Die rechtschaffenen Mörder - Ingo Schulze - E-Book
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Die rechtschaffenen Mörder E-Book

Ingo Schulze

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Beschreibung

SPIEGEL-Bestseller und Shortlist Preis der Leipziger Buchmesse Ingo Schulze erzählt davon, wie wird ein aufrechter Büchermensch zum Reaktionär wird – oder zum Revoluzzer? Norbert Paulini ist ein hochgeachteter Dresdner Antiquar. Lange Jahre finden Bücherliebhaber bei ihm Schätze und Gleichgesinnte zum Gedankenaustausch. Doch mit der Wende bricht das Geschäft ein, die Kunden bleiben weg. Paulini versucht mit aller Kraft, sein Lebenswerk zu retten. Doch er scheint dabei ein anderer zu werden. Er ist aufbrausend und zornig. Er wird beschuldigt, an fremdenfeindlichen Ausschreitungen beteiligt zu sein. Die Geschichte nimmt eine virtuose Volte: Ist Paulini eine tragische Figur oder ein Mörder?

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Seitenzahl: 320

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Ingo Schulze

Die rechtschaffenen Mörder

Roman

FISCHER E-Books

Meiner Mutter

Christa Schulze

Wer kann denn das Ende eines Buches auch nur erahnen, wenn er darangeht?

Vilem Flusser, Die Geschichte des Teufels

Teil I

Kapitel I

Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar, der wegen seiner Bücher, seiner Kenntnisse und seiner geringen Neigung, sich von den Erwartungen seiner Zeit beeindrucken zu lassen, einen unvergleichlichen Ruf genoss. Nicht nur Einheimische suchten ihn auf, nicht allein in Leipzig, Berlin oder Jena wurde seine Adresse eifersüchtig gehütet, sogar von den Ostseeinseln Rügen und Usedom reisten Lesehungrige an. Sie nahmen stundenlange Zug- oder Autofahrten in Kauf, schliefen auf Luftmatratzen bei Freunden oder ertrugen billige Quartiere, nur um am folgenden Tag Punkt zehn ihre Entdeckungsreise zu beginnen, die, unterbrochen von einer zweistündigen Mittagspause, bis achtzehn Uhr währte, mitunter aber auch bis in die Nacht. Auf Leitern erklommen sie die Höhen der obersten Regalreihen, lasen auf den Sprossen ganze Kapitel, bevor sie wieder hinabstiegen, um auf Knien, als horchten sie das Linoleum ab, die Buchrücken im untersten Fach zu inspizieren. Gerade in den extremen Zonen vermuteten die Suchenden jene Werke, die ihnen zum Mittelpunkt der Welt werden könnten.

Andere Antiquariate verfügten vielleicht über ein breiteres Angebot mit mehr Raritäten in größeren Räumen. Doch wer nach Dresden-Blasewitz in die Brucknerstraße kam, das eiserne Gartentor aufschob, an Hecken und Mülltonnen vorbei die Haustür erreichte, den weißen, wackligen Knopf neben dem Schild »Antiquariat« drückte, sich geduldete, bis die Tür mit einem Klack aufsprang, über die Sandsteinstufen in den ersten Stock stieg und endlich die aluminiumhelle Klingel mit der Aufschrift »Bitte drehen« betätigte, erstrebte mehr, nämlich Einlass in das Reich des berühmten Antiquars Norbert Paulini.

Norbert Paulini ähnelte einem Kirchendiener oder Museumspförtner, wenn er, den Türspalt mit seinem Körper schützend, den Besucher über die Brille hinweg musterte und durch sein »Sie wünschen?« in Verlegenheit brachte oder gar zum Unbefugten degradierte, der die Parole nicht wusste. Erkannte der Herrscher über die Bücher einen denn nicht wieder? Hatte er die gemeinsamen Gespräche vergessen?

Wer ihm antwortete, durfte eintreten! Sowohl jene, die den Wunsch hegte, »nur mal herumstöbern« zu wollen, als auch jener, der wissen wollte, ob vielleicht diesmal eine Übersetzung des Thukydides hereingekommen sei.

»Ich grüße Sie«, erwiderte Norbert Paulini dann, nannte seine Gäste beim Namen oder bot zumindest ein zögerndes »Frau …« oder »Herr …« an, woraufhin seine Besucher ihm auf die Sprünge halfen. Nickend wiederholte der Antiquar den Namen wie eine Vokabel, die ihm unbegreiflicherweise für einen Moment entfallen war.

Je nach Wetter und Jahreszeit wies er auf Garderobe und Schirmständer hin und enteilte mit großen Schritten, nur um kurz darauf mit einigen Büchern zurückzukehren, die ein Einweckgummi umspannte, obenauf der Zettel mit dem Namen seines Gegenübers.

»Womöglich ist etwas dabei, das Sie interessiert«, sagte er, ließ den Gummi auf sein linkes Handgelenk wechseln und den Zettel in der Seitentasche des blaugrauen Kittels verschwinden. Umgehend referierte Norbert Paulini die Beweggründe, die ihn veranlasst hatten, dieses oder jenes Werk dem gesuchten Titel hinzuzufügen. Dabei liebkosten seine Handflächen und Finger die Bücher, schmiegten sich an sie oder strichen sanft über deren Verletzungen, seien es Risse im Schutzumschlag, abgestoßene Rücken oder eingedrückte Ecken. Ein Buch nach dem anderen legte er vor sich ab, wobei die Fingerkuppen seiner Rechten unermüdlich daran arbeiteten, sie im gleichen Abstand zur Tischkante auszurichten. »Vielleicht findet eines davon Ihr Interesse«, wiederholte er abschließend und empfahl sich. Allein gelassen mit den Büchern geschah es selten, dass jemand die Anregungen ausschlug. Zu wenig Geld dabei zu haben schied als Grund aus. Ein jeder durfte seine Bücher gleich mit nach Hause nehmen, nachdem die Kurbel an der Registrierkasse betätigt und der ausstehende Betrag auf einem Zettel vermerkt worden war. Nicht selten aber zerknüllte Norbert Paulini den eben erst erstellten Schuldschein vor den Augen seines Gastes und legte stillschweigend das ersehnte Buch auf die bezahlten. Er war taub für die Proteste derer, die sich so viel Großzügigkeit nicht gefallen lassen wollten. Norbert Paulini wusste, was gut für jeden und jede war. Welche Rolle spielten da ein paar Mark mehr oder weniger?

