Die stummen Gäste von Zweitlinden - Anny von Panhuys - E-Book

Die stummen Gäste von Zweitlinden E-Book

Anny von Panhuys

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Beschreibung

Nach der Ermordung ihres Pflegevaters Konrad von Zweilinden steht Bettina Claudius ohne einen Pfennig Geld da. Da entpuppt sich ihr Liebster Graf Wulf als Verräter, der Bettina nur des Geldes wegen heiraten wollte. Bettina ahnt nicht, dass er der Mörder Konrads von Zweilinden ist, der dem verschuldeten Hallodri die Hand seiner Pflegetochter verweigerte. Als kein Testament gefunden wird, fällt der Besitz statt Bettina dem leiblichen Sohn Otfried von Zweilinden zu, der allerdings schon lange verschollen ist. Nach einer höhnischen Aussprache mit Bettina zieht sich Graf Wulf, dessen Tat unentdeckt bleibt, von ihr zurück. Mit dem Verkauf seines Schlosses kann er zwar seine Schulden tilgen. Doch sein haltloses Leben führt ihn in die Armut, bis er in Spanien eine einfache Frau heiratet, die künstliche Blumen herstellt. Doch Graf Wulf kann seine Vergangenheit nicht vergessen, besonders seiner Tochter Angela wegen, die nichtsahnend ihren Vater liebt. Für Bettina kommt das Glück mit Otfried von Zweilinden, der durch eine Suchanzeige wieder nach Hause findet. Ihr gemeinsamer Sohn Konrad wächst wohlbehütet auf. Eines Tages lernt er auf einer Reise die reizende Angela kennen und beide verlieben sich. Das Unheil, dass der jahrhundertealte Spuk in Zweilinden wieder einmal angekündigt hat, nimmt seinen Lauf. Der packende Schicksalsroman erzählt das Leben zweier Familien, die ein Mord und die Liebe gleichermaßen verbinden. Der Unheil verkündende Fluch der stummen Gäste, deren unsichtbares Gläserklingen und Stühlerücken immer wieder die Bewohner von Zweilinden erschreckt, liegt wie ein Bann auch über der nächsten Generation.-

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Anny von Panhuys

Die stummen Gäste von Zweitlinden

Roman

Die stummen Gäste von Zweitlinden

© 1955 Anny von Panhuys

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711592205

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

1. Kapitel

Im Park von Zweilinden feierte der Frühling eins seiner wunderbarsten Nachtfeste. Durch die frischbelaubten alten Bäume zog ein leises, geheimnisvolles Rauschen, und der Duft der frühlingsgrünen Pflanzen erfüllte die Luft mit jenem eigenen süßen Geruch, der erschöpft und belebt zu gleicher Zeit. Dicht am hinteren Ausgang des Parkes lag ein kleiner, alter Pavillon; seine Läden waren geschlossen, aber durch ein winziges Spältchen drang Licht daraus hervor.

In dem Pavillon, der nur mit einigen altmodischen Korbstühlen möbliert war, standen zwei Menschen in inniger Umarmung. Der Mann war sehr groß und schlank, hatte blondes Haar und graue Augen, seine Züge waren rassig, aber es lag darüber ein Hauch von Verlebtheit. Das Mädchen, das er im Arme hielt, hatte ein unregelmäßiges Gesicht, in dem die großen Blauaugen wohl das Schönste waren. Ihr braunes Haar war weich gelockt und zu einfachem Knoten tief im Nacken zusammengesteckt.

Der Mann ließ die Arme langsam sinken.

„Ich danke dir, Bettina, daß du mir die heutige Zusammenkunft gewährt hast, damit wir uns einmal gründlich aussprechen konnten.“ Er holte seine Uhr aus der Tasche. „Es fehlen noch dreißig Minuten bis Mitternacht, und es ist also reichlich spät für ein geheimes Stelldichein.“ Er lächelte. „Dein Pflegevater dürfte nichts davon erfahren, denn in seiner Korrektheit wäre er fähig, mir schon aus dem Grunde deine Hand zu verweigern, weil ich dich zu dem nächtlichen Treffen überredet habe.“ Er küßte Bettina Claudius lange. „O du, mein süßes Mädel, ich bin ja so unsagbar glücklich darüber, daß du mir gehören willst! Morgen vormittag komme ich zu deinem Pflegevater und spreche mit ihm von meiner Liebe zu dir, und dann heiraten wir bald. So bald wie möglich, denn ich sehne mich ganz toll nach dem ständigen Beisammensein mit dir, du Schönste. Nun pirsche dich nur sacht ins Haus. Für alle Fälle bleibt dir ja die Ausrede, du hättest noch einen kleinen Parkspaziergang gemacht, weil du Kopfweh hast.“

Bettina wehrte ab: „Nein, Wulf, den Vater zu beschwindeln, das ist eine schwere Sache, ich möchte es gar nicht erst versuchen. Besser ist’s schon, er merkt nichts von meinem kleinen Ausflug.“ Sie atmete tief auf. „Ich bin froh, daß ich nun bald das Geheimnis unserer Liebe nicht mehr vor ihm zu verbergen brauche. Es bedrückt mich schon.“

„Närrchen!“ lachte er nur, und sie sagte weich: „Der Vater ist so gut zu mir, so übergut. Ich darf schon deshalb keine Heimlichkeiten vor ihm haben. Du weißt, er behandelt mich wie seine eigene Tochter, und ich bin doch nur die eines armen Dorfschullehrers. Als meine Eltern so plötzlich kurz nacheinander starben, nahm mich Frau von Zweilinden zu sich, und seit sie starb, habe ich alle Rechte hier, als wäre ich wirklich die leibliche Tochter.“

„Die sieht auch jedermann in dir“, gab er zurück, „und es fehlt dir nichts dazu, als daß du adoptiert wirst.“

Sie nickte. „Vater hätte das auch wohl getan, aber weil er einen Sohn hat, kann er mich nicht an Kindes Statt annehmen.“

Um die Lippen des Mannes zog Hohn.

„Nun, Ottfried Zweilindens Name läuft nur noch wie eine alte Sage in unserer Gegend um. Er ist seit zehn Jahren verschollen und wohl auch tot, sonst hätte er längst von sich hören lassen.“

Bettina knipste das kleine elektrische Licht aus, das aus einer tiefhängenden Ampel Helle gespendet, und dicht aneinandergeschmiegt traten die beiden aus dem Pavillon, gingen zu der kleinen Hinterpforte der Parkmauer. Sie wechselten nur noch einen stummen Händedruck, dann schloß sich das Türchen mit leichtem Knarren hinter Graf Wulf von Speerau.

