Die Schmidts. Ein Jahrhundertpaar - Reiner Lehberger - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Schmidts. Ein Jahrhundertpaar E-Book

Reiner Lehberger

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die erste Doppelbiografie des Jahrhundertpaars. Ein bewegendes Stück deutscher Geschichte.  68 Jahre waren die Schmidts verheiratet, 81 Jahre kannten sie sich. Helmut und Loki waren ein einzigartiges Paar – für viele fast ein Mythos. Ihre Verbundenheit  überstand den Zweiten Weltkrieg und die darauf folgende Mittellosigkeit, den frühen Tod des ersten Kindes, den Terror der RAF und die politische Karriere des Ehemanns. Fast das gesamte 20. Jahrhundert haben die Schmidts gemeinsam erlebt. Sie hielten in Krisenzeiten zusammen – und stellten sich den äußern Herausforderungen ebenso wie jenen, die nur ihre Ehe betraf. Ein besonderer Blick auf die innere Dynamik dieser einmaligen Beziehung, die die Menschen bis heute fasziniert.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 446

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Reiner Lehberger

Die Schmidts

Ein Jahrhundertpaar

Hoffmann und Campe

Einleitung:»Ohne Helmut will ich keine Nacht mehr allein verbringen«

Oktober 2005. Vor einer Lesung aus dem Buch Mein Leben für die Schule saßen Loki und Helmut Schmidt bei einer Tasse Kaffee in dem Büro einer großen Rostocker Buchhandlung und warteten darauf, dass es losging. Als Co-Autor dieses Buches wartete ich mit ihnen in diesem kleinen, unaufgeräumten Raum – im Übrigen überhaupt nicht angespannt, denn Veranstaltungen mit Loki Schmidt waren ein Selbstläufer: Immer waren sie ausverkauft, immer gab es freudige Erwartungen bei den Zuhörern und nie wurden diese von ihr enttäuscht. Die Lesungen mit diesem Buch hatten wir als einen Mix aus gemeinsamem Gespräch und klassischem Vorlesen geplant, das gab Raum für spontane Anekdoten oder manche Erinnerung.

Die beiden Schmidts hatten diesen Termin in Rostock so gelegt, dass sie dort gemeinsam in einem Hotel übernachten konnten. »Ohne Helmut will ich keine Nacht mehr allein verbringen, zu viele Nächte waren wir getrennt«, hatte sie mir gegenüber bei Erscheinen unseres Buches klargemacht und Einladungen zu Lesungen, die mit einer Übernachtung verbunden gewesen wären, gar nicht erst in Erwägung gezogen. In Rostock aber hatte Helmut Schmidt am selben Tag einen Vortrag gehalten und war nun – unangekündigt – auch bei der Lesung seiner Frau zugegen.

Als die Lesung begann, wollte Loki Schmidt, wie oft bei öffentlichen Veranstaltungen, ihrem Mann den Vortritt lassen. Das aber wollte Helmut Schmidt bei diesem Auftritt auf keinen Fall. »Nein, geh du mal vor, das ist dein Abend«, stellte er klar. Auch in der ersten Reihe mochte er nicht sitzen, er wählte einen Platz abseits für sich ganz allein. Alle Aufmerksamkeit sollte seine Frau haben. Allerdings konnte er an diesem Platz auch ungestört rauchen, wie ich bald bemerkte.

Einen solchen Abend vergisst man nicht. Nicht nur weil es immer etwas Besonderes war, die Schmidts bei öffentlichen Auftritten mitzuerleben und die Wertschätzung des Publikums förmlich zu spüren. Ein solcher Abend bleibt auch deshalb unvergesslich, weil in den kleinen Gesten des Ehepaars so viel über die Beziehung der beiden zueinander zu entdecken war.

Oktober 2005, das waren damals immerhin dreiundzwanzig Jahre, nachdem Helmut Schmidt durch ein konstruktives Misstrauensvotum sein Amt als Bundeskanzler an Helmut Kohl verloren hatte, und fast zwanzig Jahre, nachdem er sich als einfacher Abgeordneter endgültig aus dem Bundestag verabschiedet hatte. Seit diesem Zeitpunkt hatte er kein weiteres öffentliches Amt besetzt, aber dennoch war Schmidts Ansehen seitdem stetig angewachsen und seine öffentliche Präsenz kaum geringer geworden.

Auch Loki Schmidt war nach den Bonner Jahren von der Öffentlichkeit nicht vergessen worden. Als Aushängeschild der nach ihr benannten Stiftung war sie trotz der Grünen immer noch eine wichtige Gestalt des Naturschutzes – die von ihr kreierte »Blume des Jahres«, mit der sie das öffentliche Interesse auf bedrohte Pflanzen lenken konnte, fand damals ebenso wie heute hohe Aufmerksamkeit. Als sie das achtzigste Lebensjahr bereits überschritten hatte, wurde sie zudem zu einer erfolgreichen Autorin.

Beide zeigten sich in den wichtigen Talkshows des Fernsehens, und beiden schadete es nicht, wenn sie dort Meinungen vertraten, die so gar nicht mit dem Mainstream in diesem Land in Übereinstimmung waren. Im Gegenteil: Einer der Gründe für ihre Beliebtheit war, dass das Publikum es schätzte, dass sie offen und klar formulierten, zu ihren Meinungen standen und sie eher selten selbst korrigierten. Helmut Schmidts Bewunderung für China und sein politisches Verständnis für eine auf Unterdrückung setzende Innenpolitik der dortigen Machthaber ebenso wie die sehr kritische Haltung beider Schmidts gegenüber der 68er-Bewegung in Deutschland sind zwei Beispiele dafür. Was bei anderen Prominenten vielleicht als Starrsinn gesehen worden wäre, wurde bei den Schmidts als Geradlinigkeit wahrgenommen.

Die Schmidts spielten ohne Frage vor und nach der Jahrtausendwende in ihrem Ansehen in einer eigenen Liga, ein ähnlich populäres Paar würde kaum jemandem für die Bundesrepublik einfallen. Doch waren sie auch ein Jahrhundertpaar, wie es im Titel dieses Buches heißt?

Ein Jahrhundertpaar wird man zunächst einmal durch ein langes gemeinsames Leben. Bei Loki Schmidt und Helmut Schmidt sind daher schon die schieren Daten der Gemeinsamkeit beeindruckend: Einundachtzig Jahre ihres Lebens kannten sich die beiden, fast siebzig Jahre waren sie verheiratet, und mehr als vierzig Jahre davon waren sie aufgrund der hervorgehobenen Ämter des Politikers und späteren politischen Publizisten und Elder Statesman Helmut Schmidt auch ein Paar des öffentlichen Interesses.

Auf diese lange Gemeinsamkeit und ihre Präsenz bis ins hohe Alter zeigten sich die beiden irgendwie auch stolz. Und da kein öffentliches Paar in Sicht war, an dem sie ihre lange gemeinsame Zeit hätten messen können, hatten sie sich zum Ziel gesetzt, beide älter als Konrad Adenauer zu werden. Auch das haben sie geschafft.

Beliebt waren sie natürlich auch, weil sie es als Paar nicht nur so lange, sondern anscheinend auch so einträchtig miteinander ausgehalten hatten. Darauf spielte Helmut Schmidt zum Beispiel bei seiner Rede auf seinem achtzigsten Geburtstag an, als er – zum Schmunzeln der geladenen Gäste, darunter der mehrfach geschiedene Gerhard Schröder – die Konstanz seiner eigenen Ehe betonte. Dass er dabei die Brüche in seiner Ehe großzügig überging, war damals nur wenigen und sicher auch nur in Umrissen bekannt.

In einem Buch über das Ehepaar Loki und Helmut Schmidt können diese Brüche allerdings nicht ausgespart bleiben. Allein schon deswegen nicht, weil die außerehelichen Affären Helmut Schmidts seine Ehefrau schwer getroffen haben. Über lange Jahre war die Beziehung gefährdet, und es ist vor allem dem Entschluss Loki Schmidts, damit leben zu können, zuzurechnen, dass die Ehe nicht auseinander gegangen ist. Dass Loki Schmidt so sehr bemüht war, sich noch ein anderes, völlig eigenständiges zweites Leben als Naturforscherin und Naturschützerin aufzubauen, sagt durchaus auch etwas über die Beziehung zu ihrem Mann aus. Nach außen war das für die Schmidts lange kein Thema, die Binnenperspektive allerdings zeigt ein anderes Bild, auch das gehört zu einer realistischen Beschreibung des »Jahrhundertpaars«. Allerdings können tiefe Krisen in einer Beziehung langfristig auch zu einer Stärkung führen – die Schmidts sind dafür ein Beispiel.

Das Ehepaar Schmidt zeichnet sich jedoch nicht nur durch das lange Zusammenleben aus. Beide haben sich um das Gemeinwesen in diesem Lande in besonderer Weise verdient gemacht. Er als Politiker und später als kritischer Begleiter der Politik, sie als Naturschützerin und Initiatorin von pädagogischen Projekten. Beide haben dafür in der Öffentlichkeit hohe Anerkennung gefunden. Einen beträchtlichen Teil ihrer Beliebtheit darf man durchaus auch ihrer perfekten Darstellung in eigener Sache zuschreiben. In gewisser Weise haben die Schmidts sich selbst zu einem Jahrhundertpaar gemacht.

