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Die Sünde der Brüder E-Book

Diana Gabaldon

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Beschreibung

Der zweite Band der Lord-John-Saga endlich wieder lieferbar! Alle Fans der berühmten "Outlander"-Reihe von Diana Gabaldon kennen Lord John Grey als einen von Jamie Frasers besten Freunden. Doch auch abseits der Ereignisse aus "Outlander" erlebt er spannende Abenteuer. England, 1758: Vor siebzehn Jahren wurde Lord Johns Vater tot mit einer Pistole in der Hand aufgefunden. Nun erwacht die Erinnerung an die Vergangenheit, als Johns Bruder von einem unbekannten Absender eine Seite aus dem Tagebuch ihres Vaters zugeschickt wird. Um herauszufinden, wer dahinter steckt, wendet Lord John sich an den einzigen Mann, dem er noch vertrauen kann: Jamie Fraser. Aber der Siebenjährige Krieg, eine verbotene Affäre und Jamies eigene Geheimnisse erschweren Lord Johns Bestrebungen, endlich die Wahrheit über den Tod seines Vaters herauszufinden.

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Seitenzahl: 741

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Diana Gabaldon

Die Sünde der Brüder

Ein Lord-John-RomanRoman

Aus dem Englischen von Barbara Schnell

Knaur e-books

Über dieses Buch

Der zweite Band der Lord-John-Saga endlich wieder lieferbar!

Alle Fans der berühmten »Outlander«-Reihe von Diana Gabaldon kennen Lord John Grey als einen von Jamie Frasers besten Freunden. Doch auch abseits der Ereignisse aus »Outlander« erlebt er spannende Abenteuer.

Inhaltsübersicht

Erster Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. KapitelZweiter Teil6. Kapitel7. Kapitel8. KapitelDritter Teil9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. KapitelVierter Teil20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. KapitelFünfter Teil30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. KapitelDanksagungAnmerkungen der Autorin
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Erster Teil

Familientreffen

1

Familiensache

London, Januar 1758
Die Gesellschaft zur Wertschätzung des englischen Beefsteaks, ein Herrenclub

Soweit sich Lord John Grey erinnerte, wurden Stiefmütter in der Literatur für gewöhnlich als gierige, bösartige, durchtriebene, mordlustige und gelegentlich zum Kannibalismus neigende Wesen dargestellt. Stiefväter dagegen schienen eher nebensächlich, wenn nicht sogar vollkommen harmlos zu sein.

»Squire Allworthy vielleicht?«, sagte er zu seinem Bruder. »Oder Claudius?«

Hal, der mitten im Zimmer stand und unruhig den Globus des Clubs drehte, sah elegant, weltmännisch und absolut unverdaulich aus. Er ließ von seiner Beschäftigung ab und warf Grey einen verständnislosen Blick zu.

»Was?«

»Stiefväter«, erklärte Grey. »Im Vergleich mit der mütterlichen Variante scheinen sie auf den Seiten der Romanliteratur bemerkenswert selten vorzukommen. Ich habe mich nur gerade gefragt, in welchen Bereich des Charakterspektrums Mutters neueste Errungenschaft wohl fallen würde.«

Hals Nasenflügel bebten. Er selbst beschränkte seine Lektüre auf Tacitus und möglichst detaillierte griechische und römische Militärhistorien. Die Angewohnheit, Romane zu lesen, betrachtete er als eine Form moralischer Schwäche. Bei ihrer Mutter, die schließlich eine Frau war, war diese verzeihlich und völlig verständlich. Dass sein jüngerer Bruder diese Unsitte teilte, war weniger akzeptabel.

Dennoch sagte er nur: »Claudius? Aus Hamlet? Gewiss nicht, John, es sei denn, du weißt etwas über Mutter, das ich nicht weiß.«

Grey war sich einigermaßen sicher, dass er eine ganze Reihe von Dingen über ihre Mutter wusste, die Hal nicht wusste, doch jetzt war weder der Zeitpunkt noch der Ort, dies zu erwähnen.

»Fallen dir denn andere Beispiele ein? Berühmte Stiefväter der Weltgeschichte vielleicht?«

Hal spitzte die Lippen und runzelte nachdenklich die Stirn. Dann griff er sich geistesabwesend an die Uhrentasche seiner Weste.

Auch Grey fasste sich an die Westentasche, in der seine goldene Uhr – es war die gleiche wie die seines Bruders – ein beruhigendes Gewicht bildete.

»Noch hat er keine Verspätung.«

Hal warf ihm einen Seitenblick zu, der zwar kein Lächeln war – zu so etwas war er nicht in der Stimmung –, aber doch mit einem Hauch von Humor versetzt war.

»Immerhin ist er Soldat.«

Greys Erfahrung nach war die Mitgliedschaft im Bund der Waffenbrüder zwar nicht unbedingt gleichbedeutend mit Pünktlichkeit – ihr Freund Harry Quarry war Oberst, und er kam chronisch zu spät –, doch er nickte gleichmütig. Hal war schon gereizt genug. Grey wollte keinen törichten Streit beginnen, der am Ende noch auf die bevorstehende Begegnung mit dem auserwählten dritten Ehegatten ihrer Mutter abgefärbt hätte.

»Es könnte wahrscheinlich schlimmer sein«, sagte Hal und widmete sich wieder seiner mürrischen Betrachtung der Weltkugel. »Immerhin ist er kein verflixter Kaufmann. Oder sonst ein Geschäftsmann.« Seine Stimme triefte bei diesem Gedanken vor Verachtung.

Tatsächlich hatte man General Sir George Stanley sogar zum Ritter geschlagen, ein Titel, der ihm aufgrund seiner Dienste an der Waffe zuteilgeworden war und den er nicht von Geburt an trug. Er entstammte zwar einer Familie von Geschäftsleuten, diese hatten sich jedoch auf die respektablen Bereiche des Bankwesens und der Handelsschifffahrt beschränkt. Benedicta Grey dagegen war Herzogin. Zumindest war sie es gewesen.

Während er der bevorstehenden Hochzeit seiner Mutter bis jetzt einigermaßen ruhig entgegengeblickt hatte, verspürte Grey unvermittelt ein mulmiges Gefühl in der Magengegend – eine körperliche Reaktion auf die Erkenntnis, dass seine Mutter bald keine Grey mehr sein würde, sondern Lady Stanley – eine Fremde. Das war natürlich lächerlich. Gleichzeitig jedoch empfand er auf einmal mehr Verständnis für Hal.

Die Uhr in seiner Tasche begann, Mittag zu bimmeln. Keine halbe Sekunde später stimmte Hals Uhr ein, und die Brüder lächelten einander an, die Hände an den Westen, plötzlich vereint.

Die Uhren waren baugleich, eine jede ein Geschenk, das ihr Vater seinen Söhnen zum zwölften Geburtstag gemacht hatte. Der Herzog war am Tag nach Greys zwölftem Geburtstag gestorben, was diesem kleinen Zeichen der Anerkennung seiner Männlichkeit einen schmerzlichen Beigeschmack verlieh. Grey holte Luft, um etwas zu sagen, doch im Korridor erklangen Stimmen.

»Da ist er ja.« Hal hob den Kopf. Offenbar konnte er sich nicht entscheiden, ob er Sir George entgegengehen oder weiter in der Bibliothek auf ihn warten sollte.

»Der heilige Josef«, sagte Grey übergangslos. »Das ist noch ein berühmter Stiefvater.«

»Ach was«, sagte sein Bruder mit einem erneuten Seitenblick. »Und wer von uns beiden ist dann deiner Meinung nach …?«

Ein Schatten fiel auf den Orientteppich – er gehörte zu einem Bediensteten, der in der Tür stand und sich verneigte.

»Sir George Stanley, Mylord. Und Begleiter.«

 

General Sir George Stanley war eine Überraschung. Zwar hatte Grey nicht ernsthaft mit Claudius oder dem heiligen Josef gerechnet, doch auch die Wirklichkeit war ein wenig … rundlicher als erwartet.

Nach allem, was er gehört hatte, war der erste Ehemann seiner Mutter hochgewachsen und schneidig gewesen, während ihr zweiter Gemahl, Greys Vater, von der gleichen schlanken, hellhäutigen und muskulösen Statur gewesen war, die er auch beiden Söhnen vererbt hatte. Sir George gab einem den Glauben an das Gesetz des Durchschnitts zurück, dachte Grey belustigt.

Der General war etwas größer als er selbst oder Hal und ziemlich stämmig. Er hatte ein rundes, fröhliches Gesicht, das gesund und arglos unter einer ziemlich schäbigen Perücke hervorschaute. Seine Gesichtszüge waren extrem unauffällig, abgesehen von seinen großen braunen Augen, die ihm eine freundliche, erwartungsvolle Ausstrahlung verliehen, als könnte er sich nichts Schöneres als die Begegnung mit seinem Gegenüber vorstellen.

Er verbeugte sich zur Begrüßung, schüttelte dann aber beiden Greys fest die Hand, was bei Lord John einen Eindruck der Wärme und Aufrichtigkeit hinterließ.

»Es ist zu gütig von Euch, mich zum Mittagessen einzuladen«, sagte er und lächelte erst dem einen, dann dem anderen Bruder zu. »Ich kann Euch gar nicht sagen, wie sehr ich diesen Empfang zu schätzen weiß. Umso peinlicher ist es mir, sogleich mit einer Entschuldigung zu beginnen – aber ich fürchte, ich habe Eure Gutmütigkeit noch weiter ausgenutzt, indem ich meinen Stiefsohn mitgebracht habe. Er ist heute Morgen unerwartet vom Land eingetroffen, gerade als ich im Aufbruch begriffen war. Da Ihr ja gewissermaßen Brüder sein werdet … dachte ich, Ihr würdet mir vielleicht verzeihen, dass ich mir die Freiheit herausgenommen habe, ihn mitzubringen.« Er lachte ein wenig verlegen und errötete; merkwürdig für einen Mann seines Alters und Ranges, aber sehr sympathisch, dachte Grey, der das Lächeln unwillkürlich erwiderte.

