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Ein Wolf mit Menschenaugen erinnert sie an ihre Mission – doch ihr eigenes Trollblut flüstert von Verrat …
Monate nach der zweiten Ragnarök schlägt sich Tierkriegerin Alannah im wilden, verfluchten Eisenwald durch. Ihr Ziel: Elin befreien und den Schwachpunkt der Trollwesen finden, um die bedrohte Menschheit endgültig zu schützen.
Doch kaum betritt sie die Metropole Jötunheims, landet sie in den Kerkern des Trollherrschers Thrym. Zwischen Intrigen, Wolfshäuten und uralter Magie muss Alannah entscheiden, wem sie vertraut – den Menschen, die sie verraten haben, oder den Trollen, deren Blut in ihren Adern rauscht.
Nordische Mythologie trifft Urban Fantasy im rauen Nachhall der Ragnarök
Gestaltwandler-Action ohne Kitsch – dafür mit Herz, Loyalität und düsteren Bündnissen
Enemies-to-Allies-Spannung: Kann eine Berserkerin dem Feind trauen, um ihre Freundin zu retten?
Kann Alannah die Trollwesen besiegen – oder wird ihr Herz ihre größte Schwäche?
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Die Tierkriegerinund das Erbe der Trollwesen
Die Troll-Chroniken Band 2
© Felicity Green, 1. Auflage 2020
www.felicitygreen.com
Veröffentlicht durch:
A. Papenburg-Frey
Schlossbergstr. 1
79798 Jestetten
© Covergestaltung: Laura Newman – design.lauranewman.de
Verwendete Stockgrafiken: © Andrew Poplavsky / 123RF.com
Korrektorat: Wolma Krefting, bueropia.de
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Personen und Handlungen sind frei erfunden oder wurden fiktionalisiert. Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Formatiert mit Vellum
Teil I
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Teil II
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechzehn
Kapitel siebzehn
Kapitel achtzehn
Kapitel neunzehn
Kapitel zwanzig
Kapitel einundzwanzig
Kapitel zweiundzwanzig
Kapitel dreiundzwanzig
Kapitel vierundzwanzig
Kapitel fünfundzwanzig
Kapitel sechsundzwanzig
Kapitel siebenundzwanzig
Kapitel achtundzwanzig
Teil III
Kapitel neunundzwanzig
Kapitel dreißig
Kapitel einunddreißig
Kapitel zweiunddreißig
Kapitel dreiunddreißig
Epilog
Die Tierkriegerin und die Rückkehr der Elfen Leseprobe
Die Tierkriegerin und die Rückkehr der Elfen Leseprobe
Im wilden Wald
Der Wolf erkannte mich als eine der Seinen.
Fast verlor ich das Gleichgewicht auf dem großen, moosbewachsenen Baumstamm, über den ich gerade balancierte. Mein Herz hämmerte laut und ich wurde mir meiner kleinen, verletzlichen Menschengestalt bewusst.
Der Wolf und ich starrten uns an und für eine lange Weile passierte nichts. Doch vor meinem inneren Auge sah ich schon, wie sich die Muskeln unter dem dichten, dunklen Fell anspannten, als das riesige Tier zum Sprung ansetzte. Ich spürte mein Herz stehen bleiben, für den kurzen Augenblick, in dem der Wolf durch die Luft flog. Ich konnte den heißen Atem aus seinem Rachen wahrnehmen, die spitzen Zähne fühlen, als er mich packte.
Worauf wartest du, Alannah?, sagte eine Stimme in meinem Kopf, die verdächtig nach meinem Schöpfer klang. Verwandle dich!
Aber mein Bauchgefühl warnte mich, es nicht zu tun.
Der wissende Blick in seinen leuchtend blauen Augen unterschied den Wolf von den barbarischen, blutrünstigen Ungetümen, denen ich bislang in diesem wilden Wald begegnet war.
Bei jenen Aufeinandertreffen hatte ich keine Sekunde lang gezögert und mich in die Bärenkriegerin verwandelt, die es mit ihnen aufnehmen konnte. Die unzähligen Narben auf meinem Körper zeugten davon, dass es beide Male ein Kampf gewesen war, den ich beinahe nicht überlebt hatte.
Seitdem vermied ich diese Begegnungen um jeden Preis. Und in meinem Fall war der Preis wohl der, ewig in diesem dunklen, kalten, feuchten Wald herumzuirren. Ich wusste nicht, wie lange ich schon hier war, aber es mussten Wochen, wenn nicht Monate sein.