In besonderer Art und Weise sind die Schmidts auch zu Zeitzeugen des gesellschaftlichen und politischen Geschehens ihrer langen Lebensspanne geworden. Er im Dezember 1918, sie im März 1919 geboren, haben sie die großen Veränderungen und Brüche der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts hautnah miterlebt.

Loki Schmidts Eltern, die auch Helmut Schmidt stark geprägt haben, hatten aktiv in der Novemberrevolution für die Errichtung einer Republik und gegen die Klassengesellschaft des Kaiserreichs gekämpft und waren vorbehaltlos für die neue Demokratie eingestanden. Als Kinder und Jugendliche profitierten Loki Glaser und Helmut Schmidt von der Bildungspolitik in der Weimarer Republik. Sie besuchten eine höhere Schule, in der auch Kinder aus der Arbeiterschaft einen Platz fanden und die sich einem demokratischen und vielseitigen Bildungsangebot verschrieben hatte. Die Auswirkungen der Nazizeit waren auch hier einschneidend, auch wenn die Schmidts selbst ihre Schule als eine Art Schutzraum empfunden haben.

Der Wehrmachtsoffizier Helmut Schmidt und die Lehrerin Hannelore Glaser heiraten im Kriegsjahr 1942. Man kann mit Recht sagen, dass der Krieg die beiden eigentlich erst zusammengeführt hat. Ihr erstes Kind, 1944 geboren, verlieren sie im Januar 1945, weil rettende Medikamente nicht vorhanden sind.

Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes, der Befreiung durch die Alliierten und der Rückkehr von Helmut Schmidt aus der Gefangenschaft gerät Loki Schmidt in die Mühlen der Entnazifizierung, das aber hält beide nicht davon ab, sich quasi von der ersten Stunde an für den demokratischen Aufbau eines neuen Staates zu engagieren. Die politische Karriere ihres Mannes wird von Loki ohne Einschränkung bejaht und unterstützt. 1971 gibt sie sogar ihren Beruf endgültig auf, um ihn in Bonn bei seinen Aufgaben zu unterstützen. Nicht nur der Kanzler Schmidt, auch das Paar Loki und Helmut Schmidt steht ab nun im »Schaufenster der Republik«. Eine der großen Herausforderungen in der Amtszeit von Helmut Schmidt, der Terrorismus der RAF, begleitet ab 1974 auch ihr Leben und das ihrer Tochter Susanne über lange Jahre hinweg. Ihre Gefährdungsstufe wird als sehr hoch eingeschätzt, alle drei leben fortan mit ständig anwesendem Personenschutz. Die individuelle Lebensgeschichte und die allgemeine Geschichte stehen bei jedem Menschen in einem Zusammenhang. Bei dem Paar Loki und Helmut Schmidt hat die Verwobenheit von Lebensgeschichte und allgemeiner Geschichte offenkundig eine besonders starke Ausprägung genommen.

Beeindruckend ist inzwischen die Anzahl der Bücher, in denen sich Historiker, Politologen und Journalisten mit dem Leben und Werk Helmut Schmidts auseinandersetzen,[1] zum Leben von Loki Schmidt habe ich selbst 2014 eine umfängliche Biographie vorgelegt. Ausgeblieben ist bislang allerdings der Blick auf die Schmidts als Ehepaar, auf das ihnen Gemeinsame und je Eigene, auf das, was sie zusammengeführt und zusammengehalten hat, aber auch auf die großen Herausforderungen ihrer Beziehung. Diese Lücke zu schließen, ist das Ziel der hier vorliegenden Publikation. Dabei werden nicht noch einmal die Lebensläufe der beiden im Detail ausgebreitet, vielmehr war es für mich von besonderem Interesse, in dem gemeinsamen Lebensweg der Schmidts jene Punkte zu identifizieren, die für eine solch ungewöhnlich lang andauernde und starke Beziehung nachhaltig wirkten und von Bedeutung waren. Dazu zähle ich das gemeinsame, in der Lichtwarkschule erreichte Bildungsfundament, die wichtigen Impulse, die beide aus dem Arbeiterhaushalt der Eltern von Loki Schmidt erhielten, die Kriegsheirat und die folgende schwierige Familienplanung, die große materielle Krise des jungen Paares in den Jahren nach 1945 sowie die Kanzlerschaft als eine gemeinsame Aufgabe des Ehepaares. Es galt aber auch herauszuarbeiten, was es denn eigentlich bedeutete, dass das lange Bestehen der Ehe primär als Verdienst seiner Frau zu werten sei, wie Helmut Schmidt wiederholt beteuert hat.

Auf die kurz vor seinem Tode aufgeworfenen Fragen einer zumindest zeitweisen Nähe zum Nationalsozialismus als Jugendlicher in der HJ und als Soldat der Wehrmacht, hat Helmut Schmidt selbst nicht mehr geantwortet.[2] Ihre Version einer eher »unpolitischen Jugend« und der nicht zu umgehenden Pflichterfüllung im Krieg hatten die Schmidts bereits 1992 ausführlich dargelegt[3] und in den folgenden Jahren mehrfach bestärkt. Auffallend dabei war die hohe Übereinstimmung in den Grundaussagen, aber auch die Aussparungen einiger biographischer Details. In einem gesonderten Kapitel komme ich darauf zurück. An dieser Stelle nur so viel: Wie immer man die persönliche Geschichte der Schmidts in der Zeit der NS-Diktatur bewertet, fest steht, beide waren in keiner Weise an Vergehen des Naziregimes beteiligt, die von ihnen selbst beschriebene wachsende abständige Haltung gegenüber den Nazis ist plausibel, und überzeugend ist vor allem, dass beide aus dem Desaster der Nazizeit für sich die richtigen Lehren gezogen haben.

Gleichzeitig glaube ich, dass die auffälligen Übereinstimmungen im Narrativ der jeweils eigenen Erfahrungen und Wertungen für die beiden ein außerordentlich gewichtiges und stärkendes Element ihrer Beziehung waren. Von beiden hörte ich bei Nachfragen einige Male den Satz: »Aktenkenntnisse sind das eine, die Wirklichkeit dieser Jahre ist das andere.« Diese Sicht der Dinge hat die beiden nicht nur tief verbunden, sie sicherte ihnen aber darüber hinaus auch die Deutungshoheit über ihre eigene Geschichte, das zumindest war ihre Intention.

Durch glückliche Umstände konnte ich den beiden Schmidts in ihrer Privatsphäre im Wohnhaus am Neubergerweg über viele Jahre begegnen. 1996 hatte Loki Schmidt mit mir zusammen eine Ausstellung des Hamburger Schulmuseums zu »ihrer« Lichtwarkschule eröffnet; aus dieser Begegnung entwickelte sich eine enge Arbeitsbeziehung – und nach einiger Zeit auch eine Freundschaft. Regelmäßig habe ich sie seitdem in Langenhorn besucht und dort gesehen, wie das Ehepaar Schmidt miteinander umging: höflich, liebevoll und respektvoll, neugierig und immer interessiert, was den anderen gerade bewegte. Was sie nach außen demonstrierten, lebten sie in diesen Jahren auch im Privaten.

Nach dem Tod von Loki Schmidt im Jahre 2010 eröffnete mir Helmut Schmidt den Zugang zu seinem Archiv in Hamburg-Langenhorn. Dafür bin ich dankbar, denn dieses Buch wäre ohne die Dokumente und Fotos aus dem Archiv der Schmidts nicht möglich gewesen. Besondere Dankbarkeit empfinde ich auch für die vielen Gespräche, die ich in den Jahren 1996 bis 2010 mit Loki Schmidt und nach ihrem Tod dann auch mit Helmut Schmidt habe führen dürfen. Diese Gespräche bilden eine wesentliche Basis dieses Buches. Doch bei aller Sympathie für dieses außergewöhnliche Paar: auf solch private Gespräche kann man für eine kritische Betrachtung nicht allein vertrauen. So habe ich für alle wesentlichen Aussagen zu ihrer persönlichen Entwicklung einen Abgleich mit den zur Verfügung stehenden Quellen gesucht, weiterführende Literatur herangezogen und zahlreiche Gespräche mit Zeitzeugen und Weggefährten geführt.

Über die Planungen zu diesem Buch habe ich mit Helmut Schmidt noch im Juni 2015 sprechen können. Er fand, die Schmidts als Paar, das sei ein gutes Thema, er werde aber das fertige Produkt wohl kaum noch lesen können. Er hatte recht.