»Natürlich«, sagte Hal, dem es sogar gelang, seine Worte freundlich klingen zu lassen.

»Aber gewiss doch«, stimmte Grey ein. Weil er Sir George am nächsten stand, wandte er sich dann mit ausgestreckter Hand dem Begleiter des Generals zu und sah sich einem hochgewachsenen, schlanken, dunkeläugigen jungen Mann gegenüber.

»Mylord Melton, Lord John«, sagte der General und legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter. »Darf ich Euch Mr. Percival Wainwright vorstellen?«

Hal war verstimmt; Grey konnte die verärgerten Schwingungen spüren, die von ihm ausgingen – Hal hasste Überraschungen, vor allem, wenn sie gesellschaftlicher Natur waren –, doch er hatte im Augenblick für die Launen seines Bruders nur wenig Aufmerksamkeit übrig.

»Euer Diener, Sir«, sagte er und ergriff Mr. Wainwrights Hand, während ihn das merkwürdige Gefühl überkam, ihm schon einmal begegnet zu sein.

Sein Gegenüber spürte es ebenfalls; er konnte den leisen Ausdruck der Verwunderung im Gesicht des jungen Mannes sehen, eine winzige Bewegung seiner feinen, dunklen Augenbrauen, als fragte er sich, wo …

Die Erkenntnis kam ihnen beiden zugleich. Seine Hand klammerte sich im selben Moment unwillkürlich um Wainwrights Finger, als auch dessen Griff fester wurde.

»Zu Diensten, Sir«, murmelte Wainwright und trat mit einem Hüsteln zurück. Er streckte Hal die Hand entgegen, richtete seinen Blick aber noch einmal kurz auf Grey. Auch seine Augen waren braun, aber ganz anders als die seines Stiefvaters, dachte Grey, während der erste Schreck des Wiedersehens verging.

Ihre Farbe war ein sanftes, leuchtendes Braun – wie Sherry Sack –, und sie waren sehr ausdrucksvoll. Im Moment glitzerten sie vor Belustigung über die Situation – und waren von demselben hochgradig persönlichen Interesse erfüllt, das Grey schon einmal in ihnen gesehen hatte, bei ihrer ersten Begegnung … in der Bibliothek des Lavender House.

Auch bei dieser Gelegenheit hatte ihm Percy Wainwright seinen Namen genannt – und ihm die Hand gegeben. Doch Grey war damals als anonymer Fremder aufgetreten, und ihre Begegnung war notwendigerweise kurz gewesen.

Gerade begrüßte Hal den Neuankömmling höflich, betrachtete ihn jedoch mit demselben kühlen, professionellen, abschätzenden Blick, den er auch aufgesetzt hätte, um sich einen Eindruck von einem Offizier zu machen, der neu in seinem Regiment war.

Grey fand, dass Wainwright diesem prüfenden Blick bestens standhielt; er war gut gebaut, adrett und geschmackvoll gekleidet, er hatte eine reine Haut und ein klares Gesicht, und sein Verhalten verriet sowohl Humor als auch Fantasie. Bei einem Offizier konnten diese beiden Eigenschaften gefährlich sein, aber im Privatleben …

Wainwright schien unterdessen seiner Neugier in Bezug auf Grey ganz diskret freien Lauf zu lassen, indem er ihm immer wieder kurze Blicke zuwarf – kein Wunder. Grey lächelte ihn an. Er freute sich über die Überraschung, die dieser neue »Bruder« darstellte.

»Ich danke Euch«, sagte Wainwright, als Hal seine Begrüßung beendete. Er riss seine Aufmerksamkeit von Grey los und verbeugte sich vor Hal. »Euer Gnaden sind zu … gnädig.«

Ein Augenblick betroffenen Schweigens folgte auf dieses letzte, halberstickte Wort, als Wainwright eine Sekunde zu spät begriff, was er gesagt hatte.

Hal erstarrte einen winzigen Moment, dann fasste er sich wieder und erwiderte die Verbeugung.

»Aber nicht doch«, sagte er im Tonfall makelloser Höflichkeit. »Wollen wir essen, meine Herren?«

Er wandte sich der Tür zu, ohne sich umzusehen. Das war auch gut so, dachte Grey angesichts der hastigen Gesten und Blicke, die zwischen dem General und seinem Stiefsohn hin- und hergingen – schockierter Ärger aufseiten des Ersteren, der zur weiteren Betonung die Augen verdrehte und sich kurz an die schäbige Perücke fasste; verlegene Entschuldigung aufseiten des Letzteren – eine Entschuldigung, die er wortlos auch an Grey richtete, dem er sich mit einer Grimasse zuwandte.

Er zog einfach nur die Schulter hoch. Hal war daran gewöhnt – und er war schließlich selbst daran schuld.

»Wir haben uns einen guten Tag ausgesucht. Es ist Donnerstag. Der Koch des Beefsteaks hat donnerstags ein ausgezeichnetes Rindsragout auf der Karte stehen. Mit Austern.«

 

Sir George war so klug, sich nicht für den Schnitzer seines Sohnes zu entschuldigen, sondern mit den Greys ein Gespräch über die Feldzüge des vergangenen Herbstes zu beginnen. Percy Wainwright schien etwas nervös geworden zu sein, fand seine Fassung aber rasch wieder und lauschte der Unterhaltung allem Anschein nach gebannt.

»Ihr seid in Preußen gewesen?«, fragte er, als Grey eine Reihe von Manövern an der Oder erwähnte. »Aber das 46ste ist doch zuletzt in Frankreich stationiert gewesen – oder irre ich mich?«

»Nein, ganz und gar nicht«, erwiderte Grey. »Man hat mich vorübergehend zu einem preußischen Regiment abkommandiert, als Verbindungsoffizier zu den britischen Truppen, nach den Ereignissen von Kloster Zeven.« Er sah Wainwright mit hochgezogener Augenbraue an. »Ihr scheint ja gut informiert zu sein.«

Wainwright lächelte.

»Mein Stiefvater denkt darüber nach, ein Offizierspatent für mich zu erwerben«, gab er freimütig zu. »Ich habe in letzter Zeit viele Gespräche militärischen Inhalts mitbekommen.«

»Das kann ich mir vorstellen. Habt Ihr schon ein Regiment gefunden, dem Ihr den Vorzug geben würdet?«

»Eigentlich nicht«, sagte Wainwright, und seine leuchtenden Augen richteten sich gebannt auf Greys Gesicht. »Bis jetzt.«

Greys Herz vollführte einen kleinen Satz. Er hatte sich sehr bemüht, den Anblick zu vergessen, den Percy Wainwright mit seinen zerzausten dunklen Locken und seiner offenen Halsbinde bei ihrer letzten Begegnung geboten hatte. Heute war sein Haar genauso glatt gebürstet, gepudert und zu einem Zopf gebunden wie Greys; er trug nüchternes Blau, und sie standen sich als feine Herren gegenüber. Doch der Duft des Lavender House schien zwischen ihnen in der Luft zu schweben – ein Geruch nach Wein und Leder und dem scharfen, dunklen Moschus männlichen Verlangens.

»Aber, Percy«, sagte der General ein wenig tadelnd. »Nicht so hastig, mein Junge! Wir müssen doch erst mit Oberst Bonham sprechen und mit Pickering.«

»Aber ja«, sagte Grey unbeschwert. »Nun, Ihr müsst mir gestatten, Euch das Quartier des 46sten am Cadogan Square zu zeigen. Wenn wir mit einem anderen Regiment um die Ehre Eurer Gesellschaft wettstreiten sollen, muss es uns erlaubt sein, unsere Vorzüge zu demonstrieren.«

Percys Lächeln wurde breiter.

»Ich wäre Euch zu großem Dank verpflichtet, Mylord«, sagte er. Und damit ging eine undefinierbare Veränderung zwischen ihnen vor. Sie setzten ihre Unterhaltung fort, jetzt jedoch als Menuett der Andeutungen, präzise und subtil. Und so, wie sich ein verliebtes Paar vielleicht mit einer Berührung alles sagen kann, floss auch unter ihrem Austausch höflicher Gemeinplätze ihr eigentliches Gespräch wortlos – wenn auch ohne jede Berührung – dahin.

»Mögt Ihr Hunde, Lord John?«

»Sehr, obwohl ich im Moment leider keinen habe. Ich bin ja nur selten zu Hause.«

»Ah. Wohnt Ihr bei Eurem Bruder, wenn Ihr in England seid?« Er blickte in Hals Richtung, richtete seine Augen dann aber wieder auf Grey, und es lag eine deutliche Frage darin.

Weiß Euer Bruder Bescheid?

Grey schüttelte den Kopf, allem Anschein nach ganz auf das Brot konzentriert, von dem er sich gerade ein Stück abriss. Die Frage, was Hal wusste, war um einiges zu komplex, um sie hier zu behandeln. Fest stand, dass Hal nichts vom Lavender House und den Verbindungen seines Bruders mit diesem Etablissement wusste. Das reichte für den Augenblick.