Allein die Regenerationszeit nach dem letzten Kampf … Ich war wer weiß wie lang bewusstlos gewesen, hatte richtig Schwein gehabt, einen Fluss in der Nähe zu wissen, zu dem ich mich hatte schleppen können. Und dann hatte ich tagelang einfach nur am Ufer gelegen. Keine Ahnung, woher ich den schieren Überlebenswillen genommen hatte, den es brauchte, um in der Situation ohne jede Hilfe ein Feuer zu entfachen. Verdammtes Glück, dass Rauch und Flammen niemand bemerkt hatte.
Danach war ich viel, viel vorsichtiger geworden. Ich hatte gelernt, alle meine Sinne einzusetzen, wenn ich mich schleichend durch das dichte Unterholz bewegte. Die Gesamtheit der vielen Laute im Wald bildete eine intensive Geräuschkulisse, die man instinktiv gedanklich ausblendete, wenn man nicht bei jedem Rascheln, Knarzen, Heulen, Zwitschern, Brummen und Surren zusammenzucken und fast einen Herzinfarkt bekommen wollte. Besonders nachts, wenn es stockduster war, diente das dem Selbstschutz. Ich hätte sonst nie und nimmer hier schlafen können. Jede Nacht war ein eigener, ganz spezieller Albtraum.
Nach dem zweiten Kampf hatte ich verstanden, dass es ein Fehler war, hier irgendetwas zu verdrängen. Man musste die Ängste zulassen, sie durch sich durchfließen lassen, auch wenn man dem Wald so seinen Wesenskern entblößte und sich dadurch alles nehmen ließ, das nicht mit dem unmittelbaren Überleben zu tun hatte.
Seitdem hatte ich gelernt, ganz genau zuzuhören. Wenn es plötzlich seltsam stumm wurde im Wald, dann hieß das meist, dass eine Bedrohung im Anmarsch war. Dann verlor ich keine Zeit und kletterte hinauf auf einen Baum. Nicht selten richtete ich mich auf einer breiten Astgabel für die Nacht ein. Nur manchmal passierte es tatsächlich, dass ich den dunklen Schatten einer Kreatur unter mir bemerkte, aber ich wollte kein Risiko eingehen.
Ich musste jeden Kampf unbedingt vermeiden.
Weil ich überleben wollte … weil ich etwas Wichtiges tun musste. Immer wieder kam mir der Gedanke, dass jemand auf mich zählte. Ich versuchte ihn längst nicht mehr zu greifen, weil er sich dann schnell verflüchtigte, aber ich war immer wieder froh, wenn er da war.
Ja, jemand, vielleicht sogar viele, zählten auf mich.
Deshalb überlegte ich es mir jetzt sehr gut, ob ich die in meinem Inneren ewig schwelende Berserkerwut entfachen und mich in die kaltblütige Bärenkriegerin verwandeln sollte, die den Wolf ohne jede Spur von Mitleid töten würde.
Das wäre eine Kampfansage, die der Wolf sicher nicht ignorieren könnte.
Meine Beine zitterten vor Anstrengung, weil ich mich unbedingt weder vorwärts noch zurück bewegen wollte. Langsam, ganz langsam hob ich meine Arme, um das Gleichgewicht auf dem Baumstamm besser zu halten. Mein schwerer Atem gefror zu kleinen Wölkchen in der kalten Luft.
Ich wusste nicht, ob es eine gute Idee war, dem Wolf in die Augen zu schauen, aber ich konnte nicht widerstehen.
Dieser Wolf war anders.
Die Monster, die durch diesen im wahrsten Sinne des Wortes gottverlassenen Wald streiften, sahen trotz ihrer beängstigenden Größe ausgehungert aus. Ihr zotteliges, dreckig-hellbraunes Fell ließ sie ungepflegt erscheinen. Am schlimmsten aber waren ihre überproportional wirkenden Köpfe mit den blutunterlaufenen Augen, den stumpfen Blicken und den geifernden Mäulern.
Das Tier, das mir gegenüberstand, war nicht ganz so groß, aber wohlgenährt. Sein dunkles, fast schwarzes Fell glänzte. Das Faszinierendste an ihm waren jedoch die blauen Augen. Solch eine Augenfarbe gab es bei wilden Wölfen nicht, kam mir die schwammige Erinnerung an die Naturgesetze meiner Welt. Auch wenn die hier nicht galten, so war ich mir sicher, dass dieses Tier nichts mit den gelbäugigen Wolfsungeheuern gemein hatte, denen ich begegnet war.
Ich hatte instinktiv das Gefühl, dass ich einem Gestaltwandler gegenüberstand. Ein Gestaltwandler wie ich … aber nicht ganz wie ich. Als Tierkriegerin verwandelte ich mich nicht vollständig in einen Bären. Die Gestalt war eine Hybridform, irgendwie immer in der Schwebe zwischen Mensch und Tier. Auch als Bärenkriegerin konnte ich meine Schwerter halten, wenn ich musste. Die Augen der Tierkrieger veränderten sich nie. An denen konnte man sie stets erkennen.
