Die Stunde der wahren Empfindung - Peter Handke - E-Book

Die Stunde der wahren Empfindung E-Book

Peter Handke

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Wer hat schon einmal geträumt, ein Mörder geworden zu sein und sein gewohntes Leben nur der Form nach weiterzuführen? ... Auf einmal gehörte er nicht mehr dazu ... Es war etwas passiert, das er nicht mehr rückgängig machen konnte ...« Der Traum dieser einen Nacht ist der plötzlich einsetzende Impuls, der Gregor Keuschnig unwiderruflich hinauskatapultiert aus einer Wirklichkeit, in der alle Menschen und Erscheinungen »auswendig gelernt hatten, wie man Leben vortäuschte«.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 180

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Peter Handke

Die Stunde der wahren Empfindung

Roman

Suhrkamp Verlag

»Sind Gewalt und Sinnlosigkeit nicht zuletzt ein und dasselbe?«

Max Horkheimer

1

Wer hat schon einmal geträumt, ein Mörder geworden zu sein und sein gewohntes Leben nur der Form nach weiterzuführen? Damals, zu der Zeit, die noch andauert, lebte Gregor Keuschnig seit einigen Monaten als Pressereferent der österreichischen Botschaft in Paris. Er bewohnte mit seiner Frau und der vierjährigen Tochter Agnes ein dunkles Appartement im sechzehnten Arrondissement. Das Haus, ein französisches Bürgerhaus aus der Jahrhundertwende, mit einem steinernen Balkon an der zweiten und einem gußeisernen an der fünften Etage, stand neben ähnlichen Gebäuden an einem ruhigen Boulevard, der ein wenig abschüssig zur Porte d'Auteuil hinunter verlief, die eine der westlichen Stadtausfahrten bildet. Nur alle fünf Minuten etwa klirrten untertags die Gläser und Teller im Eßzimmerschrank, wenn in der Senke neben dem Boulevard der Zug vorbeifuhr, der Reisende von der Peripherie zur Gare St. Lazare in die Mitte der Stadt brachte, wo sie zum Beispiel in die Züge nach Nordwesten, an den atlantischen Ozean, nach Deauville oder Le Havre, umsteigen konnten. (Manche der oft schon etwas älteren Bewohner dieses Quartiers, in dem vor hundert Jahren noch Weinberge gestanden hatten, fuhren auf diese Weise an den Wochenenden mit ihren Hunden ans Meer.) In der Nacht aber, wenn nach neun Uhr abends keine Züge mehr fuhren, war es an dem Boulevard so still, daß man bei dem leichten Wind, der oft hier ging, ab und zu die Blätter der Platanen vor den Fenstern rieseln hörte. In einer solchen Nacht Ende Juli hatte Gregor Keuschnig einen langen Traum, der damit anfing, daß er jemanden getötet hatte.

Auf einmal gehörte er nicht mehr dazu. Er versuchte sich zu verändern, so wie ein Stellungssuchender »sich verändern« will; doch um nicht entdeckt zu werden, mußte er genau so weiterleben wie bisher und vor allem so bleiben, wie er war. Auf diese Weise war es schon eine Verstellung, wenn er sich wie gewöhnlich mit andern zum Essen setzte; und daß er plötzlich so viel redete, von sich, von seinem »früheren Leben«, tat er nur, um von sich abzulenken. Welche Schande werde ich meinen Eltern bereiten, dachte er, während die Ermordete, eine alte Frau, dürftig vergraben in einer Holzkiste lag: ein Mörder in der Familie! Am meisten aber bedrückte ihn, daß er jemand andrer geworden war und doch weiter so tun mußte, als ob er dazugehöre. Der Traum endete damit, daß ein Vorübergehender die Holzkiste aufmachte, die inzwischen schon offensichtlich vor seinem Haus stand.