Bettina zog den Schlüssel ab und huschte auf leichten Füßen durch die Parkwege? Tief sog sie die reine, milde Nachtluft ein, und ein übèrströmendes Glück war in ihrem Herzen. Hoch oben glitzerten die Sterne wie Juwelen von unerhörter Pracht, und das bewegte Mädchen hätte in die Knie sinken und inbrünstigen, heißen Dank zum Himmel emporstammeln mögen, weil Wulf Speerau sie liebte. Denn das war doch das Herrlichste, was ihr vom Schicksal geschenkt worden war. Und morgen, morgen würde er zu ihrem Vater kommen, um von ihm ihre Hand zu erbitten. Dann wurde sie Wulfs Frau, Wulf Speeraus Frau!

Gab es denn auf Erden noch etwas Köstlicheres? Gab es denn auf Erden noch ein größeres Glück als das?

Und sie sank wirklich in die Knie, flüsterte im Überschwang ihrer Gefühle zum Himmel auf: „Ich danke dir, du guter Gott, daß du mein Leben so schön gemacht hast! Ich danke dir für die Liebe des besten und edelsten Mannes.“

Sie erhob sich und lief nun sehr schnell weiter durch den ausgedehnten Park, erreichte das Herrenhaus, aus dem sie sich wie ein Dieb gestohlen hatte. Ein Fenster zur ebenen Erde war nur angelehnt. Sie kletterte dort ein, stand dann in einem langen Raum, den man den Bankettsaal nannte, wohl noch von der Zeit her, als das Haus erbaut worden war. Und darüber mochten schon reichlich zweihundert Jahre vergangen sein.

Vorsichtig schloß Bettina die Läden und das Fenster, tastete sich dann nach dem Lichtschalter, und gleich darauf war der Raum in Helle getaucht.

Bettina blickte sich um. So, nun war das Schwerste geschafft, sie befand sich wieder im Haus. Durch einen schmalen Gang und über eine Treppe würde sie schnellstens ihr Zimmer erreichen. Sie wußte zu genau, ihr Pflegevater würde sehr böse sein, wenn er erfuhr, daß sie sich zu so später Stunde mit Wulf Speerau draußen im Park getroffen, und es war besser, er merkte nichts davon. Er urteilte über manche Dinge sehr hart.

Die hohe Standuhr draußen in der Halle meldete mit etwas heiserer Stimme die Mitternachtsstunde.

Bettina schaltete das Licht aus und holte dann eine kleine elektrische Taschenlampe aus ihrem Mantel. Eben wollte sie die Linke auf die Türklinke legen, als sie erschreckt aufhorchte und dann, wie von einem Blitzstrahl getroffen, förmlich erstarrte. Sie hörte ganz nahe vor sich die Schritte mehrerer Menschen, hörte kurze Zeit danach Stühle rücken, als ob mehrere Menschen Platz nehmen, und gleich darauf das Zusammenklingen feingeschliffener Weinkelche.

Sie bebte am ganzen Leibe. Gütiger Himmel, eben war der Saal doch noch leer gewesen, außer ihr hatte sich kein einziger Mensch darin aufgehalten!

Mit zitternder Hand schaltete sie das Licht wieder ein und blickte sich mit verstörten Augen um.

Niemand war hier, sie befand sich ganz allein, und doch hörte sie zum zweiten Male das Aneinanderklingen von Gläsern.

Eisige Schauer überrannen die regungslos Dastehende. Es ging ihr durch den Kopf: Was sie hörte, war keine greifbare Wirklichkeit. Was war das?

Es waren keine Menschen von Fleisch und Blut, die sich hier damit vergnügten, zu zechen. Was sie vernommen, war der Spuk von Zweilinden, von dem man sich im Dorfe und auf dem Gutshof zuweilen erzählte, es war der Spuk, an den sie nicht geglaubt, den sie bisher verlacht. Und nun hatte sie mit ihren eigenen Ohren gehört, was sie noch vorhin als Aberglauben und Unsinn bestritten hätte.

Sie hatte die stummen Gäste von Zweilinden gehört, von denen in der Kirchenchronik von Zweilinden mehrfach die Rede war und deren Besuch den Familienmitgliedern stets Unheil verkünden sollte. In der Kirchenchronik waren ein paar Belege dafür angeführt.

Bettina öffnete die Tür, knipste das Licht aus und verließ, den Strahl der Taschenlampe aufspringen lassend, fluchtartig den Raum.

Sie vergaß völlig, sich besonders leise zu bewegen; aber sie gelangte doch unbemerkt in ihr Zimmer, das sie hastig hinter sich verschloß, als würde sie verfolgt. Dem Himmel sei Dank, daß sie sich in den vertrauten vier Wänden ihres Schlafzimmers befand!

Sie riegelte auch noch die Tür ab, die nach ihrer Wohnstube führte, denn sie war ganz außer sich vor Grauen, obwohl sie bisher dem Aberglauben noch niemals die geringsten Zugeständnisse gemacht hatte.

Sie ließ sich erschöpft, als hätte sie einen weiten, weiten Weg hinter sich, auf das kleine Sofa fallen.

„Ich bin ja verrückt“, sagte sie ganz laut in die Stille des Zimmers hinein, und es tat ihr gut, ihre eigene Stimme zu hören. Sie fuhr sich über die Stirn, hinter der sich die Gedanken allmählich wieder zur Ordnung fügten.

Es war ja toll, wie sie sich von irgendein paar harmlosen Geräuschen hatte einschüchtern lassen. Die Geschichte von den stummen Gästen von Zweilinden war weiter nichts als eine jener Sagen, die in alten Schlössern und Herrensitzen herumgeistern und den Dienstboten mit angenehmem Gruseln die Zeit vertreiben.

Das späte heimliche Beisammensein mit Wulf Speerau hatte sie erregt, und ihre Nerven hatten ihr einen Streich gespielt.

Sie waren im allgemeinen nicht überempfindlich, aber das Glück und die Mitternachtsstunde hatten sie schwach gemacht.

Sie erhob sich und stellte sich vor den großen Pfeilerspiegel, blickte sich prüfend in dem Glase an. So sieht ein Furchtbündel aus, verspottete sie sich selbst, und dann lachte sie sich an. Nein, so sah eine Glückliche aus, eine ganz unsagbar Glückliche! Morgen kam ja Wulf Speerau zum Vater, und der Vater würde ihrer Liebe sicher keine Schwierigkeiten in den Weg legen.

Trauer beschattete ihre Züge. In ihrem siebenten Jahre war sie elternlos geworden; aber sie erinnerte sich deutlich an Mutter und Vater, die so jäh aus dem Leben gerissen wurden. Der Typhus ging damals im Dorfe um und riß sie beide mit so vielen anderen Dorfbewohnern ins Grab.