Ob die Bücher in den drei schönsten Zimmern Norbert Paulinis wohnten oder ob er sich bei den Büchern niedergelassen hatte, blieb unentschieden. Die Bücher und der Antiquar lebten zusammen, am Tag und in der Nacht, und da vor den Fenstern zur Straße Ahornbäume standen und vom Hof aus eine große Kastanie das Haus beschirmte, verloren sich die Tages- und die Jahreszeiten in einem Halbdunkel, das jederzeit das Licht einer Leselampe rechtfertigte.

Norbert Paulini konnte aber auch streng, ja unerbittlich werden, wenn Besucher ein Buch, das sie durchblättert hatten, falsch zurückstellten oder quer auf den anderen liegen ließen. Er bestand unter allen Umständen auf der Einhaltung seiner Ordnung. Allein die Ordnung bewahrte die Bücher vor der Unauffindbarkeit, also vor dem Verschwinden. Ordnung war auch die Voraussetzung für Norbert Paulinis sechsten Sinn. Er besaß die Gabe, Veränderungen in der Abfolge der Buchrücken aus den Augenwinkeln zu gewahren. War das Muster der Buchrücken verletzt, fand er umgehend die Stelle und hätte Autor und Titel nennen können, noch bevor das Buch auf seinem Kassentisch landete. Mitunter wartete Norbert Paulini bereits mit weiterführenden Empfehlungen auf. Zweimal hatte er einen Dieb unter Nennung der vollständigen bibliographischen Angaben aufgefordert, das Buch wieder herauszurücken. Manche schrieben ihm übernatürliche Kräfte zu oder sahen sich klammheimlich nach geheimnisvollen Spiegeln um.

Es lag nahe, Norbert Paulini für einen älteren Mann zu halten. Wer sich aber nicht an seinem vorsintflutlichen Brillenmodell störte oder an jener unfreiwilligen Tonsur, die auf seinem Hinterkopf leuchtete, eingehegt von dunklem lockigen Haar, wer seine breiten Schultern und starken Arme nicht der unter dem graublauen Kittel getragenen Strickjacke zuschrieb, wer weder Anstoß nahm an den Bügelfalten der Hosenbeine noch an dem schweren, orthopädisch anmutenden Schuhwerk, in dem er tagtäglich die Räume durchquerte, wer sich auch nicht von seiner dem Schriftlichen verpflichteten und vom sächsischen Dialekt eingefärbten Sprechweise in die Irre führen ließ, sondern Norbert Paulini so wie ich damals ins Gesicht sah, erblickte inmitten der Kostümierung einen jungen Mann, von dem sich niemand vorstellen konnte, dass er jemals anders gewesen war noch jemals anders werden würde.

Kapitel II

Schon als Neugeborener wurde Norbert Paulini auf Bücher gebettet. Seine Mutter, Dorothea Schuller, die aus Kronstadt in Siebenbürgen stammte, in den Kriegswirren mit ihrer Familie geflohen und allein in Bad Berka bei Weimar gestrandet war, wo sie in der Hoffnung auf eine Wiederbelebung der Bauhausidee in einem Zimmer ohne Ofen ausharrte, begegnete 1949 ihrem späteren Mann Klaus Paulini im Park an der Ilm. Die Bestimmtheit, mit der er auf sie zutrat, seine guten Manieren, sein angenehm fester Händedruck wie auch sein Name bewogen sie, seinetwegen nach Dresden zu ziehen und ihn zu heiraten. Klaus hatte eine Lehre als Dreher beendet und arbeitete in einem Betrieb in Dresden-Reick. Dorothea Paulini erhielt im März 1951 die Erlaubnis, eine Buchhandlung mit antiquarischer Abteilung zu eröffnen. Das Angebot ihres Schwiegervaters, der sich vom Schlosser zum Lokführer qualifiziert hatte, ihr finanziell unter die Arme zu greifen, schlug sie aus und brachte ihn damit gegen sich auf. Allerdings verschwand der alte Paulini, ein seinen Launen unterworfener Mensch, wenig später aus Dresden, ohne die Familie wissen zu lassen wohin.

Die Buchhandlung von Dorothea Paulini in der Hüblerstraße, nur einen Steinwurf vom Schillerplatz und jener »Blaues Wunder« genannten Elbbrücke entfernt, florierte vom ersten Tag an. Ihr Mann hatte für sie einen zweirädrigen Fahrradanhänger erstanden, mit dem sie nun ihre Erwerbungen tätigen konnte. Kein Weg war Dorothea Paulini zu weit, wenn man sie rief und ihr die richtigen Bücher anbot. Mitunter übernahm auch Klaus Paulini, der zum Leidwesen seiner Frau kein Leser war, abends oder sonntags die Touren für sie und steuerte von seinem Lohn etwas bei, wenn das Geld knapp wurde.

Dorothea und Klaus Paulini waren zuversichtlich. Einen neuen Krieg sollte es nicht geben. Ihr Beitrag dazu war, in Bücher zu investieren. Jeden Pfennig, den sie erübrigen konnten, steckten sie in Ankäufe. Und selbst als Dorothea schwanger wurde, änderte sich daran nichts.

Im Juni 1953 brachte Dorothea Paulini einen Knaben zur Welt – und verstarb wenige Tage später an einer nicht erkannten Sepsis. Agnes Paulini, geborene Abel, nahm sich ihres Enkels an, wie sie es ihrer Schwiegertochter versprochen hatte. Allerdings weiß niemand, warum Klaus Paulini keinen Nachfolger für die Buchhandlung suchte und sich stattdessen bereit erklärte, den Kredit seiner Frau abzubezahlen und die erworbenen Bücher, die zum Großteil noch in Kisten und Kartons lagerten, zu behalten.