Wenn Keuschnig früher etwas nicht aushielt, legte er sich gewöhnlich irgendwo abseits nieder und schlief ein. In dieser Nacht war es umgekehrt: der Traum war so unerträglich, daß er aufwachte. Aber wach sein war gleich unmöglich wie schlafen ‒ nur lächerlicher, langweiliger: als hätte er schon seine unabsehbare Strafe angetreten. Es war etwas passiert, das er nicht mehr rückgängig machen konnte. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf, doch diese Gewohnheit stellte nichts wieder her. Windstille vor dem Fenster seines Schlafzimmers; und wenn nach langem einmal an dem immergrünen Baum im Hof ein Ast schwang, hatte er den Eindruck, daß nicht ein Windstoß ihn bewegte, sondern die angesammelte Innenspannung in dem Ast selber. Keuschnig fiel ein, daß über seiner ebenerdigen Wohnung noch sechs andere Stockwerke lagen, eines über dem andern!, mit schweren Möbeln vollgestellt wahrscheinlich, dunkelgebeizten Schränken. Er zog die Hände nicht hinter dem Kopf hervor, blies nur wie zum Schutz die Wangen auf. Er versuchte sich vorzustellen, wie es nun weitergehen sollte. Weil alles so ungültig geworden war, konnte er sich auch nichts mehr vorstellen. Er rollte sich ein und versuchte wieder einzuschlafen. Anders als früher war nun das Einschlafen keine Möglichkeit mehr. Er stand gefühllos auf, als mit dem ersten Zug gegen sechs auf dem Nachttisch endlich das Wasserglas klingelte.

Keuschnigs Wohnung war groß und verzweigt. Man konnte darin auf verschiedenen Wegen gehen und einander plötzlich begegnen. Der sehr lange Flur schien vor einer Wand aufzuhören ‒ und ging dann, nach einem Knick, noch länger weiter, so daß man sich fragte, ob man immer noch in derselben Wohnung sei, bis in das hintere Zimmer hinein, in dem seine Frau für ihren Kurs an einer audiovisuellen Schule manchmal Französisch lernte und dort blieb, um zu schlafen, wenn ihr, wie sie sagte, in der Müdigkeit der Weg durch den Flur und um die Ecken herum zu unheimlich war. Die Wohnung war so verschachtelt, daß man das Kind, auch wenn es nicht verloren gehen konnte, häufig rief: »Wo bist du?« Das Zimmer des Kindes war von drei Seiten zugleich zu betreten: vom Flur; vom hinteren Zimmer, das seine Frau »Arbeitszimmer« nannte; und vom nur vor fremden Besuchern so genannten »Elternschlafzimmer«. Davor befanden sich noch das Eßzimmer, sowie die Küche, mit dem »Dienstboteneingang« ‒ sie hatten keine Dienstboten ‒ und einem eigenen Dienstbotenklosett nebenan (der Absperriegel seltsamerweise außen an der Tür), und ganz vorn, an der Straße, die »Salons«, die seine Frau als »Living« bezeichnete, während im Mietvertrag einer der Salons wegen einer Nische in der Wand als »Bibliothek« erwähnt wurde. Der kleine Vorraum, der direkt auf die Straße hinaus führte, hieß im Vertrag »Antichambre«. Die Wohnung kostete dreitausend Francs im Monat; eine ältere Französin, deren Mann früher Besitzungen in Indochina gehabt hatte, lebte davon. Das österreichische Außenministerium kam für etwa zwei Drittel der Miete auf.