Bettina wandte sich vom Spiegel ab und trat vor ein Bild in glattem, schwarzem Rahmen: Vater und Mutter im Brautstaat. Einfache schlichte Menschen waren es, mit einfachen, schlichten Gesichtern.

Bettina sagte leise und zärtlich: „Ihr durftet nicht erleben, wie glücklich euer Kind geworden ist!“ Und sie sann, was die Eltern wohl sagen würden, wenn sie wüßten, aus ihrem kleinen Mädel würde nun bald eine Gräfin Speerau werden. Sie faltete die Hände und flüsterte bewegt: „Segnet mich, Vater und Mutter, segnet euer Kind!“

Mit tränenfeuchten Augen blickte sie auf das Bild.

Drunten in dem alten Bankettsaal hatte sich aber keine Katze eingeschlichen, denn wenn Bettina unten geblieben wäre, würde sie noch einmal das Gläserklingen gehört haben, bald danach auch wieder das Stühlerücken und die Schritte. Sie würde dann gewußt haben, die unsichtbaren Besucher, die stummen Gäste von Zweilinden, hatten sich nach kurzer Rast entfernt; der Bankettsaal war wieder frei von den Unheimlichen.

2. Kapitel

Graf Wulf Speerau auf Schloß Wiesenthal! Das klang sehr melodisch und gewichtig. Aber es stand hinter dem Titel und Namen nicht mehr allzuviel Bedeutung.

Die Herren von Speerau hatten nicht verstanden, so zu wirtschaften wie die Zweilindens, und je mehr sich deren Besitz vergrößerte, um so mehr verkleinerte sich der ihre. Der letzte Graf Speerau war wie seine Vorfahren. Er liebte Wein, Weib und Kartenspiel, doch er beherrschte die Kunst, seine Leidenschaft zu verbergen. Frankfurt am Main war nicht allzu weit, und in der großen Stadt fand er die Sorte Frauen, die seinem Geschmacke entsprach, dort gab es ein paar Kumpane, die mit ihm tranken und lumpten, und dort gab es auch einen geheimen Klub, in dem er bis zum Morgengrauen spielen konnte, so lange, bis er sich die Taschen leer oder voll gespielt, je nachdem ihm das Glück günstig war oder nicht.

Daheim galt er als guter, solider Landwirt, der nach ein paar flotten Jugendjahren den Wert der Arbeit erkannt und begriffen hatte, daß er fleißig sein und solide leben mußte, um sein Gütchen auf leidlicher Höhe zu halten.

Er hatte einen alten Inspektor, der schon von seinem Vater her auf Wiesenthal in Diensten stand, ein treuer, ehrlicher Alter, der zuweilen wagte, dem Grafen Wulf, wie man so zu sagen pflegt, die Leviten zu lesen. Aber niemals hätte der treue alte Ludwig West ein schlechtes oder nachteiliges Wort über seinen Herrn gesprochen. Er war Witwer und kinderlos und hing sehr an Wiesenthal.

Es war ein sonniger Vormittag, als Wulf von Speerau das Schloß verließ, das nur zwei Stockwerke hoch war, über die sich ein rotes Ziegeldach schob. Es stammte mit seinen zwei kurzen, von Türmen flankierten Seitenflügeln aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Der Gutshof schloß sich dicht an das Schloß an. Er setzte sich zusammen aus einer Kette von Schuppen und Ställen, und dazwischen zwängte sich das kleine Inspektorhaus ein. Knechte und Mägde gab es im Winter hier nur ein paar; erst im Frühjahr wurden einige Landarbeiter eingestellt, die bis zum Herbst blieben.

Wulf von Speerau verließ seinen Besitz mit einem kecken Gassenhauer auf den Lippen.

Er wollte zu Fuß nach Zweilinden hinüber, um sich dort Bettinas Hand zu sichern und damit die Gewißheit, recht bald ein bißchen besser leben zu können, als es jetzt möglich war. Es reizte ihn, die Welt kennenzulernen, weit zu reisen, mit eleganten Frauen Feste zu feiern und nicht immer gleich in der Klemme zu sitzen, wenn einmal die Karten nicht günstig fielen.

Bettina Claudius war der Goldfisch, den er sich eingefangen hatte, um ein Dasein nach seinem Geschmack zu führen. Nun brauchte er nur noch den Segen ihres Pflegevaters, dessen Reichtum seine leere Kasse mühelos füllen sollte.

Er ging zu Fuß, weil er im Kopf einen leichten Druck spürte. Er hatte gestern abend noch ein halbes Dutzend Kognaks gekippt, in der Freude, jetzt so dicht vor dem ersehnten Ziel zu stehen.

Bettina war nicht sein Geschmack. Ihre ganze Art war ihm zu einfach und harmlos. Er liebte die Frauen, denen ein ordentlicher Schuß Leichtsinn im Blute saß, Frauen mit kokettem Wesen und launenhaftem Charakter, der sprunghaft immer Abwechslung suchte und Abwechslung schuf.

Es war nicht weit von Wiesenthal nach Zweilinden. Ein Waldweg von einer halben Stunde lag zwischen beiden Gütern.

Wulf Speerau rauchte eine Zigarette und legte sich unterwegs zurecht, was er Konrad von Zweilinden sagen wollte, um ihn schnellstens von seiner großen Liebe zu Bettina zu überzeugen.

Wulf Speerau warf seine Zigarette weg. Es war wohl gut, wenn er nicht rauchte, denn sein Kopfschmerz war schlimmer geworden anstatt besser.

Seine Augen hingen am Boden, den hier am Waldrand dünnes Frühlingsgras deckte, da sah er plötzlich etwas, was ihn haltmachen ließ. Dicht vor ihm auf dem lichtgrünen Grasteppich lag ein Revolver – ein fast neuer Revolver.

Wulf Speerau blickte sich nach allen Seiten um, seine Augen suchten den Boden gründlich ab, denn unwillkürlich dachte er sofort an einen Selbstmord; aber er sah nichts, weder einen toten noch einen lebendigen Menschen.

Rechts von ihm lief die Waldchaussee, und da das niedrige Strauchwerk noch nicht üppig belaubt war, konnte man ziemlich weit in den Wald hineinschauen.

Der Revolver war gesichert. Drei Patronen befanden sich noch im Magazin.

Er betrachtete die Waffe interessiert von allen Seiten. Sie gefiel ihm, war modern, von hübscher Form, und er entdeckte daran ein Messingschildchen mit der Firma einer Waffenhandlung in London. Also in der Hauptstadt Englands war das Dingelchen gekauft worden. Er kannte niemand hier in der weiteren Umgebung, der in den letzten Jahren aus England gekommen war.

Er steckte den Revolver in die hintere Hosentasche. Wenn er hörte, daß die Waffe von jemand gesucht wurde, konnte er sie ja immer noch zurückgeben, sonst behielt er sie einfach. Wulf Speerau hatte eine Vorliebe für Gegenstände, die er nicht zu bezahlen brauchte.

