordon Smithzum Gedächtnisund fürmeinen BruderAndrew Smithmeiner FreundinSarah Danielzum Gedächtnisund füro blühendste!Sarah Wood

Er scheint ein Fremder, und sein Bildnis istEin welker Zweig, nur an der Spitze grün,

Der Spruch: in hac spe vivo.William Shakespeare

Aber erweckten sie uns, die unendlich Toten, ein Gleichnis,

siehe, sie zeigten vielleicht auf die Kätzchen der leeren

Hasel, die hängenden, odermeinten den Regen, der fällt auf dunkles Erdreich im Frühjahr.

Rainer Maria Rilke

Wir müssen anfangen, darauf kommt es an.Nach Trump müssen wir anfangen.

Alain Badiou

Ich halte schon Ausschau nach Frühlingsboten.

Katherine Mansfield

Das Jahr streckte sich wie ein Kindund rieb sich die Augen am Licht.

George Mackay Brown

Eins

Also Tatsachen, die können wir nicht gebrauchen. Wir wollen Verwirrung. Wir wollen Wiederholung. Wir wollen Wiederholung. Wir wollen Menschen mit Einfluss, die sagen die Wahrheit ist nicht die Wahrheit. Was wir wollen, sind gewählte Mitglieder des Parlaments, die sagen Messer hitzig erregt ihr in die Brust gerammt und umgedreht oder bring dir gleich dein Seil mit wir wollen, dass maßgebliche Mitglieder des Parlaments im Unterhaus Parlamentsmitgliedern aus der Opposition zurufen bring dich doch um wir wollen Mächtige, die sagen, sie wollen andere Mächtige kleingehackt in Tüten in meinem Eisschrank wir wollen Muslimas in Kolumnen verhöhnt, wir wollen Gelächter, der Klang des Gelächters soll ihnen auf Schritt und Tritt folgen. Wir wollen, dass die, die wir Fremde nennen, sich auch fremd fühlen, wir müssen klarstellen, dass sie erst Rechte haben, wenn wir sie ihnen zugestehen. Wir wollen Ärgernis Beleidigung Unruhe. Wir müssen sagen, Denken ist elitär, Wissen ist elitär, die Leute sollen sich abgehängt und entrechtet fühlen, die Leute sollen fühlen. Was wir brauchen, ist Angst, wir wollen unterbewusste Angst, aber auch bewusste Angst. Wir brauchen Emotionen wir wollen Rechtschaffenheit wir wollen Zorn. Wir brauchen all das patriotische Zeug. Was wir wollen, ist den gleichen alten Skandal alkoholkranker Mütter Gefährlichkeit des täglichen Aspirins aber mit mehr Nachdruck Nein Nein Nein wir brauchen einen Hashtag #rote Linie wir wollen Gebt uns was wir verlangen oder wir gehen auf die Straße wir wollen Wut wir wollen Empörung wir wollen stärkste Reizworte, Antisemit ist klasse Nazi ist super Pädo das bringt’s perverser Ausländer Illegaler wir wollen Instinkte ansprechen wir wollen Altersfeststellung bei »minderjährigen« Flüchtlingen 98 % fordern sofortigen Migrationsstopp Kanonenboote zur Zurückdrängung von Migranten Wie viele können wir noch aufnehmen Verriegeln Sie Ihre Türen Verstecken Sie Ihre Frauen wir wollen null Toleranz. Nachrichten müssen Handyformat haben. Wir müssen die Mainstreammedien übergehen. Wir müssen am Interviewer vorbeisehen und direkt in die Kamera sprechen. Wir müssen eine klare starke unmissverständliche Botschaft aussenden. Wir brauchen schockierenden Newsfeed. Wir brauchen noch mehr schockierenden Newsfeed komm schnell nächster Schock im Newsfeed reiß den Finger ab wir wollen Folterbilder. Wir müssen sie kriegen sie sollen glauben wir kriegen sie bringt das Wort lynchen zu allen Nicht-Weißen. Wir wollen rund um die Uhr Vergewaltigungsdrohungen gegen schwarze weibliche Parlamentsangehörige Todesdrohungen nicht bloß gegen Frauen die öffentlich arbeiten gegen jeden der öffentlich arbeitet und uns gegen den Strich geht Wie kann sie es wagen / Wie kann er es wagen/ Wie können sie es wagen. Wir müssen auf den Feind im Innern hinweisen. Wir brauchen Volksfeinde ihre Richter sollen Volksfeinde genannt werden ihre Journalisten Volksfeinde wir wollen dass die von uns als Volksfeinde Bezeichneten auch Volksfeinde genannt werden wir wollen im Fernsehen und im Radio so oft es geht immer wieder laut sagen dass sie uns mundtot machen. Wir müssen den alten Mist so sagen dass er als Neuigkeit daherkommt. Nachrichten müssen sein was wir als Nachrichten bezeichnen. Wörter müssen die Bedeutung haben die wir ihnen geben. Wir müssen bestreiten was wir sagen während wir es sagen. Was Wörter bedeuten darf nichts zur Sache tun. Wir brauchen einen guten alten Slogan Großbritannien nein England / Amerika / Italien / Frankreich / Deutschland / Ungarn / Polen / Brasilien (Namen des Landes einfügen) zuerst. Wir brauchen das Darkweb Geld Algorithmen soziale Medien. Wir müssen sagen es geht uns um die freie Meinungsäußerung. Wir brauchen Bots wir brauchen Klischees wir müssen Hoffnung vermitteln. Wir müssen sagen eine neue Zeit bricht an das Alte ist vorbei seine Zeit ist abgelaufen jetzt ist unsere Zeit. Dazu müssen wir viel lächeln wir müssen vor laufender Kamera lachen hahaha starker Mann der sich kaputtlacht hörst du die Fabriksirene zu Schichtende die Fabrik ist tot wir sind die neue Sirene wir sind was dieses Land schon immer brauchte wir sind was du brauchst wir sind was du willst.