Keuschnig betrachtete durch die halboffene Tür zum hinteren Zimmer seine schlafende Frau. Er wollte, sie würde ihn beim Aufwachen sofort fragen, was er denke, und er würde antworten: »Ich überlege gerade, wie ich dich aus meinem Leben wegdenken könnte.« Auf einmal wünschte er, nie mehr etwas von ihr zu hören oder zu sehen. Sie abtransportieren lassen. Sie hatte die Augen geschlossen, schrumplige Lider, die sich jetzt manchmal spannten. Daran sah er, daß sie allmählich erwachte. Ab und zu gurgelte es durch ihren Bauch; Geschrei zweier Spatzen vor dem Fenster, die Antwort immer ein paar Töne höher; im Stadtgeräusch, das die ganze Nacht nur ein Raunen gewesen war, wurden jetzt die Einzelgeräusche unterscheidbar: schon war so viel Verkehr, daß irgendwo gebremst, weiter weg gehupt wurde. Seine Frau hatte noch die Kopfhörer um, und auf dem Plattenteller drehte sich noch die Sprachkursschallplatte. Er schaltete den Plattenspieler aus, und sie öffnete die Augen. Mit offenen Augen sah sie jünger aus. Sie hieß Stefanie und gestern noch hatte sie ihn zumindest manchmal gerührt. Warum fiel ihr nichts an ihm auf? »Du bist schon angezogen«, sagte sie und nahm den Kopfhörer ab. In diesem Augenblick kam es ihm vor, er könnte sich hinknien und alles, alles sagen. Wo anfangen? Schon ein paarmal hatte er früher den Daumen auf ihren Halsknorpel gedrückt, nicht als Bedrohung, sondern als eine Berührung unter vielen anderen. Erst wenn sie tot wäre, würde ich wieder etwas für sie fühlen können, dachte er. Er war aufgerichtet stehengeblieben, drehte den Kopf zur Seite wie auf einem Verbrecheralbumfoto und sagte nur, als ob er etwas oft Gesagtes wiederholte: »Du bedeutest mir nichts. Ich will mir nicht länger vorstellen, mit dir alt werden zu müssen. Ich will nichts mehr von dir wissen.« »Das reimt sich«, sagte sie. Ja, zu spät hatte er bemerkt, daß sich die beiden letzten Sätze reimten ‒ und so konnte man sie nicht ernst nehmen. Schon fragte sie mit geschlossenen Augen: »Wie ist das Wetter heute?«, und er antwortete, ohne hinauszuschauen: »Sehr hohe Wolken.« Sie lächelte und schlief schon wieder ein. Mit leeren Händen gehe ich weg, dachte er. Abenteuerlich! Alles, was er tat, kam ihm an diesem Morgen abenteuerlich vor.

Im Zimmer des Kindes war ihm, als ob er von etwas Abschied nahm; nicht von dem Kind allein, sondern von der Art zu leben, die ihm bis jetzt entsprochen hatte. Es gab keine Lebensform mehr für ihn. Er stand unter den verstreuten Spielsachen im Zimmer, und in seiner Ratlosigkeit knickte ihm plötzlich ein Knie ein. Er hockte sich hin. Ich muß mich mit etwas beschäftigen, dachte er, schon erschöpft von der kurzen Zeit ohne Phantasie, und beschäftigte sich, indem er die Schuhbänder einfädelte, die das Kind am Abend zuvor im Einschlafen aus den Schuhen gezogen hatte. Agnes hingen die Haare im Schlaf ganz über das Gesicht, so daß er nichts von ihr sehen konnte. Er legte ihr die Hand auf den Rücken, um zu spüren, wie sie atmete. Das Kind atmete so ruhig und roch so warm, daß er sich an früher erinnerte, als manchmal alles wie unter einer weiten Kuppel vereinigt war und zueinandergehörte, als er zu seiner Frau zum Beispiel unwillkürlich »Agnes« gesagt hatte und zu »Agnes« unwillkürlich »Stefanie«. Das war jetzt vorbei, schon konnte er sich nicht einmal mehr erinnern. Als Keuschnig aufstand, hatte er das Gefühl, daß sein Gehirn allmählich auskühlte. Er zog die Stirnhaut herunter und schloß fest die Augen, als ob er das gefühllos gewordene Gehirn so wieder wärmen konnte. Ab heute führe ich also ein Doppelleben, dachte er. Nein, gar kein Leben: weder das gewohnte, noch ein neues; denn das gewohnte werde ich nur vortäuschen, und das neue wird sich erschöpfen müssen im Vortäuschen des gewohnten. Ich fühle mich hier nicht mehr am Platz, kann mir aber überhaupt nicht vorstellen, irgendwo anders am Platz zu sein; kann mir nicht vorstellen, so weiterzuleben wie bis jetzt, aber auch nicht, zu leben, wie jemand andrer gelebt hat oder lebt. Es ist mir nicht widerwärtig, sondern unvorstellbar, wie ein buddhistischer Mönch zu leben, wie ein Pionier, wie ein Menschenfreund, wie ein Verzweifelter. Es gibt kein Wie für mich, höchstens, daß ich so weiterleben muß »wie ich«. ‒ Bei dieser Vorstellung bekam Keuschnig plötzlich keine Luft mehr. Im nächsten Moment war ihm, als platzte er aus seiner Haut heraus, und ein Fleisch- und Sehnenklumpen läge naß und schwer auf dem Teppich. Als ob er mit diesem Gedanken allein schon das Zimmer des Kindes verunreinigt hätte, machte er schnell, daß er hinauskam.