Er schritt etwas schneller aus als vorher. Als er Zweilinden vor sich liegen sah, schlug es vom Dorfe gerade elf Uhr. Er blieb stehen, betrachtete das Bild vor sich mit den Augen des künftigen Besitzers und – schmunzelte. Das stattlichste Gut weit und breit war Zweilinden, hatte das größte Herrenhaus und den prächtigsten Park. Und den Riesenbesitz würde Bettina einmal nach dem Ableben ihres Pflegevaters erben. Der alte Herr hatte ja die Mitte der Sechzig schon überschritten.

Eine feine Sache war es, dachte Wulf Speerau, daß Ottfried Zweilinden nach einem bösen Krach mit seinem Vater davongelaufen war in die weite Welt, wahrscheinlich so weit, daß er sich nicht mehr zurückfand in die Heimat. Seine Mutter war darüber gestorben, und sein Vater hatte zu seinen Freunden gesagt: „Rede mir niemand mehr von dem schlechten Bengel! Ich will nichts mehr von ihm hören. Für mich ist er tot, und er wird, falls er noch irgendwo aus einer Versenkung aufsteigt, keinen Heller von mir erhalten.“

Die Herren von Zweilinden hatten alle zwei besondere Fehler: ihren Jähzorn und ihren Trotz. Wegen einer Bagatelle waren Vater und Sohn vor zehn Jahren aneinandergeraten und hatten sich deswegen für immer getrennt.

Wulf Speerau schmunzelte. Vor allem sollte Schwiegerpapachen erst einmal sein Scheckbuch öffnen und seiner Bettina, an der er sehr hing, eine gute Mitgift geben, damit er seine Verhältnisse ordnen konnte. Er hatte dieses langsame Weiterkrebsen bis zum Halse hinauf satt.

Vor dem langgestreckten, einförmig weißen Herrenhause standen zwei mächtige alte Linden, die schon an ihrem Platz gewesen, ehe noch der Grundstein zu dem Herrenhaus gelegt wurde, und die dem Gut den Namen gegeben hatten. Zwischen ihnen gab es einen Platz mit hübsch gehaltenen Anlagen. Der junge Rasen war eben vom Gärtner besprengt worden, auf den feinen Halmen glitzerten die Wassertröpfchen wie kleine Brillanten.

Ein Diener in grauer Livree öffnete dem Besucher, ließ ihn in die Eingangshalle treten und bat ihn, zu warten. Er kehrte bald zurück, sagte höflich: „Herr von Zweilinden läßt Herrn Graf Speerau bitten!“

Er nahm ihm Mantel und Hut ab und führte ihn in das Arbeitszimmer des Gutsherrn.

Konrad von Zweilinden saß am Schreibtisch, der so groß war, daß er das ganze Zimmer beherrschte, und legte eben eine Zahlenaufstellung fort, als der Graf eintrat. Er erhob sich, ging dem Besucher ein paar Schritte entgegen und reichte ihm die Hand. „Nun, Graf, was haben Sie auf dem Herzen? Fassen Sie sich bitte ein bißchen kurz, denn ich muß in einer halben Stunde in die Kreisstadt fahren. Da ist ’ne Gerichtssitzung, und ich bin als Sachverständiger vorgeladen. Wissen Sie, so ’ne blöde Kartoffelgeschichte. Ein Händler hat faulendes Zeug geliefert. Aber ich will uns mit dem Kram nicht aufhalten. Bitte, nehmen Sie Platz.“

Er ließ sich wieder in seinen Schreibtischstuhl fallen, nachdem sich Graf Speerau gesetzt hatte.

Wulf von Speerau wurde plötzlich angesichts des ruhig forschenden Blickes unsicher. Aber in der nächsten Sekunde hatte er sich schon wieder klargemacht, daß er ja kein beliebiger Mann war, der Bettina zur Frau begehrte, sondern der Graf Speerau. Schließlich hieß Bettina nur Claudius und stammte aus dem Dorfschulhaus.

Konrad von Zweilinden würde ihm das Mädel mit Kußhand geben.

Also los! Sein Zögern war töricht.

Er schnellte von seinem Stuhl hoch, nahm Haltung an, sagte mit Ernst und Wichtigkeit: „Herr von Zweilinden, ich bin heute mit einer großen Bitte hierher zu Ihnen gekommen, und ich hoffe, Sie werden sie mir erfüllen. Ich liebe Ihre Pflegetochter Bettina und bitte Sie um deren Hand. Ich möchte gleich noch hinzufügen, auch Bettina liebt mich.“ Er blieb stehen, sah den Gutsherrn von Zweilinden erwartungsvoll und doch sicher an.

Dieser schwieg zunächst, strich ein paarmal über sein Kinn, als überzeuge er sich, ob es auch gut rasiert war, und erwiderte dann: „Setzen Sie sich nur wieder, Herr Graf. Machen wir die Angelegenheit in Ruhe und Gemütlichkeit ab.“

Wulf Speerau lächelte. Na also, das ging ja ganz gut! Er war auch für Ruhe und Gemütlichkeit.

Er nahm wieder Platz und glaubte nicht recht zu hören, als Konrad Zweilinden in festem Tone fortfuhr: „Wir sind Gutsnachbarn, und mit Ihrem Vater war ich angenehm befreundet; deshalb wollen wir uns nicht veruneinigen; aber Bettina kann ich Ihnen leider nicht zur Frau geben.“

„Und warum nicht?“ fragte der andere.

Sein Gesicht sah plötzlich sehr fahl und scharfzügig aus.

„Wollen Sie mir in Ihrem Interesse die Antwort nicht lieber erlassen?“

„Nein, es wäre beleidigend für mich, Herr von Zweilinden, wenn Sie mir die Antwort auf meine Frage verweigern würden.“

In der Stimme des Grafen schwang Erregung.

Konrad von Zweilinden brummte: „Sie täten klüger, nicht so neugierig zu sein, aber ganz, wie Sie wollen. Also, mein bester Graf, Sie führen ein zu unsolides Leben.“

Der andere wollte eine heftige Erwiderung geben, doch eine Handbewegung gebot ihm Schweigen.

„Lassen Sie mich ausreden. Erst waren Sie neugierig; nun dürfen Sie mich auch nicht gleich unterbrechen. Ich wiederhole Ihnen, Sie führen ein zu unsolides Leben. Nicht auf Schloß Wiesenthal, bewahre, das halten Sie rein, so klug sind Sie, aber in Frankfurt toben Sie sich aus und versuchen sich immer noch die Hörner abzurennen, die Sie sich nach meiner Ansicht längst abgerannt haben müßten.“

Jetzt konnte Wulf Speerau doch nicht mehr schweigen.

