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Die Autorin Christa Andresen aus Aurich hat die Geschichte ihrer Familie über Generationen hinweg verfolgt und bis in die heutige Zeit aufgearbeitet. Sie zeichnet den ungewöhnlichen Lebensweg ihrer energisch-liebenswerten Großmutter nach, einer gebürtigen Waliserin, berichtet vom wirtschaftlichen Werdegang der Emder Reederei Nübel, von Flucht in den Kriegsjahren und dem Neuanfang. Und sie erzählt von ihrem eigenen Lebensweg voller Höhen und Tiefen an der Seite ihres geliebten Mannes. Persönliche Schicksale, Sternstunden und Tragödien, eingebettet in die große Zeitgeschichte, die Leserinnen und Leser zum Staunen und Nachdenken anregen sollen.
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Seitenzahl: 228
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Die Kunst des Lebens – Teil 1
Vorwort
Eine walisische Werfttochter in Südafrika
Das Klavierzimmer in Antwerpen
Ein Familienankerplatz in der Seehafenstadt
Der Untergang Preußens und die sprachlose Lizzi
Gartenhaus, Handelsschule und das Rotterdamer Kontor
Die Schatten des Dritten Reiches und Sorgen um Berni
Weltkatastrophe und private Tragödien
Flucht ins Gutshaus Wilhelminenholz
Erste Besuche im zerstörten Emden
Unsere resolute Granny
Ende mit zwei neuen Schiffen
Nachwort: An meine Großeltern
Die Kunst des Lebens – Teil 2
Vorwort
An meine Mutter Mary May
Die Erinnerungen meiner Mutter Mary
An meinen Vater Jakob
Der gemeinsame Lebensweg meiner Eltern Mary und Jakob
Persönliche Erinnerungen an meine Eltern und meine Kindheit
Meine Liebesgeschichte mit Andreas
Die Kunst des Lebens – Teil 3
Der Studentenball
Von der Seine in die Hansestadt
Zwischenstopp mit Verlobung
Dreisamkeit nach der Hochzeit
Der Mauerbau weckt Erinnerungen
Zweites Kind und Kalkutta
Flucht vom Jahrmarkt der Eitelkeiten
Väterles trübe Augen
Neubeginn in alter Heimat – Öl und Heilkunde
Wesensveränderung und wieder Amerika
Walesa und die neue Zeitrechnung
Sorge um Andreas
Pflege daheim
Abschied kurz nach Neujahr
Nachwort
Teil 1
Die Lebensgeschichte meiner Großeltern habe ich aus Erzählungen und selbst Erlebtem aufgearbeitet. Paulus Worte in Kapitel 13 des ersten Korintherbriefes, „Die Liebe verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles“ war Grundlage ihres Lebens.
Portraits meiner Großeltern, gemalt vom Künstler Lukas.
Eliza wurde am 6. Dezember 1869 nahe der Stadt Cardiff in Wales geboren. Die Eltern May und James Elliott waren sehr fürsorgliche Menschen, die ihre drei Kinder Lizzi, Martin und Bekky mit großer Sorgfalt erzogen.
Die Mutter May war schon früh Vollwaise, hatte aber das Glück, bei Onkel und Tante ein Zuhause zu finden. Sie wuchs behütet und geliebt auf und nach dem Ableben ihrer Zieheltern erbte sie etliche Wertpapiere. Nach der Heirat mit James Elliott waren diese Papiere das Startkapital zum Erwerb einer Bootswerft in Cardiff.
James war gelernter Schiffs- und Bootsbauer. Täglich schuftete er mit seinen Gehilfen, aber wenn es seine Zeit zuließ, tischlerte er am Abend noch Möbel für Bedürftige. Bei dieser Tätigkeit sang er laut fromme Lieder. Von seiner Stimme angelockt kauerte sich Lizzi in die Ecke der Werkstatt, um ihrem Vater zu lauschen.
Jeden Tag schlenderte sie zum Hafenbecken und nahm auf einem Poller Platz, um die beste Übersicht auf das Leben und Treiben im Hafen zu haben. Ihr sehnsüchtiger Blick galt den Schiffen, die je nach Wetterlage im Wasser dümpelten oder schaukelten. Ihr Traum war, eines Tages ein Schiff zu besteigen, um die Welt zu erkunden.
Ihre ganze Liebe galt den Büchern. Mit diesem Schatz zog sie sich in das elterliche Gartenhaus zurück. Hier hortete sie ihre Bücher, um in eine fremde Welt einzutauchen.