Hätte er es nicht ertragen, einen Fremden hinter Dorotheas Registrierkasse zu sehen? Konnte er nicht von dem Traum lassen, als Gehilfe einer stillen und sauberen Arbeit nachzugehen, statt sich einer lärmenden Maschine zu verschreiben, die seinen Körper Tag für Tag von den Sohlen bis in die Haarwurzeln durchdrang und ihm den verbrauchten Odem einer von Schmieröl gesättigten Luft ins Gesicht blies? Oder wollte er tatsächlich, wie manche später behaupteten, die Bücher seiner geliebten Frau für ihr Kind bewahren? Mit der Hilfe von Arbeitskollegen verfrachtete Klaus Paulini die vielen Bücher und wenigen Regale in die Brucknerstraße, wo Agnes Paulini zwei Zimmer in der ersten Etage eines von der Vermieterin »Stadtvilla« genannten Hauses bewohnte. Die Bücher, die weder in den Keller noch in die Zimmer passten, schichteten sie in der großen Diele zu quadratischen Blöcken auf. Ein Tischler war bereits beauftragt worden, Holzplatten anzufertigen. Sie sollten die Bücherstapel in Tische verwandeln. Aber diese »Altäre« mussten umgehend unter Hinweis auf die statischen Gegebenheiten des Hauses und unter dem Beifall der schlesischen Flüchtlingsfamilie, die drei Zimmer der Etage bewohnte, wieder abgetragen werden. Klaus Paulini verkaufte zum Leidwesen seiner Mutter die Bettgestelle. Fortan lagerten die Matratzen auf Büchern. Auch der Korb mit dem Neugeborenen ruhte auf einem Unterbau gleichen Materials. Was die Regale nicht fassen konnten, wuchs an den Wänden dicht an dicht in Stapeln empor. Es sah aus, als hätten die Bewohner Hamsterkäufe getätigt. Doch anstelle von Konserven, Zucker- oder Mehltüten horteten sie Bücher. Die Registrierkasse thronte auf dem Nähmaschinentisch wie ein selbstherrlicher Bonze.

Kapitel III

Klaus Paulini hatte sich bereit erklärt, im Schichtbetrieb zu arbeiten, was ihn zermürbte. Tagsüber fand er zu Hause kaum Schlaf. Die Schuld daran gab er seinem Sohn, der, wie er behauptete, alles immer nur laut machen könne. Agnes Paulini lehnte es jedoch ab, ihren Enkel in die Kinderkrippe zu geben, wie es ihr Sohn verlangte. Stattdessen unternahm sie lange Ausfahrten mit dem Kinderwagen, später, als Norbert laufen konnte, Spaziergänge durch Blasewitz und Loschwitz oder entlang der Elbe. Manchmal führten sie ihre Ausflüge bis in die Innenstadt, wo auf den großen Wiesen zwischen Altmarkt und Hauptbahnhof Schafherden weideten. Norbert Paulini konnte nicht genug davon bekommen, wenn seine Großmutter das schmutzig-klebrige Fell der Tiere wie Grasbüschel auseinanderbog, damit er sehen und fühlen konnte, wie sauber, hell und weich es darunter wurde. Sie lehrte ihn, vor dem Einschlafen zu beten, und wollte ihn taufen lassen, aber das verbat sich sein Vater. Es heimlich zu tun, fehlte ihr der Mut.

Als Agnes Paulini eines Tages beim Bettenmachen aus Versehen gegen den Unterbau der Matratze trat, fielen ihr etliche Bücher vor die Füße. Sie wollte sie wieder einfügen, allerdings blieb eines übrig, als hätten sich die Bausteine wie durch ein Wunder vermehrt. Eher aus Verlegenheit denn aus Absicht öffnete sie es, sah hinein und hatte auch schon zu lesen begonnen. Die Namen hätte Agnes Paulini nicht auszusprechen vermocht, verstand jedoch bald, dass es um die Liebe zwischen einem ehemaligen Hauslehrer, der jetzt Priester werden sollte, und der Mutter der ihm einst anvertrauten Kinder ging, eine Geschichte aus grauer Vorzeit. Als ihr Sohn nach Hause kam, traf er seine Mutter laut lesend an. Natürlich verstehe der Junge nichts davon, erwiderte sie auf seine Frage, aber ihre Stimme übe einen beruhigenden Einfluss auf Norbertchen aus. Als Agnes Paulini das Buch drei Tage später beendete – mitunter hatte sie einige Seiten überblättert, auf denen es nicht recht vorangegangen war –, bemerkte sie, dass sie mit dem zweiten Band begonnen hatte. Sie zog die Matratze weg und ließ kein Buch auf dem anderen, bis sie den ersten Band in Händen hielt.

Von jener Zeit an las sie langsam und laut, was ihren Enkel bald dazu brachte, ihre Satzmelodien mit einem Gesumm zu begleiten oder einzelne Wörter nachzusprechen und zu wiederholen, mitunter so lange, bis Agnes Paulini verstummte und der Sinn der Wortsilben zu Lauten zerrann. Oft zeigte Norbert Paulini beim Spaziergang nun auf ein Haus, ein Verkehrsschild, einen Strauch und sagte: Glockenschlag, Föhrenwald, Mistgabel. Agnes Paulini korrigierte ihn, musste aber einsehen, damit zu spät zu kommen. Am nächsten Tag wies er sie erneut auf das Vorfahrtsschild hin und wiederholte »Föhrenwald«. Es kam sogar vor, dass Agnes Paulini auf etwas deutete und »Portemonnaie« flüsterte, was Norberts Bezeichnung für den Hut war, den Frau Helene Kate, die Vermieterin, trug. Dieser Begriff wiederum blieb nicht auf Frau Kate beschränkt, ließ sich aber auch nicht auf Damenhüte im Allgemeinen anwenden.

Die einzigen Ausflüge, die Klaus Paulini allein mit seinem Sohn unternahm, führten zum Grab seiner Frau. Vater und Sohn gingen zwar Hand in Hand, aber sie schwiegen. Nachdem sie am Grab Unkraut gezupft und die Blumen gegossen, dann eine Weile dagestanden und sich nicht gerührt hatten, hob Klaus Paulini an zu sprechen. Wie schwer ihm das Leben ohne sie falle, wie ihm die Nachtschichten zusetzten, sie aber das Geld brauchten, wie Frau Kate jedes Mal, wenn sie ihm die Karten legte, eine Frau an seiner Seite zu erkennen meinte, eine, die bereits in der Nähe sei. Doch ganz gleich, was er über Norbert sagte, ob er ihn lobte, weil er stundenlang still einer Malerbrigade bei der Renovierung des Treppenhauses der »Villa Kate« zugesehen oder beim Friseur nicht geweint habe, oder ob er ihn tadelte, weil er ein Frühaufsteher sei und die Fähigkeit des leisen Sprechens nicht besitze – Norbert Paulini brach regelmäßig in Tränen aus, sobald sein Name fiel. Und regelmäßig kehrten beide Paulinis missmutig zurück.