Weder links noch rechts schauen! dachte er, während er durch den Flur ging. »Die Augen geradeaus!« sagte er laut. Er schaute auf das rote Sofa in dem einen Wohnzimmer; ein Kinderbuch lag offen da: eine schreiende Unordnung. Nichts war ihm fremd, alles zuwider. Er schlug das Buch zu und legte es so auf den Tisch, daß es parallel zu den Tischkanten lag. Dann hob er einen Faden vom Teppich auf und trug ihn durch den ganzen Flur in die Küche zu einem Abfallkorb. Während er all das tat, bemühte er sich panisch, in ganzen Sätzen zu denken.

Er trat mit einem dummen Gesicht aus der dunklen Wohnung auf die Straße hinaus. Wie gnadenlos hell war es draußen! Eigentlich könnte ich ebensogut nackt sein, dachte er, schaute aber dabei sofort an sich herunter, ob er den Reißverschluß an der Hose wohl zugezogen hatte, und nestelte gleichzeitig schon heimlich daran. Er durfte sich nichts anmerken lassen. Hatte er sich denn auch die Zähne geputzt? Auf der anderen Seite des Boulevard floß im Rinnstein glitzernd das Wasser zur Porte d'Auteuil hinunter und nahm für Momente die Dummheit aus seinem Gesicht. Die Pflastersteine unter dem Wasser waren schon ganz ausgebleicht. So im Gehen sah Keuschnig plötzlich einen Hohlweg in der Nähe seines Geburtsorts, mit dünnen, naßschwarzen Blaubeerenwurzeln an den Seitenwänden, wo er als Kind oft nach Lehm gegraben hatte, aus dem dann Murmeln oder auch Wurfgeschosse geformt wurden. Glücklicherweise ist mir dieser Reim unterlaufen, als ich mit Stefanie gesprochen habe, dachte er: Sonst hätte ich mich jetzt schon verraten. Er zog sich die Manschetten unter seinem Rock hervor und wurde zum ersten Mal an diesem Tag ein bißchen neugierig. Keuschnig war sonst immer ein sehr neugieriger Mensch gewesen, allerdings ohne die Lust, sich in etwas hineinzumischen. Wie würde es ausgehen mit ihm? Gewöhnlich nahm er die Métro PORTE D'AUTEUIL, stieg an MOTTE-PICQUET-GRENELLE um und fuhr bis LATOUR-MAUBOURG, in der Nähe des Invalidenplatzes, wo an der Rue Fabert, im siebten Arrondissement, das dreistöckige Palais der österreichischen Botschaft lag. An diesem Tag aber wollte er ein wenig zu Fuß gehen. Diese kleine Abweichung würde er sich herausnehmen ‒ vielleicht ergab sich dabei eine Möglichkeit. Er wollte auf dem Pont Mirabeau die Seine überqueren und dann die Quais entlang bis zum Invalidenplatz gehen. Irgendwo unterwegs ergab sich vielleicht ein System für dieses Weder-Noch in seinem Kopf. Ja, ein System! dachte er und betrachtete sich im Vorbeigehen im Spiegel einer Bäckerei der Rue d'Auteuil. Nichts Unordentliches an ihm. Er straffte sich kurz vor Neugier.