Den Eltern war nicht entgangen, dass Lizzi sich nicht wie andere Mädchen verhielt. Sie wollte lernen und so erlaubten die Eltern ihr den Besuch einer Privatschule. Es darf nicht außer Acht gelassen werden, wie Eltern des vorletzten Jahrhunderts über den Werdegang ihrer Töchter dachten. Möglichst nach dem zwanzigsten Lebensjahr sollten sie unter der Haube sein, um in das Versorgungsinstitut der Ehe zu gelangen. Das genau war für Lizzi ein Albtraum. Sie wollte schon damals ihren ganz eigenen Weg gehen. Sie bestand darauf, in London eine Ausbildung zur Nanny zu erlangen. Auch diesen Wunsch erfüllten ihr die Eltern. Sogar eine Schiffsreise ermöglichten sie ihr.
Elisabeth Elliot, genannt Lizzi oder Eliza.
Nach dieser Reise war der Knoten endgültig geplatzt. Sie beschloss, nach Südafrika zu gehen. Ja, Südafrika war das Ziel ihrer Träume. Ihr Wille, einen anderen Kontinent kennenzulernen, stand fest.
Mit 21 Jahren machte sie sich auf den Weg nach Port Elizabeth. Nach einer langen Schiffsreise erreichte sie ihr Ziel. Mit einer Kutsche wurde sie abgeholt. Langsam näherten sie sich dem Anwesen der Familie Clark. Lizzi traute ihren Augen nicht, als sie das herrliche Anwesen sah. Eine weiße Villa, umgeben von einem Park im englischen Stil, würde nun ihr Zuhause sein.
Mr. Clark war verantwortlich für den gesamten Ausbau des Eisenbahnnetzes in Südafrika. Mrs. Clark übertrug die Erziehung der drei Töchter an Lizzi. Damen wie Mrs. Clark widmeten sich den schönen Künsten und organisierten die Bewirtung der zahlreichen Gäste.
Lizzi genoss das Leben und Treiben im Hause Clark. Bei einem der Feste begegnete ihr sogar Cecil Rhodes. Zur Versorgung der Kinder standen ihr mehrere einheimische Bedienstete zur Seite.
England war Weltmacht, Südafrika englische Kolonie. Unter dem Schutzmantel ihres geliebten Englands fühlte sich Lizzi völlig geborgen. Auch musste sie sich nicht der Mühe unterziehen, eine Fremdsprache zu erlernen. Es wurde eben Englisch gesprochen. Bei den Clarks lernte sie, wie man großzügig wirtschaftet. Eine tiefgreifende Erfahrung für ihr zukünftiges Leben!
Wilhelm Nübel
Nun zu Wilhelm, meinem Großvater. Am 13. März 1872 kam er in Osnabrück zur Welt. Die Eltern Lisette und Gottfried Nübel waren glücklich über die Geburt ihres ersten Kindes. Sie waren strebsam, sparsam und gottesfürchtig, eben durch und durch preußisch. Vater Gottfried hatte es durch endlosen Fleiß bis zum Bahnrat gebracht und bekam als Krönung seiner Beamtenlaufbahn den so begehrten Preußischen Adlerorden.
Nach dem Besuch des Gymnasiums trat Wilhelm als Lehrling in das Kohlekontor Duisburg ein. Schon während der Lehrzeit war der Inhaber, Commerzienrat Lehnkering, auf Wilhelm aufmerksam geworden. Sein Eifer gefiel ihm sehr. Wilhelm war genauso strebsam wie sein Vater. Er war an Allem interessiert. Ganz auf sich selbst gestellt baute er seine Sprachkenntnisse aus. Latein half ihm, schnell Spanisch und Französisch zu lernen.
Lizzi war 27 Jahre alt, die Zeit war wie im Fluge vergangen. Sie hatte sich in Südafrika mit Richard, einem Eisenbahningenieur, verlobt und war auf dem Weg nach England.
Natürlich freute sie sich unbändig, nach so langer Zeit ihre Eltern wiederzusehen.
Nach der langen Schiffsreise von Port Elizabeth hatte sie sich vorgenommen, ein paar Tage in Antwerpen Station zu machen. Sie hatte sich einen schönen Gasthof für diese Zeit ausgesucht. Es war September und das Wetter lud noch zu einem kleinen Spaziergang ein. Auf ihre langen, hochgesteckten Haare setzte sie ein kesses Hütchen. Der Mode entsprechend war ihr langes grünes Seidenkleid in der Taille eng geschnürt. Sie sah bezaubernd aus. Während sie so den Flur entlang schritt, hörte sie Klavierspiel, begleitet von einer schönen Männerstimme. Sie hielt inne, vorsichtig öffnete sie die Tür zum Musikzimmer und da sah sie Wilhelm. Er lud sie ein, sich neben ihn zu setzen, um dann weiterzuspielen. Sie tat es mit Freuden.