1.Die frühen Jahre: Schülerfreundschaft an der Lichtwarkschule

Erste Begegnung

Die Lichtwarkschule hatte für die Schmidts eine große Bedeutung. Hier erhielten sie eine tragfähige Bildungsgrundlage für ihr Leben, und – für das Paar besonders wichtig – an dieser Schule lernten sich die beiden kennen. Das Datum ihrer gemeinsamen Einschulung ist Ostern 1929, genauer: Mittwoch, der 3. April. Der Unterricht war nach den Osterferien in diesem Schuljahr am 2. April wieder aufgenommen worden, einen Tag später versammelten sich die neuen Sextaner der Lichtwarkschule zu einer kleinen Aufnahmefeier in dem am Rande des Stadtparks gelegenen, prachtvollen Schulgebäude in Hamburg-Winterhude.

Zu den etwa sechzig sicher aufgeregten und erwartungsfrohen Schülerinnen und Schüler der neuen 5. Klassen gehörten auch die gerade zehn Jahre alt gewordene Hannelore Glaser und der nur zehn Wochen ältere Helmut Schmidt. Ihre Grundschulzeit hatten die beiden in pädagogisch sehr unterschiedlich ausgeprägten Hamburger Schulen absolviert. Sie in einer koedukativ geführten Reformschule in der Burgstraße im Stadtteil Hamm, er in einer autoritär geführten, der alten Pädagogik verpflichteten reinen Knabenschule in der Wallstraße in St. Georg. Den Tag der Aufnahme der beiden in die damals bereits weit über Hamburg hinaus bekannte Lichtwarkschule können wir als Tag einer ersten Begegnung des späteren Paares Loki und Helmut Schmidt werten.

Ob sie sich bei dieser Gelegenheit schon bewusst wahrgenommen haben, konnten die beiden später nicht mehr sagen, die Aufnahmezeremonie hingegen ist beiden in lebhafter Erinnerung geblieben.[4] Die Lehrerschaft der Lichtwarkschule hatte sich für die Einteilung der Schüler in die zwei neuen Klassen ein sogar für die damaligen Reformschulen bemerkenswertes Verfahren ausgedacht. Nicht die Schule wollte die Aufteilung auf die zwei Klassen vornehmen, die Schüler selbst sollten sich für den zukünftigen Klassenlehrer entscheiden. In der riesigen Aula hatten die Neuankömmlinge nun die Wahl zwischen der etwa vierzigjährigen Studienrätin Ida Eberhardt und ihrem fünf Jahre jüngerem Kollegen, dem Studienrat Dr. Hans Liebeschütz. Falls die Wahl der Schülerinnen und Schüler zu ungleich ausgehen würde, müsse man gegebenenfalls nachkorrigieren, ließ der Schulleiter Heinrich Landahl wissen.

Natürlich waren die Kinder mit dieser Wahl eigentlich überfordert. Helmut, so erklärte er sich später die eigene Entscheidung, wollte nach vier Jahren Grundschulzeit bei einem autoritären Klassenlehrer wohl einmal nicht einen so strengen Lehrer haben. Loki machte eher äußerliche Gründe geltend. Jung und sympathisch habe sie Frau Eberhardt gefunden, und vor allem habe sie ein Reformkleid getragen, so wie sie es von ihrer Mutter kannte – ein etwas weiter geschnittenes Kleid also, das den Körper nicht einzwängte und Bewegungsfreiheit gewährte.

Bei Hans Liebeschütz hätten sich vor allem die jüdischen Schülerinnen und Schüler eingefunden, so rekonstruierten später die Schmidts. Vielleicht wussten Schüler und Eltern, dass Hans Liebeschütz mosaischen Glaubens war. Bekannt ist, dass die Lichtwarkschule bei jüdischen Eltern beliebt war, da sie aufgrund der demokratischen Ausrichtung der Schule davon ausgehen konnten, dass es zu keinen Anfeindungen oder gar Benachteiligungen ihrer Kinder kommen würde. Nach der Erinnerung der Schmidts hatten sie aber damals gar nicht gewusst, wer jüdisch oder wer christlich war. Religion wurde an der Lichtwarkschule nicht konfessionell getrennt unterrichtet, sondern bildete mit Deutsch und Geschichte das im Curriculum neue Fach der »Kulturkunde«. Nach 1933 sollte das anders werden.

Für die damals von allen nur »Loki« genannte Schülerin Hannelore Glaser und ihren Mitschüler Helmut Schmidt wirkten bereits Größe und Ausstattung der Aula ihrer neuen Schule beeindruckend. In ihren Grundschulen hatte es keine eigene Aula gegeben, das war allein den höheren Schulen vorbehalten. Vor allem beeindruckte die beiden Kinder das einzigartige Orgelprospekt, welches die Aula dominierte. Da beide ein Musikinstrument spielten – Loki Geige und Helmut Klavier –, hatten sie ein Auge für die künstlerische Gestaltung und die erstaunlichen Ausmaße dieser von Hans Henny Jahnn entworfenen Orgel. Welch nachhaltigen Eindruck diese bedeutendste von Jahnns Orgeln auf die Schmidts hatte, lässt sich an ihrem Engagement ablesen, als Mitte der achtziger Jahre eine grundlegende Restaurierung der schon seit langem nicht mehr bespielbaren Orgel anstand. Das Paar machte sich für die Gründung eines Orgelvereins stark und half bei der Beschaffung der nötigen finanziellen Mittel.[5]

Die Schulwahl

Es war kein Zufall, dass die Schmidts und die Glasers ihre Kinder auf die Lichtwarkschule geschickt hatten. Die Schule lag schließlich nicht in der Nachbarschaft, ganz im Gegenteil. Beide benötigten für den Weg mit der Hochbahn und dann weiter zu Fuß jeweils mehr als eine Stunde pro Strecke.

In der Familie Glaser fiel die Wahl auf die Lichtwarkschule aus vornehmlich politischen und pädagogischen Gründen. Lokis Elternhaus war proletarisch: Mutter Gertrud war Schneiderin, ihr Vater Hermann Elektriker. Beide waren bildungsbewusst, politisch interessiert und engagiert.[6] Beide bezeichneten sich als Sozialisten und hatten sich für den Umsturz der Klassengesellschaft des Kaiserreichs eingesetzt. Gertrud Glaser hatte sich noch im November und Dezember 1918 an Versammlungen und Initiativen des Arbeiter- und Soldatenrats beteiligt, obwohl sie hochschwanger war und ihr erstes Kind in wenigen Wochen erwartete. Bei allen gesellschaftlichen Problemen, die der neue Staat hatte, waren die Glasers entschiedene Befürworter der Weimarer Republik und ihrer demokratischen Institutionen.

Als Grundschule hatten sie für ihre erstgeborene Tochter Hannelore die Schule Burgstraße ausgewählt, eine der vielen seit 1919 entstandenen Reform- und Versuchsschulen im Volksschulwesen der Hansestadt. Die Lehrerschaft an diesen Schulen fühlte sich als Vertreter eines neuen demokratischen Schul- und Erziehungswesens. Mädchen und Jungen lernten hier gemeinsam und wurden mit neuen Arbeitsformen wie Gruppen- und Partnerarbeit bekannt gemacht. Es gab ein vielfältiges kulturelles Programm sowie eine engagierte Mitarbeit der Elternschaft in den verschiedenen Bereichen des Schullebens.[7]

Mit dieser Schule identifizierten sich die Glasers so sehr, dass sowohl Gertrud wie auch Hermann Glaser zu den wohl aktivsten Eltern in der Schulgemeinde der Burgstraße gehörten. Sie gab Nähkurse, besuchte die Kulturveranstaltungen der Schule und verbrachte als Kochmutter jedes Jahr mehrere Wochen im Schullandheim der Burgstraße in Schönberg an der Ostsee. Hermann half als geschickter Handwerker bei der pädagogischen Ausstattung und allen Renovierungsarbeiten in der Schule und im Schullandheim. Darüber hinaus spielte er zusammen mit seinen Kindern im gemeinsamen Orchester aus Schülern, Lehrern und Eltern. Ein Leben ohne die Schule Burgstraße konnten sich die Eltern von Loki Glaser in den Jahren der Weimarer Republik kaum vorstellen. Es war selbstverständlich, dass auch Lokis drei Geschwister hier eingeschult wurden.

Mit der Lichtwarkschule hielt die Burgstraße enge Kontakte, denn unter allen höheren Schulen der Hansestadt war sie die einzige, die sich der Schulreform und der neuen Demokratie verpflichtet fühlte. Es war also ausgemacht, dass für die Glasers nur die Lichtwarkschule als weiterführende Schule infrage kam. Wäre da nicht das Schulgeld gewesen, das für den Besuch von höheren Lehranstalten wegen der angespannten Finanzlage der Stadt noch immer erhoben wurde. Doch zum Glück konnte auch hier die Arbeiterfamilie von den Errungenschaften der Weimarer Republik profitieren: Das Schulgeld war nämlich inzwischen sozial gestaffelt worden und wurde den Glasers sogar gänzlich erlassen. In der Kaiserzeit hätte Loki keine Chance für eine höhere Schulbildung bekommen! Denn Hermann Glasers Einkommen war gering, seine Frau musste mit Näharbeiten helfen, die Familie zu ernähren und die Miete zu bezahlen. Als Hermann 1931 arbeitslos wurde und für sein karges Arbeitslosengeld noch Arbeitseinsätze leisten musste, verschlechterte sich die Situation der Familie dramatisch. Gertrud musste von nun an jeden Tag von morgens bis abends mitverdienen, und so war es jetzt Lokis Aufgabe, neben der Schule den Haushalt zu machen und ihre drei kleineren Geschwister zu versorgen. Auch in der Weimarer Republik waren Anstrengung und Preis für eine höhere Schulbildung für Kinder aus ärmeren Verhältnissen noch beträchtlich.

