Die letzte aus dem Hause Wulfenberg - Anny von Panhuys - E-Book

Die letzte aus dem Hause Wulfenberg E-Book

Anny von Panhuys

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Beschreibung

"Liebe Margarete, du weißt, daß du eine Prinzessin von Wulffenberg bist, die Tochter des letzten Fürsten Wulffenberg, daß du also keine beliebige Person bist, die tun und lassen kann, was sie mag, wie etwa die Töchter der Bauern. Du heißt nicht Dinges und heißt nicht Krause, auch nicht Müller und Schulze. Menschen mit solchen Namen mögen tun, was sie wollen, niemand fragt danach und sie brauchen auf niemand Rücksicht nehmen. Wir aber müssen stets unseres Namens eingedenk sein." So Margaretes Großmutter, die Fürstin Alexandra von Wulffenberg, eine unsagbar hochmütige, adelsstolze Frau. Aber was nutzt Margarete ihre blaublütige Herkunft? Das Fürstentum Wulffenberg existiert längst nicht mehr und nur der Titel erinnert noch an die Macht, die Margaretes Vorfahren einst besaßen. Zudem liebt die Fünfzehnjährige den Umgang mit einfacheren, bürgerlichen, "normalen" Menschen und hegt mit Hans Westfal, der ihr einst das Leben gerettet hat, seit jeher eine innige Kinderfreundschaft, die nun dabei ist, mehr als nur eine Kinderfreundschaft zu werden. Doch die eitle Großmutter drängt die Prinzessin in eine standesgemäße Ehe mit dem wenig geliebten Prinz Erwin Rödnitz. Hans verlässt die Seite der Prinzessin und zieht enttäuscht in die weite Welt hinaus. Als aus dem fernen Indien die Nachricht von seinem Tod nach Deutschland gelangt, ist die junge Margarete Rödnitz zutiefst erschüttert. Dann wird Margarete auch noch von ihrem Mann verlassen, der sich tief verschuldet, in ein fernes Land – Mexiko? – begibt, um in der Ferne sein Glück zu suchen. In seinem Abschiedsbrief teilt er der jungen Frau noch brüsk mit, dass er sie ohnehin längst nicht mehr liebt. Die Letzte der Wulffenbergs scheint plötzlich ganz allein auf der Welt dazustehen. Aber das scheint nur so ... Ein packender, opulenter, vielfältiger Roman über Anny von Panhuys' Lieblingsthema: das bitteren Geschick eines verarmten, förmlich anachronistisch gewordenen Adels in einer bürgerlich entzauberten Welt und das Streben nach Versöhnung zwischen beiden Welten.-

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Anny von Panhuys

Die letzte aus dem Hause Wulfenberg

Roman

Illustriert von Adolf Wald

Saga

Die letzte aus dem Hause Wulfenberg

© 1953 Anny von Panhuys

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711570241

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Die Fürstin Alexandra von Wulffenberg sah sehr ernst und feierlich aus, als sie, sich kerzengerade aufrichtend in ihrem Armstuhl, die rechte Hand ihrer fünfzehnjährigen Enkelin, Prinzessin Margarete, erfasste.

In ihren halb unter schweren Lidern versteckten grauen Augen entglomm ein matter Schein von Wärme.

„Liebes Kind, du bist heute fünfzehn Jahre alt geworden und vernünftig genug, um mich schon zu verstehen, wenn ich dir von wichtigen, bedeutungsvollen Dingen rede.“ Sie liess die kleine Hand frei. „Setze dich auf den Hocker hier zu meinen Füssen, Margarete. So! Und nun höre zu, was ich dir mitteilen will.“ Sie sah auf das überschlanke Geschöpf nieder. „Schau mich an, Margarete!“ gebot sie.

Die Enkelin hob den Blick.

Tiefblaue Augen hatte das Mädchen, von unwahrscheinlich langen und dichten Wimpern umrahmt, und von kühn geschwungenen dunklen Brauen überspannt. Das Haar war glatt und schwarz, glänzend wie Rabenfittig, doch war es kurz und unschön verschnitten. Die feinen Züge waren unregelmässig und von gelblicher Blässe, der kleine Mund sehr rot, wie eine reife, blutfarbene Frucht.

Fürstin Alexandra, geborene Prinzessin Winterstein, war einmal berühmt gewesen wegen ihrer blonden, kühlen Schönheit. Sie fand die Enkelin hässlich.

Aber ihr Sohn hatte ja nicht auf sie hören wollen, hatte die braune, arme ungarische Komtesse geheiratet, eine Waise, die bei nicht allzu wohlhabenden Verwandten auf einem Gutshof weit draussen auf der Pussta untergekrochen war, bis er sie gelegentlich eines Jagdbesuches dort kennenlernte und schnell entschlossen zur Fürstin von Wulffenberg machte.

Bei der Geburt des kleinen schwarzhaarigen Töchterchens war sie gestorben.

Ihr Mann folgte ihr bald. Ein Wilderer sollte ihn erschossen haben.

Doch ward der Mörder nie aufgespürt.

Schade auch um das Suchen! hatte seine Mutter oft gedacht, denn sie wusste genau, ihr Sohn Ulrich hatte seinem Leben freiwillig ein Ende gemacht, weil seine angebetete Frau Aglaé ihn für immer verlassen hatte.

Da dachte er nicht mehr an seine Mutter, nicht mehr an sein erst wenige Tage altes Kind, da dachte er nur an sich und erlag der Versuchung, richtete die Waffe gegen sich selbst, weit draussen im Wald.

Doch sie trat dem Gerücht, dass ihr Sohn Selbstmord verübt, heftig entgegen, sie erzwang ihm eine so christliche Bestattung, wie sie dem letzten Fürsten Wulffenberg gebührte.

Die erwartungsvollen dunkelblauen Augen Margaretes rissen die alte Dame aus ihren in die Vergangenheit rückwandernden Gedanken. Das Schreckliche, das Schrecklichste, als man ihr den toten Sohn heimbrachte, war ja lange her, fast fünfzehn Jahre.

Ein paar Tage nach Margaretes Geburt geschah es.

Sie nickte der Enkelin zu in der Art, wie vielleicht eine unnahbare Herrscherin, die leutselig zu sein beabsichtigt, früher eine Audienz eröffnete.

Ihre schmalen Hände, durch deren zarte Blumenblatthaut die Adern bläulich schimmerten, lagen lässig im Schosse, das herbe, hochmütige Gesicht, um das sich schneeweiss das einst goldblonde Haar bauschte, zeigte einen Anflug von Farbe.

„Liebe Margarete, du weisst, dass du eine Prinzessin von Wulffenberg bist, die Tochter des letzten Fürsten Wulffenberg, dass du also keine beliebige Person bist, die tun und lassen kann, was sie mag, wie etwa die Töchter der Bauern.“

Margarete unterdrückte nur mühsam den Seufzer, der sich ihrer Brust entringen wollte.

Fürstin Alexandra aber war eine gute Beobachterin.

„Tut es dir etwa leid, dass ich dir nicht erlauben konnte, mit Bauer Dinges seinen Kindern herumspringen oder mit Müller Krauses frecher Liesel?“

Margarete wollte nicht lügen, denn sie hätte wer weiss was dafür gegeben, wenn sie sich ab und zu mit den Dorfkindern hätte unterhalten dürfen.

Sie schwieg.

Fürstin Alexandra dachte, da rührt sich das Blut der wilden Pusstakomtesse, die des Kindes Mutter gewesen.

Sie sagte hart: „Du heisst nicht Dinges und heisst nicht Krause, auch nicht Müller und Schulze. Menschen mit solchen Namen mögen tun, was sie wollen, niemand fragt danach und sie brauchen auf niemand Rücksicht nehmen. Wir aber müssen stets unseres Namens eingedenk sein.“

Das Mädchen sagte hastig: „Du erzähltest mir doch immer, Grossmama, wir haben keine nahen Verwandten mehr, nur wir beide brauchten noch zusammenzuhalten. Auf wen muss ich denn eigentlich noch Rücksicht nehmen?“

Die alte Dame sah unendlich hochmütig aus bei der Antwort.

„Auf deine Ahnen musst du Rücksicht nehmen, auf alle die Fürsten und Fürstinnen Wulffenberg, die vor uns gelebt haben, deren Bilder in der Bibliothek hängen. Die Fürsten Wulffenberg hatten früher viel mitzureden in Deutschland und sie waren Herren über weites Land. Sie regierten sogar, Gewalt über Leben und Tod ihrer Untertanen war ihnen gegeben. Und nun, Kind, will ich dir davon sprechen, was mir heute am Herzen liegt.“

Sie lächelte jetzt ein wenig.

„Das Fürstentum Wulffenberg existiert längst nicht mehr, nur der Titel erinnert noch an die Macht, die unsere Vorfahren einst besassen. Nur der Titel und die Krone der früheren Frauen unseres stolzen Hauses. Seit Generationen vererbt sie sich von Frau zu Frau in unserer Familie, und wenn auch seit mehr als hundertfünfzig Jahren keine Fürstin Wulffenberg mehr offiziell die Krone trug, so schmückten sie sich doch bei ganz besonderen Gelegenheiten mit dem Symbol ihrer Würde. Zum Beispiel trug sie jede Braut, die vor den Altar trat, um Fürstin Wulffenberg zu werden, über dem Brautschleier. Zuletzt zierte sie das Haupt deiner Mutter, vor ihr trug ich sie. Diese Krone ist das Heiligste und Wertvollste, was uns von allem ehemaligen Glanz geblieben ist. Und weil ich nicht weiss, wie lange ich noch lebe — es kann mir ja auch unerwartet etwas zustossen — will ich dir die Krone und ihren Aufbewahrungsort zeigen, will von dir schon heute das Versprechen, dass du, was dir auch die Zukunft bringen mag, die Krone ehren wirst, wie es sich gebührt. Du wirst hoffentlich einmal einen Mann heiraten, dessen Namen dem unseren ebenbürtig ist, dann mag das alte Erbstück in der Familie der letzten Wulffenberg pietätvoll aufgehoben werden, durch neue Generationen.“

Margarete schwirrte der Kopf, sie wusste nichts zu sagen. Alles, was die Grossmama gesprochen, klang so schwer und wichtig, legte sich wie eine drückende Last auf ihre schmalen Schultern.