Schon bei den ersten Worten, die er an sie richtete, wurde ihm klar, dass sie ihn nicht verstand. Wilhelm sprach fließend Englisch, so kam dann das Gespräch in Fluss. Sie erzählten sich, was sie nach Antwerpen verschlagen hatte und stellten sich mit Namen vor. Bis tief in die Nacht ging ihr Gespräch weiter. Beim Abschied sagten sie sich zu, dass sie beim Frühstück das Gespräch weiterführen wollten.
Nie zuvor war Wilhelm einer so lebenserfahrenen und kapriziösen Dame begegnet. Auch sie war augenblicklich in seinen Bann geraten. Sein gepflegtes Äußeres und seine Weltgewandtheit hatten sie tief beeindruckt.
Am Morgen nach der Begegnung eilte Wilhelm ganz beschwingt zum Frühstücksraum. Groß war seine Enttäuschung, als ihm mitgeteilt wurde, dass die englische Lady bereits abgereist sei.
Schon am folgenden Tag reiste er nach Duisburg, um den Rat seiner Freunde einzuholen. Die Freunde merkten sofort, wie sehr diese Dame sein Herz entflammt hatte. Sie rieten ihm, sich sofort auf den Weg zu machen, um die Dame zu finden. Zu der Zeit war es leichter gesagt als getan mal eben schnell nach Wales zu fahren, aber angespornt von seinen Gefühlen schaffte er es, sein Ziel zu erreichen.
Verlobungsfoto von Eliza und Wilhelm.
Wie würde er bei Lizzis Eltern aufgenommen werden? Schnell waren alle Befürchtungen zerstreut, weil sie ihn mit Freundlichkeit und Gastfreundschaft aufnahmen.
Lizzi war nicht im Hause, sie hatte es wieder zu ihrem Lieblingsplatz im Hafen von Cardiff gezogen, wo ihre ersten Träume von der Ferne entstanden waren. Sie musste ihre Gefühle ordnen. Warum ging ihr die Begegnung mit dem jungen Deutschen nicht aus dem Sinn? Ganz einfach, genau wie er hatte sie sich Hals über Kopf verliebt.
Bedrückt machte sie sich auf den Rückweg. Als sie die Haustür öffnete, blieb ihr fast das Herz stehen, als sie Wilhelms Stimme hörte. Freudestrahlend kam er ihr entgegen. Froh war sie, genau wie er, hatte sie sich doch rettungslos verliebt. Nun musste sie den Eltern die Wahrheit berichten. Nachdem der unvermeidliche Tee getrunken und die Cookies verzehrt waren, bat Eliza Wilhelm, sie zum Hafen zu begleiten, um ihm den Platz zu zeigen, wo ihr Traum von der Ferne angefangen hatte. Hand in Hand ließen sie sich auf einer Bank nieder, um den schönen Blick auf den Hafen zu genießen. Wilhelm verstand genau, wie sie empfunden hatte. Hier besprachen sie ihre Zukunftspläne.
Bis zu ihrer Verlobung 1896 blieb Eliza bei ihren Eltern, um dann eine lange Reise nach Port Elizabeth anzutreten. Sie musste ihre Verlobung mit Richard lösen und endgültig den Clarks Adieu sagen. Alle waren betrübt, wussten sie doch, dass sie sich wohl nicht wiedersehen würden. Der Abschied war für Eliza schwer, aber der Gedanke an Wilhelm war stärker als der Abschiedsschmerz. Endlich war sie wieder in Antwerpen bei ihrer großen Liebe.
Verlobungsanzeige von Wilhelm und Eliza.
Wilhelm wurde von seinem Mentor, Herrn Commerzienrat Lehnkering, beauftragt, die Leitung der Filiale in Antwerpen zu übernehmen. Er war mit seiner neuen Aufgabe vollauf beschäftigt und wie immer machte er das mit allem Eifer. Sein Entschluss stand fest, baldmöglichst zu heiraten. In der Zeit war es üblich, eine Frau nicht lange hinzuhalten. Auch, dass Lizzi drei Jahre älter war als er, war für ihn kein Hinderungsgrund.
Weihnachten 1896 verlobten sie sich. Nur selten gab es Gelegenheit, sich zu sehen. Das nahmen die beiden schwer Verliebten wahr. Wilhelm hatte eine kleine hübsche Wohnung in Antwerpen gefunden. Genau ein Jahr nach ihrem Kennenlernen heirateten sie am 6. September 1897.