In der Rue Mirabeau sah Keuschnig, der in seinem Beruf als Pressereferent in jeder Zeitung auf den ersten Blick Wörter wie »Autriche« oder »autrichien« herausfand, als sei das sein eigener Name, an einem Gebäude aus den Augenwinkeln eine Tafel, auf der das Wort »autrichien« erschien. Es war eine Gedenktafel für einen aus Österreich stammenden Partisanen, der als Mitglied einer französischen Widerstandsgruppe gegen die Nationalsozialisten gekämpft hatte und vor dreißig Jahren an dieser Stelle von den Deutschen erschossen worden war. Zum Nationalfeiertag am vierzehnten Juli hatte man die Tafel gereinigt und darunter auf den Gehsteig eine Blechbüchse mit einem Tannenzweig gestellt. Dieses Arschloch, dachte Keuschnig und gab der Blechbüchse zugleich einen Fußtritt; hielt sie dann aber an, als sie immer weiter kollerte. Er ging über die Avenue de Versailles und sah an einem Bauzaun ein Plakat, das zu einem Meeting einlud: »Isabel Allende spricht zu uns …« ZU UNS! dachte er. Er drehte sich weg und spuckte aus. Gesindel! Im Vorbeigehen an einem Zeitungsstand, wo als Morgenzeitung nur die Ausgabe des »Figaro« von fünf Uhr ausgehängt war, las er, daß die türkischen Truppen nach ihrer Invasion auf Zypern nun in die Hauptstadt Nikosia eingedrungen seien; der Krieg stehe bevor. Wie lästig, dachte Keuschnig: was für eine Einmischung in mein Leben! Auf der Brücke kam ihm ein Paar entgegen, Arm in Arm. Daß die Frau von einem langen Weißbrot abbiß, als ob es diesen Krieg gar nicht geben könnte, besänftigte ihn. Aber warum war der Mann nur so groß? Unappetitlich, so groß zu sein. Und die Vorstellung, daß er seinen lächerlichen Samen in den armseligen Bauch dieser langweiligen Frau hineinspritzt! Er blieb in der Mitte der Brücke stehen und schaute auf die Seine hinunter. »Sous le pont Mirabeau coule la Seine et nos amours.« Ein Plakat warb für Hochhauswohnungen am andern Ufer mit dem Satz: »Vom Pont Mirabeau ist Paris ein Gedicht.« Die unzuständig gewordene Poesie! Der Fluß war braun, wie gewöhnlich, und floß wie immer auf die Hügel im Westen zu, wo das Morgenlicht den Vorort Meudon näherrückte. Für Keuschnig war alles gleich weit entfernt und gleich ungültig: das Sandschürfwerk am linken Ufer, die Hügel von Meudon und St. Cloud, seine Schuhspitzen. Es war, als ob seine Blicke, bevor sie etwas aufnehmen konnten, von einer unsichtbaren Schicht unschädlich gemacht würden; nichts erreichbar ‒ und er fühlte auch eine Unlust, etwas zu erreichen. Er sah nichts Freundliches; schaute nur, wie jemand Geprügelter, und dachte: Da kann ich gleich in die Métro hinuntersteigen, wo es nicht auffällt, wenn man nur vor sich hinschaut. Er nahm den Zug an der Station JAVEL und betrat kurz nach sieben unverändert, vor Aussichtslosigkeit inzwischen nur noch schlecht gelaunt, die österreichische Botschaft.