Einige Monate vor Norberts Einschulung musste Agnes Paulini ins Krankenhaus. Ihr Enkel lebte von Besuchstag zu Besuchstag, notdürftig betreut von Frau Kate und seinem Vater. Als dieser sich weigerte, ihn mit ins Krankenhaus zu nehmen, rannte Norbert mit Anlauf gegen ihn an, was Klaus Paulini so unerwartet traf, dass er stolperte und hinfiel.

Da Norbert Paulini es nicht gewohnt war, allein zu schlafen, lag nachts, wenn er nicht im Betrieb sein musste, sein Vater auf der Matratze der Großmutter. In einer dieser Nächte wurde Norbert Paulini von einem Knall geweckt und glaubte, seine Großmutter wäre zurückgekehrt. Aber der Atem neben ihm ging anders. Es war nicht das leise Schnarchen, das einem Surren, fast Schnurren ähnelte und in Abständen Schnalzer produzierte. Einen Augenblick später war Norbert am Lichtschalter.

Klaus Paulini schreckte auf. »Verschlafen?«, fragte er blinzelnd, sah auf den Wecker, dann zu seinem Sohn. Ohne Großmutter erschien Norbert Paulini selbst sein Vater fremd.

Nacht für Nacht wurde Norbert nun aus dem Schlaf gerissen, ohne zu wissen, was da zwischen seinen Ohren und den Wänden hallte und in der Vase und den Gläsern der Vitrine schepperte und sirrte. Nur die Bücher schwiegen. Er nahm sich eins und schlug es auf, aber ohne Großmutter blieb das Buch stumm. Wütend warf er es von sich. Es landete auf einem der Bücherstapel und blieb dort liegen, als habe es in genau dieser Lage und an genau diesem Platz weiterschlafen wollen.

In mancher Nacht glaubte Norbert Stimmen zu hören, obwohl sein Vater Nachtschicht hatte und Frau Kate längst gegangen war. Er knipste im Nebenzimmer das Licht an – da war es, als hielten die Möbel erschrocken inne im Gespräch, als verharrten sie in ihrer schiefen Haltung, in der er sie überrascht hatte. Selbst die Vorhänge machten mit. Wenn er nur lang genug wartete, würden die Möbel zu wackeln beginnen und die Vorhänge sich auf- und zuziehen und sich zu erkennen geben als Wesen, die nicht anders waren als er und alle anderen auch.

Plötzlich hörte er das Singen der Straßenbahn in der Kurve am Schillerplatz. Ihr Klang spannte sich tröstlich über den Nachthimmel. Seine Großmutter würde dasselbe Geräusch hören und an ihn denken. Norbert sah die Straßenbahnfahrerin, die aufrecht saß wie immer und ernst und konzentriert an den Kurbeln drehte. Sie war für alle da, die ganze Nacht. Aber nur ihm nickte sie zu. Er sollte nun einsteigen, sie würde ihn zur Großmutter bringen.

Kapitel IV

Mit dem Tod von Agnes Paulini war Norbert Paulini auch vom lieben Gott verlassen worden. Sein Vater wollte nichts von Gott wissen, Frau Kate fühlte sich nicht zuständig, und in der Schule lachten sie ihn wegen seiner Nachfrage aus.

Was Schule bedeutete, begriff Norbert Paulini, als die ersten Klassen mit einem Sonderbus ins neue Hallenbad fuhren. Nach dem Unterricht im Becken marschierte die kleine Schar der Schwimmer, denen er zugeteilt worden war, zum »Dreier«, wie die Frau in blauer Turnhose und weißer Trainingsjacke, eine Trillerpfeife um den Hals, den Sprungturm nannte. Einer nach dem anderen kletterte hinauf, lief über das Brett und sprang.

»Ich will nicht springen«, sagte Norbert Paulini wahrheitsgemäß.

»Nun steig erst mal rauf«, ermutigte ihn die Schwimmlehrerin. Er war bereit, den Sprungturm zu erklimmen und die Halle von dort oben aus zu besichtigen. Sprosse um Sprosse folgte sie ihm.

»Springen will ich aber nicht«, sagte Norbert Paulini. Er beugte sich vor, als fürchtete er, mit dem Kopf an die Hallendecke zu stoßen. Wie Sandpapier schmirgelte das Sprungbrett an den Sohlen.

»Jetzt spring«, sagte die Trainerin, die ihm den Abstieg versperrte. Ihre langen Fußnägel rückten bedrohlich auf ihn zu.

»Ich möchte nicht«, wiederholte Norbert Paulini. »Das ist mir zu hoch.«

Entfernt hörte er die Stimmen seiner Klassenkameraden, die sich bereits anzogen. Das Wasser schmatzte nicht mehr am Beckenrand, glatt und still lag es da.

»Ich will nicht!«, schrie er auf. Er hatte zum ersten Mal in die Tiefe geblickt. Unter ihm gähnte ein blaugrün gefliester Abgrund.

»Nein!«, rief er – etwas schob ihn. Er wollte sich dem Schmirgelpapier anschmiegen. Was die Schwimmlehrerin rief, hallte von allen Seiten zurück. Abermals schrie er auf beim Anblick des Abgrunds, wusste jedoch nicht mehr, was unten, was oben war. Alles gab nach, kippte, stürzte auf ihn, mit ihm, hinab, ein Schlag auf den Rücken, ein Schlag ins Gesicht …

Die Beine der Schwimmlehrerin waren zerkratzt, Striemen zierten ihren Hals, das Wasser troff von ihren Haaren, der Trainingsjacke, der Hose – die Schlappen fehlten. Norbert hockte zusammengekauert am Beckenrand, in den Augen eine Wildheit, vor der seine Klassenlehrerin, mit Pflaster und Handtuch bewehrt, zurückwich. Trotzdem war sie es, die irgendwann seine zitternde Faust zu lösen vermochte und die Trillerpfeife darin fand.

Von nun an hatten es beinah alle aus seiner Klasse darauf angelegt, die Schwimmlehrerin zu rächen. Die Unterrichtsstunden machten ihm nichts aus. Aber es gab den Schulweg, und es gab die Pausen. Und vor allem gab es den Hort. Er wollte nicht dort sein. Aber er wusste auch nicht, wo er überhaupt sein wollte. Er hatte sich gewehrt, als Einziger hatte er sich gewehrt und die Schwimmlehrerin besiegt und ihr sogar die Pfeife entrissen. Aber wem sollte er das sagen?