Fürstin Alexandra erhob sich, ihr schwarzes, kreppbesetztes Kleid fiel an ihrer aufrechten Gestalt weitfaltig nieder. Sie trug seit dem Tode des Sohnes ständig Trauergewänder, und wenn sie ausfuhr mit der alten Kalesche, wogten langfallende düstere Schleier um das hochmütige, blasse Frauengesicht.

Sie verriegelte erst die Zimmertür, trat dann an die eine Seitenwand des von meterhohem Holzpaneel eingefassten Gemaches.

Das Paneel zeigte, in köstlicher alter Arbeit von peinlichster Sorgfalt, hochgeschnitztes Blumengerank und Früchte, wie Trauben und Aepfel.

Sie rief Margarete an ihre Seite, unterwies sie, wie man eine etwas kräftiger geschnitzte Weintraube in der Mitte teilen konnte, worauf eine Feder frei ward, auf die man drücken musste, um eine schmale Tür zu öffnen, die sich unauffällig in das Paneel einfügte.

„Komm!“ Sie nahm von ihrem Schreibtisch eine wohl vorher schon zurechtgelegte elektrische Taschenlaterne und führte, das Licht aufblitzen lassend, die Enkelin eine zehn Stufen zählende Treppe hinunter.

Beklommen folgte Margarete.

Sie vermochte sich gegen den unheimlichen Schauder nicht zu wehren, der ihr über den Körper lief, als sie den engen, von feuchten Kellerwänden begrenzten Gang betrat, auf dem ihr die alte Dame stolz und aufrecht voranschritt.

Der kleine Lichtkegel der Taschenlaterne schob voraus und Margarete musste unwillkürlich an den alten Märchenvers denken: Hinter mir Nacht und vor mir Tag, dass mich niemand sehen mag!

Der Gang hatte ein Ende, erweiterte sich plötzlich zu einem kaum drei Meter im Durchschnitt breiten Raum, der wie eine kleine Kapelle eingerichtet war.

Ein Tisch mit einem grossen Kruzifix, das auf schön gestickter Decke stand, fiel zuerst in die Augen. Die Wände waren mit Teppichen bekleidet und neben dem Kruzifix stand ein nicht allzugrosser antiker Kasten mit gehämmerten Eisenbeschlägen. Zwei schwere, silberne Leuchter mit nur wenig niedergebrannten Kerzen flankierten den Kasten.

Fürstin Alexandra holte unter der gestickten Decke Streichhölzer hervor, gleich darauf erstarb das elektrische Licht, die Kerzen flackerten auf.

Die alte Dame zog aus ihrem winzigen Halsausschnitt ein Kettchen hervor, an dem ein Schlüssel hing, und öffnete damit den Kasten, dessen Deckel sich plump hob und ein mit rotem, verschabten und brüchigem Samt ausgepolstertes Innere sehen liess.

Die schmalen, blaugeäderten Altfrauenhände langten in den Kasten, holten etwas Dunkelgoldenes, gross wie eine Männerfaust, daraus hervor, das mit einer Reihe von kleinen weissen und grünen Steinen umrandet war, die sich nach vorn vergrösserten und ganz vorn in vier kreuzförmig geordneten, daumennagelgrossen Steinen ihren Abschluss fanden.

Margaretes Auge blickte ehrfürchtig, als die alte Dame langsam und betont sagte: „Das ist die Krone der Fürstinnen von Wulffenberg. Unser alter Name ist mit deinem Vater im Mannesstamm erloschen, es wird nie mehr eine Fürstin Wulffenberg geben.“

Sie blickte hochmütig und zugleich wie verzückt auf die kleine geschlossene Krone.

„Schwöre mir auf das Kruzifix, dass du das Wertvollste, was unserem Hause geblieben ist, stets achten und ehren wirst, dass du die Krone beschützen willst vor Schimpf und Missbrauch, und sie nie verändern wirst. Ich meine, dass du nie daran denken sollst, etwa die Smaragden und Brillanten für irgendwelche moderne Schmucksachen umarbeiten zu lassen, dass du nie die Echtheit der uralten, köstlichen Steine antasten willst, die den Wert eines anständigen Vermögens repräsentieren, wenn nicht alleräusserste Not, die mit deiner Ehre verknüpft ist, dich dazu zwingt.“

Die fünfzehnjährige Prinzessin sah erschreckend bleich aus.

Die ganze Szenerie wirkte auf ihr noch kindliches Gemüt beunruhigend. Sie zitterte.

Die Fürstin legte mitleidig einen Arm um die sehr schmale Gestalt der Enkelin.

„Bist du dir der Wichtigkeit dessen, was du beschwören sollst, voll und ganz bewusst, Margarete?“

Das Mädchen erwiderte ernst den Blick der alten Dame.

„Willst du beschwören, was ich von dir forderte?“

„Jawohl, Grossmama!“

„Dann hebe die Schwurfinger auf und lege sie auf das Kruzifix, sage: ‚So wahr mir Gott in meiner letzten Stunde helfen möge, ich will in jeder Beziehung die Tradition der Krone unseres Hauses achten und ehren, soweit es in meinen Kräften steht, im Sinne meiner einzigen Verwandten, der Fürstin Alexandra von Wulffenberg!‘“

Fest und klar sprach die helle Mädchenstimme die Worte nach

Die weisshaarige Dame schien zufrieden, ihre Züge lösten sich ein wenig, wurden gütiger.

Sie schloss den Kasten wieder, reichte Margarete einen Schlüssel.

„Es gibt zwei Schlüssel zu dem Kasten, den einen davon sollst du von heute an bewahren, den andern hebe ich weiter auf bis zu meinem Tode, dann gib den meinen jemand, dem du voll vertraust.“

Das junge Mädchen nahm mit einem Gefühl von Stolz den Schlüssel entgegen.

Die Fürstin sagte leise: „Jetzt sollst du noch ein Geheimnis kennen lernen, das du wohl nie brauchen wirst. Aber es schadet dir auch nichts, wenn du es erfährst.“

Sie schob den Tisch von der Wand ab, hob den Teppich dahinter, und eine Oeffnung zeigte sich, knapp hoch und breit genug, um einen nicht allzu dicken Menschen gebückt hindurch zu lassen.

„Folge mir!“

Die elektrische Taschenlaterne trat wieder in Tätigkeit, der Lichtkegel erhellte einen neuen schmalen Gang, ähnlich dem, durch den man hierhergekommen. Doch ward dieser immer niedriger, nur tief gebeugt kam man vorwärts, um dann Halt zu machen vor einer glatten Steinplatte.

Die alte Dame flüsterte sehr leise, als fürchte sie, irgendwer könne sie hören: „Jenseits dieser Platte befindet sich der Dorffriedhof, und wenn man diese Platte stark nach rechts drückt, öffnet sie sich wie eine Schiebetür.“

Schon zeigten die alten und doch noch kraftvollen Hände der Fürstin, was ihr Mund eben erklärt.

Margarete, halb von kindlicher Neugier, halb von der Spannung getrieben, die diese ganze geheimnisvolle Sache in ihr erweckt, kletterte durch die Oeffnung und stand dann in der Gruft der Wulffenbergs, die sie genau kannte.

Nur war sie bisher stets vom Dorffriedhof hier eingetreten, hatte nicht geahnt, dass die Tafel in der Wand, auf der das Wappen der Familie, zwei Wölfe auf einer Erhöhung, eingraviert war, die Stelle einer Tür vertrat.

„Wir müssen auf demselben Weg zurück,“ flüsterte die Fürstin, „für den Notfall liegt dort drüben in der Urne ein Schlüssel der Grufttür, man kann sie von innen aufschliessen und ist dann auf dem Friedhof. Vor viel über hundert Jahren, als feindliche Kriegsbanden unserer Gegend nahten, hat ein Wulffenberg ein altes Schlossgeheimnis, das ihm die Sage überlieferte, wieder erweckt aus langer Vergessenheit.

Ehe die feindlichen Soldaten brandschatzend nahten, lagen schon alle Werte im Kellergange und die Herrschaft floh bei Nacht durch die Gruft und über den Friedhof zu Nachbarn. Die Teppichbekleidung der Wände, die Decke auf dem Tisch, die silbernen Leuchter sind von deinen Eltern arrangiert worden.“

Margarete atmete gepresst. Dass das ruinenhafte Schloss Wulffenberg so ein romantisches Geheimnis barg, war eigentlich wundervoll.

Durch den niedrigen Gang kehrten die beiden zurück in den kleinen Raum, wo noch immer die Kerzen flackerten, die von der alten Dame gelöscht wurden.

Wenige Minuten danach befand sich Margarete wieder in dem Wohnzimmer der Fürstin im Erdgeschoss, darin sich diese tagsüber am liebsten aufzuhalten pflegte, und sie hätte gemeint, alles wäre nur ein Traum gewesen, wenn ihre Augen nicht deutlich erkannt hätten, dass die eine Weintraube viel stärker in der Form war, als die anderen Früchte in dem prachtvoll geschnitzten Paneel.

Fürstin Alexandra reichte der Enkelin die Hand, über die sich das schmale Mädchen zum Kusse neigte.

„Nun gehe zu deinen Geschenken und zu Fräulein von Stein, mich hat die Unterredung erregt, ich möchte bis zum Mittagessen allein und ungestört bleiben.“

Margarete verliess das Zimmer, suchte ihr Mädchenstübchen auf. Doch beachtete sie den Geschenktisch, den ihr die Grossmama heute früh aufgebaut, kaum. Sie sass am Fenster, starrte in das Geäst der Parkbäume und erschrak, als Fräulein von Stein eintrat.