Keuschnig hatte im Botschaftsgebäude ein Büro im zweiten Stock mit einem Kastanienbaum vor dem Fenster. Seine Haupttätigkeit war es, französische Zeitungen und Zeitschriften zu lesen, Artikel oder einfach nur Meldungen anzukreuzen, die Österreich betrafen, dann dem Botschafter möglichst jeden Tag eine Zusammenfassung vorzutragen und zweimal im Monat einen Bericht für das Außenministerium in Wien zu schreiben, der das Bild Österreichs in den französischen Massenmedien behandeln sollte. Er hatte dabei den neuen Richtlinien zu folgen, die ein Bild von dem Land entwarfen, an dem die jeweiligen Österreichbilder in der französischen Presse zu messen waren. Dieses Richtlinienbild besagte, daß Österreich nicht nur das Land der Lipizzaner und der Schifahrer sei. Keuschnig war verpflichtet, an die Zeitungen oder an das Fernsehen korrigierende Briefe zu schreiben, wenn dort das überlieferte Österreichbild erschien. Einen Musterbrief dafür hatte er sich über den Schreibtisch geklebt. Im letzten Jahr hatte zum Beispiel die »Financial Times« Österreich den Wirtschaftsoscar verliehen, für das in der Statistik am besten plazierte Industrieland. Keuschnigs berichtigende Briefe wurden selten beachtet; auf seine Rapporte an das Außenministerium antwortete man noch weniger. Manchmal nahm er an Arbeitsessen von Journalisten mit französischen Politikern teil, wofür er im voraus das Geld zu überweisen hatte. Hin und wieder lud er Journalisten zu sich und führte nachher darüber Buch, weil solche Aufwendungen in seinem Auftrag vorgesehen waren und auch ersetzt wurden. »Sitzende Veranstaltungen« waren Essenseinladungen; bei »stehenden Veranstaltungen« wurde nur getrunken, es gab höchstens ein kaltes Büffet. Das war ungefähr seine Tätigkeit, und er hatte sie bis jetzt so ernst verrichtet, daß auch niemand andrer darüber lächeln konnte. Er hatte selber kein Bild von seinem Geburtsland und war zufrieden, daß es die Richtlinien gab. Nur manchmal, wenn Briefe von Kindern kamen, die von dem Land etwas wissen wollten, wußte er keine Antwort. Aber die Fragen in diesen Briefen waren ohnedies meist von Erwachsenen diktiert.

An diesem Morgen wurden endlich in einem Lieferwagen die österreichischen Stummfilme zurückgebracht, die Keuschnig schon vor einigen Monaten der Cinemathèque für eine Reihe von Vorführungen im Palais Chaillot überlassen hatte; sie waren bereits mehrmals zurückgefordert worden. Im Hof des Botschaftsgebäudes überprüfte er mit Hilfe der Lieferliste jede einzelne Filmrolle, ohne auf die Ungeduld des Fahrers zu achten. Niemand schien etwas zu bemerken. Das Haus war auch noch fast leer; wie üblich war er, wegen der Zeitungslektüre, einer der ersten. In seinem Büro schnitt er das Paket auf, das ihm der Nachtwächter schon vor die Tür gestellt hatte, und entfernte den Zettel mit der roten Aufschrift »Ambassade d'Autriche«. Er machte sich bewußt, daß es bei der Einheit der Vereinten Nationen auf Zypern auch österreichische Soldaten gab, und schaute die Zeitungen erst einmal daraufhin durch. Noch keiner tot? Dann fing er, einen Filzstift in der Hand, richtig zu lesen an. Jede halbe Stunde stand er auf und riß von dem Fernschreiber, der ohne Pause tickte, die Berichte der französischen Presseagentur ab. Auch den Kurzwellenempfänger hatte er angestellt. Schon am frühen Vormittag kam die Nachricht von dem vorläufigen Waffenstillstand in Zypern; nun war er ungestört mit sich selber. Seine Finger wurden schwarz wie gewöhnlich von all den Zeitungen. Er setzte sich nicht ein einziges Mal um beim Lesen, fuhr sich, auch wenn es ihn juckte, nie ins Gesicht, las nur und strich dabei die sogenannten »Kraftsätze« an, ohne ein Aufblicken, ohne ein Zögern. Wo waren die WERBEFÄHIGEN TATSACHEN, die die Richtlinien verlangten? Auf der Landwirtschaftsmesse in Compiègne wurde eine Wiederaufforstungsmaschine gezeigt, die in Österreich konstruiert worden war. In Lyon wurde in einer Ausstellung von Mikroskopen ein Forschungsmikroskop aus Österreich vorgeführt. »Le Monde« lobte die Umweltverbesserung in Tirol. »L'Aurore« erwähnte wieder einmal den Antisemitismus in Österreich, obwohl er, gemäß den Richtlinien, der Zeitung bereits einige korrigierende Briefe geschickt hatte. Dafür wurde in einer Warentestzeitschrift eine österreichische Schibindung hervorgehoben. Aber »Le Parisien libéré« bezeichnete Bruckner als deutschen Komponisten statt als österreichischen. ‒ Gegen neun wusch sich Keuschnig lange die Hände und ging zum Botschafter, der an diesem Tag ein wenig früher da war. Der Botschafter fragte ihn, was er von den Kämpfen auf Zypern denke, antwortete dann aber, fast fürsorglich, für ihn, so daß Keuschnig nur hin und wieder »Das ist gut möglich« und »Auch das ist nicht auszuschließen« sagte. Sogar dem Botschafter, der doch, wie er selber oft behauptete, als Vorgesetzter ein Auge für Menschen haben sollte, schien nichts an ihm aufzufallen. (Würde er ihm sonst die Speisenfolge seines gestrigen Abendessens bei einem französischen Grafen aufzählen?) Keuschnig war erleichtert, aber sonderbarerweise auch enttäuscht.