Wieder kam mir eine Erinnerung, blitzartig, an ein Gefühl: Wie verstört ich gewesen war, als ich zum ersten Mal menschliche Augen bei einer Kreatur gesehen hatte, der so viel Menschlichkeit abhandengekommen war.
Das Tier, dem ich mich gegenübersah, war kein Wolfkrieger. Nichts an seiner Gestalt war auch nur annähernd menschlich. Er wirkte tatsächlich wie ein sehr großer Wolf. Wenn eben nur nicht diese fast türkisfarbenen Augen gewesen wären.
Ich glaubte, einen Menschen in ihm zu erkennen – und war mir sicher, er sah das Tier in mir.
Wir konnten uns nicht ewig anstarren. Und vor allen Dingen konnte ich meine Position auf dem Baumstamm nicht viel länger halten. Ich beschloss, das Risiko einzugehen, ihn anzusprechen.
»Hallo, ich bin Alannah«, sagte ich mit einer so sanften Stimme, wie es mir möglich war. Da ich allerdings seit Monaten nicht mehr geredet hatte, kam es rau und krächzend heraus.
Der Wolf legte seinen Kopf schief, so als ob er mich verstand. Obgleich er die Wörter nicht erfassen konnte. Er mochte menschliche Augen haben, aber ich konnte mir schwer vorstellen, dass eine Kreatur in dieser Welt Englisch beherrschte.
Ich hielt den Atem an, als der Wolf sich in Bewegung setzte. Mit ein paar geschmeidigen Schritten kam er den Hang herunter. Dabei ließ er mich nicht aus den Augen.
Panik durchflutete mich. Wieder und wieder hatte mir der Wald bewiesen, dass ich ihm und seinen Bewohnern nicht gewachsen war. Hilflos und fast ziellos irrte ich in ihm umher, sodass mein Leben und mein Geisteszustand ständig an seidenen Fäden hingen – Fäden, so fragil, aber gleichzeitig merkwürdig zäh wie die klebrigen Netze der Riesenspinnen, aus denen ich mich schon öfter hatte befreien müssen. Ich wusste gar nicht mehr so ganz genau, warum es so verdammt wichtig war, dass diese Fäden nicht durchtrennt wurden.
Doch bislang hatte ich gekämpft bis aufs Blut. Ich hatte alles von mir gegeben.
War der Kampf umsonst gewesen? War das hier das Ende?
Als mir der Wolf schließlich auf dem Baumstamm gegenüberstand, wirkte er noch größer als zuvor. Mein ganzer Körper kribbelte und meine Kehle schnürte sich mir zu. Alles in mir schrie »Flieh!«, und gleichzeitig wollte ich einen Schritt auf dieses wundersame Wesen zu machen.
Der Wolf streckte seinen Kopf vor, nur wenige Zentimeter. Instinktiv zuckte ich zurück.
Die kleine Bewegung riss mich aus dem labilen Gleichgewicht und mein rechter Fuß rutschte auf dem nassen Moos aus. Ich fiel. Es ging so schnell, dass ich noch nicht mal schreien konnte.
Ein paar Sekunden nach der Landung spürte ich zunächst nichts, bis der Schmerz durch meinen Hüftknochen schoss. Ich fühlte, dass eine meiner Verletzungen am Bein wieder aufgerissen war. Ich bewegte meinen Kopf auf dem feuchten Blätterteppich und sah das rote, frische Blut.
Oh Gott, ging es mir durch den Kopf. Wenn der Wolf bisher noch nicht auf Blut aus gewesen war, dann hat er es jetzt gewittert …
Es wurde dunkler und ich spürte seine Körperwärme.
Ich zwang mich dazu, den Kopf zu drehen und hochzuschauen.
Ja, der Wolf stand direkt über mir.
Das Letzte, was ich sah, bevor ich das Bewusstsein verlor, war dieser seltsam wissende Blick in seinen türkisfarbenen Augen.
* * *
Als ich zu mir kam, bewegte sich der Boden unter mir. Es war nicht unangenehm. Eher wie ein rhythmisches Schaukeln.
Ich lag bäuchlings auf etwas Warmem, Weichem. Es war so wohltuend nach der langen Zeit, in der nur Feuchtigkeit und Kälte in meine Knochen gekrochen waren. Für eine Weile genoss ich dieses Gefühl und verbot mir, darüber nachzudenken, was es bedeutete.
Meine Wange schmiegte sich an etwas Flauschiges.
Ich blinzelte und schreckte hoch. Automatisch krallten sich meine Finger in das dunkle Fell, damit ich nicht das Gleichgewicht verlor.