Für Ludovika und Gustav Schmidt kann die Wahl der Lichtwarkschule für ihren Sohn Helmut nicht so eindeutig erklärt werden wie bei den Glasers. Gustav Schmidt, selbst ausgebildeter Volksschullehrer und inzwischen zum Leiter einer Gewerbeschule avanciert, hatte in seinem Leben einen beachtlichen sozialen Aufstieg durchlaufen.[8] Unehelich geboren, war er als Ziehsohn eines ungelernten Hafenarbeiters in sehr bescheidenen Verhältnissen groß geworden. Der Gustav Schmidt unbekannt gebliebene leibliche Vater, Ludwig Gumpel, war ein jüdischer Bankkaufmann, der den unehelichen Sohn gegen ein Entgelt in die Obhut der Familie Schmidt übergeben hatte. Nicht einmal der Name des leiblichen Vaters war in der Geburtsurkunde vermerkt worden.

Nach dem Besuch der Volksschule hatte Gustav Schmidt zunächst eine Lehre als Schreiber in einem Rechtsanwaltskontor absolviert und sich später durch den Besuch des dreistufigen Lehrerseminars zum Volksschullehrer fortbilden können. 1919 machte er die zweite Lehrerprüfung, nahm neben seinem Schuldienst ab 1922 aber noch ein Handelslehrerstudium auf, und unterrichtete seit 1925 als Studienrat an einer Handelsschule. Dass er dort einige Jahre später zum Schulleiter gewählt wurde, war der Höhepunkt einer bemerkenswerten Karriere. »All seine Energie [hatte dieser Mann] auf den beruflichen und sozialen Aufstieg verwendet«, so beschrieb Helmut Schmidt seinen Vater später.[9] Für Politik, wie bei Lokis Eltern, war da keine Zeit und wohl auch kein Interesse. Zumindest hatte der Sohn ein solches Engagement weder bei seinem Vater noch bei seiner Mutter beobachten können, und das obwohl sie aus der Familie eines Druckers und Setzers stammte, also aus einer Familie der sogenannten Arbeiteraristokratie. »Über Politik wurde nicht gesprochen. Mein Elternhaus war bewusst apolitisch, vielleicht sogar antipolitisch.«[10] Helmut Schmidt vermutete, dass sein Vater sich in der Weimarer Republik bei Wahlen für die nationalliberale Deutsche Volkspartei entschied, eventuell auch einmal für die linksliberale Deutsche Demokratische Partei, später Deutsche Staatspartei. Eine Nähe zu den Arbeiterparteien habe es beim Vater aber gewiss nicht gegeben.

Die Entscheidung, den ältesten Sohn für die Grundschuljahre auf die Knabenschule Wallstraße zu schicken, scheint aufgrund der Biographie Gustav Schmidts nachvollziehbar. Die Wallstraße war eine Ausbildungsschule für zukünftige Volksschullehrer und Gustav Schmidt somit gut bekannt. Hier wurde streng erzogen, auch mit körperlichen Strafen. Dass der Sohn Helmut nicht, wie er selbst einmal, Volksschüler bleiben sollte, kann man bei der Aufstiegsmentalität des Vaters mit Gewissheit annehmen.

Die Wallstraße war also aus der Sicht des Vaters eine gute Wahl, die Lichtwarkschule bot sich nach dieser Logik jedoch nicht gerade an. Auch der politische Ruf der Lichtwarkschule als eine Anstalt mit einer Vielzahl weit links stehender Lehrer dürfte ihm weniger gefallen haben. Warum also traf Gustav Schmidt diese Wahl, die so bedeutend für das Paar Loki und Helmut wurde, das fragten sich die beiden später im Rückblick auf ihr gemeinsames Leben. Eine mögliche Erklärung fanden sie bei einer mit den Eltern befreundeten Volksschullehrerin, die selbst an einer Reformschule unterrichtete. Vielleicht aber, so glaubten sie, war die Welt der klassischen Gymnasien Gustav Schmidt auch zu fremd, als dass er sich dort einen Platz und eine Ausbildung für den eigenen Sohn vorstellen konnte. Möglicherweise fürchtete er als Aufsteiger auch die dann notwendigen Kontakte zu den als sehr standesbewusst geltenden Oberlehrern der etablierten höheren Lehranstalten und er wählte aus diesem Grund die liberalere Lichtwarkschule. Genau ist das nicht mehr zu ergründen, aber immerhin wissen wir, dass die Schule einen guten Eindruck bei Helmuts Eltern hinterließ, denn zwei Jahre nach Helmuts Einschulung schickten sie auch ihren jüngeren Sohn Wolfgang an diese Reformanstalt.

Eine Schülerfreundschaft

Es kann nicht viel Zeit vergangen sein, bis sich die beiden neuen Klassenkameraden Loki Glaser und Helmut Schmidt anfreundeten. Der bereits geschilderte, längere gemeinsame Schulweg gab mit Sicherheit genug Gelegenheit, sich näher kennenzulernen. Sicher ist, dass Helmut Schmidt die Schulfreundin Loki als einziges Mädchen der Klasse zu seiner Geburtstagsfeier wenige Wochen nach der Einschulung einlud. Zwar hatte Helmut eigentlich am 23. Dezember Geburtstag, aber wegen der Nähe zum Weihnachtsfest war es Familienbrauch bei den Schmidts, dass sein Geburtstag zusammen mit dem des zweieinhalb Jahre jüngeren Bruders Wolfgang im Sommer gefeiert wurde.

Am 21. Juni 1929 feierte Helmut also seinen zehnten Geburtstag nach, sein jüngerer Bruder Wolfgang wurde acht. Von diesem Tag gibt es ein ausdrucksstarkes erstes Foto des späteren Paares Helmut und Loki Schmidt: Loki sitzt dort zwischen Helmut und Wolfgang, inmitten einer Reihe weiterer Freunde der beiden Geburtstagskinder. Loki in einem weißen, von der Mutter genähten Kleid, schaut ein wenig schelmisch, vor allem aber selbstbewusst in die Kamera.

Zum ersten Mal gemeinsam auf einem Foto. Rechts von Loki: Helmut

Die Jungen neben ihr überragt sie deutlich, ihr körperlicher Ausdruck lässt vermuten, dass sie sportlich und kräftig ist. Sie hatte sich in der kurzen Zeit in der Klasse bereits einen Ruf als Beschützerin von schwächeren Schülerinnen und Schülern erarbeitet. Ihr Spitzname »Schmeling«, eine Anspielung auf den bekannten Boxer, war ein eindeutiges Indiz für ihre Stellung. Loki Glaser war bei allen beliebt, vielseitig talentiert und wusste meist, wo es langging. Sie war in der Klasse eine Art Anführerin. Es ist also nicht verwunderlich, dass Helmut gerade sie als einziges Mädchen zu seiner Geburtstagsfeier eingeladen hatte.

Die bürgerliche Wohnung der Schmidts in der Richardstraße 65 in Barmbek muss für Loki Glaser damals sehr beeindruckend gewesen sein. Selbst war sie in beengten und ärmlichen Wohnverhältnissen aufgewachsen. Nun kam sie in eine Wohnung, wo die zwei Brüder je ein eigenes Zimmer hatten, die mit gediegenen Möbeln ausgestattet waren, und es im Wohnzimmer sogar genügend Raum für ein Klavier gab.

Der Geburtstag brachte aber auch für Helmut ein lang wirkendes Erlebnis mit sich. Loki hatte nämlich ihre Baskenmütze bei den Schmidts vergessen, und so machte er sich am Nachmittag des nächsten Tages auf, um sie Loki nach Hause zu bringen. Vielleicht war dies ein bewusst gesuchter Anlass, seine neue Klassenkameradin einmal besuchen zu können. Die Lebensverhältnisse, die er dann dort sah, bestürzten den Zehnjährigen zutiefst. Die Eltern von Loki lebten mit ihren vier Kindern in einer Wohnung, die nur wenig größer war als das Wohnzimmer seiner eigenen Familie. Knapp dreißig Quadratmeter hatten sie zum Leben, die Toilette befand sich draußen auf dem Flur, Sonnenlicht kam in diese Hinterhaus-Wohnung auch im Sommer nicht hinein.

Ende des Jahres 1929 bezogen die Glasers dann eine neue, mit sechzig Quadratmetern bis dato unvorstellbar große Wohnung in Horn. Sie lag in einem Wohnblock, der eigens für kinderreiche Familien gebaut worden war. Als Politiker interessierte sich Helmut Schmidt später immer für den sozialen Wohnungs- und Städtebau. Die Motivation dazu rührte nicht zuletzt von dem schlimmen Eindruck, den er in seiner Kindheit bei den Glasers gewonnen hatte.