Wir wollen die Not.

Wir brauchen das Elend.

Es ist wieder so weit, ja? (Achselzucken.)

Mich geht das alles nichts an. Es ist nichts als Wasser und Staub. Du bist nichts als Knochenmehl und Wasser. Gut. Nützt mir letzten Endes mehr.

Ich bin das Kind, das unter Laub begraben liegt. Das Laub fault: hier bin ich.

Oder stell dir einen Krokus im Schnee vor. Siehst du den Tau um den Krokus? Das ist die offene Tür in die Erde. Ich bin das Grün in der Zwiebel und das Platzen des Samenkorns, das Entfalten des Blütenblatts, das grüne Schwellen der Zweigspitzen am Baum, ein Grün, wie erleuchtet.

Die Pflanzen, die sich durch Dreck und Plastik nach oben schieben, ob früher, ob später, sie kommen trotzdem. Die Pflanzen regen sich trotzdem unter euch, ob ihr als Niedriglöhner schuftet, zum Einkaufen unterwegs seid, im Licht der Bildschirme an Schreibtischen sitzt oder auf Handys scrollend in den Wartezimmern der Arztpraxen oder auf Demos protestiert, egal wo, in welcher Stadt oder welchem Land, das Licht wandert, die Blumen wippen neben dem Leichenberg und in der Nähe eurer Wohnorte, in den Kneipen, in denen ihr euch um den Verstand trinkt, ins Glück oder in die Traurigkeit, und da, wo ihr eure Götter und die großen Supermärkte anbetet, oder wenn ihr auf Fernstraßen an Banketten und Buschland vorbeirast, als ob nichts wäre. Es ist aber, alles. Die Blütenköpfe öffnen sich allerorten über dem illegal abgeladenen Müll. Das Licht wandert über eure Grenzen, über Menschen mit Pässen, Menschen mit Geld, Menschen mit nichts, wandert über Bretterschuppen, Kanäle und Kathedralen, über eure Flughäfen und Friedhöfe, über alles, was immer ihr unter die Erde bringt, was immer ihr ausgrabt und eure Geschichte nennt oder wonach immer ihr schürft, um es profitabel zu verwerten, das Licht wandert trotzdem darüber hinweg.

Die Wahrheit ist ein Trotzdem.

Der Winter ist für mich ein Klacks.

Glaubt ihr, ich wüsste nichts von Macht? Ihr glaubt wohl, ich wäre naiv ins Leben getreten?

Stimmt.

Verpfuscht nur mein Klima, ich vermassel euch das Leben. Euer Leben ist für mich ein Klacks. Im Dezember reiße ich Narzissen aus dem Boden. Im April versperre ich euch die Tür mit Schnee und werfe den Baum um, der dann euer Dach zertrümmert. Ich bedecke euer Haus mit dem Fluss.

Doch ich werde der Grund sein, weshalb sich wieder Leben in euch regt. Ich spritze euch Licht in die Venen.

Was liegt jetzt unter dem Straßenbelag?

Was liegt unter dem Fundament eures Hauses?

Was verzieht eure Türen?

Was gibt eurer Welt frische Farben? Was ist der Schlüssel zum Gesang des Vogels? Was formt den Schnabel im Ei?

Was schiebt den hauchdünnen grünen Schössling durch den Fels und treibt den Spalt hinein?

Es ist 11:09 an einem Dienstag im Oktober 2018, und Richard Lease, der TV- und Filmregisseur, ein Mann, der den meisten wegen einiger, gut, okay, zweier von der Kritik gelobter Produktionen für Play for Today in den siebziger Jahren, jedoch auch vieler anderer Sachen über die Jahre im Gedächtnis geblieben ist, ich meine, irgendetwas davon müssen Sie gesehen haben, wenn Sie schon so lange leben, steht auf einem Bahnsteig irgendwo im Norden von Schottland.

Warum ist er hier?

Das ist die falsche Frage. Sie setzt voraus, es gäbe eine Geschichte. Es gibt keine. Mit Geschichten war’s das für ihn. Von Geschichten nimmt er Abstand, genauer gesagt von Geschichten über: Katherine Mansfield, Rainer Maria Rilke, eine Obdachlose, die er gestern Vormittag auf dem Bürgersteig vor der British Library gesehen hat, vor allem jedoch Geschichten über den Tod seiner Freundin.

Streichen Sie den Mist von oben über den Regisseur, von dem Sie schon gehört haben oder nicht.

Er ist bloß ein Mann auf einem Bahnhof.

Vorläufig tut sich hier nichts. Verspätungen bedeuten, dass an dem Bahnhof keine Züge angekommen oder abgefahren sind, nicht, seitdem er hier auf dem Bahnsteig steht, womit der Bahnhof seinen Wünschen entgegenkommt.

Sonst steht niemand hier. Es steht auch niemand auf dem Bahnsteig gegenüber.

Irgendwo wird schon jemand sein, der im Büro arbeitet oder auf die Anlagen achtgibt. Es werden doch bestimmt noch Leute dafür bezahlt, dass sie persönlich auf solche Bahnhöfe achtgeben. Irgendwo wird irgendwer auf einen Bildschirm schauen. Richard hat aber niemanden gesehen. Die einzige andere Person, die er gesehen hat, seit er die Pension verließ und die Hauptstraße entlangging, ist hinter der offenen Luke eines Kaffeetrucks vor dem Bahnhof hin- und hergelaufen, eines dieser Citroën-Vans. Kunden waren aber keine da.