Antwerpens besonderer Reiz ist die Lage des Hafens: nicht wie in anderen Städten außerhalb, sondern als Kernstück dieser wunderschönen Stadt. Wieder gefiel Lizzi die Möglichkeit, das Treiben im Hafen zu erleben. Die Liebe zu Antiquitäten hatte sie bei den Clarks in sich aufgenommen und Antwerpen bot ihr alle Gelegenheit, in Antiquitätenläden zu stöbern. Im Juni wurde das erste von vielen Kindern geboren, sie wurde Erin getauft. Lizzi gab ihr den Namen ihres Lieblingszöglings, den sie mit besonderer Liebe betraut hatte.
Für Wilhelm sollte ein ganz neuer Lebensabschnitt beginnen. Der Commerzienrat Lehnkering hatte ihn zu einem Gespräch nach Duisburg eingeladen. Er wollte Wilhelm die Aufgabe übertragen, in Emden die Filiale der Firma Lehnkering aufzubauen. Nach Fertigstellung des Dortmund-Ems-Kanals 1900 boomte Emdens Wirtschaft.
Der Lloyd hatte feste Verträge für die Einfuhr von Erzen übernommen. 1900 entstanden die Arbeiterwohnungen in Transvaal. Die Nordseewerke bauten ein Schwimmdock, es folgten die Brikettfabrik und die Tankanlage der Rütgerswerke. Die Cassens-Werft expandierte und die Werft Schulte & Bruns wurde erbaut. So verfügte Emden über drei Werften.
Das Gespräch hatte Wilhelm so beeindruckt, dass er diesem Anliegen sofort folgte. Zurück in Antwerpen musste er Lizzi in seine neuen Pläne einweihen. Nun sollte sie ihm, ohne ein Wort Deutsch zu verstehen, nach Deutschland folgen und dann auch noch in den hohen Norden. Irgendwie muss er sie überzeugt haben, schweren Herzens willigte sie ein. Es war schwer für sie, aber die Liebe zu ihrem Wilhelm sollte auch diese Hürde überwinden. Lizzi war traurig Antwerpen zu verlassen. Die Stadt war ihr schon nach kurzer Zeit zur zweiten Heimat geworden. Wie sollte sie soweit nördlich leben? In einem ihr so fremden Land und noch dazu in einem Landesteil, der noch um die Jahrhundertwende hinter dem Mond lebte? Das größte Hindernis war nach wie vor die Sprache. Aber sie hatte bei der Trauung ja gesagt und nun wollte sie ihrem Wilhelm folgen. Eine schwere Entscheidung!
Wilhelm musste nun eine Bleibe für die Familie finden. Anfangs wohnten sie in einem alten Patrizierhaus direkt am Delft, aber die Angst vor Ratten war bei Lizzi groß, also wurde weitergesucht. Wilhelm wurde fündig, er kaufte von einem englischen Ingenieur, der die Verkabelung des Telefons nach England und Amerika mit gestaltet hatte, eine Villa in der Parallelstraße. Lizzi war ganz angetan von dem Haus und auch der Garten entsprach ihren Vorstellungen.
Das Haus war gerade richtig für die immer größer werdende Familie. Bis 1910 wurde ein Kind nach dem anderen geboren. Der Reihe nach: 1898 Erin, 1901 Anni, 1905 Mary, 1907 Otto, 1909 Esther und last but not least 1910 Berni. 1905 wurde das Haus von Wilhelms Bruder Albert umgebaut. Albert war Professor an der Baugewerbe-Schule in Münster.
Lizzi legte besonderen Wert auf ein Badezimmer und Toiletten. Kommentar der Emder: „Nun sünd de Nübels heel un dall mall worden, dat se nun een elektrischen Kakerrie hebben!“ Wilhelm hatte große Freude am Aufbau der Firma, bald wurde er zum Direktor ernannt.
1911 kam ein beträchtlicher Zuwachs des Getreideumschlags und bald wurde der Binnenhafen ausgebaut. Als Nächstes stand der Bau der großen Seeschleuse an. Wilhelm kämpfte unermüdlich für die Größe des Projekts. Diese große Seeschleuse war eine der gewaltigsten der Welt. Obwohl damals keiner glauben konnte, dass es je Schiffe dieser Größe geben würde. Bei seinem Kampf hatte Wilhelm schon an die Zukunft gedacht.