»Nein«, sagte er beiläufig. »Ich wohne im Haus meiner Mutter an der Jermyn Street.« Er blickte auf und sah Percy direkt in die Augen. »Obwohl ich mir jetzt, da sich ihre Lebensumstände ändern, vielleicht eine andere Wohnung suchen werde.«

Percys Mund verzog sich zu einem schwachen Lächeln, doch Sir George, der gerade eine Gesprächspause eingelegt hatte, hatte diese Bemerkung gehört und beugte sich nun über den Tisch. Sein rundes Gesicht drückte aufrichtiges Wohlwollen aus.

»Mein lieber Lord John! Um keinen Preis dürft Ihr Euer Leben um meinetwillen ändern! Benedicta wünscht, ihr Haus an der Jermyn Street zu behalten, und es würde mich äußerst bestürzen, wenn ich das Gefühl haben müsste, dass meine Anwesenheit sie um die Gesellschaft ihres Sohnes gebracht hätte.«

Grey bemerkte, wie sein Bruder bei der Vorstellung, dass Sir George an der Jermyn Street einzog, die Lippen zusammenpresste. Hal sah ihn scharf an, und seine Miene war mahnend.

Das kommt nicht in Frage! Ich will, dass du dort bleibst und den Kerl im Auge behältst.

»Ihr seid zu gütig, Sir«, erwiderte Grey an Sir George gerichtet. »Aber die Angelegenheit hat keine Eile. Ich werde mich in Kürze wieder dem Regiment anschließen.«

»Ah, ja.« Das schien Sir George zu interessieren, und er wandte sich Hal zu. »Habt Ihr schon neue Marschbefehle für den Frühling, Mylord?«

Hal nickte und steckte sich eine fette Auster auf die Gabel. »Zurück nach Frankreich, sobald es das Wetter erlaubt. Und Eure Truppen –«

»Oh, es geht auf die Westindischen Inseln«, erwiderte Sir George und winkte, um sich Wein nachschenken zu lassen. »Seekrankheit, Moskitos und Malaria. Obwohl ich sagen muss, dass mir diese Vorstellung in meinem Alter weniger Angst macht als Schlamm und Frostbeulen.«

Bei der Enthüllung, dass Sir George nicht lange in England bleiben würde, ließ Hals Anspannung ein wenig nach. Benedictas Geld gehörte ihr selbst, und es war zum Großteil vor fremden Händen sicher – so sicher, wie es nach dem Gesetz und dank Hals Bemühungen möglich war. Im Moment ging es ihm vor allem um das persönliche Wohlergehen seiner Mutter. Das war wohl auch der eigentliche Grund für dieses Mittagessen; Sir George in aller Deutlichkeit darauf hinzuweisen, dass Benedicta Greys Söhne Anteil an ihrem Leben nahmen und nicht vorhatten, dies nach ihrer Hochzeit zu ändern.

Du glaubst doch wohl nicht, dass er sie misshandeln würde?, erkundigte sich Grey mit hochgezogenen Augenbrauen schweigend bei seinem Bruder. Oder dass er eine Mätresse zur Jermyn Street mitbringen würde?

Hal verzog das Gesicht, um anzudeuten, dass Grey keine Ahnung hatte, wozu Menschen imstande waren. Was für ein Glück, dass Hal selbst nicht so vertrauensselig war!

Grey verdrehte kurz die Augen und wandte den Blick von seinem Bruder ab, denn der Steward brachte gerade eine Schüssel mit warmen Pflaumen als Beilage zu ihrem Hammelfleisch.

Sir George und Hal vertieften sich in ein Gespräch über die Schwierigkeiten der Rekrutierung und der Vorratsbeschaffung, so dass sich Grey und Percy Wainwright erneut selbst überlassen waren.

»Lord John?«, sagte Wainwright leise und zog die Augenbrauen hoch. »Es ist doch Lord John, oder?«

»Lord John«, bestätigte Grey mit einem knappen Seufzer.

»Aber –« Percy richtete den Blick wieder auf Hal, der seine Gabel hingelegt hatte und jetzt mit dem silbernen Bleistift, den er stets dabeihatte, ein kompliziertes Muster von Truppenbewegungen auf die Leinentischdecke zeichnete. Der Steward beobachtete dies mit trostloser Miene.

Ist er denn kein Herzog? »Lord John« war die ordnungsgemäße Anrede für den jüngeren Sohn eines Herzogs, während der jüngere Sohn eines Grafen einfach nur »der Ehrenwerte John Grey« gewesen wäre. Doch wenn Greys Vater Herzog gewesen war, dann …

»Doch«, sagte Grey und verdrehte seinerseits hilflos die Augen zur Zimmerdecke.

Anscheinend hatte Sir George keine Zeit gehabt, seinem Stiefsohn die Verhältnisse zu erklären, sondern ihn nur ermahnt, Hal nicht mit »Euer Gnaden« anzureden – die angemessene Anrede für einen Herzog.

Grey vollführte eine kleine Geste, ein angedeutetes Achselzucken, um auszudrücken, dass er die Situation später im Detail erklären würde. Es war schlicht und ergreifend Tatsache, dachte er, dass er genauso stur war wie sein Bruder. Er zog ein obskures Vergnügen aus diesem Gedanken.

»Ihr denkt also darüber nach, ein Patent im 46sten zu erwerben?«, fragte Grey, während er sich mit seinem Brot die Sauce vom Teller wischte.

»Vielleicht. Wenn das allen … Beteiligten angenehm wäre«, sagte Wainwright und sah seinen Stiefvater und Hal an, dann wieder Grey.

Wäre es Euch angenehm?

»Ich halte es für ein ideales Arrangement«, erwiderte Grey. Er lächelte Wainwright an, ein lässiges Lächeln. »Dann wären wir nicht nur angeheiratete Brüder, sondern zudem Waffenbrüder.« Er hob sein Weinglas, um auf diese Idee anzustoßen, dann trank er einen Schluck Wein, den er einen Moment im Mund behielt, während er sich daran weidete, Percys Blick ganz auf sein Gesicht gerichtet zu sehen.

Auch Percy trank etwas und leckte sich genüsslich die Lippen. Sie waren sanft und voll und vom Wein rot gefärbt.

»Lord John, sagt mir doch bitte, welchen Eindruck Ihr von unseren preußischen Alliierten hattet. War es ein Artillerieregiment, bei dem Ihr stationiert wart, oder waren es Fußsoldaten? Ich gestehe, dass ich mit den Verhältnissen an der Ostfront nicht so vertraut bin, wie ich es sein sollte.«

Sir Georges Frage riss Greys Aufmerksamkeit vorerst von Percy los, und das Gespräch wurde wieder allgemeiner. Hals Anspannung ließ etwas nach, obwohl Grey sehen konnte, dass er immer noch meilenweit davon entfernt war, Sir Georges Charme zu erliegen.

Du bist ein misstrauischer Hund, weißt du das?, sagte er, indem er seinem Bruder nach einer besonders bohrenden Frage einen Blick zuwarf.

Ja, und das ist auch gut so, erwiderte Hals finstere Miene, bevor er sich dann an Percy wandte und Greys Einladung, das Regimentsquartier zu besuchen, höflich wiederholte.

Doch als der Pudding kam, schien man an allen Fronten freundschaftliche Beziehungen geknüpft zu haben. Sir George hatte Hals Fragen samt und sonders zufriedenstellend beantwortet, und die Tatsache, dass einige davon ausgesprochen aufdringlich gewesen waren, schien ihn nicht im mindesten zu stören. Eigentlich hatte Grey sogar das Gefühl, dass sich Sir George im Stillen sehr über seinen Bruder amüsierte, wenn er auch darauf achtete, dass Hal nichts davon merkte.

Unterdessen hatten er und Percy Wainwright festgestellt, dass sie sich beide für Pferderennen, das Theater und französische Romanciers interessierten. Als sie begannen, sich über letzteres Thema zu unterhalten, murmelte sein Bruder: »Oh, Gott!«, und bestellte eine neue Runde Brandy.

Draußen hatte es zu schneien begonnen; während einer kurzen Gesprächspause hörte Grey die Flocken am Fenster flüstern, obwohl die schweren Vorhänge zum Schutz gegen die Kälte zugezogen waren und das Zimmer von Kerzen erhellt wurde. Bei dem Geräusch lief ihm ein angenehmer Schauer über den Rücken.

»Findet Ihr es hier kalt, Lord John?«, fragte Wainwright, der dies bemerkte.

Ihm war nicht kalt; im Kamin brannte ein tosendes Feuer, das von den Bediensteten des Beefsteaks laufend mit Brennstoff versorgt wurde. Darüber hinaus sorgten reichlich warmes Essen, Wein und Brandy dafür, dass ihm warm blieb. Gerade jetzt brachte der Steward ihnen Glühwein, und ein karibischer Hauch von Zimt würzte die Luft.

»Nein«, erwiderte er und nahm sich einen Becher von dem Tablett, das ihm hingehalten wurde. »Aber es gibt doch nichts Angenehmeres, als sich mit vollem Bauch im Warmen aufzuhalten, wenn draußen die Elemente toben. Findet Ihr nicht?«

»Oh, doch.« Wainwrights Lider waren schwer geworden, und er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Seine klare Haut sah im Kerzenschein errötet aus. »Wirklich … angenehm.« Seine langen Finger fassten kurz an seine Halsbinde, als fände er sie zu eng.

Das Wissen, dass es noch andere – noch angenehmere – Arten gab, sich warm zu halten, hing zwischen ihnen in der Luft, berauschend wie die Düfte von Zimt und Wein. Hal und Sir George schienen allmählich aufbrechen zu wollen und drückten sich gegenseitig ihre Anerkennung aus.