Er trank seinen gewohnten Tee in einem Café am Boulevard de la Tour-Maubourg. Während er auf die Straße hinausschaute, fiel ihm auf, daß er niemandem hätte etwas sagen können. Oft hörte er Leute: »Wenn ich was zu sagen hätte …«, und jetzt dachte er: Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich alles durchstreichen. Auf dem Gehsteig lag obenauf in einem Abfallbehälter gehäufter Kaffeesud mit dem Filterpapier dazwischen, und Keuschnig erinnerte sich dabei an einen frischgedüngten Rasen, der mit Menschendreck gedüngt worden war: überall zwischen den jungen Gräsern Klosettpapier. Er ging auf die Toilette und pißte unfroh in das Loch hinunter. Der Uringeruch belebte ihn. Er dachte an morgen, an übermorgen und zog sich die Finger lang vor Ekel; riß den Mund auf, schaute sich aber gleichzeitig um, ob wohl niemand ihn beobachtete.

Auf dem Rückweg zur Botschaft hatte Keuschnig plötzlich Lust, die Zähne zu fletschen. Ohne Zukunftsaussicht war er von dem schützenden Caféhausstuhl aufgestanden. Er hielt die Lippen zusammen und grüßte so einen Kollegen, der ihm entgegenkam. Bei seinem Anblick dachte er an Ärmelschützer, obwohl er schon seit langem niemanden mehr mit Ärmelschützern gesehen hatte. Warum konnte der andre ihn nicht unbeachtet lassen? Warum mußte er ihm ENTGEGENKOMMEN? Braungelbe Milchfetzen auf einer vor Tagen gekochten Milch. Er lebte zwar gerade noch, lief frei herum, aber bald würde es aus mit ihm sein. Er wollte jeden einzelnen zusammenschlagen! Alles, auch das Wohlgefühl bei dem ersten Schluck Tee, galt auf einmal nur sehr BEDINGT. Meine Lebenslinie ist abgebrochen, dachte Keuschnig, als ob er sich selber noch ein wenig aufheitern wollte. In einem Hausflur stand ein Kinderwagen, mit einer Plastikplane überdeckt, ein Bild des Schreckens und der Panik, im schnellen Vorbeigehen die Ergänzung zu dem in der Nacht nicht zu Ende Geträumten. Er zwang sich, zurückzugehen und den Kinderwagen in allen Einzelheiten anzuschauen.

Er sah vor sich zwei Schwarze gehen, die Hände weit in den Taschen, so daß bei beiden die Rockschlitze auseinanderklafften und man die herausgestreckten Hintern sah ‒ bei beiden die gleichen klaffenden Rockschlitze und die gleichen Hintern! Eine Frau hatte zwei verschiedene Schuhe an, der Blockabsatz an dem einen Schuh war viel höher. Eine andere Frau trug einen Cockerspaniel im Arm und weinte. Er kam sich vor wie der Gefangene von Disneyland.

Auf dem Gehsteig las er, mit Kreide geschrieben: »Oh la belle vie!«, und darunter: »Ich bin wie du«; daneben klein eine Telefonnummer. Derjenige hat sich GEBÜCKT, als er vom SCHÖNEN LEBEN