„Wer hat mich so infam bei Ihnen angeschwärzt und verleumdet? Nennen Sie mir den Namen des Schuftes, Herr von Zweilinden, damit ich mich mit ihm auf meine Art auseinandersetzen kann.“

Der Gutsherr lächelte ein wenig.

„Niemand hat Sie verleumdet und angeschwärzt. Niemand. Ich habe nur bemerkt, daß Sie sich seit einiger Zeit bemühten, Bettina Raupen in den Kopf zu setzen, und anfangs ließ ich auch alles gehen, denn ich hatte nichts Ernstliches gegen Sie einzuwenden. Dann fiel mir einmal auf, daß sich da um Ihre Lippen die kleinen Fältchen schärfer ausprägten, als es eigentlich zu Ihren dreißig Jahren paßt, und eines Tages sah ich Sie in Frankfurt mit einem sehr angemalten Dämchen ein Haus betreten in etwas anrüchiger Gegend. Ich fuhr mit dem Auto durch diese Straße. Da wurde ich mißtrauisch und ließ Sie ein Weilchen überwachen, gut überwachen, denn das liebe Geschöpf, die Bettina, soll keinen Menschen heiraten, der nicht ganz koscher ist. Und so kam heraus, was mich jetzt veranlaßt, Ihnen mit einem glatten Nein zu antworten. Sie führen eine Art Doppelleben, verehrter Herr Graf, was ja für Sie seine Reize haben mag, mir aber an einem Schwiegersohn nicht gefallen würde. Auf Wiesenthal mimen Sie den braven Landjunker, und in Frankfurt erholen Sie sich von den Strapazen der Bravheit in den Armen diverser Lulus, Lilis und Mimis. An einem Abend haben Sie zum Beispiel fünfzehntausend Mark verloren, und am nächsten Tag haben Sie bei ’nem Wucherer in Frankfurt, im Gäßchengewirr unten am Main, noch ’ne Hypothek auf den letzten Schornstein von Wiesenthal ’raufgewuchtet.

So, jetzt wissen Sie Bescheid. Gegen mein Nein gibt es keinen Einspruch. Ich helfe nicht dazu, das Mädel ins Unglück zu stoßen. Bettina tut mir leid, wenn sie sich wirklich in Sie verliebt hat, wie Sie vorhin sagten; aber sie ist jung, sie wird vergessen.“

Wulf Speerau wäre am liebsten mit den Fäusten auf den Mann losgegangen, der alle seine Zukunftspläne mit ein paar Sätzen umwarf, doch er nahm sich zusammen und bat fast demütig: „Gut, Herr von Zweilinden, ich habe ein bißchen leichtsinnig gelebt, ich gebe es zu, ich liebe indes Bettina sehr und werde ihretwegen ein völlig anderer Mensch werden. Ich verspreche Ihnen, genau so zu leben, wie Sie es haben wollen.“

Der Gutsherr schüttelte den Kopf.

„In Ihrem Alter kriecht man nicht mehr so ganz aus seiner Haut heraus, dazu ist sie schon zu fest gewachsen. Nein, nein, zu Experimenten habe ich kein Vertrauen. Um Wiesenthal steht es sehr schlecht, und Sie rechnen damit, daß Bettina eine reiche Erbin ist und ihre Mitgift nicht zu knapp ausfallen dürfte.“

Wulf von Speerau erhob sich.

„Sie beleidigen mich, Herr von Zweilinden.“

„Ich stelle nur Dinge fest, die naheliegen“, war die ruhige Antwort. „Bettina werde ich den Grund mitteilen, der mich veranlaßt hat, Ihnen meine Zustimmung zur Ehe mit ihr zu verweigern. Sie ist vernünftig und wird sich freiwillig fügen.“

Der Graf nahm sich mit aller Kraft zusammen; aber die Wut, daß dieser Besuch so geendet, erstickte ihn fast. Er konnte kein Wort mehr sprechen, verneigte sich nur stumm und verließ hastig das Zimmer.

Ins Freie wollte er, allein sein, um nachzudenken, wie er den Entschluß des Pflegevaters Bettinas ändern konnte. Er mußte ein Mittel dazu finden.

Er brachte es noch fertig, dem Diener, der ihm Hut und Mantel aushändigte und den er seit Jahren kannte, ein paar freundliche Worte zu sagen.

3. Kapitel

Nachdem sich Wulf Speerau ein Stückchen vom Herrenhause entfernt hatte, tat er sich keinen Zwang mehr an. Er schimpfte halblaut vor sich hin, er konnte einfach nicht anders.

„Verdammter Moralfatzke, blöder Sittenrichter, alter Spießer!“ betitelte er den Pflegevater Bettinas, dem die Tochter zu schade war für ihn. Durch seinen Kopf tanzten die Gedanken einen wilden Reigen und verwirrten ihn. Er sann verzweifelt: Wie fing er es nur an, den Unnachgiebigen umzustimmen?

Er wanderte erst ein Stück auf dem Waldwege dicht an der Chaussee entlang, dann ging er wardein und lief in die Kreuz und Quere. Seine Füße gebärdeten sich so wie sein Kopf – beide hielten keine bestimmte Richtung inne. In Wulf Speerau hallten noch die Sätze nach, die ihn am meisten geärgert, weil er sich durchschaut sah. Konrad Zweilinden hatte ihm auf den Kopf zugesagt: „Um Wiesenthal steht es schlecht, und Sie rechnen damit, daß Bettina eine reiche Erbin ist und ihre Mitgift nicht zu knapp ausfallen dürfte!“

So durchschaut zu werden, war natürlich das Fatalste, was ihm hatte passieren können.

Er dachte, so unangenehm der Satz gewesen, lag doch in ihm das Zugeständnis, daß Bettina eine reiche Erbin war. Man nahm ja auch allgemein an, Bettina war Konrad Zweilindens Universalerbin; aber schließlich wäre immerhin möglich gewesen, ihr Pflegevater würde ihr nur einen Teil seines Reichtums geben.

Sein Sohn Ottfried war verschollen, wahrscheinlich sogar tot, indes selbst wenn er lebte, zählte er für den Vater nicht mehr mit. Über sein Pflichtteil hinaus bekäme er sicher nichts, falls der Herr von Zweilinden stürbe und sein Sohn noch einmal auftauchen würde.

Ein häßlicher Gedanke drängte sich vor. Wenn Konrad Zweilinden stürbe, ehe er mit Bettina über ihn redete und ihr mitteilte, warum er ihn abgewiesen, dann wäre alles gut. Er seufzte laut. Aber erstens würde der alte Herr wahrscheinlich sofort mit Bettina sprechen, und zweitens, auch mit der größten Kraft seines Wunsches und Willens allein konnte er ihn nicht töten.