Percy ließ die langen, dunklen Wimpern einen Moment auf seiner Wange ruhen, dann hob er sie, und sein Blick traf Grey.

»Vielleicht habt Ihr Interesse daran, mich in Lady Jonas’ Salon zu begleiten – Diderot wird dort sein. Samstagnachmittag, falls Ihr Zeit habt?«

Dann wollen wir also Geliebte sein?

»Oh, ja«, sagte Grey und betupfte sich den Mund mit der Leinenserviette. Seine Fingerspitzen pulsierten. »Ich glaube schon.«

Nun ja, dachte er, Inzest ist das ja eigentlich nicht, und schob seinen Stuhl zurück, um sich zu erheben.

 

Tom Byrd, Greys Kammerdiener, rieb mit einem Stück Brot über die Goldbiesen an Greys Paradeuniform, um sie aufzuhellen, und hörte mit lebhaftem Interesse zu, während ihm Grey von dem Essen mit General Stanley und seinem Stiefsohn berichtete.

»Dann hat der General also vor, hier einzuziehen, Mylord?« Grey konnte sehen, wie sich Tom ausrechnete, was diese Veränderung möglicherweise für seine eigene Welt bedeutete; der General würde zweifellos einige seiner eigenen Bediensteten mitbringen, darunter einen Kammerdiener oder eine Ordonnanz. »Wird ihn sein Sohn ebenfalls begleiten, dieser Mr. Wainwright?«

»Oh, das glaube ich nicht.« Darauf war Grey noch gar nicht gekommen, und er dachte einen Moment darüber nach. Wainwright hatte gesagt, er hätte eine eigene Wohnung, irgendwo in Camden Town. Angesichts der Tatsache, dass Sir George und sein Stiefsohn ein sehr herzliches Verhältnis zu haben schienen, war er davon ausgegangen, dass der General entweder derzeit eine sehr beengte Unterkunft hatte – oder dass Wainwright seine Zurückgezogenheit schätzte.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht.« Es war ein Gedanke, der ihn beunruhigte, selbst wenn ihm die Vorstellung nicht unangenehm war. Grey lächelte Tom zu und hüllte sich dichter in seinen Morgenrock, um sich zu wärmen; trotz des Feuers war es kalt im Zimmer. »Aber wenn das der Fall sein sollte, glaube ich nicht, dass er einen Kammerdiener mitbringt.«

»Ah«, sagte Byrd nachdenklich. »Sollte ich mich dann auch um ihn kümmern, Mylord? Es würde mir nichts ausmachen«, fügte er rasch hinzu. »Aber würdet Ihr sagen, dass er ein Dandy ist?«

Der Tonfall dieser Frage war so hoffnungsvoll, dass Grey lachte.

»Das ist sehr gütig, Tom. Er kleidet sich adrett, aber er ist kein Schönling. Ich glaube allerdings, dass er vorhat, ein Offizierspatent zu erwerben. Das würde dann nur noch mehr Uniformen für Euch bedeuten, fürchte ich.«

Byrd gab keine hörbare Antwort auf diese Worte, doch der Blick, den er auf Greys Stiefel warf, die mit Schlamm, Stroh und Pferdemist beschmutzt am Kamin standen, sagte alles. Er schüttelte den Kopf, blinzelte den Uniformrock in seiner Hand an, befand ihn für passabel und stand auf. Dabei fegte er einige Brotkrumen ins Feuer.

»Sehr wohl, Mylord«, sagte er resigniert. »Aber bei der Hochzeit werdet Ihr anständig aussehen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Apropos, wenn wir im März nach Frankreich reisen, solltet Ihr besser noch in dieser Woche Euren Schneider aufsuchen.«

»Oh? Richtig. Dann schreibt mir eine Liste mit allem, was ich brauche. Mit Sicherheit Unterwäsche.«

»Ja, Mylord.« Tom bückte sich, um Holzkohle in die Wärmepfanne zu schaufeln. »Und eine Reithose.«

»Habe ich denn keine?«, fragte Grey überrascht.

»Doch«, sagte Byrd und richtete sich auf, »und der Himmel allein weiß, worauf Ihr Euch gesetzt habt, als Ihr sie das letzte Mal anhattet.« Er warf Grey einen tadelnden Blick zu; Tom war ungefähr achtzehn und hatte ein rundes Gesicht wie ein Pfannkuchen, doch seine missbilligenden Blicke hätten sogar einem alten Knacker von achtzig alle Ehre gemacht.

»Ich habe getan, was ich konnte, Mylord, aber vergesst trotzdem nicht, Euren Rock anzulassen, wenn Ihr mit dieser Hose unterwegs seid, sonst wird jeder glauben, Euch wäre ein Malheur passiert.«

Grey lachte und trat beiseite, damit Tom das Bett vorwärmen konnte. Er zog Morgenrock und Hausschuhe aus und schlüpfte unter die Bettdecke, dankbar für die Wärme an seinen Füßen.

»Ihr habt doch mehrere Brüder, oder, Tom?«

»Fünf, Mylord. Bevor ich zu Euch gekommen bin, hatte ich nie ein eigenes Bett.« Tom schüttelte den Kopf und staunte über sein Glück, dann grinste er Grey an. »Aber Ihr braucht Euer Bett wohl nicht mit Mr. Wainwright zu teilen, oder?«

Plötzlich sah Grey vor seinem inneren Auge Percy Wainwright neben sich im Bett liegen, und er wurde von einer so außerordentlichen Wärme durchpulst, dass sie nicht von der Wärmepfanne allein herrühren konnte.

»Das bezweifle ich«, sagte er und zwang sich zu lächeln. »Ihr könnt die Kerze löschen, Tom, danke.«

»Gute Nacht, Mylord.«

Die Tür schloss sich hinter Tom Byrd, und Grey lag im Bett und sah zu, wie der Schein des Feuers über die Möbel flackerte. Er hängte sein Herz nie besonders an einen bestimmten Ort – das war nicht gut für einen Soldaten –, und dieses Haus war auch kein besonderer Teil seiner Vergangenheit; die Gräfin hatte es erst vor ein paar Jahren gekauft. Und doch verspürte er eine plötzliche Wehmut – warum, hätte er nicht sagen können.

Die Nacht war still und kalt, und doch schien sie von Unruhe und Bewegung erfüllt zu sein. Das Flackern des Feuers, das Flackern der Erregung, die in ihm brannte. Er spürte, wie sich unsichtbare Dinge regten, und hatte das merkwürdige Gefühl, dass nichts mehr so sein würde, wie es gewesen war. Das war natürlich Unsinn; es blieb ohnehin nichts, wie es war.

Dennoch lag er lange schlaflos da und wünschte sich, die Zeit würde verweilen, wünschte sich, die Nacht, das Haus und er selbst könnten noch eine kleine Weile so bleiben, wie sie waren. Und doch erlosch das Feuer, und er schlief ein, und in seinen Träumen spürte er, wie draußen der Wind immer stärker wurde.

2

Mein Bruder wettet nicht

Grey verbrachte den nächsten Vormittag in einem zugigen Raum in Whitehall, wo er das notwendige Übel einer Offiziersbesprechung im Rüstungsministerium über sich ergehen ließ, in deren Verlauf Minister Adams eine nicht enden wollende Rede hielt. Hal hatte vorgegeben, anderweitig beschäftigt zu sein, und Grey an seiner Stelle geschickt – was bedeutete, dachte Grey, während er sich tapfer das Gähnen verkniff, dass Hal wahrscheinlich entweder noch zu Hause war und genüsslich frühstückte oder im White’s Chocolate House in Zuckergebäck und Gerüchten schwelgte, während sich Grey den Hintern taub saß und ringsum über Pulverzuteilungen diskutiert wurde. Es hatte eben Vorteile, wenn man der Ranghöhere war.

Dennoch war ihm seine Lage gar nicht unangenehm. Das 46ste war glücklicherweise gut mit Pulver versorgt; sein Halbbruder Edgar besaß eine der größten Pulvermühlen im Land. Und da Grey jünger als die meisten anwesenden Offiziere war, brauchte er kaum etwas zu sagen und konnte daher seine Gedanken ungehindert zu Percy Wainwright abschweifen lassen.

Hatte er sich geirrt, was die gegenseitige Anziehung betraf? Nein. Noch immer konnte er die große Wärme in Wainwrights Augen spüren – und die Wärme seiner Berührung bei ihrem Händedruck zum Abschied.

Dass Percy dem Regiment beitreten könnte, war eine verlockende Vorstellung. Bei nüchternem Tageslicht betrachtet, konnte es jedoch auch gefährlich werden.

Er wusste nicht das Geringste über den Mann. Natürlich sprach die Tatsache, dass er General Stanleys Stiefsohn war, dafür, dass er zumindest diskret sein musste – aber Grey kannte eine ganze Reihe diskreter Ganoven. Und er durfte nicht vergessen, dass seine erste Begegnung mit Wainwright im Lavender House stattgefunden hatte, einem Ort, unter dessen polierter Oberfläche sich viele Geheimnisse verbargen.

War Wainwright damals in Begleitung gewesen? Grey versuchte stirnrunzelnd, sich an die Szene zu erinnern, doch er war damals so sehr abgelenkt gewesen, dass ihm nur einige wenige Gesichter aufgefallen waren. Er meinte zwar, dass Percy allein gewesen war, aber … doch. Er musste allein gewesen sein, denn er hatte sich nicht nur vorgestellt – er hatte Grey die Hand geküsst.

Das hatte er ganz vergessen; seine Hand ballte sich unwillkürlich zusammen, und seinen Arm durchfuhr ein Ruck, als hätte er etwas Heißes berührt.