Selige Augenblicke lang konnte er auf dem Weg nach Hause den Tod seiner Großmutter vergessen. Er meinte dann, erwartet zu werden, alles vorbereitet zu finden, das Abendbrot in der Küche und den geheizten Ofen im Badezimmer.

Jetzt war es Frau Kate, bei der er im Erdgeschoss klingeln musste. Frau Kate war klein, aber wegen ihres gewaltigen Dutts und ihrer Absatzschuhe, die sie auch zu Hause trug, fiel das kaum auf. Dem Jungen wiederum erschien an Frau Kate alles groß: die Nase, Augen, der Mund, Busen und Po. Hätte sich nicht in ihrem Gesicht ein Ausdruck verfestigt, der glauben machte, sie müsse jeden Moment niesen oder ihr sei gerade ein Gestank in die Nase gefahren, hätte sie sogar als schön gelten können.

Ihre Pension »Villa Kate« bestand aus drei Zimmern im Erdgeschoss und vier Kemenaten unter dem Dach. Nach dem Auszug »der Schlesier« wurde eines der freien Zimmer der Pension zugeschlagen, eines bekamen die beiden Paulinis als Gegenleistung dafür, dass sie die Gäste in ihrem Badezimmer und Klo duldeten, das kleinste diente fortan als Abstellraum. In ihrem Wohnzimmer wurden Frühstück und Abendbrot eingenommen, wobei sie stets das »und« betonte. An ungeraden Tagen servierte sie abends Spiegeleier. Frau Kate, das wusste Norbert von seinem Vater, verfügte über die Fähigkeit, Dinge zu beschaffen, von denen andere nur träumen konnten. Frau Kate kannte in Dresden alle und jeden. Sogar Krokuszwiebeln aus dem Westen hatte sie für die Gräber organisiert.

Ihrer Fürsprache verdankte es Norbert auch, dass er vom Besuch des Schulhorts befreit wurde. Bei Frau Kate machte er seine Hausaufgaben, sie ging mit ihm einkaufen und »Wege erledigen«. Zu seinen Pflichten gehörte es, den Tisch für das Abendbrot zu decken, an dem er teilnahm, wenn sein Vater Spätschicht hatte.

Mitunter »expedierte« Frau Kate ihn ins Bett, das noch immer aus einer Matratze auf einem kniehohen Sockel von Büchern bestand. Für ihn tat sie etwas, wovon sie ihm einschärfte, es niemandem zu verraten, weil dies ihr beider Geheimnis sei. Es begann damit, dass sie an ihrem Dutt nestelte, Nadel um Nadel herauszog, kurz innehielt – und im nächsten Moment ihr Haar wie einen Wasserfall herabstürzen ließ.

Norbert Paulini war es erlaubt, die dunklen Strähnen einzufangen, sie über sein Kissen zu legen und seine Wange darauf zu drücken. Dann war Frau Kate auch bereit, ihm eines der Märchen vorzulesen, die er mochte. Zu seiner Enttäuschung aber endete es immer wieder an derselben Stelle.

Kapitel V

Klaus Paulini hatte sich mit Hilfe eines ärztlichen Attestes eine Umschulung zum Straßenbahnfahrer erstritten. Er verdiente nun weniger, doch sein Sohn war stolz auf die Uniform seines Vaters. Da er aber nicht mit in der Fahrerkabine der Straßenbahn sitzen durfte, verlor er bald die Lust, seinen Vater in den Ferien zu begleiten. Zudem fuhr Klaus Paulini auf der Linie 7 oder 8 und nicht, wie Norbert sich gewünscht hatte, mit der 4 oder wenigstens mit der 6. Wenn Norbert der Aufsicht von Frau Kate entkam, streunte er an den Elbwiesen herum, sah den alten Leuten beim Füttern der Enten und Schwäne zu und stellte sich unter das »Blaue Wunder«, das vom Gedröhn der Linie 4 erbebte, die von Pillnitz das Elbtal entlang bis nach Weinböhla fuhr und irgendwann aus jener Ferne zurückkehrte, nur um in der anderen Ferne zu entschwinden. Manchmal wünschte er sich in eines der Ruderboote hinein, die auf der Elbe trainierten. Er wusste aber nicht, wo oder ob die Ruderer überhaupt je an Land gingen.

Doch was er auch trieb, allem haftete eine unbestimmte Sehnsucht an, als erinnerte ihn jedes Ding an etwas, von dem er nicht wusste, ob es bereits in der Vergangenheit lag, in der er schon einmal erwachsen gewesen sein musste, oder ihn erst in der Zukunft erwartete. Der Tod seiner Mutter und der Tod seiner Großmutter waren nur Teile einer allgemeinen Katastrophe. Sein Vater und Frau Kate hatten noch das richtige Dresden gekannt, ohne die großen Wiesen, ohne Ruinen. Wunderschön war es einmal gewesen, und wunderschön würde es auch dereinst wieder werden, schöner als je zuvor, hatte seine Klassenlehrerin gesagt. Er hätte alles dafür gegeben, schneller älter zu werden, ein Erwachsener zu sein, weil die tun und lassen konnten, was sie wollten. Bis dahin musste er seinem Vater folgen, der ihn zwar nicht wie andere Väter mit »Kloppe« bedrohte oder Ohrfeigen verteilte, der aber meinte, die Großmutter habe ihr Norbertchen verzärtelt und überhaupt in Watte gewickelt. Gemeinsam mit dem Vater musste er morgens Liegestütze und Kniebeugen machen und sich im Anschluss kalt über der Wanne waschen.

Wie ausgewechselt aber war sein oft müder und maulfauler Vater, wenn sie an seinen freien Sonntagen mit dem Zug in die Sächsische Schweiz fuhren, mit der Fähre nach Bad Schandau übersetzten und in die Berge hineinwanderten, jeder mit seinem Rucksack. Beim Wandern waren sie gleichberechtigte Kameraden, weil dann einer für den anderen einstehen musste, sollte sich einer den Fuß verknacksen oder ein Bein brechen oder von einem herabfallenden Ast oder einem umstürzenden Baum getroffen werden. Im Winter ging es mit dem Bus nach Altenberg. Sie machten Langlauftouren nach Zinnwald oder Oberbärenburg. Der den Hang heraufkam, hatte die Loipe sofort für den Hinabfahrenden frei zu machen, auch wenn dieser nicht: »Spur frei!« rief. Wieder zu Hause, kehrte die alte Verlegenheit zwischen Vater und Sohn zurück.