Nicht dass er jemanden erwartet. Das tut er nicht, und auch ihn erwartet niemand, niemand Spezielles.

Wo zum Teufel ist Richard?

Sein Handy steckt in London in einem halbvollen Kaffeebecher mit Deckel im Abfallkübel eines Pret a Manger in der Euston Road.

Steckte. Er hat keine Ahnung, wo es inzwischen sein wird. Müllhalde. Deponie.

Gut.

Hi, Richard, ich bin’s, Martin Terp wird jeden Augenblick hier sein, kannst du mir bitte sagen, wann du ungefähr kommst? Hi, ich noch mal, Richard, nur damit du Bescheid weißt, Martin ist gerade im Büro eingetroffen. Könntest du mich vielleicht anrufen und mich wissen lassen, wann wir mit dir rechnen können? Richard, ich bin’s, kannst du mich anrufen? Richard, ich noch mal, ich versuch eben, unser Vormittagsmeeting zu verlegen, weil Martin nur bis heute Abend in London ist, er kommt erst nächste Woche wieder in die Stadt, also ruf mich an und sag Bescheid, ob heute Nachmittag geht, ja? Danke, Richard, das wäre sehr nett von dir. Hi, Richard, in deiner Abwesenheit habe ich uns auf heute Nachmittag 16 Uhr verschoben, kannst du, wenn du das abhörst, bitte bestätigen, dass die Nachricht bei dir angekommen ist?

Nein.

Er steht im Wind, drückt mit verschränkten Armen die Jacke an den Körper, damit das Geflatter aufhört (kalt, keine Knöpfe, die Knöpfe verloren), und sieht sich die kleinen weißen Sprenkel im Asphalt des Bahnsteigs unter seinen Füßen an.

Holt tief Luft.

Die Lunge schmerzt, als sie voll ist.

Er blickt zu den Bergen im Hintergrund der Stadt. Wirklich beeindruckend. Wirklich trostlos und wahr. Sie sind alles, was ein Gebirge bedeuten kann.

Er denkt an seine Wohnung in London. Staubfäden werden da in der Sonne hängen, die durch die Ritzen in den Jalousien scheint, falls es in London gerade sonnig ist.

Seht ihn euch an, dichtet schon an seiner Abwesenheit herum.

An seinem Staub.

Lass das. Er ist ein Mann, der in einem Bahnhof an einem Stützpfeiler lehnt. Weiter nichts.

Es ist ein viktorianischer Stützpfeiler. Das Schmiedeeisen ist blau und weiß gestrichen.

Dann tritt er unter den mit Glas überdachten Teil des Bahnsteigs zurück, tritt ein Stück näher an die Gebäude heran, ins Windgeschützte.

Einige Berge da drüben sehen aus, als hingen Regenwolken über den Gipfeln, als trügen sie Schleier. Die Wolke auf der anderen Seite, Richtung Süden, würde er sagen, sieht aus wie eine Wand, eine von hinten beleuchtete Wand. Die Wolke über den Bergen im Norden, Nordosten, ist Dunst.

Deswegen ist er hier ausgestiegen: Der Zug war auf den Bahnhof zugefahren, und die Berge hatten etwas Sauberes an sich gehabt, wie sauber gewischt. Sie hatten so etwas wie Akzeptanz ihres Daseins an sich, wollten nichts. Sie existierten einfach.

Romantiker.

Selbstmythologisierer.

Die Tonbandstimme über seinem Kopf bittet gerade noch mal um Verständnis dafür, dass an diesem Bahnhof momentan kein Zug ankommt oder abfährt.

Plus minus die Bandansagen geschieht sonst nicht viel, ein paar Vögel ziehen am Himmel vorüber, das frühe Herbstlaub raschelt, Wind drückt Unkraut und Gras nach unten.

Ein Mann steht auf einem Bahnhof und betrachtet die fernen Berge rings um sich herum.

Heute sehen sie aus wie eine Linie, von einer riesigen Hand freihändig gezogen und weiter unten schraffiert, sie sehen aus wie etwas, das schläft und wartet. Sie sehen aus wie die prähistorischen Rücken schlafender Phantasie-Seeungeheuer.

Geschichte von Bergen.

Geschichte von mir, der ich Geschichten aus dem Weg gehe.

Geschichte von mir, der aus einem blöden Zug aussteigt.

Er schüttelt den Kopf.

Er war ein Mann auf einem Bahnsteig. Es gab keine Geschichte.

Nur dass es doch eine gibt. Irgendeine blöde Geschichte gibt es immer.

Warum stand er auf einem Bahnhofsbahnsteig? Wartete er auf einen Zug?

Nein.

Fuhr er irgendwohin? Aus welchem Grund? Holte er jemanden vom Zug ab?

Nein.

Warum war der Mann dann auf dem Bahnhofsbahnsteig, wenn er keinen Zug kriegen wollte und nicht auf einen wartete?

Er war einfach dort, okay?

Aber warum? Und warum sprichst du in der Vergangenheitsform von dir, du Loser?

Loser, ja. Das kommt hin. Irgendetwas war nicht mehr da. Ist.

Und was? Was genau?

Tja, wie soll ich das beschreiben. Keine Ahnung.

Versuch’s.

(Seufzt) Ich kann nicht.

Gib dir mal Mühe. Na los. Angeblich bist du doch Mr Drama. Wie sieht es aus?

Okay. Okay, also stell dir vor, jemand oder etwas, irgendeine Kraft rückt dir zu Leibe und bohrt einen Apfelausstecher durch dich hindurch, vom Kopf bis zu den Füßen, so dass du weiter dastehst, als wäre nichts passiert, obwohl in Wirklichkeit etwas passiert ist, denn du bist hohl, hast auf ganzer Länge da, wo einmal dein Kern war, jetzt ein Loch. Genügt das?