»Ja, ich würde ihn auch am liebsten erwürgen«, knurrte sein Nebenmann. »Dieser alte Schwätzer.« Verblüfft sah Grey den Offizier an, einen Infanterieoberst namens Jones-Osborn, der mit einem finsteren Kopfnicken auf Adams wies, dessen schrille Stimme unaufhörlich vor sich hin predigte.

Grey hatte zwar keine Ahnung, was Adams gerade gesagt hatte, doch er brummte zustimmend und setzte ebenfalls einen finsteren Blick auf. Dies verleitete seinen Nebenmann auf der anderen Seite, durch diese Sympathiebekundung ermutigt einen reichlich mit Kraftausdrücken gespickten Zwischenruf an Adams zu richten.

Der Minister, ein gebürtiger Ire, der vor keiner Konfrontation zurückschreckte, zahlte es ihm mit gleicher Münze heim, und in Sekundenschnelle war die Besprechung zu etwas ausgeartet, das mehr Ähnlichkeit mit einer Parlamentssitzung hatte als mit einem nüchternen Gedankenaustausch unter Militärstrategen.

Da er zwangsweise mit in den folgenden Schlagabtausch hineingezogen wurde, dem ein geselliges Mittagessen mit Jones-Osborn und dem Rest der Anti-Adams-Fraktion folgte, dachte Grey nicht weiter an Percy Wainwright, bis er sich nachmittags in der Amtsstube seines Bruders im Regimentsquartier wiederfand.

»Himmel«, sagte Hal lachend, nachdem ihm Grey von den Ereignissen des Vormittags berichtet hatte. »Lieber du als ich. War Twelvetrees da?«

»Kenne ich nicht.«

»Dann war er nicht da«, sagte Hal und winkte ab. »Er wäre dir spätestens aufgefallen, wenn er Jones-Osborn ein Messer in den Rücken gestochen hätte. Adams’ Schoßhund. Was hattest du denn für einen Eindruck von unserem neuen Bruder? Wollen wir ihn nehmen?«

Da ihm Hal und seine abrupten Themenwechsel vertraut waren, brauchte Grey nur eine Sekunde, um zu begreifen, was sein Bruder meinte.

»Wainwright? Scheint ein ganz anständiger Kerl zu sein«, sagte er um Beiläufigkeit bemüht. »Hast du noch etwas über ihn herausbekommen?«

»Nicht mehr, als wir gestern schon erfahren haben. Ich habe Quarry gefragt, aber weder er noch Joffrey wussten etwas über ihn.«

Das sagte viel; zusammengenommen kannten Harry Quarry, einer der beiden Regimentsobersten, und sein Halbbruder Lord Joffrey jeden, der in militärischen oder politischen Kreisen irgendwie erwähnenswert war.

»Dann hat er dir gefallen?«, fragte Grey. Hal runzelte die Stirn und überlegte.

»Ja«, sagte er langsam. »Und es wäre peinlich, ihn abzuweisen, falls er dem Regiment beitreten möchte.«

»Er hat natürlich keinerlei Erfahrung«, merkte Grey an. Das war zwar kein Hindernis, doch es musste in Betracht gezogen werden. Es war üblich, sich ein Offizierspatent zu kaufen, und es gab viele Offiziere, die vorher noch nie einen Soldaten gesehen oder eine Waffe in der Hand gehabt hatten. Andererseits waren die meisten höheren Offiziere des 46sten Kriegsveteranen mit großer Erfahrung auf dem Schlachtfeld, und Hal wählte seine Neuzugänge sorgfältig aus.

»Das ist wahr. Ich würde vorschlagen, dass er als Unterleutnant anfängt – vielleicht sogar als Fähnrich. Damit er sein Handwerk lernen kann, bevor er weiter aufsteigt.«

Grey dachte darüber nach, dann nickte er.

»Unterleutnant«, sagte er. »Vielleicht sogar Oberleutnant. Er hat schließlich Verbindungen zur Familie. Ich fände es unpassend, wenn er Fähnrich würde.« Fähnriche waren die rangniedrigsten Offiziere und mussten für jedermann Handlangerdienste tun.

»Womöglich hast du recht«, räumte Hal ein. »Natürlich würden wir ihn Harry unterstellen, zumindest anfangs. Und du wärst bereit, ihn anzuleiten?«

»Aber ja.« Grey fühlte sein Herz schneller schlagen und zwang sich zur Vorsicht. »Das heißt, falls er denn wünscht, sich unserem Regiment anzuschließen. Der General hat ja gesagt, sie hätten noch keine Entscheidung getroffen. Und Bonham würde ihn im 51sten natürlich sofort als Hauptmann nehmen.«

Hal setzte eine arrogante Miene auf bei dem Gedanken, dass es jemanden geben könnte, der lieber in der Hölle regierte, als im Himmel zu dienen, doch er gab Grey widerstrebend recht.

»Ich werde ihn gern zum Hauptmann befördern, wenn er seine Fähigkeiten unter Beweis gestellt hat. Aber wir brechen in weniger als drei Monaten nach Frankreich auf; ich bezweifle, dass die Zeit reicht, um ihn hinreichend auf die Probe zu stellen. Glaubst du, dass er überhaupt mit einem Schwert umgehen kann?« Getragen hatte Wainwright jedenfalls keins, doch das taten die meisten Zivilisten nicht.

Grey zuckte mit den Achseln.

»Das kann ich herausfinden. Möchtest du, dass ich Wainwright direkt auf die Regimentswahl anspreche, oder willst du lieber mit dem General verhandeln?«

Hal trommelte kurz mit den Fingern auf den Tisch, dann fasste er seinen Entschluss.

»Frag ihn nur direkt. Wenn er Mitglied unserer Familie und des Regiments werden soll, sollten wir ihn meiner Meinung nach auch von Anfang an so behandeln. Außerdem ist er eher in deinem Alter. Ich glaube, er hat ein bisschen Angst vor mir.« Hal runzelte verwundert die Stirn, und Grey lächelte. Sein Bruder stellte sich gern bescheiden und harmlos und gab vor, nicht zu wissen, dass ihn seine Soldaten zwar vergötterten, aber gleichzeitig Todesangst vor ihm hatten.

»Dann spreche ich also mit ihm.«

Grey machte Anstalten, sich zu erheben, doch Hal winkte ihn mit nach wie vor gerunzelter Stirn zurück.

»Warte. Da ist – noch etwas.«

Es lag ein so gequälter Unterton in der Stimme seines Bruders, dass Grey Hal scharf ansah. Von seinen Gedanken an Percy Wainwright abgelenkt, hatte er Hal noch keines bewussten Blickes gewürdigt; jetzt sah er die Anspannung rings um dessen Mund und Augen. Also gab es Ärger.

»Was ist denn?«

Hal verzog das Gesicht, doch bevor er antworten konnte, kamen Schritte durch den Flur, und jemand klopfte zaghaft an den Rahmen der offenen Tür. Grey wandte sich um und sah einen jungen Husaren, dessen Gesicht vom kalten Wind gerötet war.

»Mylord? Ich habe eine Botschaft aus dem Ministerium. Man hat mir aufgetragen, eine Antwort abzuwarten«, fügte er verlegen hinzu.

Hal warf dem Boten einen finsteren Blick zu, winkte dann aber ungeduldig und entriss ihm den Brief.

»Wartet unten«, sagte er und entließ den Husaren mit einer Geste. Er brach das Siegel und las den Brief rasch durch, wobei er einen gotteslästerlichen Fluch vor sich hin murmelte. Dann ergriff er einen Federkiel und kritzelte eine Antwort an den Fuß der Seite.

Grey lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und wartete. Er ließ den Blick durch die Amtsstube schweifen und fragte sich dabei, was wohl seit gestern vorgefallen sein konnte. Während ihres Mittagessens mit dem General und Percy hatte Hal noch nicht den Eindruck gemacht, als ob ihn etwas bedrückte.

Er hätte nicht sagen können, was seinen Blick auf das Stück Papier zog. Hals Amtsstube hatte größte Ähnlichkeit mit der Höhle eines großen, unordentlichen Raubtiers, und er konnte zwar – genau wie sein Sekretär, Mr. Beasley – in Sekunden die Hand auf jedes gewünschte Dokument legen, doch sonst war niemand in der Lage, sich in diesem Durcheinander zurechtzufinden.

Besagtes Papier lag mit vielen anderen Dokumenten auf dem Schreibtisch verstreut, von denen es sich nur durch eine unregelmäßige Kante unterschied, als hätte man es aus einem Buch gerissen. Grey ergriff es, warf einen beiläufigen Blick darauf und erstarrte dann, die Augen fest auf die Seite geheftet.

»Lass die Finger von meinen Papieren, John«, sagte Hal, der seine Antwort gerade mit einer heftig hingekritzelten Signatur vollendete. »Du bringst noch alles durcheinander. Was hast du denn da?« Er ließ den Federkiel auf den Tisch fallen und entriss Grey ungeduldig das Blatt. Er schien es wieder auf den Tisch legen zu wollen, doch dann fiel sein Blick auf die Worte, und auch er erstarrte.

»Es ist doch das, wofür ich es halte, oder?«, fragte Grey mit einem mulmigen Gefühl. »Vaters Handschrift?« Es war eine rhetorische Frage; er hatte sowohl die Handschrift als auch den Schreibstil sofort erkannt. Hal hatte ihn ohnehin nicht gehört; ihm war das Blut aus dem Gesicht gewichen, und er las den Tagebucheintrag – denn das war es eindeutig –, als wäre er sein eigener Hinrichtungsbefehl.