Ein Teil von mir wollte herunterspringen, wollte weglaufen, wollte vor dem Wolf, der mich trug, flüchten. Aber ein anderer Teil konnte sich nicht trennen von dem warmen Körper.
Da der Wolf in diesem Moment offensichtlich keine direkte Bedrohung darstellte, blieb ich erst einmal halb aufgerichtet auf seinem Rücken liegen.
Panisch schaute ich mich um und konnte überall nur Blätter und Baumstämme im Halbdunkel erkennen. Es war der Wald, durch den ich nun schon seit Wochen orientierungslos streifte. Ich würde mich nie an diese unwirtliche Umgebung gewöhnen, aber es war ein kleines bisschen beruhigend, zu wissen, wo ich war.
Obwohl das paradoxerweise auch bedeutete, dass ich überhaupt nicht wusste, wo ich war. Der Wald war eine grüne Wüste. Ich hatte keine Ahnung, welchen Ort ich erreichen oder zu welchem Ort ich zurückkehren wollte.
Der Wolf, der mich irgendwie auf seinen Rücken gehievt haben musste, hatte wohl ein Ziel. Wo wollte er mich hinbringen?
Ich hätte Angst vor ihm haben müssen, aber die Wochen der völligen Einsamkeit in dieser Wildnis hatten den Begriff der Angst für mich neu definiert. Der Wolf, was auch immer an Schrecklichem er mit mir vorhaben mochte, stellte keine unmittelbare Gefahr dar. Schließlich war ich ihm völlig ausgeliefert gewesen. Er hatte seine Chance gehabt, sich auf mich zu stürzen und mich in Stücke zu reißen.
Er hatte es nicht getan.
Ich änderte meine Position auf seinem Rücken und merkte, dass etwas mit meiner Hüfte nicht stimmte. Ich erinnerte mich an den Schmerz nach dem Sturz vom Baumstamm. Die Wunde am Bein fiel mir wieder ein und ich tastete danach. Ich spürte weder eine feuchte, klebrige Stelle noch verkrustetes Blut. Konnte es sein, dass der Wolf sie gesäubert hatte?
Ich hatte keine Energie, weiter darüber nachzudenken, und ließ den Kopf sinken, sodass ich wieder in der Position auf seinem Rücken lag, in der ich aufgewacht war.
Ich schloss die Augen.
Die konstante Alarm- und Kampfbereitschaft in den letzten Wochen hatten mich zermürbt. Vielleicht würde es sich als großer Fehler erweisen, diesem Wolf zu vertrauen, aber es tat so gut, die Verantwortung abzugeben und mich von jemand anderem tragen zu lassen.
Vielleicht war das jetzt der Moment der Schwäche, der mein Untergang sein würde.
Nun, wenn ich mich dafür ein letztes Mal an einen warmen Körper schmiegen durfte, dann würde ich das Risiko in Kauf nehmen.
Ich atmete erleichtert auf und sog dabei den Geruch des Wolfs ein. Erdig, angenehm würzig und … wie etwas Vertrautes, dachte ich, schon halb eingeschlafen. Etwas Vertrautes, das ich mit in meine Träume nahm.
Hevera-Klinik, Shetland, 3 Tage nach der zweiten Ragnarök
Nics Geruch war wie eine warme, behagliche Decke und ich spürte die Kälte, als er aufstand. Ich legte die Arme um meine hochgezogenen Knie und rollte mich eng zusammen.
Es war meine eigene Schuld, dass Nic und sein wunderbarer Duft jetzt weg waren und nur noch Kälte, trockener Staub und die schwache Note der panischen Angst übrig blieben. Dieser Gestank hatte sich nach Jahren der schmerzhaften Aktivierungen in dem Raum im Keller festgesetzt, aber ich empfand ihn jetzt gerade nicht als abstoßend. Er erinnerte mich daran, wer ich war, was ich durchgemacht hatte und was mich mit meinen Kameraden verband.
Es gab nicht viel in dieser neuen Welt, an dem ich mich festhalten oder orientieren konnte. Diese paar Dinge, die ich kannte und wusste, waren wichtig. Auch wenn die Erinnerungen daran schmerzhaft waren. Aus diesen Dingen musste ich mir meinen eigenen Kompass basteln.
Nic hatte mir vorgeworfen, dass ich schon immer Schwierigkeiten damit gehabt hatte, Autorität zu akzeptieren. Es lag in meiner Natur, alles zu hinterfragen, und das hatte ich auch gleich nach meiner Ankunft in dieser Klinik gemacht. Ich hatte nicht geglaubt, dass man hier lediglich meine Wutanfälle kurieren wollte, hatte darauf beharrt, dass die neuen Therapiemaßnahmen für aggressive Jugendliche in Wirklichkeit etwas anderes waren. Und ich hatte recht gehabt.