Jammerlappen. Ausschuss. Tom und Jerry lassen grüßen. Du willst wohl Mitgefühl für deine Hohlheit? Deine was? Dafür, dass dir nichts Ersprießliches mehr einfällt?

Hör mal, ich suche nur nach Worten für das, was ich fühle, das Gefühl ist nicht leicht zu beschreiben, eine –

Komm mir nicht so, deine Geschichte ist verschwendete –

Zeit in seinem Leben, da konnte er lieben, war buchstäblich verliebt, bis auf den Seelengrund glücklich über zum Beispiel eine einfache Zitrone. Irgendeine Zitrone in einer Schüssel oder an einem Marktstand oder in einem Netz mit anderen Zitronen, die in einem Supermarkt auf einen Käufer wartete. Es gab eine Zeit in seinem Leben, als so etwas ihn mit Freude erfüllte.

Jetzt jedoch war es, als wären solche einfachen Dinge ganz klein geworden, ohne dass er es bemerkt hat, und lägen weit entfernt, als stünde er an Deck eines alten Ozeandampfers, der auf raue See zuhält, und winkte wie ein Irrer der hinter ihm liegenden Küste zu, die wie die Zeit, in der er sich ständig an zum Beispiel so einfachen Dingen wie Zitronen gefreut hatte, verschwunden war, total perdu, sie war für das Auge nicht mehr sichtbar.

Ist nicht mehr.

Loser.

Wenn er daran denkt, wie er Paddy kennengelernt hat, kommt ihm das schwarz-weiße Bild eines Zahnabdrucks in einem Stück Schokolade vor fast fünfzig Jahren in den Sinn, eines Stücks Schokolade, schon als er es damals sah, so alt, dass es buchstäblich weiß war, vor allem an der Stelle, an der sich die kleine Zahnreihe abdrückte. Die Zähne waren die von Beatrix Potter. Beatrix Potter hatte irgendwann einmal von der Schokolade abgebissen, sie beiseitegelegt und in der Scheune vergessen, in der sie die Bücher schrieb und illustrierte, in denen reizende englische Tiere edwardianische Kleider trugen, mal gut waren, mal böse und mal dumm, Bücher über die Ente, die vom Fuchs umschmeichelt wird, über das Eichhörnchen, das so viele Nüsse frisst, dass es aus seinem Loch im Baumstamm nicht mehr herauskommt; sie hatte in einen Schokoriegel aus der Vorkriegszeit gebissen, und der Abdruck ihrer Zähne hatte sie überlebt, dort in der Scheune, jahrzehntelang nach ihrem Tod 19-irgendwas.

Er war Assistent eines Regieassistenten gewesen, einer seiner frühesten Jobs. Es war der erste Film in seinem Arbeitsleben, dessen Drehbuch von Paddy stammte.

Durch ihr Drehbuch war aus einem eher schwunglosen Streifen ein nachdenklicher Film geworden. Außerdem hatte sie die Aufnahmen des Zähneabdrucks in der Schokolade ins Script hineingeschrieben, so dass sie die Aufnahmen letztlich auch verwenden mussten.

Er hatte von irgendwem ihre Adresse bekommen und sich bei ihr gemeldet, als man ihm seinen ersten Soloauftrag anbot. Hatte ihr im Hanged Man einen Whisky ausgegeben. Er, gerade einundzwanzig geworden, hatte noch nie zuvor in einem Pub jemandem einen Whisky ausgegeben, erst recht keiner Frau und erst recht keiner glamourösen älteren Frau wie ihr.

– Weil ich Irin bin?

– Weil Sie gut sind.

– So ist es, stimmt, das haben Sie messerscharf erfasst. Ich bin sehr gut in dem, was ich tue. Und wie steht’s mit Ihnen, sind Sie gut? Ich arbeite nur mit den Besten.

– Das weiß ich noch nicht. Vermutlich nicht. Ich bin mehr der eigennützige Typ. Aber Sie haben’s drauf, die Zähne in der Schokolade. Dass Sie das reingeschrieben haben.

– Ja, Sie haben ein gutes Auge. Das muss ich Ihnen lassen. Und Sie sind sehr jung, da kann noch einiges werden. Und ich soll mit Ihnen arbeiten, weil ich etwas ins Drehbuch reingeschrieben habe, das dazu führte, dass die Ihre Aufnahmen verwenden mussten. Darum geht’s?

– Ehrliche Antwort? Es war Ihr Drehbuch, durch das ich an den Job gekommen bin.

(Sie schüttelt den Kopf, sieht zur Tür des Pubs.)

– Sie haben den Film aber auch besser gemacht. Ihr Drehbuch hat dafür gesorgt, dass mehr Realität reinkommt.

– Realität, soso?

(Pause. Zug an der Zigarette, Rauch ausatmen.)

– Okay.

– Okay? Wirklich? Sie sagen ja?

– Okay, ich arbeite mit Ihnen. Play for Today, ja? Okay. Unter der Bedingung, dass wir an dem Sendeplatz ein bisschen mehr liefern, etwas Unerwartetes.

– Unerwartet inwiefern?

– Es gibt Möglichkeiten, diese Zeiten durchzustehen, Doubledick, und ich glaube, eine davon ist die Form, die man dem Erzählen gibt.

Gestern Morgen, auf den Tag genau einen Monat nach dem Gedenkgottesdienst (sie hatten sie irgendwann vorher im Stillen einäschern lassen, er weiß nicht mal, wann genau, nur die engsten Angehörigen), geht er durch die Euston Road und sieht, als er an der British Library vorbeikommt, eine Frau an der Mauer sitzen, um die dreißig, vielleicht sogar noch Ende zwanzig, Decken, ein Stück Pappe, von einem Karton abgerissen, auf dem ein paar Worte um Geld bitten.