„Sie haben mein Anklopfen überhört, Prinzessin,“ sagte sie wie entschuldigend.

Margarete wandte ihr blasses Gesicht der hübschen, rotwangigen Dame zu, die zugleich ihre Lehrerin und Gesellschafterin war und ungefähr sieben Jahre älter sein mochte als sie selbst.

Margarete lächelte.

„Grossmama hört es ja nicht, Else. Sage nur ruhig du zu mir wie sonst, wenn mich meine steife Würde langweilt.“

Else von Stein nickte.

„Ach, Gretel, eigentlich hätte ich nie so keck sein dürfen, wie du es gewünscht. Erwischt uns die Fürstin einmal bei den Vertraulichkeiten, dann fliege ich.“

Die Prinzessin stimmte zu.

„Das ist sicher, Else, aber wir nehmen uns ja in acht. Ich höre es so gern, wenn man zu mir ‚Gretel‘ sagt. Und jetzt muss ich in den Park. Hans Westfal will mir gratulieren. Um zwölf Uhr wird er kommen.“

Else von Stein fuhr sich über das hellbraune, leicht gelockte Haar, das sich in Schneckenform über die Ohren legte.

„Gretel, die heimlichen Zusammenkünfte mit dem Sohn des Dorfschmiedes müssen bald ein Ende nehmen. Ihr seid beide keine Kinder mehr. Du bist fünfzehn und er einundzwanzig. Ich bitte dich, das geht doch nicht.“

Die Prinzessin lächelte ganz sanft.

„Natürlich geht es. Ich habe dir doch erzählt, was Hans Westfal für ein Held ist. Er hat mich, als ich durchs Dorf spazierte, vor einem durchgehenden Pferd zurückgerissen. Ich war damals acht Jahre, er vierzehn, und er war auf Ferien hier vom Gymnasium. Jetzt hat er wieder Ferien, er ist doch nun auf der technischen Hochschule in Charlottenburg.“ Sie zog die feinen Brauen dicht zusammen. „Er ist riesig gescheit, und er sagt, er wird später mal ein ganz Grosser in seinem Fach werden. Ich glaube das auch bestimmt.“

„Aber, Gretel, es gehört sich nicht, dass eine Prinzessin Wulffenberg sich immer heimlich mit dem Sohn des Dorfschmiedes trifft, wenn er auf Ferien heimkommt. Als ihr jünger waret, mochte es ja noch angehen, aber jetzt musst du damit aufhören, ihn im entlegenen Teil des Parkes zu empfangen.“

„Liebe Else, ich begreife nicht, weshalb du mir die harmlose Freude vergällen willst. Ich habe Hans Westfal furchtbar gern, und wer weiss, wie oft ich ihn noch sehen kann. Denn wenn sein Studium abgeschlossen ist, will er ins Ausland, sich den Wind um die Nase wehen lassen, wie er sagt. Vielleicht kommt er dann überhaupt nicht mehr wieder, und heiraten wird er ja auch mal, dann ist’s doch vorbei mit unseren netten Plauderstündchen.“

Else von Stein dachte gerührt, sie durfte dem kindlichen Geschöpf die Harmlosigkeit nicht nehmen. Margarete ahnte nicht, dass Hans Westfals einundzwanzig Jahre vielleicht Hoffnungen und Träume hegten, die ihm das Leben nicht erfüllen würde, denn Margarete Wulffenberg war zum grossen Teil ein Erziehungsprodukt der hochmütigsten, adelsstolzesten Frau, die sie kannte.

Die Letzte aus dem Hause Wulffenberg würde niemals einem Unebenbürtigen die Hand zum Bund fürs Leben reichen.

„Du warst vorhin lange bei der Fürstin, Gretel,“ sagte Else von Stein.

Es klang ein wenig fragend.

Die Jüngere nickte.

„Grossmama besprach Familienangelegenheiten mit mir,“ erwiderte sie kurz.

Else von Stein kannte den Ton, in dem eine leichte Mischung von dem Hochmut der Fürstin war.

Sie lachte: „Nicht wahr, jetzt soll ich wieder ‚Prinzessin‘ und ‚Sie‘ sagen?“

„Verzeihung, Else, ich würde dir gern erzählen, was Grossmama mit mir redete, aber ich besitze kein Recht dazu.“

Else von Stein erwiderte ernst: „Du weisst, Gretel, ich bin nicht neugierig. Aber du solltest dich heute an deinem Geburtstag doch etwas eleganter anziehen.“

Margarete lachte fast übermütig.

„Wenn man dich so hört, könnte man meinen, mir ständen mehrere reichgefüllte Kleiderschränke zur Verfügung. Und ausser dem grauen Leinenkittel verfüge ich doch nur noch über ein rosa und ein weisses Waschkleid. Drei Kleider für den Sommer, zwei für den Winter, das ist mein Toilettenarsenal, das weisst du.“

„Also entscheide dich für das weisse, ich stecke dir eine Rose an und dann siehst du festlich genug aus.“

Die Jüngere nickte vergnügt.

„Natürlich, was mir sonst noch an Glanz fehlt, ersetzt mein Titel.“

Sie ging an den lackierten schmalen Schrank, entnahm ihm ein sehr schlicht gearbeitetes weisses Stickereikleid, das sie, den grauen Hänger abstreifend, überwarf.

Else von Stein sah ihr dabei zu.

„Früher hätte ich mir nicht vorstellen können, dass sich eine leibhaftige, waschechte Prinzessin so ohne jede Hilfe anzuziehen versteht. Meine Urgrossmutter war Hofdame bei deiner Urgrossmutter, die aus russischem Fürstenhaus stammte. Meine selige Mutter erzählte mir noch von dem, was Urgrossmutter einst erzählte. Dass bei der Toilette der aus Russland gebürtigen Dame vier Zofen herumknicksen mussten und zwei Hofdamen.“

Margarete reckte die überschlanke, fast knabenhafte Gestalt, zupfte das Kleid zurecht.

„Wir Wulffenbergs sind arm, sehr arm, die russische Urgrossmutter soll sogar, weil sie so verschwenderisch gewesen, ein grosser Teil der Schuld treffen, dass wir so arm geworden sind.“

Sie musste an das Krönlein aus dunklem Golde denken, und an die glitzernden Steine daran. Sie verstand nichts von Juwelen, aber sie mussten grossen Wert besitzen, denn die Grossmama hatte gesagt, sie repräsentierten ein anständiges Vermögen.

Das Krönlein hatte noch kein Wulffenberg anzutasten gewagt, obwohl man dafür vielleicht so manches hätte anschaffen können, was den Wulffenbergs seit langem fehlte.

Else von Stein entnahm einer kleinen Vase, die auf dem Geburtstagstisch stand, eine mattgelbe Rose, befestigte sie am Halsausschnitt des weissen Kleides.

„Dein Haar müsste einmal unter die Hände eines geschickten Friseurs, der Barbier im Dorfe hat dich ganz verschandelt.“

Margarete machte eine gleichgültige Miene.

„Mir ist’s so schnuppe, wie ich aussehe, und Grossmama wird mich, was ich auch tue, immer hässlich finden. Als ich noch ganz klein war, hat sie mich manchmal verächtlich ‚Zigeunerbalg‘ genannt. Und eigentlich hat sie recht, denn ich bin zu dunkel und garstig. Alle Frauen unserer Familie sind blond oder gar goldblond gewesen, man kann sich ja davon in der Bibliothek, wo die Familienbilder hängen, überzeugen. Nur Mutter war dunkel, aber sie war doch sehr hübsch.“

Else von Stein dachte, dass die letzte Wulffenberg wahrscheinlich auch einmal so sehr hübsch werden würde, wie ihre Mutter gewesen, aber sie schwieg, Margarete glaubte ihr das doch nicht.

„Lernen brauche ich wohl heute nix,“ lächelte Margarete, „und nun ist’s auch Zeit, ich hörte es eben zwölf schlagen, Hans Westfal wartet.“

Sie verliess, ohne sich noch um eine Erwiderung zu kümmern, das kleine Zimmer, huschte über eine in den Park führende Wendeltreppe, die sehr selten benützt wurde, und wanderte dann durch einen von Strauchwerk fast verwachsenen Weg bis zur Mauer, die den rückseitigen Teil des Parkes begrenzte.

Ein niedriger, uralter Pavillon lehnte sich an die Mauer, eine Tür daneben führte direkt in den Wald, der noch zu Lebzeiten von Margaretes Vater Wulffenbergsches Eigentum gewesen, aber schon so stark verpfändet war, dass die Fürstin Alexandra ihn hatte abgeben müssen.

Herrlicher dichter Buchenwald war es, der jenseits der Mauer begann.

Nahe am Wald, nach rechts hinüber, lag der Dorffriedhof, unweit davon die Schmiede.

Margarete öffnete mit einem grossen Schlüssel, der in einer kleinen natürlichen Mauernische gut versteckt lag, die alte Eisentür. Doch Hans Westfal war noch nicht da.

Sie spähte aus.

O, da von rechts kam eilig eine kraftvolle Jungmännergestalt, ein Taschentüchlein flatterte ihr grüssend entgegen.

Margarete spürte ein Frohsein, dass sie dem Kommenden am liebsten laut entgegengejubelt hätte.

Schon hatte er sie erreicht.

Sie streckte ihm die Rechte entgegen, und das Frohsein in ihr ward stärker, als sie in die strahlenden Grauaugen sah, die etwas so Kraftvolles, Selbstbewusstes hatten, wie der ganze Mensch.

Sie zog Hans Westfal in den Park, in den Pavillon.

Sie wusste, bis hierher kam Grossmama auf ihren seltenen Spaziergängen nie, sie liebte es, nur im oberen Teil des Parks ein wenig auf und ab zu wandeln.