Bei einer Gehbewegung spürte er den Revolver in seiner Tasche. Mechanisch holte er ihn hervor und dachte, wer ihn wohl fortgeworfen oder verloren haben mochte. Eine hübsche, gediegene Waffe war es. Er steckte sie wieder ein.

Plötzlich hörte er dumpfes Räderrollen. Er hatte ein vorzügliches Gehör und stellte sofort fest, obwohl er sich ziemlich weit von der Chaussee entfernt hatte, das Räderrollen kam aus der Richtung von Zweilinden.

Ein unklarer Gedanke zwang ihn, in rasender Hast quer durch den Wald zu laufen, um die Chaussee wieder zu erreichen und dorthin zu gelangen, wo sie sich mit der Chaussee nach der Kreisstadt kreuzte. Es war anzunehmen, der Wagen, dessen Räder er hörte, war der Konrad Zweilindens, der jetzt als Sachverständiger zum Termin in die Stadt fuhr.

Daß er dorthin mußte, hatte er ja vorhin erklärt.

Wulf Speerau wollte noch einmal sein Heil versuchen. Der Gutsherr von Zweilinden fuhr meist ohne Kutscher. Möglicherweise konnte man hier draußen noch ein vernünftiges Wort mit ihm reden.

Während er die Stelle, wo sich die Chaussee kreuzte, im Schnellaufe zu gewinnen suchte, schoß ihm durch den Kopf, daß Konrad Zweilinden wahrscheinlich noch gar nicht mit Bettina über ihn geredet hatte, sonst würde er wohl nicht so schnell von zu Hause fortgekommen sein, und das bedeutete schon einen Vorteil.

Der Graf erreichte sein Ziel, und richtig, da kam der kleine Jagdwagen, den Zweilinden meist für seine Fahrten benutzte, von rechts mit mäßiger Geschwindigkeit heran.

Kein Mensch war zu sehen weit und breit. Außer ihm selbst und Zweilinden befand niemand sich in der Nähe. Die Chaussee war selten belebt um diese Zeit. Die Milchwagen fuhren ganz früh, und zu Waldspaziergängen hatten die Bauern der Umgebung keine Zeit. Sie befanden sich jetzt in der Wirtschaft und auf den Feldern, die bei Zweilinden begannen, wo der Wald seitlich zog, oder da drüben hinter ihm auf der anderen Seite. –

Ein schneller Rundblick überzeugte Wulf Speerau, es gab keinen Menschen in seiner Nähe, und wenn er geschickt war, dann wäre es gar nicht so schwer. –

Er tastete nach dem Revolver, trat hinter einen starkstämmigen Baum.

Der Wagen des Gutsherrn von Zweilinden näherte sich, nahm langsam die Kurve, um in die Chaussee nach der Kreisstadt einzubiegen. Im gleichen Augenblick krachte ein Schuß. Das Pferd bäumte sich und raste wie toll davon, in der Richtung auf die Kreisstadt zu. Wulf Speerau aber sah noch, wie der Körper Konrad Zweilindens langsam hintenüberfiel und halb über dem Fahrsitz hing.

Er ließ den Revolver fallen. Mochte man ihn hier finden. Er aber stürmte, wie von Furien verfolgt, waldein, und erst nachdem er ein großes Stück zwischen sich und den Ort seiner Tat gelegt hatte, ging er wieder langsamer. Nun hieß es, zunächst sich zu beruhigen. Das war die Hauptsache.

Der Graf holte einen Taschenspiegel hervor und betrachtete sich. Sein Hut saß ein wenig schief, aber sein Gesicht sah aus wie immer, fand er. Den Hut rückte er gerade, und dann zwang er ein Lächeln um seine Lippen, begann überlaut zu pfeifen – eine Marschmelodie. Er wollte nicht hören, wie ein Wagen auf der Chaussee nach der Kreisstadt dahinjagte.

Viele Fragen bedrängten ihn. War Konrad Zweilinden tot, oder hatte er schlecht getroffen, hatte er ihn nur verwundet? Und wenn er ihn nur verwundete, war er von ihm gesehen worden? Ihm war flau zumute, aber er pfiff weiter. Falls ihm jemand begegnete, sollte er den Eindruck gewinnen, er befände sich in guter Stimmung.

Er erreichte Schloß Wiesenthal, ging pfeifend in sein Zimmer, machte allerlei Arbeiten, die höchst unwichtig waren. Aber die Unruhe trieb ihn dazu. Mit irgend etwas mußte er die Zeit ausfüllen, denn bald würde er ja hören, ob ihm geglückt war, den Störenfried auszuschalten, der seine Pläne über den Haufen geworfen. Vor allem: für immer.

Er aß zu Mittag wie sonst, machte der alten Köchin, die schon bei seinen Eltern in Diensten gestanden und die selbst die Speisen auftrug, Komplimente, wie gut sie koche, und tat äußerst vergnügt.

Gegen zwei Uhr, als er, eine Zigarre rauchend, am offenen Fenster seines Arbeitszimmers saß, kam Ludwig West, sein Inspektor, zu ihm. Er war sichtlich aufgeregt und strich vor Aufregung seinen langen grauen Vollbart.

„Herr Graf, denken Sie doch nur, es heißt, Herr von Zweilinden wäre erschossen worden. Sein Pferd soll mit dem Jagdwagen in toller Fahrt in die Kreisstadt gerast gekommen sein und vor dem Hotel ‚Eichkatz‘, wo Zweilinden immer haltzumachen pflegt und manchmal ausspannt, stillgestanden haben. Im Wagen aber, ganz zusammengefallen, hätte Zweilinden gelegen. Tot! Von einer Kugel mitten ins Herz getroffen! Du lieber, guter Gott, ist das nicht furchtbar? Die Polizei ist schon auf den Beinen, heißt es, und die Mordkommission aus Frankfurt wird erwartet.“

Wulf Speerau hatte nun die Gewißheit, auf die er so fieberhaft gewartet. Halb lag sie ihm wie ein Alpdruck auf der Brust, halb empfand er ein Siegergefühl.

Jetzt war der Weg zu Bettina und ihrem Reichtum frei! Die Erbin von Zweilinden war das reichste Mädchen weit und breit.

Er warf seine Zigarre zum offenen Fenster hinaus, sagte in unwilligem Ton: „Das ist doch alles Unsinn, ich war ja heute vormittag in Zweilinden, und Herr von Zweilinden war vergnügt und gesund!“ Er schlug sich vor die Stirn. „Aber er erzählte mir, er müsse als Sachverständiger zu einem Termin in die Kreisstadt fahren.“ Er schüttelte sich. „Sollte es also doch wahr sein? Oh, das wäre ja entsetzlich!“ Wie von Mitleid überwältigt, murmelte er vor sich hin: „Die arme Bettina Claudius tut mir in der Seele leid!“ Er ging ans Telefon. „Warten Sie einen Augenblick, lieber West. Ich telefoniere gleich mal mit dem Hotel ‚Eichkatz‘.“

Seine Hand, die den Hörer abnahm, schien ruhig, aber sein Herz schlug wie ein Schmiedehammer.