Nein, nicht um Geld. Die Worte auf der Pappe sind bitte und helfen und Sie und mir.

Schon am Vormittag ist er beim Gang durch die Stadt an unzähligen Obdachlosen vorbeigekommen. Obdachlose kommen heute wieder ungezählt vor; alte Linke wie er wissen, dass es so ist. Sind die Tories wieder am Ruder, sind die Leute wieder auf der Straße.

Aus irgendeinem Grund sieht er aber sie. Die Decken sind schmutzig, die Füße auf dem Gehsteig bloß. Er hört sie auch. Sie singt für niemanden – nein, nicht für niemanden, für sich selbst –, singt mit auffallend schöner Stimme ein Lied, und das Viertel vor acht am Morgen. Das Lied geht so:

tausendmal tausend

rennen durch die Straßen der Stadt

oh, niemand und nichts

oh, niemand und nichts

oh, gar nichts

Richard geht weiter. Hört mit dem Weitergehen auf, als er gerade an der Vorderseite von King’s Cross vorbei ist. Er macht kehrt und geht in den Bahnhof hinein, als hätte er das von Anfang an vorgehabt.

In der Mitte der Bahnhofshalle steht ein Kiosk unter der riesigen Erinnerungsmohnblume. An dem Kiosk gibt es Schokolade in Form von Haushaltsgeräten und Werkzeug: Hammer, Schraubenzieher, Zange, Besteck, Tassen und so weiter; man kann da eine Tasse aus Schokolade kaufen, eine Untertasse aus Schokolade, einen Teelöffel aus Schokolade und sogar eine Espressomaschine für die Herdplatte aus Schokolade (die ist allerdings teuer). Die Schokoladensachen sind ungewöhnlich lebensecht, vor dem Kiosk steht eine Traube von Menschen. Ein Mann im Anzug kauft einen ganz echt aussehenden Wasserhahn für die Spüle aus Schokolade, der silbern besprüht ist; die Verkäuferin legt ihn behutsam in ein Kästchen, das sie vorher mit Stroh auspolstert.

Richard schiebt seine Karte in einen Fahrkartenautomaten. Tippt den Namen des Ortes ein, der das Weiteste ist, wohin man von hier mit dem Zug fahren kann.

Steigt in einen Zug ein.

Sitzt einen halben Tag darin.

Ungefähr eine Stunde bevor der Zug sein endgültiges Fahrziel erreicht, sieht Richard durchs Fenster Berge vor Himmel und beschließt, schon hier auszusteigen. Was sollte ihn hindern, zu tun, was er will, und an einem Ort auszusteigen, der nicht auf der Fahrkarte aufgedruckt ist?

Oh, niemand und nichts.

Er hatte immer gedacht, King Gussie wird wie ein Reim zu Gassi ausgesprochen, und so hörte es sich auch von der Automatenstimme an, die in Londons King’s Cross aus den Lautsprechern über seinem Kopf drang, bevor er in den Zug einstieg.

Die Betreiber der Pension, an deren Tür er nach seiner Ankunft klopft, sagen aber Kin-you-see. Sie werden misstrauisch sein. Was ist das für einer, der nicht im Voraus per Handy bucht? Nicht einmal ein Handy hat?

Er wird auf der Kante des fremden Betts in der Pension sitzen. Wird auf dem Fußboden sitzen, eingekeilt zwischen Bett und Wand.

Bis zum Morgen werden seine Kleider den Geruch des Lufterfrischers in dem Zimmer angenommen haben, in dem er die Nacht verbringen wird.

11:29. Eine Automatenstimme bittet über das Lautsprechersystem des Bahnhofs um Verständnis dafür, dass die ScotRail-Verbindung aus Edinburgh Waverley, planmäßige Ankunft 11:08, wegen einer Störung im Betriebsablauf südlich von Kingussie Verspätung hat, dass die ScotRail-Verbindung nach Inverness, planmäßige Abfahrt 11:09, wegen einer Störung im Betriebsablauf südlich von Kingussie Verspätung hat, dass die ScotRail-Verbindung aus Inverness, planmäßige Ankunft 11:35, wegen einer Signalstörung Verspätung hat und dass die ScotRail-Verbindung nach Edinburgh Waverley, planmäßige Abfahrt 11:36, wegen einer Signalstörung Verspätung hat.

Tja, Signale können ein Problem sein, sagt Richard zu seiner imaginären Tochter.

Dann fragt sich auch, wem man eine Plattform bietet, sagt seine imaginäre Tochter.

(Seine imaginäre Tochter hat er noch, auch wenn Paddy tot ist.)

Wenn er sich nicht sicher ist, was etwas gerade Aktuelles bedeutet, fragt er seine imaginäre Tochter. Zum Beispiel bei #metoo.

Das bedeutet, du bist auch betroffen. Auch du.

Dann hatte sie gelacht.

Was ist ein Hashtag?, hatte er sie gefragt.

In seinem Kopf ist sie seit gut zwanzig Jahren ungefähr elf. Dass es patriarchalisch von ihm ist, falsch, ihr kein Leben als Erwachsene zuzugestehen, bis jetzt jedenfalls nicht, weiß er. (Er ist bestimmt nicht der einzige Vater, bei weitem nicht, der so fühlt oder so denken würde, wenn er könnte.)

Hashtag hat nichts mit Hasch zu tun, sagte seine imaginäre Tochter. Nicht rauchen und nicht essen, klar?

Zu Ehren seiner realen Tochter, wo immer auf der Welt sie sein mag, vorausgesetzt, sie ist noch auf der Welt, hat er den Ausdruck online nachgeschlagen.

Wurde auch Zeit, dachte er.