Der Pavillon enthielt wenig Mobilar. Ein altes Sofa mit brüchigem, fast farblos gewordenem Damast, zwei dazu passende Sessel und das Bild eines Buckligen in Narrentracht, das aus Zeiten stammte, da die Wulffenbergs noch sehr mächtig waren und auch der Hofnarr zu ihrer Kurzweil nötig gewesen.

Es sollte ein Westfal gewesen sein, ein Vorfahre der seit Jahrhunderten im Dorfe ansässigen Schmiedsfamilie.

Hans Westfal stand mitten im Pavillon, lachte Margarete an.

„Mädel, was bist du so gross geworden. Mutter hat mich schon darauf vorbereitet. Sie sagte mir, dass sie dich vorgestern gesehen und dir, wie ich ihr geschrieben, bestellt hätte, ich würde heute um zwölf am alten Platze sein.“ Er ward ernster, musterte Margarete scharf. „Bist doch noch dieselbe, Mädel, ich hatte nach Mutters Reden schon Angst, du hättest dich sehr verändert.“

Er fuhr sich über die Stirn, die sorgfältig gescheiteltes dunkelblondes Haar umrahmte.

„Einmal wirst du ja doch wohl eine grosse Veränderung durchmachen müssen, Gretel, einmal, wenn in dir die Prinzessin durchbricht. Du, Mädelchen, davor fürchte ich mich, denn dann ist unsere Jugend, die frischeste Jugend vorbei.“

Margarete zeigte lächelnd die schneeweissen Zähne

„Die Prinzessin in dem Sinne, wie du meinst, wird bei mir wohl nie durchbrechen.“

„Ja, Gott bewahre dich davor, dass das wahnwitzig hochmütige Wulffenbergblut einmal in dir wach wird, Mädelchen. Zu schade wäre es um dich.“

Margarete klopfte auf das Sofa, es flog kein Staub auf. Sie staubte öfter hier ab, es war alles noch sauber.

„Komm, Hans, wollen uns setzen, erzähle mir von deinem Studium und dem Leben draussen.“

Sie sassen dann nebeneinander, der ziemlich breitschulterige Hans Westfal, dessen helle, klare Züge freimütig und kühn waren, und die schmale, dunkelhaarige Prinzessin, in deren gelblich blassem Gesicht der allzu rote Mund von Gier nach Genuss sprach.

Dieser brennend rote Mund, der zu den tiefen, fast ein wenig melancholischen Blauaugen nicht zu passen schien.

Hans Westfal lächelte.

„Weisst du noch, Gretel, so wie heute treffen wir uns schon seit sechs Jahren und ich muss dir also seit sechs Jahren erzählen, wie es draussen in der Welt aussieht, wenigstens in dem kleinen Ausschnitt, den ich davon schon kennen lernte Vierzehn Jahre war ich, als ich hier zum ersten Male neben dir sass. Du warst ein pudelnärrisches kleines Ding, verehrtest mich wie einen Heiligen, weil ich dich vor einem durchgegangenen Pferd zurückriss. Zur Belohnung liessest du mich heimlich in den Park, zeigtest mir hier im Pavillon das Bild.“

Seine eine Hand wies zu dem ziemlich grossen Gemälde empor, das an der sonst kahlen gegenüberliegenden Wand hing.

„Du wusstest damals schon, dass der arme Kerl in dem bunten Lappenkleid und der Schelmenmütze ein Westfal gewesen und glaubtest mir mit der Mitteilung eine besondere Freude zu bereiten.“

Margarete unterbrach ihn.

„Die Zeiten sind ja längst vorbei, dass ein Mensch durch einen anderen öffentlich zum Narren erniedrigt werden konnte. Es braucht dich heute nicht mehr kränken, Hans, die Wulffenbergs, die einmal mächtig waren, sind heute arm, während die Nachkommen ihres Hofnarren begütert und wohlhabend wurden.“

Hans Westfal wandte ihr voll das Gesicht zu.

„Das stimmt, Gretel, aber es wurmt mich doch noch, wenn ich denke, dass ein Westfal hat Narrendienste tun und hat kuschen müssen vor übermütigem, launischem Herrenvolk.“

Seine Stirn, die sich eben verdüstert hatte, ward hell unter dem ein wenig mitleidigen Blick der dunkelblauen Augen.

„Reden wir von anderen Dingen! Vor allem, Gretel, meinen herzlichsten Glückwunsch.“ Er nahm ihre Rechte, drückte sie fest und innig. „Gretel, ich wünsche dir viel Gutes und Schönes, wünsche dir alles, was du dir vom Leben ersehnst und erhoffst!“

Das junge Mädchen blickte ins Leere.

„Ich habe nur den Wunsch, bald einmal hier heraus zu kommen und etwas von dem zu sehen, wovon man in den Büchern und Zeitungen liest.“ Ihr Blick traf jetzt den seinen. „Etwas Blutwarmes möchte ich erleben. Hier ist alles so verzaubert und schattenhaft.“

Er langte in seine Tasche.

„Gretel, ich habe dir auch ein kleines Geschenk mitgebracht.“

Er zog ein Etui hervor. „Du wurdest Ostern konfirmiert, ich konnte Ostern nicht kommen. Die Eltern besuchten mich in Charlottenburg, wollten sich auch einmal Berlin ansehen. Und den Ring hatte ich dir zur Konfirmation gekauft.“

„O, wie wunderhübsch!“

Margarete hielt den schmalen Goldreif ein wenig hoch, dass sich das Licht in den bunten Steinchen brach, mit denen Kreuz, Herz und Anker besetzt waren, die sich zur Breitseite des Ringes zusammenfügten.

Das Kreuz war aus winzigen Brillanten, das Herz aus kleinen Rubinen und der Anker aus Smaragden. Klar und weiss war die Farbe des Glaubens, rot die Liebe und die Hoffnung grün

Hans Westfal bat leise: „Stecke den Ring auf, trage ihn und —“

Margarete fiel ihm hastig ins Wort: „Grossmama würde fragen, von wem ich das Schmuckstück habe, und ich mag nicht lügen, sonst fände ich vielleicht eine Ausrede.“

Hans Westfals Stimme war ein wenig erregt.

„Nein, die Fürstin würde es nicht leiden, dass ein Nachkomme des Wulffenbergschen Hofnarren einer Wulffenberg einen Ring schenkt.“

Margarete sann flüchtig nach.

„Ich freue mich doch so sehr über dein wunderhübsches Geschenk, Hans. Bitte, sei nicht traurig, ich werde den Ring um den Hals tragen und manchmal, wenn ich genau weiss, Grossmama kümmert sich nicht um mich, was doch meist der Fall ist, dann stecke ich ihn an.“

Hans Westfal lächelte schon wieder.

„Gretel, ich komme gut voran auf der technischen Hochschule. Professor Tauber lädt mich oft ein, bespricht so vieles mit mir, man beneidet mich, nennt mich Streber. Aber das kümmert mich nicht.“ Seine Augen hatten jetzt einen fast schwärmerischen Schimmer. „Ach du, Gretel, ich kann ja mit niemand, ausser mit Professor Tauber, so von dem reden, was mich manchmal fast wehtuend quält. Er sagt, das sei der Betätigungsdrang in mir. Weisst du, oft sehe ich im Geiste wolkenhohe Eisentürme, sehe ich aufbäumende riesige Brücken, die über gewaltige Ströme führen und die schwersten Lasten tragen, dann wieder sehe ich über schwindelnde Abgründe eiserne Stege und mein Stolz ruft laut: Das alles wirst du später schaffen!“

Margaretes gelblich blasses Gesicht war von einer leichten Röte überhaucht.

„Du musst sehr glücklich sein, Hans. O, du ahnst nicht, wie ich dich um deine Arbeit, mit der du dir deine Zukunft bereitest, beneide. Wäre ich ein Junge, weiss der Himmel, ich wäre hier schon aus der Eintönigkeit fortgelaufen, so weit mich meine Beine trügen.“

Hans Westfal sagte langsam: „Wenn du ein Junge wärest, dann würdest du mein Freund sein, aber die Fürstin versteckte dich dann auch sicher nicht in der Einsamkeit. Wahrscheinlich sässest du dann auf einem Gymnasium und müsstest später studieren. Für ein Mädchen hält die Fürstin keinen besonderen Unterricht vonnöten. Erst war der Dorflehrer an der Reihe, dann der Pfarrer und seit zwei Jahren übt Fräulein von Stein Sprachen mit dir, liest dir über Literatur vor, auch klimpert ihr auf dem Klavier zusammen herum. Damit glaubt deine Grossmutter genug an dir getan zu haben.“

Das Letzte klang fast zornig.

Margarete neigte den schmalen Kopf.

„Grossmama sagt, ein Mädchen unserer Kreise brauche nichts anderes zu lernen und zu wissen. Die Hauptsache wäre, dass man in jeder Beziehung eine vollendete Dame würde. Nur darauf käme es bei unsereins an.“

Hans Westfals Stirn zeigte eine tiefe Falte.

„Die Fürstin beweist durch derartige Reden, dass sie vollkommen an der neuen Zeit vorbeilebt. Dass sie es, weil ihr die neue Zeit nicht gefällt, verschmäht, Augen und Ohren aufzutun.“ Er sprach lebhafter. „Der Adel darf sich heutzutage auf Grund alter, längst vermoderter Privilegien nicht mehr Dinge erlauben, die der Auffassung von Recht und Gesetz ins Gesicht schlagen. Ein adliger Name berechtigt nicht mehr zum Faulenzertum, und niemand findet mehr etwas dabei, wenn der Träger eines hohen, klangvollen Namens sich sein Brot auf anständige Weise verdient. Ein Studiengenosse von mir ist zum Beispiel ein Prinz Pilgrim, seine Schwester ist Direktrice in einem grossen Berliner Modehaus.“

Margarete sah ihn lächelnd an.