Es ging um die Aktivierung eines genetischen Potenzials, dessentwegen man uns sogar extra geschaffen hatte. Es gab eine Verschwörung – zwar kein Weltuntergangskult, wie ich befürchtet hatte, sondern, schlimmer noch, eine Elite von Eingeweihten, die von der bevorstehenden zweiten Ragnarök wussten und verhindern wollten, dass vor Tausenden von Jahren verbannte Trollwesen die Menschenwelt erobern.
Wie dem auch sei, Nic meinte, dass ich mir einfach nichts sagen lassen wollte.
Von niemandem und besonders nicht von ihm, der unser neuer Anführer sein wollte, nachdem wir von den Eingeweihten im Stich gelassen worden waren. Vielleicht glaubte er gar, dass ich ihn absichtlich geküsst und dann abgewiesen hatte, nur weil es mir Genugtuung verschaffte.
Natürlich war ein bisschen davon wahr. Ich wollte mir von Nic keine Anweisungen geben lassen und es fühlte sich gut an, nicht mehr die naive Alannah zu sein, die alles dafür getan hätte, dass Frauenheld Nic mit ihr zusammen sein wollte.
Aber meine Entscheidung, morgen früh nicht mit den anderen überlebenden Tierkriegern und Auserwählten in den Kampf gegen die restlichen Trollwesen zu ziehen, war in etwas anderem begründet.
Ich hatte nicht für die Eingeweihten gekämpft, und es hatte mich sogar viel Überwindung gekostet, mich nach ihrem Plan zu richten, nach allem, was sie mir angetan hatten. Aber ich hatte keine große Wahl gehabt. Ich hatte die Gelegenheit, direkt und unmittelbar dafür zu sorgen, dass nicht allzu viele Trollwesen aus den Portalen gekrochen kamen, sodass die Auserwählten Zeit hatten, die Kreaturen wieder zu verbannen. Ich hatte die Wahl gehabt, entweder die Menschheit zu retten oder mit dafür verantwortlich zu sein, dass sie unterging.
Die Linien waren klar gezogen gewesen. Es war eine Situation, die ziemlich schwarz-weiß aussah: Gut gegen Böse. Richtig gegen Falsch.
Das hatte sich geändert. Die Linien im Sand waren verwischt. Mit der Dämmerung am Morgen der zweiten Ragnarök hatten sich viele Farbschattierungen über die neue Welt gelegt.
Die Eingeweihten, die die Menschheit hatten retten sollen, hatten sich in Bunkern versteckt und für einen »fairen« Kampf gesorgt, indem sie Strom und Satelliten ausgeschaltet und die Menschenwelt enttechnologisiert hatten. Ja, die menschlichen Waffentechnologien konnten Trollwesen nichts anhaben, und die Menschheit hätte sich im Kampf gegen die archaischen Kreaturen vielleicht selbst zerstört – aber ohne Strom, ohne Kommunikation und alles, was dazugehörte, würde es den Menschen wohl kaum besser ergehen. Es kam mir so vor, als würden die Eingeweihten abwarten, bis der Kampf Troll gegen Mann ausgefochten war, damit sie wieder von vorne anfangen konnten.
Dazu kam, dass sie niemals eine Heldenrolle für uns im Sinn gehabt hatten. Wir Tierkrieger waren nur geschaffen worden, um die Trollwesen zu bekämpfen. Verschwiegen hatte man uns, dass wir als Abbild der Feinde geschaffen worden waren, auf die man uns ansetzte. Unser Trollblut erlaubte es uns, es mit ihnen aufzunehmen – und es bedeutete, dass auch wir bei der Verbannung durch die Portale nach Jötunheim mitgerissen werden sollten. Eine saubere Sache – nur, dass es einigen von uns gelungen war, dem Sog zu widerstehen und sich zu retten.
Und die Welt konnte von Glück reden, dass dem so war, denn schließlich waren auch einige Trollwesen der Verbannung entkommen. Die riesigen Barbaren mit einem Appetit auf Menschenfleisch richteten wer weiß was für Schäden an – und es lag an uns letzten überlebenden Tierkriegern und Auserwählten, sie aufzuhalten.
Doch ich hatte eine andere Mission für mich gewählt. Es ging mir gegen den Strich, dass wir immer noch wie Marionetten an unsichtbaren Fäden nach der Pfeife der feigen Eingeweihten tanzten. Für mich waren jene genauso verabscheuungswürdig wie meine entfernten Verwandten, die Trollwesen. Es gefiel mir nicht, ihre Drecksarbeit zu machen. Es gab noch andere, die diese Aufräumarbeiten übernehmen konnten. Ich wollte frei sein und für mich selber bestimmen, was richtig und falsch war.