Lizzi und Wilhelm liebten all ihre Kinder sehr und förderten sie auf allen Gebieten. Mittelpunkt des Hauses war die Diele. Onkel Professor hatte Lizzi zuliebe einen Kamin einbauen lassen, der durch Delfter Kacheln verziert wurde. Rechts des Kamins war die Bibliothek, die bis zur Decke mit kostbaren Büchern gefüllt war. Den Wintergarten hatte Onkel Professor in die Diele integriert, sodass ein Raum von sechzig Quadratmetern entstand. Auf gleicher Ebene lagen Wohn- und Esszimmer. Das Esszimmer wurde durch einen großen Tisch dominiert, an dem bis zu zwanzig Personen tafeln konnten.
Der große Esstisch.
Die große Rosenholz-Anrichte hatte Lizzi, typisch englisch, mit Silberstücken, einigen Blumen und einem Obstkorb dekoriert. Selbst ein Aufzug war eingebaut, der von der Küche im Souterrain Gesottenes und allerlei Köstlichkeiten ins Esszimmer beförderte. Besonders beeindruckend war die Treppe, die ins Obergeschoss führte: ausgelegt mit grünem Velours und als Kontrast das Geländer aus Ebenholz.
Bei der Einrichtung ließ Wilhelm seiner Lizzi freie Hand. Er kannte ihren sicheren Geschmack, auf den er sich voll verlassen konnte. Jugendstil war en vogue, sie bevorzugte edle Antiquitäten. Außerdem war sie zu sehr Individualist, um sich einer Mode anzupassen.
Im Gegensatz zu ihr war Wilhelm sehr modebewusst und fast ein wenig eitel. Wöchentlich kam Herr Zitov ins Haus, um Bart und Haare zu schneiden. Seine Anzüge ließ er bei der Firma Horstmann schneidern. Zur Anprobe kam ein Schneider aus Bremen, wo die Firma ansässig war. Seine Schuhe kaufte er in London. Lizzi war das völlige Gegenteil. Täglich fuhr Frau Binder von Dame zu Dame, um diese zu verschönern. Lizzi fand das überflüssig. Mit drei großen Schildpatt-Kämmen hatte sie im Handumdrehen ihre Hochsteckfrisur fertig.
Wilhelm war ein Vereinsmensch. Ob Kegelverein, Gesangsverein, Freimaurer-Loge, Ruderverein oder der Runde Tisch im Klub Zum guten Endzweck: Es machte ihm Freude, mit anderen Menschen gesellig zu sein. Auch in diesem Punkt waren die Beiden vollkommen verschieden. Lizzi ließ ihm jede Freiheit. Hauptsache, sie konnte zuhause bleiben. Bat er sie, ihn zu begleiten, hatte sie Migräne oder klagte über andere Unpässlichkeiten. Kaum war er fort, ging es ihr wieder blendend. Das war dann Gelegenheit für sie, sich ihren geliebten Büchern zu widmen. Ob es historische Romane oder persische Literatur waren, alles interessierte sie. Schon seit ihrer Kindheit war Lesen ihre Leidenschaft.
Musizieren war ein wichtiger Bestandteil des häuslichen Lebens. Für Wilhelm war Musik die Freude seines Lebens. Lizzi und die Kinder waren beglückt, wenn er die Zeit hatte, für sie zu singen und Klavier zu spielen. Diese Liebe zur Musik hat er an alle seine Nachkommen weitergegeben.
Von 1900 bis 1914 boomte die Wirtschaft in Emden weiter. Um mit England gleichzuziehen, baute Wilhelm II. die Kriegsflotte aus. Die deutsche Bevölkerung war ganz im Rausch von Preußens Aufstieg zur Größe. Von diesem Gefühl war auch Wilhelm beseelt.
Diese Entwicklung verfolgte Lizzi mit großer Sorge. Die Arroganz des kaiserlichen Deutschlands ängstigte sie, da sie wusste, dass auch der Hochmut ihres Vaterlandes als Weltmacht nicht zu unterschätzen war.
Die Weltlage wurde immer ernster, alles deutete auf einen Krieg hin. Zwei feindliche Lager standen sich gegenüber. Die Allianz Frankreich, England und Russland und auf der anderen Seite der streng geheime Dreierbund mit dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und Italien. Der Zerfall der Donaumonarchie drohte unaufhaltsam. Der Balkan wurde zum Pulverfass, weil Serbien die Unabhängigkeit vom Hause Habsburg forderte. Am 28. Juni 1914 kam es zur Katastrophe durch die Schüsse auf den Thronfolger Franz Ferdinand, dem Neffen von Kaiser Franz Josef, in Sarajewo. Einen Monat später, am 28. Juli 1914, erklärte Österreich Serbien den Krieg. Nun war Deutschland dem Vertrag mit Österreich verpflichtet und erklärte am 1. August zunächst Russland und am 3. August Frankreich den Krieg. Am 4. August erklärte schließlich England dem Deutschen Reich den Krieg, nachdem diese die belgische Neutralität gebrochen hatten, um Frankreich über die Nordost-Flanke – der berühmte Schlieffenplan – anzugreifen.