„Jetzt willst du mir natürlich einen Bären aufbinden. Eine Prinzessin Pilgrim kann doch nicht in einem Kleidergeschäft so was wie erste Verkäuferin sein?“

Hans Westfal empfand ein leichtes Unbehagen.

Die Art und Weise, wie Margarete die beiden Worte ‚Kleidergeschäft‘ und ‚Verkäuferin‘ betonte, hatte etwas Verächtliches.

„Ich scherze nicht etwa,“ gab er zurück, „sondern es verhält sich so, und die Prinzessin Pilgrim hat Kolleginnen. Im selben Geschäftshause mit ihr tut eine Komtesse Widland Mannequindienste oder deutlicher, sie ist dort Probiermamsell. Ich hörte auch, eine junge Baronesse ernähre sich als Fremdenführerin, da sie flüssig mehrere Sprachen beherrscht, und ihre Schwester sei Bureauvorsteherin bei einem Notar. Du siehst, Gretel, die neue Zeit ist schon von vielen eures Blutes richtig verstanden worden. Und es ist auch nötig. Die Entwicklung aller Lebensverhältnisse geht plötzlich voran, verlangt schmiegsame, biegsame Menschen, die sich rasch in neue Lagen zu finden wissen. Der Wind ist von Amerika über das grosse Wasser zu uns nach Europa geflogen. Der Wind, der wohl nicht alle Menschen gleich machen kann — denn dem setzen Unbegabte und Faule ein natürliches Hindernis entgegen — der aber allen, die zu lange im Schatten gestanden haben, einen wärmenden Platz an der Sonne vergönnt, und der auch ein bischen mit dem Ahnenkultus aufräumt.“

Margarete dachte an die Worte der Grossmama: Auf deine Ahnen musst du Rücksicht nehmen, auf alle die Fürsten und Fürstinnen Wulffenberg, die vor uns gelebt haben!

Sie sass ganz still, aber es war etwas in ihrer Haltung, das wie Abwehr gegen Hans Westfals Rede schien.

Vielleicht merkte er es wieder, wollte es aber nicht bemerken.

„Höre, Gretel, ich bin keiner, der sich irgendwie in Parteidebatten und Parteigezänk mischt, aber in den Parteien brodelt es zur Zeit wie in einem Hexenkessel, es erstehen täglich mehr Unzufriedene, die behaupten, vielen Menschen ginge es zu schlecht, weil es vielen anderen zu gut geht. Gesetze, an deren Ewigkeitsdauer man geglaubt hat, stürzen, und neue erheben sich, die unsere Vorfahren für unmöglich gehalten hätten. Ich gönne dir den Frieden von Wulffenberg. Trotzdem du dich nach dem bunten Leben da draussen sehnst, möchte ich, du bliebest hier, aber du musst dir Mühe geben, Verständnis aufzubringen für Dinge, die alles umkrempeln, was dir die Fürstin beibringt und was im Ahnenkultus gipfelt.“

Margarete lächelte.

„Wenn du ein Wulffenberg wärst, würdest du anders sprechen!“

Hans Westfal seufzte. Die Lehren der Fürstin sassen scheinbar schon zu fest in dem jungen Geschöpf, das von je entzückend liebenswert gewesen, so lange er es kannte, wenn es nicht manchmal der Hochmutsteufel in den Krallen hielt.

Er entsann sich, dass Margarete stets lieb wie ein Schwesterchen zu ihm gewesen, bis sie dann, durch irgendein Wort von ihm ihr hochfahrendstes Prinzessingesicht aufgesetzt.

Er sah sie an, fühlte sich diesem schmalen blassen Geschöpfe unendlich überlegen

Wie ein Beschützer kam er sich ihr gegenüber vor.

„Warte nur, Gretel, die Standesunterschiede werden mehr und mehr in der Welt abgeschafft, eines Tages, wenn ich etwas ganz Bedeutendes geworden bin, dann —“

Er stockte. Er hatte sagen wollen: dann wirst du meine Frau! Halb scherzend war es ihm auf die Lippen getreten.

Und nun brachte er es nicht über sich, es auszusprechen.

Es schien ihm plötzlich furchtbar ernst und schwerwiegend. Denn plötzlich ward er sich darüber klar, dass sich diese seltsame Kinderfreundschaft bei ihm zur Liebe gewandelt. In diesem Augenblick erst begriff er das vollständig.

Mit scheuer Zärtlichkeit huschte sein Blick über das mattgetönte Antlitz Margaretes, und ihm war es, als müsse er sich neigen und den brennend roten Mund küssen, der ihn lockte wie eine reife Frucht.

Seine einundzwanzig Jahre, die noch nie an müssige Tändeleien mit hübschen Mädchen gedacht, erkannten jählings, weshalb er sich so sehr auf das Wiedersehen mit Margarete gefreut.

Das Mädchen fragte: „Wenn du etwas ganz Bedeutendes geworden bist, was ist dann, was wolltest du sagen?“

Er erhob sich.

„Ich bin jetzt immer so zerstreut, beginne Sätze und weiss nachher nicht mehr, was ich eigentlich zu sagen beabsichtigte, so war es eben. Und jetzt muss ich gehen, sonst schimpft Mutter, der Braten, den sie meinetwegen macht, sei ihr verdorben.“

„Wann darf ich dich wieder erwarten, Hans?“ fragte Margarete.

„Uebermorgen, Gretel, danach fahre ich acht Tage zu Mutters Bruder, und wenn ich zurückkomme, treffen wir uns öfter. Lass dich doch auch einmal bei uns sehen.“

Margarete nickte. „Auf Wiedersehen, Hans. Vorläufig erwarte ich dich übermorgen wie heute, und nochmals, nimm herzlichsten Dank für den Ring.“ Ihre schmalen Arme hoben sich, ihre Hände legten sich auf seine Schultern. „Du bist ein lieber Mensch, Hans, der liebste, den ich kenne.“

Das Mädchengesicht war dem seinen jetzt so nahe, dass er nicht widerstehen konnte, er strich ihr mit der Rechten über die zarte Wange.

Margarete lächelte. „Meinst wohl, ich sei noch acht Jahre, Hans, damals hast du mich oft gestreichelt und dann hast du mir irgendwas Süsses mitgebracht, wenn ich dir meine winzigen Leiden klagte.“

Er trat einen Schritt zurück, denn der rote Mund war zu verführerisch nahe gewesen und er hätte sich schämen müssen, die Ruhe dieses Kinderherzens aufzuwühlen.

Du bist ein lieber Mensch, Hans, der liebste, den ich kenne! Die Worte wollte er wie einen köstlichen Schatz behalten. Vielleicht erfüllten sich seine ehrgeizigen Wünsche.

Keine Mühe und Arbeit wollte er sich verdriessen lassen, um zum Ziele zu kommen. Und dann würde er Margarete Wulffenberg fragen, ob aus der eigenartigen Kinderfreundschaft ein Bund fürs Leben werden konnte.

Margarete hatte ihn wohl auch lieb, deshalb hing sie so an ihm, nur war sich ihre grosse Jugend, die fernab allem Erleben wohnte, dessen noch nicht bewusst geworden.

In einigen Jahren sann sie wohl schon darüber nach, weshalb sie ihn seit Jahren immer so strahlend begrüsste, wenn er in den Ferien heimkehrte.

Als Gymnasiast hatte er manchmal mitleidig auf die Kleine niedergeblickt, die wie ein magerer, gerupfter Spatz aussah, und die von ihrer Grossmama jedem kindlichen Spiel mit Altersgenossinnen ferngehalten wurde.

Margarete beobachtete ihn.

„Was ist dir, Hans, habe ich dich gekränkt, du siehst so ernst und nachdenklich aus?“

Der junge Mann zeigte sofort eine heitere Miene.

„Du kannst mich gar nicht kränken, Gretel, überhaupt würde ich dir nichts Kränkendes glauben, seit du vorhin sagtest, ich sei für dich der liebste Mensch auf der Welt.“ Er nahm noch einmal ihre Hand. „Auf Wiedersehn, Gretel, auf Wiedersehn übermorgen!“

Er verliess auf demselben Weg, auf dem er gekommen, den Park.

Margarete aber kehrte noch einmal in den Pavillon zurück, setzte sich wieder auf das brüchige Sofa, liess den Ring an ihrem Finger in der strahlend hellen Julisonne funkeln.

„Glaube, Liebe Hoffnung,“ sagte sie leise vor sich hin und sah auf zu dem Bilde des Narren, der mit demütigem Gesicht und einem höhnischen Lächeln um die verkniffenen Lippen, niederschaute zu der letzten Wulffenberg, vor deren Ahnen er einst in dem Gewand aus grün und lila Dreiecken seine Possen hatte treiben müssen.

Um so tollere Possen, je mehr ihm das Herz im Leibe wehe getan.

Lange, lange war das her.

Damals gehörten den Fürsten Wulffenberg noch dreissig Dörfer oder mehr und Dutzende von Höfen. Heute schenkte der Nachkomme des Narren der letzten Wulffenberg einen Ring.

Es war ihr erster und einziger Ring, den sie besass, denn es gab keinen Schmuck mehr in der Familie, ausser der kleinen Krone, von der sie ja heute erst erfahren.

Margarete nickte dem Bilde zu.

„Darfst so höhnisch lächeln, wie du willst, Kaspar Westfal, das Glück ist jetzt auf Seite deiner Enkel. Die Enkel von denen, die dich einst quälten, sind arme Weibsleute, der Name, vor dem du dich ducken musstest, ist schon im Mannesstamm erloschen.“

Margarete war es, als blicke Kaspar Westfal jetzt zufriedener.

Sie sann allerlei, träumte mit offenen Augen in dem flimmernden, durch die hohen Scheiben brechenden Mittagssonnenschein, und dann fielen ihr die Lider zu.