Und in diesem ganzen Kuddelmuddel war das schwierig zu unterscheiden. Bestimmt war es richtig, unschuldige Menschen zu retten. Doch wo waren die? Wie sollte das vonstattengehen? Das Ganze war … abstrakt.
Einer Sache jedoch war ich mir gewiss. Es gab eine Person, die ich retten konnte. Eine unschuldige Person, die ich im Stich gelassen hatte. Das war etwas, bei dem mein selbstgebastelter Kompass ganz klar nach Norden zeigte.
Jetzt hatte ich einen Weg gefunden, wie ich das tun konnte.
Okay, Nic hatte recht. Es Weg zu nennen, war sicherlich übertrieben.
Ich wusste, was der erste Schritt war. Immerhin.
Seufzend stand ich auf und klopfte mir den Staub von der Hose. Dann nahm ich meine Laterne in die Hand und verließ den Aktivierungskäfig.
Ich ging den Flur entlang, bis zum großen Trainingsraum, in dem unser Sportlehrer Mr Brutfort uns Nahkampftechniken und das Kämpfen mit archaischen Waffen beigebracht hatte.
Im ehemaligen Türrahmen blieb ich stehen. Der Raum lag immer noch in Schutt und Asche – Putz war von den Wänden und der Decke gebröselt und die Trennwand zum Flur war teilweise eingestürzt.
Aus dem Hauswirtschaftsraum holte ich mir einen Besen. Erst schob ich Steine und Schutt in die Ecken und an die Ränder des Raumes. Dort war der Linoleumboden, unter dem die Zeichen versteckt gewesen waren, noch intakt. Dann fegte ich die glatte Betonfläche.
Jetzt konnte ich die eingeritzten Zeichen sehr gut erkennen.
Fünf konzentrische Kreise, überlagert von Zacken, deren Spitzen auf die Runen über dem äußeren Kreis zeigten.
Es war eigentlich erstaunlich, dass nicht mal ein winziger Riss im Zement darauf hindeutete, dass sich hier ein Portal geöffnet hatte. Wenn ich nicht wüsste, dass es Elin verschluckt haben musste, wäre ich niemals auf die Idee gekommen, dass auch ich durchgehen könnte, um ihr zu folgen.
Aber es verhielt sich hier wohl so wie bei den anderen, bekannten Portalen, die seit Jahrtausenden von Wächtern beobachtet worden waren. Als sich das Portal am Broch von Mousa geöffnet hatte, war der Wehrturm in sich zusammengefallen. Und nachdem es Nic gelungen war, die Trollwesen erneut zu verbannen, hatte sich das Portal wieder geschlossen. Der Turm war immer noch ein Haufen Steine, aber der Boden darunter war fest und glatt, so als hätte es dort nie den riesigen Schlund nach Jötunheim gegeben.
Schnell ging ich ein paar Schritte zur Seite, als mir bewusst wurde, dass ich ziemlich genau in der Mitte des großen Kreises stand. Wenn sich der Boden einfach auftun würde, wäre das eine einfache Lösung für mein Problem, aber ich merkte, ich war noch nicht so weit. Ich lehnte den Besen an eine intakte Wand, holte Papier und einen Kugelschreiber aus dem Hauswirtschaftsraum und kehrte dann zu den Zeichen auf dem Boden zurück.
Jetzt wollte ich erst einmal die Runen genau abmalen. Ich selber hatte keine große Ahnung davon, was sie bedeuteten.
Weder mein Schöpfer Dr. Isbister noch Mrs Darktower, die uns als Tierkrieger aktiviert und auf unsere Aufgabe vorbereitet hatten, hatten nie auch nur ein Wort über dieses Portal verloren. Ich glaubte nicht, dass irgendjemand vom Klinikpersonal davon gewusst hatte, sonst hätte jemand mal etwas diesbezüglich erwähnt. Mehr noch, man hätte es in der zweiten Ragnarök nutzen können.
Aber ich würde die Einzigen, die vom Personal noch hier waren, unseren Sportlehrer Brutus, die Hauswirtschafterin Ingrid und die Pflegerin Anna, dazu befragen.
Wer auch immer dieses Portal hier hingesetzt hatte, es musste auf jeden Fall jemand gewesen sein, der große Ahnung von Magie hatte – vermutlich mehr als jene, die eigentlich Kunna, das Wissen von der Magie, hatten: unsere Handvoll Auserwählte. Aber vielleicht konnten die mir wenigstens bei der Deutung der Zeichen helfen.
Für die Aufgabe, die ich mir selbst auferlegt hatte, war es nicht unbedingt notwendig, den genauen Sinn und Zweck zu kennen. Aber es würde mir dabei helfen, mich darauf vorzubereiten, was mich auf der anderen Seite des Portals erwartete.