Zur Jugendweihe erhielt Norbert Paulini nicht wie die anderen ein Klapprad oder ein Moped, sondern sein Vater und Frau Kate schenkten ihm einen Wanderurlaub im Riesengebirge. Norbert Paulini hatte sich die Davidsbaude wie die Jugendherberge in Zinnwald vorgestellt. Aber hier gab es ein Zimmer samt Waschbecken allein für seinen Vater und ihn. Die Betten standen nebeneinander, nicht übereinander. Zum Essen setzte man sich morgens, mittags und abends an einen gedeckten Tisch und wurde bedient.

»Einmal musst du ja damit anfangen«, sagte Klaus Paulini und entnahm seinem Koffer drei Bücher. Er verschwieg, dass Frau Kate zu Jack London statt zu Joseph Conrad geraten hatte, zu einem Jugendbuch über den Fliegenden Holländer statt zu »Schuld und Sühne«, zum »Dschungelbuch« anstelle von »Rot und Schwarz«. Doch in diesen Exemplaren fand sich in grüner Tinte und einem noch fast kindlichen Schriftzug der Name »Dorothea Schuller«.

»Das hat deine Mutter gelesen, als sie jung war«, sagte er.

Norbert Paulini schlug das oberste Buch auf. Er begann zu lesen. Von Zeit zu Zeit schielte er hinüber zu seinem Vater, der auf seiner Seite des Doppelbettes wie bei einer Rast auf dem Rücken lag, die Arme hinterm Kopf verschränkt, die Augen geöffnet. Überrascht bemerkte Norbert Paulini, wie angenehm es war, Zeile um Zeile in ein Buch zu tauchen, als machte er sich selbst Schritt um Schritt auf den Weg in eine fremde Welt, obwohl er bloß dalag.

Nach dem Abendessen mit den Erwachsenen, die meisten davon Rentner, die seinen Vater »Witwer« nannten und ihn verstohlen beäugten, durfte er aufstehen und allein nach oben gehen. Beinah wurde er ungeduldig, so lange brauchte er, um mit dem Gebirgswasser die eingeseiften Hände abzuspülen. Dann las er weiter, und als sein Vater spät eintrat, erschrak er wie zu Hause, wenn er den Schlüssel in der Wohnungstür hörte, doch eher darüber, dass er selbst schon so weit draußen auf See war, für niemanden mehr erreichbar. Erst als der Vater sein Nachtlämpchen ausschaltete und sagte, es sei jetzt genug, hörte Norbert Paulini auf zu lesen und löschte auch sein Licht. Im Dunkel hörte er das Rauschen der Bäume. Oder war es der Bach? Unmerklich schaukelte er in seiner Hängematte. Über ihm schlugen die Segel im hin- und herspringenden Wind, um ihn herum ächzten die Schiffsplanken. Norbert Paulini wurde auf der »Narcissus« davongetragen. Und als er morgens die Augen aufschlug, wusste er nicht, wo er war, an welchem Gestade gestrandet, bis er seinen Vater gurgeln hörte und sah, wie er die Zahnbürste erhob, um im Spiegel den aus Übersee heimkehrenden Sohn zu begrüßen. Nacheinander und schweigend absolvierten die Paulinis auf dem schmalen Gang zwischen Bett und Wand ihren Frühsport. Dann ging es zum Essen.

Unter freiem Himmel jedoch wurden sie wieder zu Kameraden, die gemeinsam an Wegkreuzungen auf die Karte starrten. Sie mussten sich vor den polnischen Grenzern hüten, denn die, das sagte sogar der tschechische Kellner, verhafteten mit Vorliebe deutsche Wanderer, und dann wisse man nie, wie lange die einen dort ohne Essen festhielten und wie teuer das würde. Das Riesengebirge war ein richtiges Gebirge, und die Pfade über die Bergkämme waren kahl und von Wiesen umgeben. Und wenn sie anderen Wanderern begegneten, grüßten diese mit »Ahoi«, und sein Vater antwortete ebenfalls »Ahoi«, so als wollten sie kundtun, wir wissen, wo du, Norbert Paulini, heute Nacht gewesen bist und wohin es dich zieht. Wie anders sollte er den Seemannsgruß im Gebirge auch deuten? Norbert Paulini zwang sich, auf den Weg zu achten und nicht zu dicht hinter seinem Vater zu gehen, der es überhaupt nicht mochte, wenn er tranig war und ihm auf die Hacken trat. War diesmal alles anders, weil sie im Ausland wanderten? Norbert blickte auf die Waden des Vaters, unter deren weißer Haut bei jedem Schritt die Muskeln sprangen und zuckten. Er wusste nicht, ob er seinen Vater liebte, aber seine Waden hätte er gern einmal berührt.

Als sie bereits am frühen Nachmittag die Davidsbaude wieder vor sich erblickten, war es Norbert Paulini, als liefen sie in den Heimathafen ein. Wer vor der Baude in der Sonne saß, winkte ihnen zu und wollte wissen, wo um Gottes willen sie denn so lange gewesen seien.

»Ahoi!«, rief Norbert Paulini. Er las auf dem Bett, er las draußen im Liegestuhl oder auf einer Bank. Die Buchseiten wellten sich mit jeder Nacht mehr. Sie rochen nach Davidsbaude, nach Tannennadeln und rauchiger Luft, der Wind tönte in den Wipfeln, und vom Bach kam ein Rauschen, das zum Unwetter anschwoll. Hob er jedoch mitten im Sturm den Kopf, lag das Kap der Guten Hoffnung im Sonnenschein und grüßte von fern her mit den leuchtenden grünen Matten seiner Berghänge, die sich bis hinauf zu den Kammwegen zogen.