Da bewegte sich plötzlich die Gestalt im Rahmen, wie es ihr schien, und stieg mit gravitätischer und sehr komisch anmutender Wichtigkeit nieder. Die kleinen blanken Schellen am zackiggeschnittenen Kragen fingen an zu läuten, die Schellen an der Narrenkappe verstärkten das Geräusch, das so klang, als ob ein Schlitten nahe

Margarete wollte aufspringen, wollte fliehen, doch vermochte sie kein Glied zu rühren vor Angst und Staunen.

Der Narr stand nun dicht vor ihr.

Er rückte mit den Schultern und da schwand sein Höcker und er war gerade gewachsen, genau wie Hans, sah ihm auch plötzlich zum Verwechseln ähnlich und jetzt sprach er auch mit der Stimme von Hans.

„Ich bin für dich der liebste Mensch, den du kennst und du bist mir das Liebste auf der weiten Welt, denke stets daran, Gretel.“

Durch die halbgeöffnete Tür des Pavillons blickte das frische hübsche Gesicht Fräulein von Steins.

Sie sah die Prinzessin in anscheinend tiefen Schlaf versunken.

Leise trat sie näher, fasste sie sanft an der Schulter.

„Gretel, wach auf, wach auf!“

Die grauen Blauaugen öffneten sich, blickten verständnislos umher.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Prinzessin begriff, dass sie eingeschlafen gewesen.

Sie schaute zu dem Bilde empor.

Der bucklige Narr, Kaspar Westfal, war nach wie vor in den schweren, schwarzen Rahmen gebannt.

Else von Stein lachte.

„Schlafmütze! Hast doch nicht etwa deinen Besuch verschlafen?“

Margarete schüttelte den Kopf, zeigte der Aeltesten den Ring.

„Mein Konfirmationsgeschenk!“ erklärte sie glücklich, „aber Grossmama darf es nicht sehen, sie ist so grenzenlos stolz und würde mir verbieten, von Hans Westfal Geschenke anzunehmen, denn bei ihr beginnen die Menschen erst beim Adeligen.“

Else von Stein nickte.

„Den Ring darfst du der Fürstin nie zeigen. Er ist überdies ziemlich kostbar. Doch nun komm, es ist gleich Tischzeit und wir dürfen Ihre Durchlaucht nicht warten lassen.“

Eilig gingen beide Mädchen dem Schlosse zu.

Else von Stein dachte, dass dieser Ring, wenn er der Fürstin vor die Augen käme, für Margarete eine böse Stunde heraufbeschwören würde.

Ob Hans Westfal der Prinzessin den Ring wohl in aller Harmlosigkeit gegeben hatte, oder ob da schon, wie sie vermutete, heimliche Wünsche mitsprachen, heimliche Zukunftswünsche?

Es war doch merkwürdig, dass dieser Einundzwanzigjährige noch immer so treu die eigenartige Kinderfreundschaft hielt.

Seit den zwei Jahren, die sie im Schlosse lebte, versäumte Hans Westfal es nie, bei seinen Ferienbesuchen ein paar Plauderstündchen mit Margarete im Pavillon abzuhalten.

Wenn das so weiterging, gab es eines Tages mit der Fürstin einen ordentlichen Tanz, darauf durften sich Hans Westfal und die Prinzessin schon heute gefasst machen.

Und falls sie selbst dann noch im Hause war, würde ihr die alte Dame die Hauptverantwortung zuschieben.

Und eigentlich nicht mit Unrecht.

„Else?“ Margarete blieb stehen.

„Was denn, Gretel?“

„Du, Hans Westfal ist wirklich der liebste Mensch, den ich kenne, ich habe ihm das heute auch gesagt.“

„Hmm!“ machte Else von Stein ganz lang gedehnt. Sie war doch sieben Jahre älter als die Prinzessin, und in diesem lang gedehnten Hmm! lag eine Menge Lebensweisheit, die Fräulein von Stein aber lieber für sich behielt.

Zwei Tage später liess Margarete den jungen Studierenden der Technischen Hochschule wieder in den Pavillon ein.

Hans Westfal sah so freudig erregt aus, dass es dem jungen Mädchen sofort auffiel.

Er lief im Pavillon umher, schien zu unruhig, um sich zu setzen.

„Ich kann nur ein paar Minuten, höchstens eine Viertelstunde bleiben, Gretel. Professor Tauber hat mir telegraphiert, er lädt mich nach München ein, wo er sich zurzeit aufhält. Er will von dort aus eine Umreise durch Bayern unternehmen, verschiedene technische Sehenswürdigkeiten will er beschauen und prüfen. Er möchte mich überallhin mitnehmen. Er strahlte. „Du, das ist eine grosse Auszeichnung, um die mich alle Studiengenossen beneiden würden. Ich reise natürlich! Heute schon fahre ich. In zwei Stunden muss ich fort und habe noch nicht gepackt. Mutter unterdrückte eine Träne, weil ihr Aeltester sie so bald wieder verlässt, aber sie begreift die Vorteile für mein Studium, meine Zukunft.“

Margarete neigte ein wenig den Kopf. Es tat ihr bitterleid, dass Hans schon wieder fort musste, dass es nun schon wieder vorbei war mit den reizvollen Zusammenkünften, aber es war ja für Hans gut, so in der Gunst seines Professors zu stehen.

Es bewies, dass Hans ein besonders Tüchtiger sein musste.

Sie hob den Kopf.

„Es ist schade, dass deine Ferien für mich schon zu Ende sind, aber ich freue mich mit dir über die Auszeichnung.“

Sie sahen sich beide an und in Hans Westfals Brust wuchs der hoffende Gedanke: Du willst dir das schmale Mädel erringen!

Wenn aus dem Backfischchen eine junge Dame geworden sein würde, dann musste er es geschafft haben, dann musste er es soweit gebracht haben, dass die hochmütige Fürstin ihm, wenn Margarete ihn liebte, die Hand der Enkelin nicht verweigern durfte.

Er trat ganz nahe an die Prinzessin heran.

„Nun werde ich erst im Spätherbst, vielleicht auch erst Weihnachten, wiederkommen. Frage nur um die Ferienzeiten bei meiner Mutter nach. Und dann Gretel, vergiss mich nicht, ich möchte dein bester Freund bleiben. Immer! Ich möchte für dich der liebste Mensch auf der Welt beiben! Immer!“

Margarete Wulffenberg hatte plötzlich Tränen in den Augen.

„Diesmal warst du gar zu kurz hier, wir haben uns gar nicht richtig ausplaudern können wie sonst,“ klagte sie, „das tut mir so leid.“

Er zog ein kleines Batisttuch aus der Brusttasche, fuhr ihr lächelnd über die Augen.

„Die kleine Gretel heult!“

Er wollte selbst über das Abschiedsweh hinwegkommen.

Nun lachte sie auch, lachte unter Tränen zu ihm auf.

„Lass es dir gut gehen, Hans, und auf frohes Wiedersehn.“

Herrgott, waren die tiefblauen, von Tränen schimmernden Augen schön! musste er denken.

Er strich über ihr Haar, leise und zart.

„Auf Wiedersehn, Gretel, auf Wiedersehn!“

Im Herbst kam Hans Westfal gar nicht nach Hause, Weihnachten, als er da war, musste Margarete wegen starker Erkältung das Zimmer hüten, und Ostern machte Hans mit Professor Tauber eine Mittelmeerreise.

Die Westfals waren wohlhabend genug, sie konnten ihrem Aeltesten, auf den die ganze Familie stolz war, dergleichen gestatten.

Frau Westfal, eine blonde derbe Frau, mit offenen, hübschen Zügen, erzählte der Prinzessin, was ihr Sohn alles zu sehen bekommen würde.

Portugal, Spanien, Marokko!

Sie kicherte verhalten.

„Wenn unsereins als Kind auf der Schule solche Namen hörte, dann hat’s einem ordentlich vor Andacht geschuckelt, so märchenweit klang das: Und nun fährt mein Junge dahin, wie andere hier in den Harz oder an den Rhein. Mein Alter sagt, ich mache schon ein ganz hochfahrendes Gesicht. Ach, Prinzessin, ich bin doch auch so stolz auf meinen Hans, so stolz, dass ich’s gar nicht beschreiben kann. Er hat ja schon, ehe er noch sein letztes Examen gemacht, eine einträgliche Stellung als Ingenieur bekommen, bei der grossen Frankfurter Firma Mannholz, die auch im Ausland die grössten Brückenbauten und dergleichen übernimmt. Professor Tauber hat mit dem Chef von Mannholz gesprochen, ihn warm empfohlen, und nun soll Hans schon nächstes Frühjahr, wenn er sein letztes Examen hinter sich hat, mit nach Indien. Ich weiss nicht mehr, wie das heisst, wohin er kommt, aber er muss mindestens zwei Jahre dortbleiben. Das ist mir das Schrecklichste, Prinzessin. Bedenken Sie, was das für eine Mutter heisst, zwei Jahre den geliebten Sohn zu entbehren!“ Sie seufzte. „Aber es geht um seine Zukunft. Sein Ehrgeiz will das alles doch, und dann kann ich meine Liebe nur am besten dadurch beweisen, dass ich mich füge, ihm nichts erschwere.“

Margarete war plötzlich unsäglich traurig zumute.

Zwei Jahre würde Hans fort sein, draussen in der weiten Welt. Und jetzt war er Ostern auch nicht gekommen, machte eine Mittelmeerreise, nun würde sie ihn erst im Juli sehen. An ihrem Geburtstag aber würden sie beide wieder im Pavillon sitzen.

Die Frau Schmiedemeister Westfal begleitete Margarete bis vor die Tür, kehrte gedankenvoll ins Haus zurück.

Sie hatte deutlich beobachtet, wie die blasse Haut der Prinzessin noch blasser geworden war, als sie das von den zwei Jahren erzählt hatte.