Wenn mich überhaupt etwas erwartete. Es konnte sehr gut sein, dass Elin, Calixta und die anderen verbannten Tierkrieger ihre »Reise« nach Jötunheim nicht überlebt hatten – ja, dass ich den Gang durchs Portal auch nicht überleben würde. Einzig die Tatsache, dass wir Trollgene hatten, verlieh mir etwas Selbstsicherheit.
Aber Nic hatte recht, wenn er meinte, dass es ein Himmelfahrtskommando sein könnte.
Als ich das nächste Mal wieder aufwachte, war das Gefühl des Schaukelns weg.
Es war kalt und dunkel und ich rollte mich eng zu einem Ball zusammen. Meine Wange schrappte nicht über Erde oder Stein, und ich bewegte die Hand, um vorsichtig um mich herum zu tasten. Ich war mir sicher, ich lag auf einem Fell – aber diese Unterlage war kein Vergleich zu dem warmen Körper und dem flauschigen dunklen Pelz von vorhin.
Eine Bewegung neben mir ließ mich zusammenzucken. Doch als ich den Geruch des Wolfs wahrnahm, entspannte ich mich.
Etwas Feuchtes stieß gegen meine Hand. Der Wolf stupste mich mit der Nase an. Ich richtete mich langsam auf. Mein steifer Körper protestierte und meine Hüfte schmerzte immer noch.
Mittlerweile hatten sich meine Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt und ich merkte, dass wir in einer niedrigen Höhle waren.
Der Wolf, der aufgrund seiner Größe nicht ganz aufgerichtet war, bewegte den Kopf mehrmals in Richtung Höhlenausgang. Zumindest nahm ich an, dass der etwas hellere Fleck in der Dunkelheit der Höhlenausgang war. Es schien, er wollte mich auffordern, ihm nach draußen zu folgen.
Mit Mühe kroch ich ihm hinterher.
Der Höhleneingang war nicht viel mehr als ein Loch in einem Hang, den ich jetzt runterrutschte. Ich hatte während meiner Irrgänge im Wald schon öfter solche Löcher gesehen und vermutet, dass sie in Höhlen hineinführen könnten. Aber nie hatte ich mich getraut, sie näher zu untersuchen, aus Angst davor, was sich darin verbergen könnte.
Am Fuße des Hangs befand sich eine Lichtung. Es war die erste in diesem Wald, die den Namen verdient hatte. Es gab durchaus Stellen, wo die Vegetation dünner wurde, aber Licht hatte ich bisher vergebens gesucht.
Der Wolf stand in der Mitte der kleinen Wiese, und die Sonnenstrahlen ließen sein dunkles Fell glänzen. Jetzt konnte ich erkennen, dass es nicht gleichmäßig dunkelbraun war. Stellenweise sah ich einen Rotstich, und das Fell um seine Schnauze herum, bei den Ohren und an einem Fleck unter dem Hals war sogar eher hellbraun.
Als ich meinen Blick von dem schönen Tier losreißen konnte, schaute ich hoch. Ich musste blinzeln und schirmte die Augen mit einer Hand ab. Tatsächlich öffnete sich das Blätterdach weit oben über unseren Köpfen und ein hellblauer Himmel mit weißen, tupfenartigen Wolkenfetzen lugte dahinter hervor.
All meine körperlichen Schmerzen waren vergessen, und ich rannte in die Mitte der Lichtung, legte den Kopf in den Nacken und breitete die Arme aus. Ich musste lachen, als die Sonnenstrahlen meine Nase kitzelten.
Pures Glück durchströmte mich, so als hätte mein Körper blitzartig jede Menge Vitamin D produziert und Endorphine freigesetzt. Mein Lachen wurde immer lauter und es war mir egal, ob er Wolf dachte, ich wäre verrückt geworden. Er hatte keine Ahnung, was das Sonnenlicht für mich bedeutete.
Doch als ich mich dem Wolf wieder zuwandte, hatte ich nicht das Gefühl, als würde er mein Verhalten komisch finden.
Im Gegenteil, er sah aus, als würde er mich verstehen. Der Verdacht kam in mir auf, dass er mich absichtlich an diese Stelle gebracht hatte, um mir das größte Geschenk zu machen, das ihm eingefallen war.
Einem Impuls folgend legte ich meine Arme um seinen Hals. »Danke«, flüsterte ich.
Der Wolf wurde ganz, ganz still und ich dachte für einen Augenblick, dass ich einen Fehler gemacht hatte.
Würde er die stürmische Umarmung als Angriff deuten?
Ich löste mich ganz vorsichtig, ließ die Arme sinken und trat einen Schritt zurück.