»Er hat es verbrannt«, flüsterte Hal und schluckte. »Sie hat gesagt, er hätte es verbrannt.«

»Wer?«, fragte Grey verblüfft. »Mutter?«

Hal blickte abrupt zu ihm auf, ignorierte seine Frage jedoch.

»Woher kommt das?«, wollte er wissen, und kaum hatte er Greys Schulterzucken abgewartet, als er auch schon rief: »Mr. Beasley! Ich brauche Sie!«

Mr. Beasley, der prompt aus seinem eigenen, makellosen Unterschlupf auftauchte, beteuerte, nichts von dem Blatt Papier zu wissen, und beharrte darauf, nicht die geringste Ahnung zu haben, wie es in Hals Amtsstube gelangt sein könnte. Allerdings konnte er mit der nützlichen Information aufwarten, dass sich das Papier am Morgen definitiv noch nicht auf dem Schreibtisch befunden hatte.

»Woran in aller Welt wollt Ihr das merken?«, erkundigte sich Grey mit einem verächtlichen Blick auf den Schreibtisch und das Durcheinander darauf. Zwei scharfe Augenpaare richteten sich auf ihn. Sie würden es merken. Grey hustete.

»Ja. In diesem Fall –« Er verstummte. Er hatte fragen wollen, wer sich im Lauf des Tages in der Amtsstube aufgehalten hatte, begriff aber sofort, wie problematisch diese Frage war. Die Amtsstube hatte täglich Dutzende von Besuchern: Schreiber, Händler, Offiziere, Boten des Hofes, Kanoniere, Waffenschmiede … Einmal hatte er bei seiner Ankunft einen Mann vorgefunden, der einen Tanzbären an einer Kette und einen Affen auf der Schulter sitzen hatte und hier war, um seine Bezahlung für die Unterhaltung der Truppen am Geburtstag der Königin einzufordern.

Dennoch musste man es zumindest versuchen.

»Wie lange warst du schon hier, bevor ich gekommen bin?«, fragte er. Hal rieb sich das Gesicht.

»Ich bin kurz vor dir eingetroffen. Sonst hätte ich es sofort gesehen.«

»Sollten wir vielleicht die Wache an der Pforte und die Männer im Inneren des Gebäudes zusammenrufen?«, schlug Grey vor. »Um sie zu fragen, wer die Amtsstube betreten haben könnte, während sie unbesetzt war?«

Hal presste die Lippen aufeinander. Er hatte die Beherrschung zurückerlangt; Grey konnte sehen, dass sein Verstand wieder arbeitete, und zwar mit großer Geschwindigkeit.

»Nein«, sagte er und ließ bewusst die Schultern fallen. »Nein, es ist nicht wichtig.« Er zerknüllte das Blatt Papier und warf es scheinbar beiläufig ins Feuer. »Das ist alles, Mr. Beasley.«

Mr. Beasley verbeugte sich und verließ das Zimmer. Das Papier glühte auf und ging in Flammen auf. Greys Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten und hätten es gern vor der Vernichtung bewahrt, doch es war zu spät – eine Sekunde noch zeichnete sich die Tinte deutlich auf dem verkohlten Papier ab, dann zerfiel es zu Asche. Das unerwartete Gefühl des Verlustes ließ seinen Tonfall schärfer ausfallen als gewohnt.

»Warum hast du das getan?«

»Das spielt keine Rolle.« Hal blickte zur Tür, um sicherzugehen, dass Beasley außer Hörweite war, dann ergriff er das Schüreisen und stieß es ins Feuer, so dass die Funken wie ein feuriger Bienenschwarm in den Kamin aufstoben und er sicher sein konnte, dass nicht die geringste Spur des Blattes übrig blieb. »Vergiss es.«

»Ich habe nicht vor, es zu vergessen. Was meinst du damit, ›er hat es verbrannt‹?«

Hal stellte das Schüreisen mit sorgsamen, präzisen Bewegungen wieder in seinen Halter zurück.

»Das war kein Vorschlag«, sagte er leise. »Es war ein Befehl … Major.«

Grey biss die Zähne zusammen.

»Ich ziehe es vor, diesen Befehl nicht zu befolgen – Sir.«

Hal drehte sich verblüfft um.

»Was zum Teufel soll das heißen, du ziehst es vor …«

»Es heißt, ich vergesse es nicht«, herrschte Grey ihn an, »und das weißt du ganz genau. Was willst du denn dagegen tun? Mich in Eisen legen? Mich eine Woche bei Brot und Wasser wegsperren?«

»Führe mich ja nicht in Versuchung.« Hal funkelte ihn an, doch es war ihnen beiden klar, dass er sich geschlagen gab. Zumindest teilweise.

»Sprich wenigstens leise.« Hal trat zur Tür, blickte in den Flur hinaus, schloss sie aber nicht. Das war ja interessant, dachte Grey. Glaubte Hal etwa, dass Mr. Beasley sich außen an die Tür schleichen würde, um zu lauschen, wenn sie geschlossen war?

»Ja, es war eine Seite aus einem der Tagebücher«, sagte Hal sehr leise. »Dem letzten.«

Grey nickte kurz; das Datum auf der Seite war zwei Wochen vor dem Todestag ihres Vaters gewesen. Der Herzog hatte gewissenhaft Tagebuch geführt; in der Bibliothek des Hauses an der Jermyn Street gab es ein kleines Bücherregal, das reihenweise mit seinen Tagebüchern gefüllt war, die er über dreißig Jahre lang geführt hatte. Grey war mit ihrem Inhalt vertraut, und er war seinem Vater dankbar, dass er sie geführt hatte. Sie hatten es ihm ermöglicht, zumindest ein wenig darüber zu erfahren, was für ein Mann sein Vater gewesen war, als er selbst das Mannesalter erreichte. Das letzte Tagebuch in dem Regal endete drei Monate vor dem Tod des Herzogs; es musste noch ein weiterer Band existiert haben, doch Grey hatte ihn nie zu Gesicht bekommen.

»Mutter hat dir gesagt, Vater hätte es verbrannt? Hat sie gesagt, warum?«

»Nein, das hat sie nicht«, sagte Hal knapp. »Unter den gegebenen Umständen habe ich auch nicht danach gefragt.«

Hal beobachtete immer noch die offene Tür. Grey konnte nicht sagen, ob er einfach nur wachsam war oder ob er Greys Blicken auswich. Hal war ein guter Lügner, wenn es nötig war, doch Grey kannte seinen Bruder außerordentlich gut – und Hal kannte ihn. Er holte tief Luft, um seine Gedanken zu ordnen. Der Geruch verbrannten Papiers hing ihm scharf in der Nase.

»Es ist eindeutig nicht verbrannt worden«, sagte Grey langsam. »Also müssen wir erstens davon ausgehen, dass es jemand gestohlen hat, und zweitens, dass der Dieb es bis heute aufbewahrt hat. Wer und warum? Und warum lässt er – wer es auch immer ist – dich ausgerechnet jetzt wissen, dass er es hat? Und warum hat Mutter –?«

»Woher zum Teufel soll ich das wissen?« Nun sah Hal ihn an, und Greys Wut ließ nach, als er sah, dass sein Bruder tatsächlich die Wahrheit sagte. Er sah noch etwas, das ihn extrem beunruhigte – sein Bruder hatte Angst.

»Will dir jemand drohen?«, fragte er und senkte seine Stimme noch weiter. Die Seite hatte nichts enthalten, was auf etwas Derartiges hingedeutet hätte; es war der Teil eines Berichtes gewesen, den sein Vater über die Begegnung mit einem alten Freund und ihr Gespräch über die Astronomie verfasst hatte, ganz und gar harmlos. Also hatte die Seite nur dem Zweck gedient, Hal von der Existenz des Tagebuchs in Kenntnis zu setzen – und von den Dingen, die dieses möglicherweise sonst noch enthielt.

»Weiß der Himmel«, sagte Hal. »Was zum Teufel könnte es – nun ja.« Er rieb sich fest mit dem Fingerknöchel über die Lippen und sah Grey an. »Kein Wort zu Mutter. Ich spreche mit ihr darüber«, fügte er hinzu, als er sah, dass Grey im Begriff war zu protestieren.

Der Klang von Stiefeln und Stimmen im Flur verhinderte eine Fortsetzung des Gesprächs. Hauptmann Wilmot mit seinem Sergeanten und einem Schreiber der Kompanie. Hal streckte die Hand aus und schloss leise die Tür; sie warteten schweigend, bis die Geräusche verklungen waren.

»Kennst du einen Mann namens Melchior Ffoulkes?«, fragte Hal abrupt.

»Nein«, erwiderte Grey, der sich fragte, ob dies etwas mit ihrem Problem zu tun hatte oder es wieder ein Themenwechsel war. »Ich bin mir hinreichend sicher, dass ich mich erinnern könnte, wenn ich ihn kennen würde.«

Das entlockte Hal ein angedeutetes Lächeln.

»Ja, das stimmt. Oder einen Privatgefreiten namens Harrison Otway? Aus dem 11ten Infanterieregiment?«

»Was für ein lächerlicher Name. Nein, wer ist das?«

»Hauptmann Michael Bates?«

»Nun, ich habe zumindest von ihm gehört. Von der berittenen Garde, nicht wahr? Ein schneidiger Kerl, wie Tom Byrd es ausdrücken würde. Was ist der Grund für dieses Verhör, wenn ich fragen darf? Setz dich doch, Hal.« Er setzte sich ebenfalls, und nach kurzem Zögern folgte Hal seinem Beispiel.