Das blutjunge Ding, das im Schlosse wie ein eingesperrtes Vöglein sass, hing viel zu viel an Hans und er an dem Mädelchen. Man konnte nicht wissen, wohin sich so etwas auswuchs. Beide wurden älter und mit der Fürstin wollte sie nichts mehr zu tun haben, das war die hochmütigste Frau, die es auf Erden gab.

Hockte in ihrem Bau, der mehr einem Eulennest als einem Schlosse glich, und „regierte“ immer noch, was ihre Vorfahren längst als hoffnungslos aufgegeben.

Und dann wurde es Sommer.

Margarete schlüpfte wieder täglich entweder in das grauleinene Kleid, in das rosa oder in das weisse. Die Fürstin hatte festgestellt, diesen Sommer genügten die drei Kleider noch. Sie waren, da Margarete gewachsen war, zwar etwas kürzer geworden, aber man trug ja jetzt sehr kurze Kleider.

Else von Stein hielt nur um Margaretes willen hier noch aus, die trostlose Einsamkeit legte sich oft wie ein Alpdruck auf ihre Brust. Eine begüterte Tante in Oberösterreich hatte ihr, der Elternlosen, angeboten, zu ihr zu kommen, aber sie hielt aus, die lebensunerfahrene Prinzessin tat ihr leid, sie mochte sie nicht im Stich lassen

Die Tante aus Oberösterreich schrieb wieder. Sie sei so allein, wolle reisen, aber sich mit keiner bezahlten Gesellschafterin einlassen. Sie sei so ängstlich und möchte keine Fremde um sich.

Else von Stein las Margarete den Brief vor, liess ihn dann in den Schoss sinken.

„Ich bleibe bei dir, Gretel. Wer weiss, wer sonst hier an meine Stelle rückt und dir dein Leben erschwert.“

Die Prinzessin lächelte tapfer.

„Du bist sehr lieb, Else, aber du solltest das Angebot deiner Tante annehmen. Vielleicht wartet bei ihr irgendwie das Glück auf dich. Hier findet das Glück ja nicht her, wir wohnen zu weit abseits von allen wichtigen Landstrassen und Eisenbahnlinien.“

„Ach, die Tante soll wenigstens noch ein Jahr warten, dann bist du siebzehn und eine junge Dame, brauchst keine Dresseuse mehr.“

Margarete sah die Aeltere an, um ihren roten Muno zuckte es leicht.

„Else, geh nur hier fort, denn es ist schade um dich, du versauerst hier in dieser Luft. Niemand besucht uns, nur Sonntags zu Tisch manchmal der uralte Dorfpfarrer. Ich will dich nicht halten, ich darf das nicht.“ Ihre Stimme bebte. „Und doch, wenn ich dir auch zurede, so kann ich mir doch gar nicht vorstellen, dass du eines Tages nicht mehr hier bist. Du bist von der ersten Stunde an so lieb und warmherzig zu mir gewesen.“

Die Fürstin Alexandra kam selten in das Zimmer ihrer Enkelin, heute aber wollte sie ihr einen Auftrag erteilen.

Sie stand gerade vor der Tür von Margaretes Zimmer und hörte drinnen das klare weiche Organ Fräulein von Steins.

Sie dachte nicht daran, zu lauschen, und dann zog sie die schon ausgestreckte Hand doch von der Klinke zurück, denn was sie zufällig vernahm, liess sie stutzen.

Die Stimme Else von Steins sagte eben: „Wenn du noch ein paar Jahre älter sein wirst, musst du einmal versuchen, hier aus der Einöde herauszukommen, musst mit eigenen Augen gucken, wie ganz anders alles in der Welt aussieht und zugeht, als es deine Grossmama sich selbst und dir einredet. Es geht republikanisch zu in der Welt und mit einem Titel allein kann man heutzutage nicht mehr viel erreichen —“

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, auf der Schwelle, vor den beiden bestürzt sich erhebenden Mädchen, stand Fürstin Alexandra.

Ein scharfer Blick unter den halbgeschlossenen Lidern traf die Gesellschafterin.

„Ich bin durch Zufall, oder vielleicht richtiger ausgedrückt, durch Fügung Ohrenzeugin Ihres letzten Satzes geworden, Fräulein von Stein. Ich muss Ihnen zuerst mein Erstaunen ausdrücken, dass Sie es wagen, eine Prinzessin Wulffenberg mit dem spiessbürgerlich verballhornten Vornamen ‚Gretel‘ und dem intimen ‚Du‘ anzusprechen. Wenn Ihnen meine Enkelin dazu das Recht gegeben haben sollte, was ich voraussetze, durften Sie doch nicht so dreist sein, von dem Recht Gebrauch zu machen. Ein Fräulein von Stein müsste wissen, was sich gehört. Ich nahm das auch an, sonst hätte ich nie daran gedacht, Ihnen die Vertrauensstellung bei der Prinzessin zu geben. Aber nicht nur die Dreistigkeit erregt mich. Viel mehr noch Ihr freier Ton. Sie predigen ja förmlich Umsturz! Anscheinend sind Sie vollkommen damit einverstanden, dass es jetzt republikanisch zugeht in der Welt. Meine Enkelin braucht diese republikanische Welt aber nicht kennen zu lernen. Der Name Wulffenberg wird sie in Kreise führen, in deren Lexikon das Wort ‚Republik‘ überhaupt nicht steht. Ich weiss, es gibt leider auch unter dem Adel umstürzlerische Elemente und dazu zählen anscheinend auch Sie. Solche Elemente aber gehören nicht in die Nähe der Fürstin Wulffenberg und ihrer Enkelin, und deshalb muss ich Sie ersuchen, Fräulein von Stein, noch heute das Schloss zu verlassen.“

Margaretes meist blasse Wangen waren von dunkler Röte überflammt.

„Grossmama, verzeihe, aber die Schuld trifft mich allein. Ich erlaubte Fräulein von Stein nicht nur, mich ‚Du‘ zu nennen, sondern ich bat sie sogar darum ganz flehentlich. Es klingt so lieb und warmherzig, wenn sie ‚Gretel‘ zu mir sagt. Im übrigen ist sie schon seit langem von ihrer Tante, Baronin Pürkner, aufgefordert worden, zu ihr zu kommen und nur aus reiner Freundschaft für mich ist sie geblieben. Else ist die Güte selbst.“

Die Fürstin machte eine unwillige Handbewegung.

„Bist du Fräulein von Steins Verteidiger? Ich stehe jedenfalls auf dem Standpunkt, dass sie das in sie gesetzte Vertrauen gröblich missbraucht und sich ungehörig benommen hat.“

Sie wandte ihr eiskaltes Gesicht Else von Stein zu.

„Ich glaubte, in Ihnen gerade eine gute Wahl getroffen zu haben, weil Sie ihr Lehrerinnenexamen mit Glanz bestanden, weil Ihre Urgrossmutter Hofdame bei einer Fürstin Wulffenberg gewesen und weil ich dachte, die Prinzessin hat an Ihnen eine verhältnismässig junge Gefährtin. Aber ich sehe ein, eine würdige, erfahrene Dame dürfte hier doch besser am Platze sein.“

Sie blickte über die hübsche Else von Stein hinweg ins Leere.

„Ich erwarte Sie in einer Stunde bei mir unten, um Ihr Gehalt in Empfang zu nehmen. Lassen Sie sich dann bei mir melden.“

„Jawohl, Durchlaucht!“

Else von Stein hatte gar keinen Versuch mehr gemacht, sich zu verteidigen. Sie verneigte sich vor der Fürstin, die jetzt das schmale Zimmer verliess.

Die beiden Mädchen sahen sich ein Weilchen stumm an, dann sang Else, mit einem Spitzbubenlächeln um den Mund, halblaut den Kehrreim eines alten Kuplets: „Siehst du wohl, siehst du wohl, das kommt davon!“

Aber gleich ward sie wieder ernst.

„Schade, Gretel, dass wir uns nun doch trennen müssen. Ich hätte gern noch ein Weilchen ausgehalten hier, deinetwegen.“

Margarete wurde traurig: „Ich muss eben sehen, wie ich allein fertig werde. Aber grässlich ist es mir, dass dich Grossmama so heruntergeputzt hat.“

Else von Stein schnippte mit den Fingern.

„Nicht soviel machte ich mir daraus, denn von ihrem Standpunkt hat sie recht, wenn ich ihren Standpunkt auch nicht verstehe. Mir tut es nur leid, dich verlassen zu müssen.“

Margarete fing plötzlich an zu weinen.

„Alle verlassen mich! Hans Westfal reist im Frühjahr als Ingenieur nach Indien für zwei Jahre, wer weiss, wie weit du mit deiner Tante herumkommst in der Welt, nur ich muss bleiben und in dem stumpfsinnigen Auf und Ab der Tage hier weiterleben. Es ist unerträglich.“

Die Aeltere legte zärtlich den Arm um die Schultern des erregten Mädchens

„Gretel, du darfst dich nicht in solche Verzweiflung hineinreden. Du bist doch noch sehr, sehr jung und hast also noch viel Zeit vor dir, die Welt kennen zu lernen. Wirst auch eines Tages hier herauskommen. Vorläufig hat das noch keine Eile. Sei vernünftig, Gretelchen, mach uns den Abschied nicht zu schwer. Und nun komm mit zur Post, ich will eine Depesche an meine Tante aufgeben und wenn wir zurück sind, muss ich bei der Fürstin antreten.“

Else von Stein hatte vorhin aufgehorcht. Im Frühjahr reiste Hans Westfal für zwei Jahre nach Indien? Das hatte die Prinzessin in ihrer Erregung mit herausgestossen, vorher hatte sie nichts davon erwähnt.

Sie dachte bei sich, dass es so gut war für Margarete. Die zwei Jahre würden doch wohl einen Keil zwischen die Freundschaft der Letzten aus dem Hause Wulffenberg und dem Sohn des Dorfschmiedes treiben. Wenn das nicht geschah, sah sie böse Stunden für Margarete voraus.