Hinterher konnte er zwei Wochen lang nicht schlafen, lag Nacht für Nacht bis vier Uhr wach und grübelte über dieses oder jenes Mal nach, als er geglaubt hatte, er könnte sich bei den Frauen, mit denen er zusammen war, benehmen, wie er lustig war. Er hatte manchen Oberschenkel berührt. Hatte manche Gelegenheit wahrgenommen. Und war in den allermeisten Fällen damit durchgekommen. Beschwert hatte sich nie eine.

Jedenfalls nicht bei ihm.

Nach zwei Wochen konnte er allmählich wieder schlafen. Er war einfach zu müde.

Ich konnte manchmal schon ein Teufel sein, weißt du, sagte er in Gedanken zu seiner imaginären Tochter.

Ich hab nichts anderes erwartet, sagte sie.

Ich konnte manchmal schon ein Teufel sein, weißt du, sagte er in Gedanken zu seiner realen Tochter.

Schweigen.

Vorigen März. Fünf Monate vor ihrem Tod. Meilenweit stapft er durch Schneematsch von seiner Wohnung zu ihrer. Läutet an der Tür. Einer der Zwillinge macht ihm auf. Paddy ist hinten. Als sie ihn in der Diele hört, ruft sie:

Ist das mein geliebter König der Künste?

Sie ist so mager, dass man meint, ihr Arm könnte brechen, wenn sie einen Becher Tee anhebt. Doch als er vor ihr steht, bläst ihm der Sturm ihrer Worte entgegen: Sein Haar ist zu lang, sein Hemd voller Flecken, was hast du gemacht, gegessen wie ein Irrer? Sieh dir deine Hose an, hast du keine Stiefel? Sieh dir deine arme schöne Hühnerbrust in dem bekleckerten Hemd an, Dick, wofür hältst du dich, für Perikles von Tyrus?

Perikles von Müd und Matt, sagt er. Sechs Meilen durch Schneestürme, um mit dir über gutes Benehmen zu sprechen.

Ach, du bist der Müde, du hemmungsloser Jammerlappen. Ich bin diejenige, die stirbt, sagt sie. Zieh deine nassen Schuhe aus.

Du wirst niemals sterben, Paddy, sagt er.

O doch, das werde ich.

Nein, wirst du nicht.

Werd erwachsen, sagt sie, das ist kein Kasperletheater, wir werden alle sterben, das ewige Leben ist ein modernes Märchen, eine rechte Misere, darauf darf man nicht reinfallen, und jetzt bin ich es, die in das Boot mit dem Loch steigen muss, nicht du, also komm mir nicht so.

Wir sitzen alle im selben Boot, Pad, sagt Richard.

Hör auf, mir meine Tragödie zu stehlen, sagt sie. Stell die Schuhe auf den Heizkörper. Runter mit den Socken und rauf damit auf den Heizkörper. Dermot, hol ein Handtuch und setz Wasser auf.

Das Schiff der liberalen Welt, sagt er. Wir dachten, wir wären Schiffskameraden und würden für immer in den Sonnenuntergang segeln.

Das war einmal, aus und vorbei, sagt sie. Wie macht sich das Schiff der neuen Weltordnung da draußen?

Er lacht.

Wie in einem Computerspiel, sagt er. Digital konzipiert, damit man es mit Torpedos beschießen kann.

Menschlicher Einfallsreichtum, sagt sie. Man muss ihn beklatschen, wenn er so interessante neue Arten erfindet, Spaß am Zerstören zu haben. Wie geht’s dir, abgesehen vom Ende der liberalen kapitalistischen Demokratie? Ich meine, schön, dich zu sehen, aber was willst du?

Er berichtet ihr seine Neuigkeit. Er ist gerade Martin Terps neuestem Werk zugeteilt worden.

Terp? Ach herrje.

Ich weiß, sagt Richard.

Möge Gott dir beistehen, und den Beistand wirst du auch brauchen, sagt sie. Zugeteilt wofür? Um was zu tun?

Er erzählt ihr von dem Roman über die zwei Schriftsteller, die 1922 zufällig beide in derselben kleinen Ortschaft in der Schweiz lebten, sich aber nie begegneten.

Katherine Mansfield?, sagt sie. Wirklich? Bist du dir sicher?

Das ist der Name.

Eine Nachbarin von Rilke? Und das stimmt?

Die Danksagung hinten im Roman beteuert, dass es stimmt, sagt er.

Was für ein Roman? Geschrieben von wem?

Ein literarischer, sagt er. Der zweite Roman von Nella irgendwas, Bella. Viel Sprache. Wenig Handlung.

Und so ein Projekt haben die Terp anvertraut?, sagt sie.

Es ist ein Bestseller. Stand auf allen Shortlists, sagt er.

Die Ecke habe ich nicht mehr so auf dem Radar, sagt sie. Taugt das Buch was?

Im Klappentext des Paperbacks steht, ein Idyll der Ruhe und des Friedens, ein Geschenk aus der Vergangenheit, mitreißend, richtig zum Schwelgen, Auszeit von der Epoche des Brexit, all so was, sagt er. Mir hat es sehr gefallen. Zwei Menschen, die ein ruhiges Schriftstellerleben führen und ab und zu in einem Hotelflur aneinander vorbeigehen. Die eine vollendet ein Lebenswerk, obwohl sie es nicht weiß. Sie ist krank. Um den Streitereien mit ihrem Ehemann, der oben auf dem Berg lebt, zu entkommen, ist sie in das Hotel weiter unten gezogen und wohnt dort mit ihrer Freundin, die etwas verhuscht wirkt. Der andere Schriftsteller, wie sprichst du den Namen aus?

Rilke, sagt Paddy.