Von links: Anni, Berni, Mary, Otto, Lizzi, Erin, Esther.
Der Schock im Hause Nübel war unvermeidbar. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, die Ehe der Beiden auf eine heftige Probe zu stellen. Lizzi liebte ihr Land aus glühender Überzeugung und Wilhelm war dem Kaiser zutiefst verbunden.
Wilhelm war bereit, sich freiwillig zum Heer zu melden. Als Lizzi das erfuhr, war sie so außer sich, dass sie ihm mit Scheidung drohte. Welch eine Drohung in dieser Zeit! Augenblicklich ließ Wilhelm dieses Vorhaben wieder fallen.
Schwere Zeiten standen für alle Menschen, die in das Kriegsgeschehen verwickelt wurden, bevor. Von Jahr zu Jahr wurde die Versorgung mit Lebensmitteln schlechter, ausgelöst durch die Seeblockade der Weltversorgung. Ein Hauptgrund für die Ausweitung des Krieges war die Versenkung der RMS Lusitania durch ein deutsches U-Boot. England war empört, als 1915 deutsche Luftschiffe Londoner Zivilisten bombardierten. Bei fast 250 Angriffsfahrten wurden in England 557 Menschen getötet, etwa zwei Drittel der Luftschiffe gingen verloren, die meisten Besatzungsmitglieder verbrannten bei lebendigem Leibe.
Eine Hasswelle war losgetreten. In England begann eine Hetzkampagne gegen die barbarischen Hunnen, die von den Deutschen mit dem Spruch „Gott strafe England“ gekontert wurde. Lizzi litt unsäglich, es war eine schlimme Zeit für sie. Selbst gute Bekannte vermieden es, sie zu grüßen. Sie wichen aus oder wechselten den Bürgersteig.
Der psychische Druck war so stark, dass sie ihre Stimme verlor – sie sprach nicht mehr. Wilhelm brachte sie von einem Arzt zum anderen, immer mit der gleichen Diagnose, dass es sich um Stimmbandkrebs handele. Später stellte sich heraus: es war nicht Krebs, sondern der Krieg hatte sie sprachlos gemacht. Der Krieg nahm unvorstellbare Formen an. Mein Gott, was geschah an der Ost- und Westfront.
Im Krieg hatte das Militär den Emder Hafen beschlagnahmt. So wurden Kriegsgüter über Schiffe transportiert, um die Eisenbahn nur für Truppentransporte für die Versorgung in Ost und West freizuhalten. Im Westen erstarrte es sich zu einem Stellungskrieg, der ungeheuerliche Verluste an Mensch und Material erforderte. Im Osten gelang es Hindenburg und Ludendorff, die Russen bei der Schlacht bei Tannenberg zu besiegen.
Am 6. April 1917 erklärte Amerika Deutschland den Krieg. Das war der Anfang vom Ende. Die Amerikaner verfügten über riesige Ressourcen. Dem hatte Deutschland nichts mehr entgegenzusetzen.
Fast alle Menschen hungerten zu diesem Zeitpunkt, aber Wilhelm schaffte es dennoch, genügend Essen für die Familie und Freunde zu beschaffen. Nach fast vier Jahren kam das Ende des Krieges.
Der Krieg, welch ein Kapitel, wie Emden ihn erlebte und ertrug. Wie gelähmt stand plötzlich alles still. Hafen und Betriebe lagen am Boden, eine beklemmende Betroffenheit begleitete die Katastrophe. Nur ganz langsam kam alles wieder in Gang. Aber im Krieg war nicht alles nur negativ. Die vier großen Kräne am Erzkai wurden modernisiert, aber auch die Eindeichung bis zur Knock wäre ohne das Kriegs-Desaster nicht so schnell vorangetrieben worden.
Die Wirtschaftsblockade hatte tiefe Wunden hinterlassen. Das Ruhrgebiet wurde von den Franzosen besetzt, es begann der Verfall der Währung, worauf dann die Inflation folgte. Millionen Arbeitslose ließen die Volksseele hochkochen. Vor dem deutschen Volk lagen schwere Jahre mit unvorstellbarem Verzicht. Der Schandvertrag von Versailles traf fast alle Schichten. Nur die Kriegsgewinnler, unter anderem Großkonzerne, machten Geld aus dem Elend. Nun kamen die berühmten Zwanziger Jahre, die einige Schichten in Saus und Braus leben ließen.