Das Gespräch war nur kurz. Wulf Speerau wandte sich wieder dem alten Inspektor zu, sagte in dumpfem Ton: „Es ist alles wahr. Alles, was man Ihnen erzählt hat, stimmt.“ Er ging zu seinem Stuhl, ließ sich darauf niederfallen. „Wie furchtbar, wie furchtbar! Daß so etwas in unserer bisher so sicheren und harmlosen Gegend geschehen konnte!“ Er ballte die Hände. „Wenn man nur den Schuft faßte, der das getan hat!“

Der Inspektor nickte. „Herr von Zweilinden war manchmal etwas kurz und rauh, ich glaube, er hatte manchen Feind unter seinen früheren Knechten.“

Schon am späten Nachmittag wurde Wulf Speerau nach Zweilinden gerufen. Die Mordkommission war bereits bei der Arbeit, und da er kurz vor der Fahrt des Gutsherrn in Zweilinden gewesen, zog man auch ihn in den Kreis der Zeugen ein.

Als Wulf in die Halle trat, stürzte Bettina ihm ganz aufgelöst in Tränen entgegen. Unbekümmert um ihre Umgebung drängte sie sich an ihn, schluchzte verzweifelt: „Der arme, liebe Vater!“

Wulf streichelte ihr Haar. Er hatte nun die Gewißheit, Konrad Zweilinden hatte vor seiner Fahrt nach der Kreisstadt nicht mehr über ihn zu Bettina gesprochen, und damit fiel wieder eine Schwierigkeit fort.

Als er dann von dem Kriminalkommissar gefragt wurde, aus welchem Grunde er am Vormittag in Zweilinden gewesen, antwortete er ruhig: „Um ihn um die Hand seiner Pflegetochter Bettina zu bitten, die er mir, wie Bettina und ich nicht anders erwarteten, auch gewährte. Er sagte schließlich scherzhaft zu mir: Nun aber ’raus, Sie Verliebter, und nach Hause! Ich muß als Sachverständiger in die Kreisstadt. Kommen Sie heute abend wieder, dann halten wir ’ne kleine Vorfeier. Und jetzt nicht etwa Bettina aufsuchen. Ich will sie Ihnen mit einem richtigen Vatersegen in die Arme legen!“ Weiter könne er nichts aussagen. Er sei dann mitten durch den Wald langsam und vergnügt nach Hause gegangen.

Der Kommissar hatte nicht den geringsten Grund, die Aussage anzuzweifeln. Alles klang so überzeugend, ganz glaubhaft.

Man hatte den Revolver gefunden mit dem kleinen Messingschild, in dem die Adresse einer Londoner Waffenhandlung eingraviert war. Aber da solche Waffen jahrein, jahraus verkauft wurden, hatte eine Nachfrage bei der Firma kaum einen Zweck.

Nach seiner Aussage suchte Wulf Speerau Bettina auf. Er fand sie in der Bibliothek. Wie vernichtet saß sie in einem der Sessel; aber über ihr Gesicht glitt doch ein heller Schein, als der Geliebte eintrat.

Wulf näherte sich ihr, strich über ihr dunkelbraunes Haar.

„Meine arme, arme Bettina, es ist furchtbar, was geschehen ist. Glaube mir, ich fühle mit dir. Ich war doch heute vormittag hier, und dein Vater gab so freudig seine Zustimmung zu unserer Ehe, daß ich unendlich glücklich war. Heute abend erst solltest du das erfahren, wünschte er; heute abend wollte er Verlobung mit uns feiern.“

Bettinas Hände verkrampften sich.

„Wie schön wäre das gewesen, wie wunderschön! Und nun liegt er irgendwo in der Kreisstadt, kalt und tot, und man rät mir, nicht darauf zu bestehen, ihn sehen zu wollen, obwohl ich es möchte. Denke nur, Wulf, ich soll ihn kein einziges Mal mehr sehen, ehe man ihn in den Sarg legt und begräbt. Kein einziges Mal mehr! Das ist doch unmöglich! Heute morgen war er noch so gut und lieb zu mir, und jetzt ist er schon tot!“ Sie hob den Blick. „Aber er hat dir noch erlaubt, mich zu heiraten. Das ist wie ein Trost. Nicht wahr, Wulf?“

Er wiederholte: „Ja, das ist wie ein Trost, meine geliebte Bettina!“

Er versprach, am nächsten Tage wiederzukommen, und ging, nachdem er die Weinende noch, so gut es ihm möglich war, beruhigt hatte.

Bettina verließ die Bibliothek und suchte ihr Zimmer auf. Die frohen Farben darin taten ihr heute weh, wie einem Trauernden wohl ein helles Lachen weh tut, das an sein Ohr dringt. Sie blickte in den Park hinaus und sann: Gestern nacht glaubte sie die stummen Gäste von Zweilinden zechen gehört zu haben. Ihr Besuch sollte Unheil bedeuten, und nun war das Unheil schon da. Ein schreckliches Unglück war geschehen, das Schlimmste, was sie sich zu denken vermochte.

Ihr graute plötzlich wieder vor dem, was sie verlacht – vor den stummen Gästen von Zweilinden.

4. Kapitel

Die Mordkommission hatte festgestellt, daß der tödliche Schuß vom Waldweg aus, von der Stelle, wo der Revolver gelegen, auf den Gutsherrn abgegeben worden war, gerade als der Wagen die Kurve nahm und er langsamer gefahren wurde. Aber man fand keinen Anlaß, irgend jemand des Mordes zu verdächtigen. Man glaubte allgemein, ein früherer Knecht von Zweilinden habe aus Rachsucht die Tat begangen. Zur Erntezeit gab es alljährlich so viele fremde Hilfskräfte auf dem Gute, daß es schwer war, da eine Spur zu finden.

Die Leiche Konrad von Zweilindens wurde freigegeben und in dem Erbbegräbnis der Familie auf dem nahen Dorffriedhof zur letzten Ruhe gebracht.

Bettina stand, in düstere Trauergewänder gehüllt, am Grabe und weinte haltlos. Eine Schwester des toten Gutsherrn war mit ihrem Mann, der sich mit dem Verstorbenen sehr schlecht gestanden, aus Berlin gekommen, wo er als Privatgelehrter von dem Vermögen lebte, das seine Frau ihm mit in die Ehe gebracht. Das Paar war äußerst besorgt um Bettina, und das harmlose Mädchen war dankbar dafür. Sie ahnte nicht, daß man ihr nur schöntat, weil sie die Erbin von Zweilinden war.