Er hat Anfang des Jahres ein Lebenswerk vollendet, sagt Richard, und ist erschöpft. Der Turm, in dem er lebt, wird gerade renoviert, deshalb ist er für die Dauer der Sanierung in dasselbe Hotel unten an der Straße gezogen. Die ist beendet, er geht nach Hause und verlässt das Hotel genau in dem Moment, in dem sie eintrifft, mit Freundin, die wie ein Packpferd sämtliche Taschen auf dem Rücken trägt. Er isst aber gern dort und wandert deshalb abends meistens zum Essen die Straße hinunter, es ist ein Skiresort und Sommer, deswegen ist im Hotel und in der Stadt nicht viel los, und manchmal ergibt es sich, dass die beiden Schriftsteller nicht weit voneinander entfernt im selben Speisesaal sitzen. Manchmal gehen sie in den Hotelanlagen aneinander vorbei. Der Roman macht aber auch ziemlich viel Gewese darum, dass oben die Berge sind und sie da unten und so weiter, dass sie vor dieser prächtigen Alpenkulisse einfach ihr Leben führen.

Und was passiert?, sagt Paddy.

Ich hab dir gerade die ganze Handlung erzählt, sagt er.

Hm.

Eine neue Jahreszeit beginnt, sagt er. Sie lernen sich nie kennen. Pferde, Glockenhüte und schmale Westen, hohes Gras und Weiden mit grasenden Kühen, die Glocken um den Hals haben. Ein Kostümstück.

Sie schüttelt den Kopf.

Aber Terp, sagt sie. Eine Katastrophe. Kannst du dir das vom Hals schaffen?

Er hält die Manschette seines Hemds hoch, damit sie sieht, wie durchgescheuert die ist. Dann hält er ihr die andere Manschette hin, genauso durchgescheuert.

Hast du schon ein Drehbuch gesehen?, fragt sie.

Ja.

Kommen Terroristen drin vor?

Sie lachen beide. Im vorigen Jahr haben sie sich zusammen die komplette iPlayer-Staffel des National Trust angesehen, Martin Terps letztes Drama, von den Medien durch die Bank hymnisch besprochen: fünf von zwerchfellerschütternden Detonationen strotzende Episoden über eine gemeinsame Operation von Polizei und Geheimdienst gegen eine Gruppe islamistischer Terroristinnen, die sich mit Sprengstoffwesten am Leib in einem Herrensitz im Norden Englands verschanzt und ein paar Prominente und einen frisch zertifizierten Fremdenführer durch das historische England als Geiseln genommen hatten.

Ich bin heute hier, um dir Folgendes mitzuteilen, Paddy, sagt Richard. Es gibt Schlimmeres als Terroristen.

Martin Terp, sagt er, hat bereits einige grob umrissene Sexszenen herumgeschickt, und die Leute bei dem britischen Sender, der die Romanadaption ursprünglich in Auftrag gegeben hat, sowie die Leute bei dem mächtigen Online-Händler, der den Film hauptsächlich finanziert, waren davon alle sehr angetan.

Sexszenen?, sagt Paddy.

Er nickt.

Zwischen Katherine Mansfield und Rainer Maria Rilke? Wann, in welchem Jahr sagtest du – 1922?

In seinem Turm, in ihrem Hotelzimmer, in verschiedenen anderen Hotelbetten, inklusive dem ihrer Freundin, wodurch es zusätzlich einen lesbischen Touch bekommt, und – warte, ich bin noch nicht fertig – in den Hotelanlagen in einer kleinen Grotte, in der sonst ein Streichquartett spielt, im Hotelflur, hinter einer Kübelpflanze, in eine Gardine eingewickelt, und im Billardzimmer des Hotels auf dem Billardtisch, während die Bälle in alle Richtungen davonrollen. Komödiensex.

Paddy lacht laut los.

Ich lache nicht über den Komödiensex, sagt sie. Ich lache, weil es nicht nur lachhaft ist, sondern unmöglich. Erstens hatte Mansfield 1922 Tuberkulose im Endstadium. Sie starb Anfang 1923 daran.

Ich weiß, sagt er. Von ihrer Tuberkulose bin ich hier schon ganz wund.

Er nimmt Paddys magere Hand und legt sie auf seine Brust. Sie lächelt ihn an, hebt eine Braue.

Fish are jumping, Doubledick.

Somatize and the living is easy. Seit ihrer ersten Gemeinschaftsarbeit, seit See von Plagen, als er für die Dauer der sechswöchigen Dreharbeiten buchstäblich irisch-grün im Gesicht war, wie sie es nannte und was sie als Seekrankheit diagnostizierte, hat Paddy die Theorie, dass es ein gutes Omen ist, wenn sich das, was er tut, in seinem Körper manifestiert. Dann kommt etwas Gutes dabei heraus.

Er grinst, lässt ihre Hand los.

Ohne dich bringe ich doch nichts Gutes zustande, sagt er.

Da würde ich dir ja gern widersprechen, aber wie kann ich das, nachdem ich von dir höre, dass Terp mich ersetzen wird, sagt sie. Verärger mich nicht noch mehr. So einen Film mit dir zu machen, dafür würde ich viel geben. Katherine Mansfield, Herrgott, ein Drehbuch über Katherine Mansfield. Und Rilke. Giganten der Literatur. Mansfield und Rilke, selbe Zeit, selber Ort. Unglaublich.

Wenn dich das interessiert, sagt Richard.

Und ob es mich interessiert!, sagt sie. Die Erzählungen, die Mansfield in der Schweiz geschrieben hat, waren ihre besten. Und er hat die Elegien endlich zu Ende gebracht und schreibt die Sonette an Orpheus. Zwei scharfsinnige Geister steigen hinab ins Dunkel und loten aus, wie man über das Leben und den Tod sprechen soll. Und verwenden dabei bahnbrechende neue Formen. Am selben Ort, zur selben Zeit. Die bloße Vorstellung! Überwältigend, wenn es denn stimmt, Dick. Wirklich.