Genau wie Loki war auch Helmut Schmidt in der damaligen Sexta der Lichtwarkschule ein auffälliger Schüler. Im Vergleich zu ihr war er zwar kleiner und schmächtiger, aber er war flink und wendig, ein guter Turner und Leichtathlet. Dazu spielte er schon damals erstaunlich gut Klavier. Von seinem Spiel des Fröhlichen Landmanns von Robert Schumann auf einem Schulkonzert schwärmte Loki auch achtzig Jahre später noch. Auch zeichnete er sich damals schon durch ein großes Interesse an der Geschichte und ein bemerkenswertes Redetalent aus.

Loki und Helmut wurden enge und gute Klassenkameraden, wobei Helmut sich wohl mehr erträumt hatte: »Heiß und innig« habe er sie in diesen Anfangsjahren geliebt. Aber Lokis Interesse galt zunächst einmal anderen Jungen an der Schule.

Ihr erster Freund hieß Gerd Watkinson, ein gut aussehender Schulkamerad aus einer wohlhabenden Familie. Für ihn schwärmten nahezu alle Mädchen in der Klasse, wie Helmut Schmidt noch Jahrzehnte später zu berichten wusste. Zu Gerds vielen Vorzügen kam hinzu, dass er mit Percy einen zweiten englischen Vornamen hatte, eine Sitte, die in großbürgerlichen hanseatischen Familien Tradition hatte. Dies machte ihn in den Augen der Mädchen besonders interessant. Die Freundschaft von Gerd Percy und Loki hatte mit einem Zettel begonnen, den sie irgendwann am Ende der sechsten Klasse in ihrem Griffelkasten fand. »Willst du mit mir gehen?«, hatte er ihr geschrieben, und Loki hatte mit »Ja« geantwortet.

Die Beziehung der beiden war intensiv, sie besuchten sich auch gegenseitig zu Hause, er Loki in der neuen Wohnung der Familie im Arbeiterstadtteil Hamm und sie ihren Gerd bei den Watkinsons in deren noblem Domizil in feiner innerstädtischer Lage.

Unvergesslich blieb Gerd der mittägliche Heimweg mit Klassenlehrerin Ida Eberhardt und seiner Freundin Loki durch den Stadtpark. In einem Beitrag zu einem Buch über Loki Schmidt berichtete er 1988: »So zogen wir von der Schule heimwärts, unterbrochen von Betrachtungen der Bäume, Sträucher oder der unscheinbaren Pflanzen am Weg. Blüten mussten bestimmt werden. Vögel zwitscherten über uns, ein Eichhörnchen huschte vorbei. Doch ich hätte viel lieber Lokis Hand gefasst, anstatt mich mit der Flora des Stadtparks zu beschäftigen. Manchmal allerdings war Ida Eberhardt nicht dabei. Dann wurde der Heimweg länger. Küsse hinterm Holztor des Stadtpark-Stadions wurden zu roten Farbtupfern im Grün des Parks. Wie jung wir damals waren – so 13–14 Jahre alt.«[11]

Vor allem aber liebten die beiden das gemeinsame Musizieren. Watkinson hielt dazu fest: »Musik verband uns während der gemeinsamen Lichtwarkschulzeit. Loki spielte Bratsche und ich Geige, zunächst im Vororchester, später im großen Schulorchester unter Papi Schütt, dem exzellenten Musikpädagogen, Menschen und musischen Mittelpunkt.«[12]

1935 hatte Loki Glaser ihr Interesse an Gerd Watkinson offenbar verloren. In diesem Jahr gab es eine kurze intensivere Freundschaftsphase zwischen Helmut und ihr, auch ein erster Kuss wurde – wiederum im Hamburger Stadtpark – ausgetauscht. Lange kann diese Phase jedoch nicht angehalten haben, denn die inzwischen sechzehnjährige Loki wendet sich einem anderen jungen Mann zu, der deutlich älter ist als sie. Gleichaltrige Klassenkameraden haben für die mittlerweile junge Erwachsene als potenzielle Partner an Reiz verloren. Gerd Watkinson erlebte Loki in dieser Zeit auf einer gemeinsamen Klassenreise noch einmal aus der Nähe: »Ich schrieb Gedichte, aber Loki – kein Teenager mehr – liebte einen anderen. Der war Maler und wesentlich älter als ich. Und er malte viel besser!«[13]

Dieser neue Freund war für Loki die erste wirklich ernsthafte Liebesbeziehung: »Ich habe mich mit sechzehn in einen zwei Jahre älteren verliebt, den wollte ich auch heiraten.«[14] Willi Jacob, so hieß ihr neuer Freund, imponierte ihr. Er hatte nach der Mittleren Reife die Schule verlassen und machte eine Lehre zum Gebrauchsgraphiker, als er Loki kennenlernte. Die Beziehung zu diesem älteren Freund hatte schon etwas Erwachsenes, mit ihm konnte sie sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen. Ihr erstes eigenes, großes Ölbild, ein Blumenmotiv, malte sie für ihn. Ihrem Klassenkameraden Helmut Schmidt hingegen schenkte sie in den Jahren der Freundschaft mit Willi Jacob wenig Beachtung.

Doch noch vor dem Abitur fand diese für Loki Glaser so bedeutsame Beziehung ein abruptes Ende: Willi Jacob hatte sich in eine andere verliebt und sie verlassen. Traurig blieb sie zurück, die Trennung schmerzte sie sehr. In seinen Aufzeichnungen für das Jahr 1939 schrieb Helmut Schmidt, der Loki nicht aus den Augen verloren hatte, dazu: »Loki enttäuscht und ernüchtert: er [Willi Jacob] scheint für immer abgetan.«[15]

Anfang der fünfziger Jahre nimmt Loki Schmidt zu dem ehemaligen Freund noch einmal Kontakt auf. »Ich weiß noch, dass ich ihn einmal – er wohnte in den Grindelhochhäusern – mit Susanne besucht habe, aber das war sehr freundschaftlich. Natürlich hat man sich einen Kuss gegeben, aber ich hatte ja meine Familie. Das war mehr eine freundschaftliche Erinnerung an längst vergangene Zeiten.«[16]

Ein zweiter Blick auf dieses Zitat eröffnet aber auch eine andere Vermutung: Willi Jacob hatte seine Ausstrahlung auf sie anscheinend nicht gänzlich verloren. Loki könnte bei dieser Begegnung durchaus auch andere Gefühle als nur Erinnerungen an »vergangene Zeiten« verspürt haben. Dafür spricht auch, dass sie selbst noch als Achtzigjährige von diesem Mann als »meine Liebe« sprach.

Ein von ihm gemaltes Landschaftsbild in Temperafarben hing bis über ihren Tod hinaus im Ferienhaus der Schmidts am Brahmsee. Da Loki Schmidt den Namen der ersten großen Liebe zu ihren Lebzeiten nie genannt hatte, fragte ich Helmut Schmidt nach ihrem Tod bei einem Gespräch danach. An den Namen konnte er sich zunächst nicht entsinnen, aber darauf angesprochen, wurde die Erinnerung lebendig. Ja, das sei eine ernsthafte, frühe Beziehung seiner Frau gewesen, und selbst der Vorname »Willi« fiel ihm wieder ein. Einige Zeit später erhielt ich eine schriftliche Nachricht von ihm. Er hatte im Ferienhaus das Bild noch einmal genauer angeschaut, die Signatur entdeckt und konnte mir nun den Nachnamen »Jacob« nennen.[17] Unser Gespräch über die Jugendliebe seiner verstorbenen Frau war ihm offenbar noch länger nachgegangen. Er selbst hatte nicht eine solch intensive Beziehung in seiner Jugendzeit durchlaufen, wie seine spätere Frau sie zu Willi Jacob erlebt hatte. Eine gewisse Zeit lang schwärmte er für Hilde Adams, Tochter des SPD-Bürgerschaftsabgeordneten und stellvertretenden Leiters der Hamburger Volkshochschule Dr. Kurt Adams. Es habe auch andere Freundschaften zu Mädchen gegeben, aber eigentlich sei Loki Glaser stets seine – leider unerwiderte – Schülerliebe gewesen.

Auch wenn es zu keiner tiefer gehenden Beziehung kam, immerhin pflegten Loki Glaser und Helmut Schmidt über all die Jahre der gemeinsamen Schulzeit kontinuierlich eine engere Klassenkameradschaft. Beide fanden besonderen Gefallen an Gesprächen und Diskussionen über die wichtigen Themen ihres jungen Lebens. »Zanken« nannten die beiden das, das Wort »diskutieren« sei für sie damals noch unbekannt gewesen. Da diese Zankereien manches Mal sehr intensiv wurden, vergaßen sie auf dem Nachhauseweg ab und zu sogar das Aussteigen und mussten ein oder zwei Hochbahnstationen zurückfahren. Morgens in der Hochbahn reichte er ihr auch schon einmal sein Matheheft und bat sie, die Hausaufgaben für ihn einzutragen. Bei ihrer damals noch sehr ähnlichen Schrift fiel das dem Lehrer offenbar nicht auf.