Am Nachmittag reiste Else von Stein schon. Sie fuhr vom Dorf aus mit dem Postauto bis zur Bahnstation.

Die Prinzessin schluchzte beim Abschied laut auf und viele Tage nachher noch trat sie der Fürstin mit verweinten Augen entgegen, denn sie weinte täglich, bis dann eines Nachmittags Ersatz für Fräulein von Stein ankam.

Margarete wurde von dem Mädchen zu der Fürstin gerufen und dort sass eine sehr dürre Dame mit grauem Haar, die ihr als Fräulein von Keller vorgestellt wurde, und die ihr eine untertänige Verbeugung machte, die einem Hofknix ähnelte

Feindselig musterte Margarete die „Neue“ und nahm sich vor, sie recht schlecht zu behandeln, denn diese allzu ergeben dreinblickende Dame gefiel ihr ganz und gar nicht.

Fräulein Antonie von Keller aber musste ein wahres Elefantenfell haben, stellte Margarete fest, denn sie nahm nichts übel und liess sich nicht wieder weggraulen.

Und immer war sie in ihrer Nähe. Sie konnte keinen Ausgang mehr allein unternehmen.

Schliesslich wurde ihr die Sache zu dumm.

Fräulein von Keller war mit ihr in den Park gegangen, obwohl Margarete deutlich genug erklärt hatte, sie wünsche, allein im Park spazieren zu gehen.

Sie machte vor einem blühenden Fliederbusch halt.

„Fräulein von Keller, ich sehne mich danach, ein bisschen ohne Ihre unerträgliche Gesellschaft zu sein, vielleicht befreien Sie mich jetzt für ein Weilchen davon.“

Sie war sich voll und ganz des schroffen Tones und der unfreundlichen Worte bewusst, aber auf Liebenswürdigkeit reagierte Antonie von Keller gar nicht.

Die Dame blieb in höflich ergebener Haltung vor ihr stehen.

„Ich folge nicht meinen eigenen Wünschen, Prinzessin, wenn ich Ihnen zuweilen aufdringlich erscheine, sondern tue meine Pflicht, wie sie Durchlaucht von mir fordert.“

Margarete biss sich auf die Lippen. Das sah der Grossmama ähnlich. Also nahm sie ihr durch die Aufpasserin das letzte bisschen Freiheit fort.

Sie durfte nichts gegen die Fürstin äussern, schweigend und schlecht gelaunt, wanderte sie weiter durch den Park. Neben ihr, mit der gewohnt ergebenen Miene, schritt Antonie von Keller.

„Prinzessin,“ begann Fräulein von Keller nach einem Weilchen, „es tut mir sehr leid, von Ihnen falsch beurteilt zu werden, ebenso wie Ihre Durchlaucht von Ihnen anscheinend falsch beurteilt wird. Die Fürstin muss doch vor allem darauf sehen, dass Sie in der Denkungsweise aufwachsen, wie sie für ein Mitglied Ihres hohen Hauses selbstverständlich ist. Das erfordert die Tradition. Sie sind die Letzte aus dem Hause Wulffenberg und alle Hoffnungen und Wünsche der Fürstin sammeln sich noch einmal um Ihre Person, Prinzessin. Sie stehen im Mittelpunkt dieser Hoffnungen und Wünsche. Sie sind noch jung, sind leicht empfänglich für fremde Einflüsse, dagegen will und muss Ihre Durchlaucht Sie schützen. Sie meint es gut mit Ihnen.“

Margarete ging stumm an der Seite der grauhaarigen Dame durch den sommerlichen Park, der gar nicht mehr gepflegt wurde und einer blühenden Wildnis glich.

Sie hörte wohl zu, aber die Worte fanden nur ihr Ohr, nicht ihr Herz.

Fräulein von Keller seufzte.

„Ich bin Ihnen unsympathisch, Prinzessin, und Ihnen wäre es am liebsten, wenn ich heute noch das Schloss verlassen würde, deutlich genug lassen Sie es mich ja merken.“ Sie schüttelte den Kopf. „Glauben Sie mir, Prinzessin, es ist ein sehr, sehr peinlicher Gedanke, trotzdem aushalten zu müssen.“

Margaretes Augen blitzten sie an.

„Dann gehen Sie doch! Weshalb wollen Sie denn dann durchaus hierbleiben? Nein, ich mag Sie nicht, mag Sie gar nicht! Und nun laufen Sie zu meiner Grossmama, verklatschen Sie mich und kündigen Sie Ihre Stellung.“

Beide waren wieder stehen geblieben.

Antonie von Keller hatte flackernde Röte auf den schon welken Wangen.

„Nein, Prinzessin, ich werde Sie weder verklatschen, noch meine Stellung kündigen, denn ich bin froh, ein Dach über dem Kopf zu haben und soviel Essen, dass ich satt werde. Höhere Wünsche habe ich nicht mehr, längst nicht mehr und ich hatte einmal so viele Wünsche.“

Sie wies auf eine Bank unter dichtem Holunderstrauch, dessen schwarze Beeren tief niederhingen.

„Wollen wir uns dorthin setzen, Prinzessin?“

Es klang sehr bittend.

Margarete dachte, es war ja gleich, ob sie herumspazierte oder sich setzte.

Sie nahm auf der alten Bank Platz.

Unfern standen zwei Göttinnen aus Sandstein, Efeu legte sich um ihre Glieder wie ein enges dunkelgrünes Gewand.

Fräulein von Keller lächelte mit schmerzlich tief niedergebogenen Mundwinkeln.

„Ich hatte einmal sehr viele Wünsche, als ich noch hübsch und jung war. Aber der Mann, den ich liebte, starb, ich musste mein Brot unter Fremden verdienen, ward überall herumgeschubst, bis ich, älter werdend, immer schwerer Unterschlupf fand. Wo aber soll eine alte Person, wie ich bin, noch hin? Heute herrscht die Jugend allüberall und unsereins muss froh sein, wenn noch irgendein Plätzchen frei bleibt, in das man sich hineindrücken kann. Dafür tut man viel, dafür verleugnet man, wenn es verlangt wird, seine Ueberzeugung.“ Sie atmete tief. „Und das brauche ich nicht einmal, denn ich stehe auf dem Standpunkt, wir Menschen sollen nicht alle gleich sein, wie es die Modernen fordern, für mich gibt es Auserwählte. Ich habe den Respekt vor Kronen im Blut, und ich bin stolz darauf, nach Schloss Wulffenberg berufen worden zu sein. Aber von alledem abgesehen, versichere ich Ihnen, Prinzessin, Sie können tun, was Sie wollen, freiwillig verlasse ich meinen Posten nicht, denn das, was Sie bisher bei mir sicher Dickfelligkeit nannten, ist wirklich nichts weiter als Selbsterhaltungstrieb.

Margarete, die geradeaus geschaut hatte auf die Sandsteindamen in den Efeutoiletten, vernahm neben sich mühsam gebändigtes Schluchzen.

Ihr gutes Herz meldete sich

„Meinetwegen brauchen Sie das Schloss nicht zu verlassen, Fräulein von Keller,“ sagte sie freundlicheren Tones, „denn wir beide wissen schliesslich schon, wie mir miteinander daran sind und mit Ihrer Nachfolgerin falle ich vielleicht noch mehr rein, wie mit Ihnen!“

Die dürre Dame versuchte ein strahlendes Gesicht zu machen, doch das hatte sie, weil sie von je zu wenig Gelegenheit dazu gehabt, längst verlernt, es reichte nur noch zu einer Grimasse.

Margarete fand sich von dieser Stunde an mit der alten Gesellschafterin ab und allmählich begann das respektvolle Wesen, das Fräulein von Keller ihr gegenüber zur Schau trug, auf sie zu wirken. Sie fing an, mehr Gewicht auf ihren Rang zu legen. Der Wulffenbergsche Hochmut, den Else von Stein in ihr bekämpft und unterbunden, schnellte hoch und als sie zu Hans Westfals Mutter kam, da fand die einfache Frau, die Prinzessin hatte sich verändert.

Nicht zum Vorteil.

„Sie wird einmal so hochmütig wie die Fürstin, Hans,“ meinte sie, „und wenn du klug bist, redest du dir auf Grund eurer Kinderfreundschaft nicht etwa in etwas hinein, was nachher wehe tut, wenn man es sich abgewöhnen muss.“

Hans Westfal lachte fröhlich und antwortete: „Ich fürchte mich nicht davor, Mutter, denn im Grunde ist Gretel ein liebes, harmloses Geschöpf. Ich glaube nicht, dass sie einmal Ihrer Durchlaucht gleichen wird.“

Er eilte zur Zusammenkunft.

Die Mutter sah Dinge, die es nicht gab.

Aber heimlich lachte er, weil die Mutter von später gesprochen. Beim Himmel, wenn es so weit war, dann wollte er es mit allen hochmütigen Fürstinnen der Welt aufnehmen um eines geliebten Mädchens willen.

Erst aber galt es etwas zu werden und solange Margarete zu verschweigen, an was er doch mit der Seligkeit dachte, die wohl nur erste Liebe auslöst.

Margarete war heute sechzehn Jahre.

Er stand dann vor der Pforte an der Rückseite des Parks, und Margarete öffnete nach einem Weilchen. Sie trug das weisse Kleid, das sie am selben Tage des vorigen Jahres getragen, und er dachte ein bisschen gerührt, dass sich jede kleine Verkäuferin bestens bedankt hätte, das verwaschene, ausgewachsene Fähnchen zu tragen.

Es durchzuckte ihn, wie wunderschön das sein musste, wenn er Margarete später elegante, geschmackvolle Kleider kaufen würde.

Seine Augen lachten ihr entgegen.

Wie ein warmer Strom ging es durch den Körper des schlanken Mädchens.

Um wie vieles stattlicher Hans Westfal geworden war, dachte Margarete. Sie reichte ihm impulsiv beide Hände, errötete ein wenig.