»Bist du Hauptmann Bates schon einmal begegnet?«

Grey wurde langsam ärgerlich, und er antwortete respektlos: »Nicht, dass ich wüsste. Ich könnte natürlich nicht schwören, dass ich noch nie in einem Wirtshaus mit ihm das Bett geteilt habe –«

Hals Hand packte ihn so fest am Unterarm, dass er nach Luft schnappte.

»Nicht«, sagte Hal ganz leise. »Darüber darfst du keine Witze machen.«

Grey starrte seinem Bruder in die Augen und sah, wie tief die Falten in seinem Gesicht waren. Die Tagebuchseite hatte ihn erschüttert, doch er war vorher schon beunruhigt gewesen.

»Lass los«, sagte Grey leise. »Was geht hier vor?«

Hal löste langsam seinen Griff.

»Ich weiß es nicht. Noch nicht.«

»Wer sind diese Männer? Gibt es irgendeinen Zusammenhang mit –« Er richtete den Blick auf das Kaminfeuer, doch Hal schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es nicht. Ich glaube es zwar nicht – aber es ist möglich.« Schritte hallten durch den Flur, und Hal verstummte abrupt. Die Schritte waren deutlich zu erkennen, ein kräftiger Mann, der schwer humpelte. Ewart Symington, der zweite Regimentsoberst, Harry Quarrys Gegenstück.

Hal verzog das Gesicht, und John nickte verständnisvoll. Ihnen war im Moment beiden nicht danach, mit Symington zu sprechen. Sie warteten schweigend ab. Wie erwartet kamen die Schritte zum Halten, und eine Faust donnerte gegen die Paneele der Tür. Symington benahm sich so grobschlächtig, wie er aussah – er hatte größte Ähnlichkeit mit einem wilden Eber, der sich den Magen verdorben hatte.

Ein weiterer donnernder Ansturm gegen die Tür, eine kurze Pause, dann stieß Symington einen leisen Fluch aus und humpelte davon.

»Er kommt zurück«, murmelte Hal und nahm seinen Umhang vom Haken neben der Tür. »Komm mit mir zu White’s, wir können uns unterwegs unterhalten.«

Grey schob die Arme in seinen Uniformmantel, und im nächsten Moment waren sie auf die Straße geflüchtet, nachdem Hal Mr. Beasley instruiert hatte, Oberst Symington mitzuteilen, dass Lord Melton nach Bath gereist sei.

»Bath?«, fragte Grey, als sie das Gebäude verließen. »Um diese Jahreszeit?« Es war nicht später als halb drei, und doch begann es schon zu dämmern. Das Straßenpflaster war von der Feuchtigkeit dunkel gefärbt, und der kommende Schnee hing spürbar in der Luft.

Hal entließ seine wartende Kutsche mit einer Handbewegung und bog um die Ecke.

»Wenn wir ein näher gelegenes Ziel wählen würden, würde er mir dorthin folgen. Man kann über den Mann sagen, was man will, aber er ist verdammt hartnäckig.« Im Tonfall dieser Worte lag widerwilliger Respekt; seine Hartnäckigkeit war Symingtons wichtigste militärische Tugend, und sie war nicht zu unterschätzen. Im zivilen Leben war sie jedoch ein wenig nervenaufreibend.

»Was will er denn von dir?«

Grey stellte diese Frage nur, um das eigentliche Gespräch aufzuschieben, und es überraschte ihn nicht, dass Hal nur mit einem mürrischen Achselzucken antwortete. Sein Bruder schien auch nicht sehr darauf zu brennen, das Gespräch erneut aufzunehmen, und sie schritten etwa eine halbe Meile weit schweigend nebeneinanderher, ein jeder allein mit seinen Gedanken.

In Greys Kopf herrschte ein Wirrwarr, der von der Vorfreude und Neugier bei dem Gedanken an Percy Wainwright bis hin zur Besorgnis angesichts der offensichtlichen Bestürzung seines Bruders reichte. Über allem jedoch lag das Bild der Tagebuchseite, die er so kurz in der Hand gehalten hatte.

Er verdrängte jeden anderen Gedanken aus seinem Kopf und konzentrierte sich auf diese Erinnerung, darauf, die Worte, die er gelesen hatte, auswendig zu lernen. Immer noch spürte er den Schock, den er empfunden hatte, als Hal das Blatt ins Feuer geworfen hatte, und er konnte die Vorstellung kaum ertragen, dass diese Worte seines Vaters, so belanglos sie auch gewesen sein mochten, für ihn verloren waren. Die Tagebücher des Herzogs waren kein Geheimnis, und doch hatte er sie im Geheimen gelesen, sie einzeln aus dem Regal geholt und in sein Zimmer geschmuggelt, bevor er sie wieder ins Regal zurückstellte, stets achtsam, dass es niemand sah.

Er hätte nicht sagen können, warum es ihm derart wichtig erschienen war, diese Beziehung mit seinem verstorbenen Vater für sich zu behalten. Doch es war so gewesen.

Gerade war es ihm mehr oder minder gelungen, sich zumindest den Inhalt der verschwundenen Seite ins Gedächtnis zu prägen, als Hal schließlich die Schultern hochzog und abrupt zu sprechen begann.

»Es gibt Gerede. Über Verschwörungen.«

»Wann gibt es solches Gerede nicht? Welche Verschwörung beunruhigt dich denn besonders?«

»Mich eigentlich weniger.« Hal setzte sich den Hut fester auf und drehte den Kopf in den Wind. »Und noch ist es kein offener Skandal, obwohl der mit großer Sicherheit kommt – und zwar bald.«

»Daran habe ich keinen Zweifel«, merkte Grey beißend an. »Wir hatten schon seit Weihnachten keinen anständigen Skandal mehr. Wer ist darin verwickelt?«

»Eine sodomitische Verschwörung zur Unterminierung der Regierung durch die Ermordung ausgewählter Minister.«

Grey spürte, wie sich sein Magen verkrampfte, doch sein Tonfall blieb beiläufig. Es war nicht das erste Mal, dass er von so etwas hörte; sodomitische Verbindungen und Verschwörungen waren in der Saure-Gurken-Zeit das Allheilmittel der Straßenschreier und der Schreiberlinge von der Fleet Street.

»Und warum beunruhigt dich das?«

Hal richtete den Blick auf die rutschigen Pflastersteine.

»Uns. Es hängt mit einem älteren Gerücht zusammen. Über – über Vater.« Das Wort traf Grey in die Magengrube wie ein Kieselstein, der aus einer Schleuder abgeschossen wird. Er konnte sich nicht erinnern, nur ein einziges Mal gehört zu haben, wie Hal in den letzten fünfzehn Jahren das Wort »Vater« benutzte.

»Dass er Sodomit war?«, sagte Grey ungläubig. Hal holte tief Luft, doch seine Anspannung schien ein wenig nachzulassen.

»Nein. Zumindest nicht ausdrücklich. Und es ist – Gott sei Dank – kein weitverbreitetes Gerücht gewesen. Nur vage Anschuldigungen, die um die Zeit seines Todes von Mitgliedern des Bundes ausgesprochen wurden. Solche Anschuldigungen waren ja damals an der Tagesordnung und wurden über so gut wie jeden irgendwie prominenten Mann verbreitet, der etwas mit der Spekulationsblase um die South Sea Company zu tun hatte. Der Skandal wurde ›Verbindungen von Sodomiten‹ zugeschrieben – obwohl man die Schuld weiß Gott auch jeder anderen Gruppierung oder Person zugeschoben hat, die sich irgendwie anbot. Doch der Bund hatte damals großen Einfluss, und sodomitische Verschwörungen waren sein Lieblingsthema.«

»Der Bund?«, fragte Grey verständnislos. »Welcher Bund denn?«

»Das habe ich ganz vergessen. Du warst ja damals noch nicht alt genug, um viel davon mitzubekommen –«

»Verdammt wenig, in Aberdeen.« Grey versuchte erst gar nicht, den Hauch von Bitterkeit in seiner Stimme zu unterdrücken, und sein Bruder sah ihn scharf an.

»Genau deswegen haben wir dich dorthin geschickt«, sagte Hal mit gleichmütiger Stimme. »Wie dem auch sei, der Bund, den ich meine, ist der Bund zur Reformierung der guten Sitten; du hast doch von ihnen gehört, oder?«

»Ja, das habe ich.« Wütend und bestürzt, wie er war, gab sich Grey keine Mühe, seine Gefühle zu verbergen, und seine Stimme war voll Abscheu und Verachtung. »Pedanten und Puritaner, die ihre eigenen niederen Bedürfnisse verleugnen, aber große Freude – und zweifellos auch Befriedigung – daran finden, ihre Mitmenschen der Korruption zu bezichtigen und Unschuldige anzuschwärzen. Sie sind –«

Hal gebot ihm erneut Einhalt, indem er ihm die Hand auf den Arm legte – diesmal war es nur eine kurze Berührung –, um ihn am Weitersprechen zu hindern, als jetzt zwei Sänftenträger vorbeitrabten, die Köpfe in den weißen Nebel ihres keuchenden Atems gehüllt.

Die Kälte und das Zwielicht hielten viele Menschen in ihren Häusern fest, doch es gab genügend, die durch ihre Lebensumstände gezwungen waren, sich ins Freie zu begeben, und ihre Zahl nahm jetzt zu, als sie sich der St.-James-Street näherten. Ein fahrender Sänger, Maronenverkäufer, Apfelbäuerinnen, die lauthals die Tugenden ihrer schrumpeligen Früchte anpriesen. Grey merkte, wie Hal jeden Passanten, an dem sie vorübergingen, genau betrachtete, als hätte er ihn irgendwie im Verdacht.