Wenn du das sagst.

Sie schüttelt den Kopf.

Rilke, sagt sie. Und Mansfield.

Jetzt dämmert es Richard, jetzt fällt bei ihm der Groschen. Katherine Mansfield wird eine der vielen Schriftstellerinnen sein, von denen Paddy ihm die ganze Zeit erzählt hat, eine der Autorinnen, von denen sie seit Jahrzehnten spricht. Er hat aber nie zugehört und sich nicht weiter darum gekümmert.

Er sagt, was ihm gerade einfällt, er hätte sich die von ihr über die Jahre immer wieder erwähnte Mansfield eher viktorianisch vorgestellt, als Typ dünnes Fräulein, steif und züchtig.

Steif und züchtig!, sagt Paddy. Mansfield!

Sie lacht laut los.

Katherine Mansfield Park, sagt sie.

Richard lacht mit, auch wenn er eigentlich nicht kapiert, was so komisch sein soll.

Sie war eine Abenteurerin durch und durch, in jeder Hinsicht, sagt Paddy. Sexuell, ästhetisch, gesellschaftlich. Eine richtige Weltenbummlerin. Ein Leben voller Liebschaften aller Art, sehr gewagt für ihre Zeit. Ich meine, sie war furchtlos, Gott weiß wie viele Male schwanger, immer von den Falschen, sie hat einen praktisch Fremden geheiratet, damit ihr Kind, das von einem anderen war, legitim wurde, es dann aber verloren. Steht das auch im Buch?

Nein, sagt Richard. Nichts dergleichen.

Sie hat sich im Ersten Weltkrieg hinter die Frontlinie durchgeschlagen, um eine Nacht mit einem französischen Liebhaber zu verbringen, der im Feld stand. Sie zeigte den Beamten eine Postkarte von ihrer »Tante«, sie soll bitte gleich zu ihr kommen. Die Karte war von ihrem Soldaten. Unterschrieben mit Marguerite Bombard. Ein Bombardement mit Gänseblümchen! Damit erregte sie heftigen Anstoß bei denen, die sich für die richtigen Sozialrevolutionäre hielten und nun als Spießer dastanden, Woolf, Bell, die Bloomsburys. Eine Wilde aus Neuseeland, das war sie für sie, die Kleine aus den Kolonien. Oh, sie war eine echte Pionierin.

Paddy schüttelt den Kopf.

Schon das Gewicht der Decke auf ihrer Brust war Mansfield 1922 in ihrem Bett zu viel, sagt sie. Geschweige denn Sex. 1922, großer Gott, meines Wissens war sie schon so schwach, dass sie kaum noch von einem Wagen bis zur Hoteltür gehen konnte. Außerdem waren Hotels bei Schwindsüchtigen heikel und ließen eine Frau, die hustete, nicht bleiben. In der Schweiz hielten sie’s vielleicht anders, da war der Schwindsüchtigen-Tourismus ein Wirtschaftszweig.

Wirtschaftszweig inwiefern?, sagt Richard.

Gute saubere Luft.

Wie kommt es, dass du immer alles weißt, Paddy?

Bitte, sagt Paddy. Hack nicht auf mir herum, wenn ich mal was weiß. Ich bin eine aussterbende Art, ich bin das, was da draußen für niemand mehr von Belang ist. Bücher. Wissen. Jahrelanges Lesen. Soll heißen, ich weiß halt manches.

Deswegen bin ich hier, sagt er.

Dachte ich mir, sagt sie.

Sie drückt sich an die Tischkante und schiebt ihren Stuhl zurück. Hält sich an der Tischkante fest und zieht sich hoch. Bleibt einen Moment so, weil ihr vom Aufstehen schwindlig geworden ist. Er strafft sich, macht schon Anstalten, ihr zu helfen.

Nicht, sagt sie.

Sie sieht zu der mit Büchern vollgestellten Diele.

Ich glaub, der Rilke, den ich mal hatte, ist längst im Himmel des Secondhandladens von Amnesty, sagt sie. Ein Mann, der schon eine Weile, bevor er wirklich starb, einen schönen Tod hatte. Schau dir diese Schale Rosen an, sagte er, und vergiss die sogenannte Wirklichkeit mit ihren Zerstreuungen. Aber Engel und Rosen und das Einssein im Tode, du in mir und ich in dir, und zusammen überwinden wir sterbend den Tod, so etwas erträgt eine Frau auch nicht unbegrenzt. Erst recht nicht, wenn sie gerade stirbt. Aber ich bin ungerecht.

Sie schleppt sich zum Eingang in die Diele. Stützt sich an der Wand ab, dann an den Büchern und geht am Regal entlang, bis sie bei den Buchstaben des Alphabets ist, zu denen sie will.

Nö, kein Rilke mehr da, sagt sie. Ich hab’s dir gesagt, ich war ungerecht. Aber ich hab jede Menge Mansfield für dich.

Sie zieht ein Buch heraus, schlägt es auf, lehnt sich gegen die anderen Bücher und blättert. Klappt das Buch zu und klemmt es sich unter den Arm. Zieht noch zwei Bücher hervor. Zu dem Zeitpunkt hat Paddy noch so viel Kraft, dass sie, an ihre Brust gedrückt, zwei, drei Bücher tragen kann. Sie lässt sie vor ihm auf den Tisch fallen. Er liest, worauf sein Blick fällt, als eines aufklappt.

Ein Sturm tobt, während ich diesen öden Brief schreibe. Es klingt so prachtvoll, dass ich am liebsten draußen wäre.

Ha, sagt er.