Helmut besuchte Loki auch in der neuen Wohnung in Horn, wo er einen völlig anderen Eindruck von der Familie bekam: hier beeindruckte ihn der Umgang der Glasers miteinander. Alle gingen freundlich und offen miteinander um, es gab eine große Herzlichkeit, keine ständige Angst der Kinder vor den Eltern. An Lokis Mutter schätzte er die emanzipierte Haltung und zupackende Art. Hermann Glaser musizierte mit den Kindern, er leitete sie zum Malen und Zeichnen an. Dass er seine Kinder liebevoll behandelte, sie in den Arm nahm, war eine Selbstverständlichkeit. All das habe Helmut bei seinen Eltern gefehlt, erzählte Loki später einmal.

Eine Vaterfigur wie Hermann Glaser hatte Helmut Schmidt bis zu seinem Besuch bei Loki noch nicht erlebt. Über den eigenen Vater schrieb er später: »Es war nicht leicht, mit ihm umzugehen.«[18] Gustav Schmidt war streng, die körperliche Züchtigung mit dem Rohrstock gehörte zu seinem Erziehungsrepertoire. »Prügelpädagogik« nannte das Helmut Schmidt, »Brachialpädagogik« sein jüngerer Bruder Wolfgang.[19] Zärtlichkeiten gegenüber den Söhnen waren dem Vater fremd. Bei politischen Gesprächen mussten die Kinder aus dem Zimmer, seine Zeitung durften sie nicht lesen, sein Bücherschrank blieb ihnen verschlossen. Das muss bedrückend gewesen sein für den wissbegierigen und diskussionsfreudigen Helmut. Die Mutter, musikalisch und literarisch interessiert, versuchte die Verschlossenheit des Vaters auszugleichen, an ihren Büchern durfte auch Helmut sich bedienen. Zum Glück erlebten die beiden Jungen im Elternhaus der Mutter, bei den Großeltern Koch, die Wärme und Zuwendung, die sie zu Hause vermissten. Helmut Schmidts Mutter Ludovica hatte das alles wohl bemerkt, doch stellte sie die Autorität ihres Mannes gegenüber den Söhnen nie infrage. Ein Gefühl der Geborgenheit konnte so in der Familie von Helmut Schmidt nicht entstehen.

All das war bei den Glasers anders, dort konnte man sich wohlfühlen, fand Helmut. Er schwärmte also nicht nur für Loki, auch ihre Familie war für den Sohn eines kleinbürgerlichen, vor allem aber steifen und unpolitischen Elternhauses hoch attraktiv.

In der Kriegsgefangenschaft rekonstruierte Helmut Schmidt im Sommer 1945 die Jahre bis zum Kriegsende aus seiner noch frischen Erinnerung in Aufzeichnungen, die er etwas hochtrabend mit »Verwandlungen in der Jugend« überschrieb.[20] Betrachtet man darin die kurzen, aber prägnanten Beschreibungen seiner Freundschaft zu Loki, dann ergibt sich der Eindruck, dass es allein Loki war, die über den Verlauf, über Nähe und Abstand in dieser Freundschaft bestimmte. Er zeigt sich angetan, wenn Loki sich ihm zuwendet, in den Zeiten ihrer Freundschaft mit anderen bemüht er sich um Abstand und Eigenständigkeit. In einem Eintrag für das Jahr 1934, Helmut ist fünfzehn, liest man hinter ihrem Namen versonnene Bemerkungen: »Loki: Figuren im Schnee. Früh- und Spätstunden, Spielerei wird Ernst.«[21] Über das Jahr 1935: »Unter Lokis Leitung erwachendes Interesse für Blumen, Malerei, Musik.« 1936, Loki ist inzwischen mit Willi Jacob befreundet, schildert er ernüchtert: »Klasse in Sachsen: Loki schreibt zwei Mal! […] Loki, die Undurchsichtige. Ich emanzipiere mich. […] Im Herbst Trennung von den Mädels [die wegen des Koedukationsverbots der NS-Behörde 1936 an die Klosterschule umgeschult wurden]. Sehe Loki nur noch selten; Versuche, die Oberhand zu gewinnen, mißlingen.«

1937, inzwischen war Helmut Schmidt zum Reichsarbeitsdienst eingezogen worden, folgte eine vorläufige Abkehr von Loki und der von ihm bewunderten Familie: »Beginn der endgültigen Emanzipation von Loki. […] Ab und zu Treffen mit Loki – schüchternes Tasten, die Schwärmerei für Gertrud und den Glaserschen Haushalt verfliegt.«

Die Jahre in der Lichtwarkschule haben Loki Glaser und Helmut Schmidt zusammengebracht, sie haben in diesen Jahren viele für sie prägende Einflüsse erlebt, ein Liebespaar sind die beiden in diesen Jahren allerdings nicht geworden. Dem Eindruck, dass es Loki war, die in den Jahren der Lichtwarkschule den Rahmen ihrer Freundschaft bestimmte, konnte Helmut Schmidt in einem persönlichen Gespräch nach dem Tod seiner Frau zustimmen. »Loki war damals deutlich reifer als ich«, erklärte er, »in ihrer Entwicklung war sie sicher zwei bis drei Jahre weiter. Ich selbst war eher ein Spätblüher.«[22]

Bemerkenswert ist, dass sich Lokis spätere Beschreibungen ihrer Beziehung zum Schulfreund Helmut Schmidt in den Jahren der Lichtwarkschule wesentlich nüchterner und vor allem weniger spannungsreich lesen als seine. Für sie ist er der »Klassenkamerad«, mit dem sie diskutieren kann: »Helmut und ich waren schon in der Sexta miteinander befreundet gewesen, und 1935 hatten wir auf einer Bank im Hamburger Stadtpark erste zarte Küsse ausgetauscht. Mit ihm konnte ich mich so gut zanken, wie wir es nannten; auf unserem gemeinsamen Schulweg diskutierten wir endlos über Gott und die Welt. Als Helmut dann im Arbeitsdienst war, waren wir gelegentlich ins Theater gegangen und noch von Hambergen aus [wo Loki ein Schulpraktikum machte] hatte ich den Rekruten Schmidt einmal in Vegesack besucht. Wir waren uns damals recht fremd, und für einige Zeit riss die Verbindung ab …«[23]

Erst Anfang 1941 gab es wieder Briefkontakt zwischen den beiden. Helmut, der Lokis Adresse in der Kinderlandverschickung im bayerischen Kulmbach nicht kannte, hatte ihr über die Eltern einen Brief zukommen lassen, den sie rasch beantwortete. Schnell stellte sich durch diesen Briefaustausch auch »die alte Vertrautheit wieder her«[24] – und wurde zum Auftakt einer lebenslangen Bindung.

Ein gemeinsames Bildungsfundament – Das Ergebnis der Lichtwarkschulzeit

Den meisten Menschen bleibt ihre Schulzeit stark im Gedächtnis. Für viele gilt allerdings auch – und dies insbesondere für Menschen, die vor 1945 in die Schule gegangen sind –, dass sich diese Erinnerungen eher mit negativen als mit positiven Bildern verbinden. Ihre Schulzeit gleicht oft einer Pauk- und Buchschule: strenge Lehrkräfte, strikte Rituale, Strafen. Dazu viel Auswendiglernen und Reproduzieren von Texten aus den Lehrbüchern.

Bei den Schmidts war das anders. Sprachen sie über ihre acht gemeinsamen Jahre an der Hamburger Lichtwarkschule, so klang ihr Urteil vom »Glücksfall einer guten Schule« fast ein wenig zu überschwänglich, überhaupt war die Schulzeit zwischen den beiden ein stetig wiederkehrendes Thema und ein gewichtiges Bindeglied zwischen den Eheleuten Loki und Helmut Schmidt.

Anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung zur Lichtwarkschule des Hamburger Schulmuseums brachte Loki Schmidt ihre Erinnerungen beinahe sechzig Jahre nach ihrem Abitur so auf den Punkt: »Vielleicht sehen wir alten Lichtwarkschüler unsere Schule aus der Distanz von sechs Jahrzehnten zu ideal und rosig. Aber wir haben gelernt, selbstständig zu arbeiten, wir haben eine Fülle von Anregungen in der Musik, in der Kunst, in den Naturwissenschaften bekommen. Und wir haben uns wohlgefühlt in dem Miteinander von engagierten Lehrern und Schülern. Mein Mann und ich sind noch heute dankbar für unsere Jahre in der Lichtwarkschule.«[25]

Da die Bildungsausrichtung der Lichtwarkschule einen solch großen Anteil an der persönlichen Prägung der Schmidts hatte, soll an dieser Stelle etwas näher auf diese Schule eingegangen werden.[26] Ein Blick in die Schulgeschichte macht deutlich, dass die Lichtwarkschule nicht nur eine Sonderstellung im Gefüge des Hamburger Schulwesens hatte, sondern darüber hinaus im gesamten deutschen Schulwesen nach 1918.