Wilhelm war Chef der Firma Lehnkering in Emden. Schon 1919 wurde ein Teil des Firmensitzes von Emden nach Hamburg verlegt. Dem zu Folge musste Wilhelm oft nach Hamburg reisen. Das nahm er zum Anlass, seine Töchter mitzunehmen, um ihnen die herrliche Stadt näherzubringen. Tagsüber wurden die kleinen Damen von der Frau eines Geschäftsfreundes betreut, abends aber nahm der liebevolle Vater die Gelegenheit wahr, seine Töchter ins Theater, in die Oper oder in das Varieté Haus Vaterland auszuführen.
1920 bekam Wilhelm das Angebot, in leitender Position für einen Großkonzern tätig zu werden. Augenblicklich lehnte er ab. Für ihn waren diese Großkonzerne wie Polypen, die ihre gierigen Arme ausstreckten, um einen Betrieb nach dem anderen zu schlucken – ihm reichte der Konzern-Egoismus!
Wilhelm gründete zusammen mit dem Kaufmann Hermann Fritzen die Emder Dampferkompagnie. Das war der Anfang seiner Selbständigkeit. Nach dem Krieg kam Lizzis Stimme langsam wieder. Wie schwer waren die Jahre gewesen, auch für Mann und Kinder, in denen sie nicht sprechen konnte. Unter dem Zusammenbruch des Vaterlandes litt Wilhelm nach wie vor. Am 9. November 1918 wurde die Weimarer Republik ausgerufen, Kaiser Wilhelm II. wurde ins Exil verbannt. Ein Schlag ins Gesicht für Großvater!
Die Inflation schlich langsam voran, die Entwertung des Geldes mit sich bringend. Die Arbeitslosen wurden zu einem immer größeren Problem. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gründeten die kommunistische Partei und hatten regen Zulauf in der deutschen Bevölkerung.
Bei der Familie Nübel war wieder viel Trubel im Haus. Die vier Töchter wuchsen zu hübschen jungen Damen heran und das hatte zur Folge, dass einige junge Herren um ihre Gunst buhlten. Wilhelm lud ohne Ende Gäste ein. Lizzi hatte alle Hände voll zu tun, um der Gästeschar gerecht zu werden. Unterstützt von ihrer Hilfe Koba stand sie den gesamten Vormittag in der Küche, um zu kochen, zu brutzeln und zu backen. Wilhelm war um seine Lizzi besorgt und bat sie ständig, sich mehr Hilfe zu gönnen. Das aber wies sie weit von sich, sie wollte ihr Reich nicht mit noch einer Hilfe teilen.
In ihrer Küche gingen Menschen ein und aus. Alle versorgte sie mit Tee und Fleischbutterbroten. Für den Boten Herrn Meinders kaufte sie extra eine Barttasse, um ihm das Trinken des Tees zu erleichtern. Für viele Bedürftige wurde sie zur rettenden Anlaufstelle. Keiner ging ohne tröstende Worte fort. Wilhelm tolerierte alles, was sie tat. Auch für ihre Mitmenschen wollte sie da sein.
Damen ihres Standes hatten ihre regelmäßigen Kränzchen, um dem Klatsch zu frönen. In deren Salons wurde auch viel über Mode und Kindererziehung diskutiert. Aus dieser Welt hatte sich Lizzi endgültig verabschiedet. Die Erfahrungen während des Weltkrieges hatten sie gelehrt, dass diese Lebensweise absolut nicht in ihr Lebenskonzept passte.
Das raue Klima in Emden machte ihr zunehmend zu schaffen. Aus einer chronischen Bronchitis war Asthma geworden. Immer wieder schickte Wilhelm sie zur Kur nach Bad Ems. Noch besser war es, wenn sie nach Ende des Weltkrieges gemeinsam nach Südengland fuhren. Dann war sie wie befreit.
Wenn man die Eltern von Wilhelm in ihrer Strenge und Vaterlandsliebe erfasste, konnte man sich vorstellen, wie fremd es ihnen war, dass ausgerechnet Wilhelm eine Engländerin geheiratet hatte. Das war eine Kröte, die sie schlucken mussten. Lizzi war so welterfahren und so offen für Alles. Eben ganz anders, als die Frauen ihrer Generation.
Das Ehepaar Nübel.
Das Frühstück nahm Wilhelm stets allein im Esszimmer zu sich, um in Ruhe die Zeitung zu lesen. Zu diesem Zeitpunkt kam allmorgendlich der Blumenhändler, um eine frische Blume für das Knopfloch des Hausherrn zu liefern. So eitel war Wilhelm!