Die beiden waren einen Tag vor dem Begräbnis angelangt, und Frau Justine von Welten fühlte sich sofort äußerst wohl im Herrenhause, in dem sie so lange gelebt, bis sie sich, sehr gegen den Willen ihres Bruders, mit Dieter von Welten verheiratete, den sie bei Bekannten in Frankfurt am Main kennengelernt. Jetzt aber war der Bruder, der von ihrem Manne nur eben Notiz genommen, nicht mehr da; ein junges Mädchen lebte hier als Herrin.

Es war also Gelegenheit gegeben, sich wenigstens bis zum Winter in ein nettes, behagliches Nest zu kuscheln. Ihr Mann konnte seine Studien machen, wo er wollte, er war an keinen Ort gebunden.

Sie tat mütterlich besorgt um Bettina und war sehr liebenswürdig zu Wulf von Speerau, weil sie in ihm nach dem, was sie gehört, den zukünftigen Herrn von Zweilinden sah.

Nach der Beerdigung führte das Ehepaar Bettina zwischen sich zum Auto.

Die ganze Nachbarschaft hatte sich eingefunden, um Konrad von Zweilinden, der auf so plötzliche, tragische Weise ums Leben gekommen, die letzte Ehre zu erweisen. Man raunte sich zu, Wulf Speerau sei heimlich mit Bettina Claudius verlobt und nun bald einer der reichsten Grundbesitzer weit und breit. Auch von Ottfried Zweilinden redete man; aber der war nicht mehr wichtig. Einer, der zehn Jahre lang geschwiegen, würde auch weiter schweigen, und zu holen war ja hier nicht mehr viel für ihn.

Bettina stieg in das Auto. Ihre Augen brannten von den vielen Tränen, und das Herz lag ihr so schwer in der Brust, so schwer von dem Schmerz um den Vater.

Kaum war man zu Hause angelangt, ließ sich Justizrat Eisen melden, der Rechtsbeistand und Berater des Verstorbenen.

Dieter von Welten, ein sehr eleganter Herr Mitte der Fünfziger, mit schlauen Augen, seine etwas derbknochige Frau und Bettina hatten sich in das Arbeitszimmer des Verstorbenen begeben. Man empfing nun dort den Justizrat, der auch an der Beerdigung teilgenommen hatte. Er grüßte die drei erst durch eine Verneigung und reichte Bettina dann teilnehmend die Hand.

„Ich komme gewissermaßen privat, Fräulein Claudius. Eigentlich ist es Sache des Amtsgerichts, Sie über den rechtlichen Stand der Erbfolge zu unterrichten, und das dürfte auch in allernächster Zeit geschehen. Aber als Freund des Toten, der Sie wie eine Tochter geliebt hat, fühle ich mich verpflichtet, Sie über einiges Wichtige aufzuklären.“

Bettina bot ihm Platz an, erwiderte matt: „Alles, was mit der Erbschaft zusammenhängt, interessiert mich gar nicht. Ich bin noch viel zu durcheinander, um schon jetzt an dergleichen zu denken.“

Justine von Welten neigte den sehr glatt gescheitelten Kopf.

„Ich verstehe unsere Bettina nur zu gut. Sie hat eben ihren Pflegevater sehr liebgehabt, und es ist schmerzlich für sie, sich mit dem Nüchternen zu befassen, das so ein Todesfall im Gefolge hat.“ Sie strich sanft über die Hand Bettinas. „Du solltest aber doch hören, mein Kind, was dir der Herr Justizrat glaubt mitteilen zu müssen. Es ist sehr freundlich von ihm, daß er sich privat bemüht.“

Bettina sah den Justizrat mit großen, verweinten Augen an.

„Ich will zuhören, Herr Justizrat“, sagte sie leise. „Sprechen Sie nur.“

Das Ehepaar wechselte einen verständnisvollen Blick. Es schien ihnen beiden auch wichtig, zu hören, was der Justizrat Bettina mitteilen würde.

Karl Eisen war klein und ein wenig dick. Seine hellbraunen Augen funkelten immer sehr lebhaft hinter dem goldumrandeten Kneifer. Er holte tief Atem. Es schien ihm keine leichte Aufgabe, die er hier erfüllen wollte – nein, mußte! Er hielt sich für verpflichtet dazu.

Er begann: „Sie wurden von Herrn von Zweilinden wie eine leibliche Tochter gehalten, Fräulein Claudius, und ich weiß genau, Sie waren seinem Herzen teuer. Um so mehr, da er keine Kinder besaß; denn sein Sohn lief im Jähzorn und Trotz eines Tages fort und blieb weg. Der Grund dazu war nicht besonders wichtig, wie wir alle wissen, und es paßt wohl in diesem Falle das Sprichwort: Kleine Ursachen, große Wirkungen! Doch zur Sache: Es ist mir sehr, sehr unangenehm, was ich Ihnen jetzt erklären muß, Fräulein Claudius; aber, wie gesagt, ich halte es für meine Pflicht. Ungefähr vierzehn Tage vor seinem jähen Tode war Ihr Pflegevater bei mir, und seltsamerweise sprach er, was er eigentlich nie tat, von seinem Sohn. Er meinte, er wäre damals wohl zu hart zu ihm gewesen, und meinte auch, in nächster Zeit möchte er sein Testament machen. Er würde sich einmal gründlich überlegen, wie er sein Hab und Gut zwischen seinem Sohn und Ihnen teilen sollte. Auch möchte er nach Ottfried suchen lassen. Wenn man ihn nicht fände, deutete er an, bekämen Sie alles. Aber, Fräulein Claudius, das ist nicht die Hauptsache, das Wesentliche ist, Ihr Pflegevater wollte ein Testament machen. Doch er tat es nicht, und da Sie in keiner Weise irgendwie in verwandtschaftlichen Beziehungen zu ihm standen, werden jetzt der Erbschaft wegen vor allem Aufrufe nach Ottfried von Zweilinden erlassen werden.“

Frau Justine hatte hektische Flecke auf den gelblichen Wangen, als sie fragte: „Und wenn mein Neffe Ottfried sich nicht meldet oder gar sein Tod nachgewiesen werden könnte, wie wäre die Erbfolge dann?“ Sie fügte betont hinzu: „Ich bin doch Konrad von Zweilindens Schwester.“

„Leider!“ erwiderte der etwas temperamentvolle Jurist, der Justine von Welten nicht ausstehen konnte.

„Leider? Wie meinen Sie das?“ stellte Welten ihn sofort zur Rede.

Justizrat Eisen machte ein harmloses Gesicht.