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hatte es in Hamburg Versuche gegeben, dem autoritären, ausschließlich am Lehrbuch orientierten Unterricht der Kaiserzeit eine pädagogische Alternative entgegenzusetzen. Diese waren aber an den Machtverhältnissen in Gesellschaft und Schule gescheitert oder sehr vereinzelt geblieben. Nach der Novemberrevolution von 1918, dem Inkrafttreten einer demokratischen Verfassung und der in Hamburg nun maßgeblich von Sozialdemokraten verantworteten Schulpolitik veränderte sich die Lage. Die Schulen in der Hansestadt wurden freier und konnten, wenn sie denn wollten, neue Wege bei der Gestaltung der inneren Schulstrukturen, der Inhalte und Methoden einschlagen. In großen Teilen der Volksschullehrerschaft wurden diese Möglichkeiten gern genutzt, es entstanden zahlreiche Reform- und Versuchsschulen, die auf unterschiedlichen Wegen eine am Kind orientierte Pädagogik umzusetzen suchten.

Die politisch sehr konservative, teilweise kaisertreue Oberlehrerschaft der höheren Schulen in Hamburg hingegen lehnte eine Demokratisierung und pädagogische Neugestaltung der Schulen strikt ab. Man zeigte seine Ablehnung der jungen Republik vor allem durch Beharren auf den alten autoritären Umgangs- und Lehrformen, durch Feiern zum Geburtstag des inzwischen abgedankten und im Exil lebenden Kaisers und Gedenkfeiern, wie beispielsweise der Sedanfeier, die eine Verherrlichung des Sieges über die Franzosen bei der Schlacht von Sedan am 2. September 1870 darstellte.

An der jungen Hamburger Lichtwarkschule war dies alles anders. Hervorgegangen aus der 1912 gegründeten »Realschule zu Winterhude« hatten sich hier nach 1918 Lehrkräfte zusammengefunden, die sich politisch der Weimarer Verfassung verpflichtet fühlten und die Formen und Inhalte der Schule des Kaiserreichs hinter sich lassen wollten. Der Name »Lichtwarkschule«, den man wählte, sollte an Alfred Lichtwark erinnern, den 1914 verstorbenen ersten Direktor der Hamburger Kunsthalle. Lichtwark hatte sich nicht nur als Förderer der Kunst, sondern auch als Kritiker der Schule des Kaiserreichs einen Namen gemacht: »Die Schule geht vom Stoff aus und bleibt am Stoff kleben«, das war seine Überzeugung. »Sie sollte von der Kraft ausgehen und Kraft entwickeln. […] Mit ihrer ausschließlichen Sorge um den Lehrstoff hat die Schule satt gemacht. Sie sollte hungrig machen.«[27]

Was Alfred Lichtwark vorschwebte, war eine ganzheitliche Bildung. Die Schule sollte nicht nur allein das kognitive Lernen zum Ziel haben, wie wir heute sagen würden, sondern durch die Pflege der ästhetischen Fächer Musik, Kunst, Theater und der Leibesübungen auch die kreativen Kräfte ihrer Schüler wecken und entwickeln.

Für die damaligen Verhältnisse war die Schule hervorragend ausgestattet. Sie hatte bewegliches Gestühl anstatt der üblichen im Boden verankerten Bankreihen mit Schreibklappen, den »Subsellien«. In der Lichtwarkschule konnten sich die Schüler im Unterricht in Gruppen zusammensetzen, man konnte sich zu den Mitschülern umdrehen und sich dem Tischnachbarn zuwenden. Für uns heute ist das nichts Besonderes, in den zwanziger Jahren war das jedoch eine schulische Sensation. Zudem war die Schule mit zahlreichen, an anderen Schulen unüblichen Räumlichkeiten für die ästhetischen und musischen Fächer ausgestattet: Zeichensaal, Musikräume und Werkstätten für Holz und Metall. Dazu kamen naturwissenschaftliche Labore, eingerichtet für das eigene Experimentieren der Schüler in Physik, Biologie und Chemie. Für die Leibesübungen gab es eine Turnhalle und im Sommer eine nahe gelegene und von den Lichtwarkschülern eifrig genutzte Sportstätte, die Jahnkampfbahn. Für den Dauerlauf ging es in den auf der anderen Straßenseite beginnenden, weiträumigen Hamburger Stadtpark.

Für die beiden Schmidts standen, im Nachhinein betrachtet, an ihrer Schulbildung vor allem zwei Dinge im Vordergrund: die Erziehung zur Selbstständigkeit und die Betonung der künstlerischen Fächer sowie der Leibesübungen.

Die Erziehung zur Selbstständigkeit hatte sich die Schule nicht nur als abstraktes Ziel der Schulbildung gesetzt, sie wurde an der Lichtwarkschule didaktisch geradezu durchbuchstabiert. Die Schüler sollten in jeglicher Hinsicht selbst tätig werden, sei es durch das dialogische Unterrichtsprinzip anstelle des Lehrervortrags in allen Fächern, durch aktives Tun in den Werkstätten, durch Schüleraufführungen, das eigene Musizieren, das tägliche gezielte Training im Sportunterricht, die individuelle Vorbereitung, Teilnahme und Auswertung aller Schüler an den jährlichen Klassenfahrten bis hin zu den sogenannten Jahresarbeiten, die jeder Schüler für sich in Eigenverantwortung durchzuführen hatte. Bei ihren Jahresarbeiten lernten die Lichtwarkschüler, eigene Interessen zu entwickeln, Themen zu recherchieren, sie aufzubereiten und zu präsentieren.

Für heutige Verhältnisse waren solche Jahresarbeiten bemerkenswert anspruchsvoll. So erstellte Loki eine Biotopaufnahme des Eppendorfer Moors, erforschte die Pflanzen- und Tierwelt auf Helgoland, schrieb über Barockbauten in Dresden oder fertigte Puppen mit Trachten des Weserberglands an. Ihr späterer Mann beschäftigte sich mit einem Vergleich der Häfen Rotterdam, Antwerpen, Bremen und Hamburg, schrieb eine Arbeit über die Weserrenaissance in Hameln, und setzte zwanzig gegebene Melodien vierstimmig als Choräle. Die Neugierde und die Beharrlichkeit, mit der das Ehepaar Schmidt sich bis ins hohe Alter neuen Ideen und Themen zugewandt hat, speist sich aus den Bildungserfahrungen an der Lichtwarkschule ebenso wie ihr Drang, den Dingen stets umfassend und systematisch auf den Grund gehen zu wollen. In all ihren zahlreichen Tätigkeitsfeldern konnten sie die unterschiedlichsten Menschen mit ihren geistigen Fähigkeiten beeindrucken, manch einen sogar damit einschüchtern.

Die Erfolge der Lichtwarkschule in der Musik, den Künsten und in der Leibeserziehung beruhten im Wesentlichen auf zwei Ursachen: zum einen auf der fundierten programmatischen Ausrichtung der Schule in diesen Fächern – man würde heute von einer Profilbildung sprechen – und zum anderen auf hoch kompetenten und begeisterungsfähigen Lehrkräften.

So fühlten sich auch Loki und Helmut, wie viele andere Schüler, von den Musiklehrern Ludwig Moormann und Hermann »Papi« Schütt stark angezogen. Diese beiden Lehrer förderten effektiv ihre Talente und stärkten ihre Motivation für das eigene Musizieren; so spielten beide in den verschiedenen Orchestern der Schule und sangen ihre gesamte Schulzeit über im Chor.

Neben der Musik war für die Schmidts in der Schulzeit ebenso auch die vielgestaltige künstlerische Erziehung durch den Kunstlehrer John Börnsen prägend. Börnsen war vor allem wegen seines vielseitigen Unterrichts beliebt. Bei Börnsen wurde nach verschieden Stilformen gezeichnet und gemalt, die Schüler übten sich in der Porträt- und Landschaftsmalerei, es wurde auf Klassenreisen nach der Natur gemalt, und in den eigenen Werkstätten wurde gewebt, in Linoleum gedruckt sowie mit Holz und Metall gearbeitet. Von der Begeisterung, die dieser Unterricht bei den Schülern damals ausgelöst hatte, spürte man noch etwas, selbst wenn man mit der achtzig- oder neunzigjährigen Loki Schmidt darüber sprach: »Wir haben häufig Landschaften gezeichnet. Ich habe noch ein Aquarell von mir mit Kopfweiden, das ich mit elf Jahren gemalt habe und das im Keller der Schule den Krieg überstand. Wir malten aber auch Porträts, einer saß Modell, oder wir malten uns auch mal selbst. Wir haben auch abstrakt gemalt – mit Farb- und Formmustern, frei nach Vasarely. […] und auf einer Klassenreise nach Stade, bei der uns John Börnsen begleitete, haben wir die Kirche in Stade gemalt. Ich habe die sehr alte Wilhadikirche gewählt, eine sehr trutzige, weitgehend romanische Kirche. Und fast kubistisch habe ich sie unten schmaler als oben und dann die Seitenwände weit in den Himmel ragend gemalt.«[28]

Etwas Eigenes, auf der Basis der in der Schule erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten herzustellen und dafür Anerkennung zu gewinnen, das kann man wohl zu Recht, wie Loki Schmidt es hier tut, als Bildungserlebnis beschreiben. Und man kann dann durchaus, wie es beide Schmidts taten, von einem »Glücksfall« schulischer Bildung sprechen.