Lizzi und Wilhelm planten, am Ende des Gartens ein Gartenhaus zu bauen. Es sollte vor allem Rückzugsort für Wilhelm werden. Eine Episode, die sich um das Gartenhaus rankt, muss ich hier niederschreiben. Um ungestört sein Mittagsschläfchen halten zu können, zog sich Wilhelm in das Gartenhaus zurück. Hier hatte er ein Sofa mit Wolldecke. Wie schon erwähnt war er sehr auf sein Äußeres bedacht. Als er eines Tages einen Flohstich an seinem gepflegten Körper entdeckte, war er so empört, dass er seine Kinder verdächtigte. Nur sie hätten diesen Floh aus dem Kino eingeschleppt. Bei Nübels wurde nie eine Tür abgeschlossen und nach kurzer Beratung beschloss man, das Gartenhaus zu bewachen. Der Täter war rasch gefunden. Es war ein Obdachloser, der für gemütliche Nächte das Gartenhaus ausgewählt hatte. Wilhelm stellte ihn zur Rede. Der Obdachlose war so beschämt und Wilhelm hatte sofort Mitleid mit dem armen Kerl. Er sagte nur: „Mein Herr, bitte überlassen sie mir in Zukunft mein Sofa. Aber sie dürfen sich täglich bei meiner Bürokraft Geld für Essen und Unterkunft abholen.“ So geschah es über etliche Jahre. Das war Wahrung der Menschenwürde. Was das anbetraf, waren Lizzi und Wilhelm eines Sinnes in ihrer Hochherzigkeit.
Im Jahre 1919 hatte sich die älteste Tochter Erin unsterblich in einen bildhübschen, aber viel älteren Offizier verliebt. Die Eltern sahen genau, dass jedes Eingreifen vergeblich sein würde. Lizzis Rat an die Tochter: „Eine Frau muss immer für den Mann und die Kinder da sein und das mit aller Hingabe. Lerne, deiner Familie zu dienen.“ Wilhelms Worte an seine Tochter: „Was Frauen anbetrifft hat dieser Herr seine Erfahrungen hinter sich. Aber glaube mir, eine Frau muss nicht die erste Liebe eines Mannes sein, sie sollte aber Sorge tragen, die letzte Liebe zu bleiben.“ Die Hochzeit wurde im Klub Zum guten Endzweck gefeiert. Zu gleicher Zeit wurde das Dachgeschoss ausgebaut, das Telefon modernisiert und das Haus mit einer Zentralheizung versehen.
Das Gartenhaus: Hierin zog sich Wilhelm öfter zurück.
Politisch waren es unruhige Zeiten. Alliierte Truppen besetzten Düsseldorf und Teile des Ruhrgebietes. Deutschland musste Reparationen von 132 Milliarden Goldmark anerkennen, eine nicht zu tragende Last.
Wilhelm war ein in die Zukunft blickender Mensch. Unter seinem Vorsitz wurde am 17. April 1923 die Höhere Handelsschule in Emden gegründet. Schon damals war Bildung eine wichtige Voraussetzung für das künftige Leben junger Menschen. Wilhelm war Vorsitzender der Emder Kaufmannschaft und des Handelsvereins. Wie etliche Emder Herren, genannt seien der Emder Oberbürgermeister Leo Fürbringer (1843-1923) und der Oberregierungsrat im preußischen Ministerium für öffentliche Arbeiten Carl Schweckendieck (1843-1906), war er immer um das Wohl der Stadt Emden bemüht. Allein durch die Gründung der Höheren Handelsschule hatte Wilhelm Spuren getreten. Bis heute bewundere ich diesen Großvater.
1924 kam dann der Dawes-Plan, der die deutschen Reparationszahlungen regeln sollte und amerikanische Kredite zur Ankurbelung der Wirtschaft vorsah. Nach dem Tod von Friedrich Ebert wurde Hindenburg 1925 zum Reichspräsidenten gewählt. Es kam zu einem Rechtsruck und auch die NSDAP wurde gegründet. Die Verträge von Locarno, unterzeichnet von Aristide Briand und Gustav Stresemann, ebneten nun den Weg für die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund. Damit verbunden war auch das Ende der Rüstungsüberwachung durch die Siegermächte.
Wilhelm Nübel, hier in späteren Jahren, gehört zu den Gründungsmitgliedern der Höheren Handelsschule in Emden.
Wilhelm war in diesen Jahren voller Pläne, 1924 gründete er in Rotterdam die Firma Wilhelm Nübel Schiffsmaklerei und Spedition