»Er liest die Bücher seiner Mutter«, erklärte eine der älteren Frauen ihrem Mann. Jedes Nachwort bestärkte Norbert Paulini in der Überzeugung, dass die Erwachsenen, also auch jene am Abendbrottisch, alle Bücher kannten, die er selbst gerade erst zu lesen begann. Ihre Bewunderung für sein Lesepensum löste ihm selbst in Gegenwart seines Vaters die Zunge. Es fiel ihm leicht, sich Daten und Umstände einzuprägen, unter denen Schriftsteller ihre Werke geschaffen und der Menschheit geschenkt hatten. Die Wörter, die aus seinem Mund kamen, fühlten sich an, als hätte er sie entdeckt, als wären es tatsächlich seine eigenen Worte, ja als hätte er selbst die Nachworte verfasst.

Mir hingegen hat Norbert Paulini einmal erzählt, während jener Zeit im Riesengebirge nur »Moby Dick« gelesen zu haben, den aber gleich zweimal. Aus Ermangelung an Schreibzeug habe er unzählige Sentenzen auswendig gelernt. Eines Nachmittags habe ihn sein Vater gesucht und lange nicht gefunden, weil sich sein Sohn Norbert Paulini, umringt von älteren Damen und Herren, in einer separaten Stube über die furchteinflößende Farbe Weiß bei Walen, Haien und anderen Ungeheuern ergangen habe.

Sein Vater ermahnte ihn, Frau Kate einen Urlaubsgruß zu schicken. Es gab aber nur Ansichtskarten von der Davidsbaude im Winter. Er machte ein Kreuz über zwei Fenstern im ersten Stock. Auf dem Vordach lag hoher Schnee, Eiszapfen hingen herab. Da die Briefmarken an der Rezeption ausgegangen waren, nahmen sie die Ansichtskarte mit zurück und überreichten sie Frau Kate, die für sie Eierkuchen buk und meinte, die beiden Wandersmänner seien wohl ein ganzes Jahr unterwegs gewesen, wenn sie sogar den Winter im Gebirge verbracht hätten. Hatte Frau Kate nicht recht? Waren sie nicht tatsächlich schon vor langer Zeit ins Riesengebirge aufgebrochen? Und konnte er nicht deshalb erst jetzt die hiesige Landschaft aus Büchern als seine Heimat erkennen?

Kapitel VI

Norbert Paulini brauchte sich nur umzusehen oder seine Matratze anzuheben, um zu begreifen, welche Schätze seine Mutter ihm hinterlassen hatte, wie vorausblickend sie und sein Vater für ihn gesorgt hatten. Und auch wenn seine Mutter ihm keine Anleitung, keinen Kompass mehr an die Hand geben konnte, so blieben immerhin noch die Nachworte, die sich ihm zu einem Atlas fügten, in dem eine Seite auf die andere verwies und der einmal eingeschlagene Weg seine Fortsetzung fand, wenn er umblätterte.

In Norbert Paulini wuchs von Buch zu Buch die Überzeugung, dass die Schriftsteller froh darüber waren, in ihm endlich ihren Leser gefunden zu haben. Gemeinsam bildeten sie eine Familie, weshalb er sich allen anderen Lesern gegenüber überlegen fühlte.

Die Schule vernachlässigte er. Mit jedem Buch vergrößerte er die Kluft zwischen sich und seinen Klassenkameraden. Es war eigenartig, womit sie ihre Zeit vertrödelten. Er las selbst in den Pausen. Nur ein paar Mädchen, die Musiklehrerin und seine Deutschlehrerin sprachen ihn auf seine Lektüre an und bewunderten ihn, als er sagte: Thomas Mann »Buddenbrooks«, oder Gottfried Keller »Der grüne Heinrich«, erste Fassung. Daran knüpfte Norbert Paulini den Hinweis, Thomas Mann habe »Der grüne Heinrich« erst im Alter und auch da nur zufällig in die Hand bekommen, nämlich während eines Krankenhausaufenthaltes in Chicago. Wieder zu Hause, habe er weitergelesen, nun nicht mehr im Exemplar der Krankenhausbibliothek, und sich nicht wieder hineinfinden können, es war alles so anders. Thomas Mann habe nämlich zuerst in der zweiten, dann in der ersten Fassung des »Grünen Heinrich« gelesen. Er selbst erstelle gerade eine Liste der Unterschiede beider Fassungen, um ein für alle Mal Klarheit darüber zu erlangen. Zudem habe er den Verdacht, der Grund für die so lange ausgebliebene Lektüre könnte durchaus im Verhältnis zum Bruder Heinrich zu finden sein. Thomas habe einfach nicht den Namen Heinrich als Held eines Romans ertragen. Aber das sei natürlich Spekulation, reine Spekulation.

Die Klassenlehrerin zeigte sich unbeeindruckt und mahnte: Wenn seine Leistungen nicht besser würden, sehe sie schwarz für seine Zukunft.

Norbert Paulini wollte Leser werden. Aber es schien keinen Beruf zu geben, in dem er nicht achtdreiviertel Stunden fünf Tage pro Woche einer anderen Tätigkeit würde nachgehen müssen. Deshalb war es ihm im Grunde gleichgültig, womit er später sein Geld verdiente.

»Buchhändler, wie deine Mutter«, schlug Klaus Paulini vor.

»Buchhalter, wie Don Pedro«, hielt Frau Kate dagegen, »oder versuch was mit Abitur, ›Berufsausbildung mit Abitur‹, dann kannst du studieren!«

Sein Vater schüttelte den Kopf. »Heutzutage bringt das nichts. Da musst du dich mehr verbiegen als alle anderen.«

Frau Kate befragte die Karten. Aber das Haus, das sich immer wieder aufdrängte, das große Haus, für das er gemacht sei, interpretierte sie als Universität, es könne aber alles bedeuten, im schlimmsten Fall sogar die Staatssicherheit oder das »Gelbe Elend«.

Schließlich war es die Klassenlehrerin, die Norbert Paulini als Kind eines Arbeiters und als Halbwaise das Privileg einräumte, eine Ausbildung zum BMSR-Techniker mit Abitur zu beginnen.

»Betriebs-, Mess-, Steuer- und Regeltechnik«, klärte sie ihn auf. »Danach steht dir die Welt offen.«

Norbert Paulini beugte sich der Entscheidung wie einem Urteil.