Zwei weitere Pädagogen waren für die Schüler Loki und Helmut von prägender Bedeutung: der Turnlehrer Ernst Schöning und die Klassen- und Biologielehrerin Ida Eberhardt – zwei Lehrpersonen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können.

Die spätere Lehrerin Loki Schmidt bewunderte an Ida Eberhardt besonders, wie diese durch gemeinsame Rituale und Aussprachen in der Klasse eine Schülerschaft aus sehr unterschiedlichen Grundschulen tatsächlich zu einer Klassengemeinschaft zusammenführte. Aus vielen verschiedenen Individuen eine Lerngemeinschaft zu bilden, das hatte für sie pädagogischen Vorbildcharakter. Ganz persönlich empfand Loki Schmidt Ida Eberhardts Erziehung zu Toleranz, ihr Werben für ein gegenseitiges Verständnis und ihre Warnungen vor Verallgemeinerungen und Vorurteilen gegenüber gesellschaftlichen Gruppen als besonders eindrücklich: »Hütet euch vor dem ›die‹: […] die Jungs, die Mädchen, die Schwarzen […] und ich hoffe, dass ich Ida Eberhardts Ermahnung immer beachtet habe.«[29]

Ida Eberhardts Einfluss war es auch zu verdanken, dass sich Lokis Interesse für die Biologie systematisch entwickeln konnte. Die engagierte Lehrerin gab Loki auch nach den Stunden Auskunft oder Ratschläge und bezog ihre Schülerin gelegentlich sogar in ihre Unterrichtsvorbereitungen mit ein.

Da Loki zu Hause so begeistert von Ida Eberhardt berichtete, ergab sich schnell auch eine engere Beziehung zwischen den Eltern und der Lehrerin. Als politisch aktive Kommunistin, die bei Wahlen für die KPD kandidierte,[30] fühlte sie sich dem politisch links orientierten, kulturinteressierten und offenen Arbeiterhaushalt von Gertrud und Hermann Glaser offenbar nahe. Da Lokis Mutter immer auch etwas dazuverdienen musste, nähte sie alsbald auch für die Lehrerin von Loki, was die gleichberechtigte Beziehung der Erwachsenen aber nicht weiter berührte. In Ida Eberhardt begegnete Loki neben ihrer eigenen Mutter einem weiteren, für die Weimarer Zeit typischen, neuen Frauentyp. Die Frauen hatten das Wahlrecht erkämpft, sie agierten selbstbewusst und waren in die akademische Arbeitswelt vorgerückt. Auch äußerlich zeigten die Frauen der Weimarer Republik Eigenständigkeit: Reformkleider, kürzere Röcke und Kurzhaarschnitt. Bob und Bubikopf waren besonders in den Zwanzigern äußerst populär, und Loki Schmidt hat diese Mode als erwachsene Frau übernommen. Der Bubikopf wurde geradezu ihr Markenzeichen.

Auch für Helmut Schmidt wurde die Schüler-Lehrer-Beziehung zu seinem Turnlehrer Ernst Schöning prägend, wenn auch in eine durchaus andere Richtung. Mit der täglichen Sportstunde und einem ausgefeilten Leistungsbewertungskonzept hatte dieser Ernst Schöning dem Fach Sport einen besonderen Stellenwert im Fächerkanon der Lichtwarkschule in den Jahren vor 1933 gesichert. Er versuchte sogar, sein Konzept über die eigene Schule und über Hamburg hinaus ins Gespräch zu bringen. Das machte er in der Weimarer Republik, dann aber auch mit erschreckender Wendigkeit nach 1933. Ernst Schöning kann man aus heutiger Sicht durchaus kritisch sehen.

Für Helmut Schmidt war er nach eigener Aussage jedoch ein Glücksfall. Als schmächtiger zehnjähriger Junge kam er an die Lichtwarkschule, wo er sich unter der Anleitung von Turnlehrer Schöning zu einem körperlich gut trainierten und in mehreren Sportarten geschickten Athleten mit einer besonderen Vorliebe erst für das Rudern, dann für das Segeln entwickelte. Die Anforderungen des damaligen Reichssportabzeichens und des Leistungsscheins des DLRG erfüllte er mühelos, seine Sportzensuren waren immer gut oder sehr gut.

Auch für seine persönliche Entwicklung wurde der Lehrer zu einer wichtigen Figur. Schöning hatte Verständnis für Fragen und Sorgen der Heranwachsenden und nahm sich Zeit für ernste individuelle Gespräche. Die Defizite, die Helmut Schmidt in der schwierigen Vater-Sohn-Beziehung so schmerzlich empfand, konnte Schöning wohl etwas ausgleichen. Besonders in den Jahren seiner Pubertät schätzte Schmidt die Beziehung zu dem Lehrer als Stütze und Hilfe und hob auch in späteren Jahren die Bedeutung Ernst Schönings für seine eigene Entwicklung hervor. Als er 1975 als Bundeskanzler beim Festakt des Deutschen Sportbundes sprach, stellte er Schöning sogar in den Mittelpunkt seiner Rede. Dabei war Schöning NSDAP-Mitglied gewesen, hatte sich nach 1933 dem neuen Nazischulleiter Zindler angedient, pries ohne Not bereits 1934 und 1935 sein Modell des Sportunterrichts in der Hamburger Lehrerzeitungals ideale Grundlage einer nationalsozialistischen Pädagogik.[31] Davon hatte der Lichtwarkschüler Helmut Schmidt nichts gewusst. Vor allem aber war er sich sicher, dass Schöning an der Schule keine Nazipropaganda betrieben hatte. Allerdings sei den Schülern bekannt gewesen, dass er im Ersten Weltkrieg Chef einer MG-Kompanie gewesen war. Dafür habe er, wie andere auch, Respekt empfunden.[32]

Die systematische Körperertüchtigung und die Klarheit der Leistungsbewertung seines Turnlehrers haben Helmut Schmidt weit über die Schulzeit hinaus imponiert. Bei Schöning hatte er gelernt, dass Erfolg nicht ohne eigene Disziplin und Beharrlichkeit zu erreichen ist. Belegt ist ebenfalls, dass er Schöning auch deshalb dankbar war, weil er sich als junger Wehrpflichtiger für die körperlichen Herausforderungen in der Wehrmachtsausbildung gut vorbereitet sah.[33]

Auch Loki Schmidt schätzte die von Schöning initiierte tägliche Sportstunde und die Vielfalt der an der Schule gelehrten Sportarten als pädagogische Errungenschaft. Anders als ihr Mann trieb sie ihr ganzes Leben lang regelmäßig Sport. Während Helmut nach dem Krieg zwar ein leidenschaftlicher Segler wurde, sich aber bis auf gelegentliches Tischtennisspielen im Kanzlerbungalow oder auf Urlaubsreisen für eine regelmäßige sportliche Ertüchtigung nicht erwärmen konnte, wurde aus Loki eine leidenschaftliche und ausdauernde Schwimmerin. Zum Leidwesen der sie stets begleitenden Sicherheitsbeamten liebte sie es, vom Frühsommer bis zum Herbst bei jeder Wassertemperatur im Brahmsee lange Strecken zu schwimmen. Auch auf ihren vielen Fernreisen ließ sie kein Gewässer aus. In Bonn hatte sie zudem eine feste Route entlang des Rheins, die sie mehrfach in der Woche in einer Art Marschtempo absolvierte. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie 1977 einem Vorschlag von Günter Warnholz, dem Leiter der Sicherheitsgruppe des Ehepaares, folgte, und die Anforderungen zum Sportabzeichen ohne Schwierigkeiten erfüllte. Immerhin war sie da schon fast sechzig Jahre alt.[34]

Helmut Schmidt zeigte sich sehr stolz auf die sportlichen Leistungen seiner Frau. Ob er damals selbst das Sportabzeichen geschafft hätte, darf man bei seiner bekannten Koffein- und Nikotinabhängigkeit und der ständigen physischen Überlastung durch die Art und Weise, wie er das politische Amt führte, durchaus bezweifeln. In Sachen Sport zumindest war der Einfluss der Lichtwarkschule auf Loki Schmidt wohl wirksamer als auf ihren Mann. Allerdings hätte sie dafür sicher eine Erklärung parat gehabt: Wann, bitte schön, hätte dieser Mann Zeit haben sollen, auch noch regelmäßig Sport zu treiben?

2.Jugend unterm Hakenkreuz

Als am 30. Januar 1933 in Berlin Reichspräsident Hindenburg den Parteiführer der NSDAP Adolf Hitler zum Reichskanzler beruft, feiern Hitlers Anhänger seine Ernennung als Machtübernahme und veranstalten noch am gleichen Abend einen gespenstischen Fackelzug am Brandenburger Tor. Am nächsten Morgen sitzen die Schüler der Lichtwarkschule in ihren Klassenzimmern, der Unterricht verläuft noch in seinen gewohnten Bahnen. Was der 30. Januar 1933