»Man geht davon aus, dass Hauptmann Bates tief in die Sache verwickelt ist«, sagte Hal schließlich. »Der General hat mir davon erzählt, nachdem du gestern mit Wainwright gegangen warst; Bates’ Vater ist General Ezekial Bates – er ist schon lange im Ruhestand, aber ein guter Freund von General Stanley.«

»Ah«, sagte Grey. »Ich verstehe.« Er fühlte sich immer noch beunruhigt und vage alarmiert, grundlos wütend – doch diese Information erleichterte ihn ein wenig. Wenigstens wusste er jetzt, wie Hal von der Sache erfahren hatte. »Und die beiden anderen Männer, von denen du gesprochen hast – Otway und Ffoulkes?«

»Otway ist Gefreiter im 11ten Infanterieregiment, ein Niemand. Ffoulkes ist ein einigermaßen bekannter Anwalt am Lincoln’s Inn.«

»Was verbindet diese Männer?«

»Bates.«

Hauptmann Bates und Ffoulkes waren sich begegnet, so General Stanley, als Ffoulkes für die Familie des Hauptmanns eine unbedeutende Rechtsangelegenheit geregelt hatte. Otway hatte Bates angeblich in einem Wirtshaus kennengelernt und war eine unappetitliche Verbindung mit ihm eingegangen. Später war er auch Ffoulkes vorgestellt worden, obwohl der General nicht wusste, unter welchen Umständen.

»Ist das so«, sagte Grey und dachte an die Spelunken in der Umgebung von Lincoln’s Inn, einer Gegend, die von Anwälten und Mollies gleichermaßen aufgesucht wurde. »Und das ist es, was sie als ›Verbindung von Sodomiten‹ bezeichnen? Es scheint mir hier doch sowohl an Mitgliedern als an Zielen zu mangeln.«

Hal prustete auf, und sein Atem kringelte sich weiß in der Winterluft.

»Oh, es kommt noch mehr. Unser Freund Ffoulkes, so scheint es, ist mit einer Französin verheiratet. Diese wiederum hat zwei Brüder, von denen einer ein berüchtigter Päderast ist – berüchtigt sogar für französische Verhältnisse –, während der andere Oberst in der französischen Armee ist.«

Grey grunzte überrascht.

»Und gibt es irgendwelche Hinweise auf – ich nehme an, es muss Hochverrat sein?«

»So ist es. Und ja, es gibt sie. Das Kriegsministerium hat Wind von der Sache bekommen und verfolgt sie nun schon seit einigen Monaten im Stillen. Bates – er war übrigens eine Zeitlang General Stanleys Flügeladjutant, bevor er in die berittene Garde aufgenommen wurde –«

»Himmel.«

»Genau. Anscheinend hat er Otway geheime Dokumente zukommen lassen, die dieser wiederum ihrer Absprache gemäß an Ffoulkes weitergegeben hat. Und von dort sind sie natürlich …«

Grey sog die Abendluft tief in seine Lungen. Der letzte Rest seiner defensiven Wut verflog, und er wurde von Kälte erfüllt. Es ging sie persönlich an – aber nicht direkt. Hals Sorge galt natürlich dem General – und ihrer Familie, falls die alten Gerüchte im Licht dieses neuen Skandals wieder ausgegraben wurden, angefacht durch die erneute Heirat ihrer Mutter.

»Was hat man denn unternommen?«, fragte er. »Ich habe nichts davon auf der Straße gehört oder in den Zeitschriften gelesen.«

Hal zog ein wenig den Kopf ein; sie passierten gerade ein Tor, das von Fackeln erhellt wurde, und Grey sah den Schatten seines Bruders, vornübergebeugt und geschrumpft, das Abbild eines alten Mannes.

»Man hat es so weit wie möglich geheim gehalten. Doch gestern hat man Bates und Otway verhaftet.«

»Und Ffoulkes?«

Hal hob den Kopf und stieß einen langgezogenen weißen Atemhauch aus.

»Ffoulkes hat sich heute Morgen erschossen.«

Grey ging mechanisch weiter. Er spürte die Kälte und das unebene Straßenpflaster nicht mehr.

»Möge Gott seiner Seele gnädig sein«, sagte er schließlich.

»Und uns«, sagte Hal ohne jede Spur von Humor.

 

Mehr konnte oder wollte Hal nicht sagen, und sie legten den Rest des Weges schweigend zurück. Als sie in die St. James Street einbogen, wurde Grey aus seinen sorgenvollen Gedanken gerissen.

Kerzenlicht strömte einladend durch die Fenster des Clubs und beleuchtete etwas, das der Körper eines Mannes zu sein schien, der neben der Tür auf dem Pflaster lag. Als sie näher auf das Gebäude zukamen, sah Grey, wie jemand den Kopf aus der offenen Clubtür steckte, den Körper betrachtete und den Kopf wieder einzog, nur um einem weiteren Kopf zu weichen, der diesen Vorgang wiederholte.

»Weißt du, wer das ist?«, fragte Grey seinen Bruder, als sie den Liegenden erreichten. »Ist es ein Mitglied?« Auch Grey war natürlich Mitglied bei White’s, doch er besuchte den Club nur selten, weil ihm die etwas schäbige Gemütlichkeit und das exzellente Essen im Beefsteak mehr zusagten.

Hal betrachtete den Mann blinzelnd und schüttelte den Kopf.

»Es ist niemand, den ich kenne.«

Der Mann lag flach auf dem Boden, und seine gespreizten Beine lugten unter einem ordentlich geschneiderten Militärmantel hervor. Auch der Hut des Mannes war von guter Qualität; er war ihm vom Kopf gefallen und gegen die Wand gerollt, wo er jetzt auf der Kante lag wie ein beschwipster Bettler.

»Meinst du, er ist tot?«

Die Perücke des Mannes war verrutscht und verdeckte den Großteil seines Gesichtes. Es hatte schwach zu schneien begonnen, und im Flockengestöber und dem flackernden Licht war es unmöglich zu erkennen, ob er atmete.

»Lass mich nachsehen; vielleicht –« Hal bückte sich, um den Mann zu berühren, wurde aber durch einen Ausruf von der Tür daran gehindert.

»Nicht anfassen! Noch nicht!« Ein junger Mann kam aufgeregt aus dem Club und fasste Hal am Arm. »Wir haben ihn noch nicht ins Buch eingetragen!«

»Was, das Wettbuch?«, wollte Hal wissen.

»Ja – Rogers sagt, er ist tot, und ich sage, er ist es nicht. Der Einsatz sind zwei Guineen! Wollt Ihr mit mir wetten, Melton?«

»Er ist mausetot, Melton!«, kam ein Ruf aus der offenen Tür, wahrscheinlich war es Rogers. »Whitbread und Gallager sind auch meiner Meinung!«

»Ist er nicht, sage ich!« Der junge Mann schlug mit der Handfläche gegen den Türpfosten. »Ihr könntet doch eine Leiche nicht von einer Schneiderpuppe unterscheiden!«

»Halt!« Aus dem Augenwinkel sah Grey eine Bewegung und fuhr herum, die Hand an seinem Schwert – jedoch nicht mehr rechtzeitig, um den zerlumpten Jungen zu packen, der herbeigehuscht war, um sich den Hut des am Boden Liegenden zu schnappen. Ein Triumphschrei gellte durch den dichter werdenden Schnee zu ihnen zurück.

»Ruft die Wache, zum Kuckuck. Wir können ihn doch nicht hier liegen lassen, ob er nun tot ist oder nicht«, sagte Hal ungeduldig. »Er wird ja noch ausgeraubt.«

Grey trabte gehorsam zum nächsten Wirtshaus, wo er zwei Männer der Wache fand, die sich gegen das Wetter stärkten. Nachdem sie widerstrebend ihren Glühwein hinuntergeschüttet hatten, hüllten sie sich murrend in ihre Mäntel und Hüte und kehrten mit ihm zum Club zurück, wo sein Bruder unterdessen auf sein Schwert gestützt über dem Mann Wache gestanden hatte.

»Das wurde auch Zeit«, sagte Hal und steckte seine Waffe ein. »Sie sind hier!«, rief er zur offenen Tür gewandt, wo ihm Mr. Holmes, der Steward des Clubs, erwartungsvoll entgegensah.

Holmes verschwand prompt, und sein Ruf: »Keine weiteren Wetten mehr, meine Herren!«, klang durch das Haus.

In Sekundenschnelle war der Liegende von einer wahren Menge neugieriger Wetter umringt, die nach wie vor diskutierend in den Schnee hinaustraten.

»Was meinst du?«, murmelte Grey Hal zu. Er zog die Nase hoch, konnte aber in der Mischung aus Rauch, Kaffee und Essen, die ihm aus dem Club entgegenwehte, keinen Geruch ausmachen, der ihm den Tod des Mannes verraten hätte. »Zehn zu eins, dass er noch lebt«, sagte er unwillkürlich.

»Du weißt doch, dass ich höchstens beim Kartenspiel wette«, erwiderte Hal leise. Dennoch behielt er seine Position in der ersten Reihe inne und beobachtete genauso neugierig wie die anderen Wettenden, wie einer der Wachmänner dem Mann vorsichtig die Perücke aus dem Gesicht hob.

Schweigen begleitete den Moment, als sein Gesicht zum Vorschein kam, grau und schlaff wie frischer Ton, die Augen geschlossen. Der Wachmann beugte sich dicht über ihn und umfasste seinen offenstehenden Unterkiefer, dann fuhr er auf.

»Er lebt! Er hat auf meine Hand geatmet!«