Obwohl er den Lehrstoff einigermaßen verstand und sich in der Praxis halbwegs zurechtfand, bestürzte ihn die Vorstellung, sein Leben fortan zwischen Apparaten in Betrieben zu vertrödeln. Nach anderthalb Jahren schmiss er die Sache hin und war von nichts und niemandem mehr umzustimmen. Norbert Paulini war der unumstößlichen Überzeugung, nun genug gelitten und genug durchgehalten zu haben. Kein weiteres Jahr, keinen Monat, auch nicht eine Woche seines Lebens wollte er je wieder Tätigkeiten opfern, die ihm gleichgültig waren und die jeder andere genauso gut erledigen konnte. Wenn es eine Rechtfertigung seiner Existenz gab, verkündete er seinem Vater und Frau Kate, dann waren es jene mit Buchstaben bedruckten und gebundenen Seiten, die darauf warteten, von ihm in die Hand genommen, aufgeschlagen und gelesen, also von ihm zum Leben erweckt zu werden. Das und nichts anderes sei seine Bestimmung. Sein Vater und Frau Kate gaben sich gegenseitig die Schuld, bis Frau Kate mit ihm in die Volksbuchhandlung in der Hüblerstraße ging, ihn der Chefin als Sohn von Dorothea Paulini vorstellte, die hier einst eine Buchhandlung gegründet habe. Den Namen Paulini hatte sie noch nie gehört und den jungen Mann auch noch nie in ihrem Geschäft zu Gesicht bekommen, was dieser sofort bestätigte. »Die meisten Leser verwechseln im kindischen Wahn Bücher mit Eiern und glauben, diese müssten stets frisch genossen werden«, deklamierte Norbert Paulini ungefragt und ließ seinen Blick über die Regale schweifen. »Stattdessen«, fuhr er fort, »sollten sie sich an die Leistungen der wenigen Auserlesenen und Berufenen aller Zeiten und Völker halten. Das steht so oder ähnlich bei Schopenhauer, ›Die Welt als Wille und Vorstellung‹, Kapitel 15, gegen Ende, in meiner ›Halbfranz‹-Ausgabe der Gesammelten Werke in acht Bänden, erschienen bei Philipp Reclam, Leipzig, das Jahr habe ich gerade nicht im Kopf.«

Wenn der anspruchsvolle junge Mann sich bereitfände, die Büchersendungen auszupacken und einzuräumen, Wege zu erledigen, abends den Laden zu kehren und zu wischen und das zu ihrer Zufriedenheit, könne man darüber nachdenken, ihn bis zum Beginn des neuen Lehrjahres als Hilfskraft dem Volksbuchhandel vorzuschlagen. »Sischer is da gor nüscht«, fügte sie hinzu.

Norbert Paulini spülte auch das Geschirr der Frauen nach dem Frühstück und dem Kaffeetrinken ab, er glättete und bündelte das Packpapier für den Altstoffhandel, packte Bücher aus Kartons und in Kartons und verkroch sich, wann immer es ging, mit einem alten Buch in die hinterste Ecke. Trotzdem schien die Uhr an manchen Tagen rückwärts zu gehen.

Seine Einberufung zur Armee hatte niemand erwartet. Und dass sie so früh kam, galt als Glücksfall. Viele traf es erst, wenn sie bereits Frau und Kinder hatten. Norbert Paulini sah in der Einberufung einen weiteren Vorteil. Noch hatte jeder, der bei »der Fahne« gewesen war, darüber geklagt, endlos viel Zeit vergammelt zu haben, also unbeschäftigt gewesen zu sein. Demnach standen ihm unendlich viele Tage und Nächte zum Lesen bevor.

Für die sechs Wochen der Grundausbildung verproviantierte er sich mit einer in der DDR erschienenen Bibel. Ein dickeres Buch besaß er nicht. Zu Hause ließ er sorgsam vorbereitete Bücherstapel zurück, die im Wochentakt auf die Reise gehen sollten, sobald er darum bat. Norbert Paulini landete in einem sogenannten »Mot. Schützenregiment« nördlich von Berlin.

Weil er nun täglich die Bibel zur Hand nahm, hielt man Norbert Paulini für gläubig. Zur Rede gestellt, erklärte er den Glauben zur Privatangelegenheit, so stehe das auch in der Verfassung. Die häufigen Spindkontrollen ertrug er mit Gleichmut, dass man ihn »Jesus« nannte, gefiel ihm sogar. Eine Dornenkrone war schließlich auch eine Krone.

Nach drei Monaten delegierte ihn der Politoffizier in die Regimentsbibliothek. Der Gefreite, der ihn anlernen sollte, empfing ihn kühl, hatte aber nichts dagegen, wenn er mit einem Buch erschien und nichts weiter verlangte als einen Stuhl und Licht.

Mit Beginn des zweiten Diensthalbjahres wurde seine Ruhe als neuer Bibliothekar nahezu vollkommen. Dabei kostete es ihn Überwindung, ein Bibliotheksbuch in die Hand zu nehmen. Es war, als legte er sich in ein fremdes Bett.

Die Leiterin der Regimentsbuchhandlung bestellte ihn zu sich. Um dreizehn Uhr öffnete sie für Offiziere, vierzehn Uhr für alle. Norbert Paulini sollte zwölf Uhr erscheinen. Frau Vorpahl war keine Schönheit. Trotzdem gab es viele Soldaten, die nur deshalb kamen, um eine Frau mal wieder aus der Nähe zu sehen und eine weibliche Stimme zu hören. Frau Vorpahl nötigte ihn, an ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen und legte ihm einen Ordner vor. Auf jeder der abgehefteten Seiten waren mehrere rechteckige Felder wie zum Ausschneiden angeordnet, die jeweils Autor und Buchtitel nannten und eine kurze Beschreibung des Inhalts lieferten. Er kannte diese Seiten aus der Hüblerstraße. Aber was sollte er jetzt damit?

»Na, vorbestellen«, sagte sie. »Für die Bibliothek – und für dich.«

Von da an sah Norbert Paulini alle vierzehn Tage die Vorankündigungen der demnächst erscheinenden Bücher durch und bestellte das eine oder andere für die Bibliothek.

»Du kannst alle haben, die du willst«, sagte Frau Vorpahl, »sogar zum Einkaufspreis, wenn du den Mund hältst.«

»Ich habe genug Bücher«, antwortete er.

»Man kann nie genug Bücher haben«, belehrte sie ihn. »Du kannst sie kostenlos kriegen, ich melde sie als geklaut.«

Plötzlich stand Hauptmann Vorpahl im Raum.