Der Wolf stand stocksteif da, aber nicht, weil er drauf und dran war, mich zu attackieren. Im Gegenteil, er sah aus, als hätte ich ihm gerade das größte Geschenk gemacht.
Eine große Träne löste sich aus einem seiner türkisfarbenen Augen und versickerte im dunklen Fell.
Ich hatte einen Freund gefunden.
Ich konnte mein Glück kaum fassen.
Ich hätte nie gedacht, dass ich an diesem gottverlassenen Ort jemals einen Freund finden würde.
Doch … Doch!
Deshalb war ich hier.
Hevera-Klinik, Shetland, 3 Tage nach der zweiten Ragnarök
»Sie ist meine Freundin. Und ich schulde es ihr«, blieb ich stur.
Die Arme vor der Brust verschränkt starrte ich Nic an, der mir im Stuhlkreis direkt gegenübersaß.
Er hatte alle Anwesenden in der Hevera-Klinik zu einer Besprechung zusammengetrommelt, als ich aus dem Keller nach oben stieg. Das kam mir natürlich recht und ich fiel Nic ins Wort, als er gerade die Tagesordnung verkünden wollte.
Meine Bekanntgabe, dass ich im Keller ein Portal entdeckt hatte und dass ich Elin nach Jötunheim folgen wollte, schien die meisten im Raum ziemlich zu schockieren. Zumindest war keiner zu Wort gekommen, bevor Nic mein Vorhaben gleich als lächerlich hinstellte.
»Das ist doch Blödsinn, Alannah«, sagte er jetzt. »Du hast doch nichts damit zu tun, dass Elin aus Versehen nach Jötunheim verbannt wurde. Du schuldest ihr nichts.«
»Das stimmt, Alannah«, sagte Joel. Seine Stimme hörte sich heiser an. »Ich bin dafür verantwortlich, dass Elin bei den Trollwesen ist. Wenn jemand durch das Portal gehen sollte, um sie zurückzuholen, dann ist das meine Aufgabe.«
Ingrid, die neben ihm saß, nahm seine Hand und schaute ihn besorgt an. »Das wirst du doch wohl nicht tun, oder?«
Als ich Joels entschlossenen Gesichtsausdruck sah, schaltete ich schnell dazwischen:
»Du hast getan, was du konntest, um die anderen Tierkrieger in deinem Team vor Elin zu beschützen, als sie total ausgetickt ist und aus ihrer Berserkerwut nicht mehr rauskam. Dass du nun mal ausschließlich den Verbannungszauber kanntest und keine andere Magie, mit der du sie stoppen konntest, das war … unglücklich. Du bist auch nur ein Opfer der schlechten Politik der Eingeweihten. Wenn jemanden die Schuld trifft, dann ist das eindeutig Dr. Isbister. Er hätte sich dem Druck von oben nicht beugen dürfen. Elin war einfach noch nicht so weit. Ihre Aktivierung war noch nicht richtig abgeschlossen. Und sie hätte eine wirklich lange Aktivierungszeit mit viel therapeutischer Begleitung gebraucht. Stattdessen wurde sie schnellaktiviert und eingesetzt, bevor sie bereit war. Dann auch noch in deinem Team voller aggressiver Männer, allein als einzige Frau. Dafür bist ja nicht du verantwortlich, Joel. Davon abgesehen kannst du nicht gehen. Du bist ein Auserwählter und hast keine Trollgene. Wir wissen nicht, ob du durch das Portal gehen kannst. Wir wissen nicht, wie hoch die Überlebenschancen auf der anderen Seite für irgendwen von uns wirklich sind, aber die Wahrscheinlichkeit, dass wir trollartigen Tierkrieger dort eher zurechtkommen, ist hoch. Außerdem wirst du hier gebraucht. Klar, wir Tierkrieger haben die Stärke, gegen die Trollwesen zu kämpfen, aber das nützt ja alles nichts, wenn sie nicht ein für alle Mal von hier verbannt werden. Und dazu seid nur ihr Auserwählten fähig.«
Damit schien ich Joel den Wind aus den Segeln genommen zu haben. Er rieb sich die grauen Bartstoppeln. Seit er sich nicht mehr rasierte, hatte er noch mehr Ähnlichkeit mit Sean Connery. Ingrid schaute mich dankbar an, als Joel zustimmend nickte und nichts mehr einzuwenden hatte.
Halb erwartete ich, dass ein ähnlicher Vorbehalt von Hilda kam. Technisch gesehen hatte sie schließlich auch Schuld an dem, was Elin passiert war.
Nics Ex-Freundin war eigentlich Joels Team zugeteilt worden, wollte aber unbedingt Seite an Seite mit Nic kämpfen. Ihre Eltern, die zu der Elite der Eingeweihten gehörten, hatten dafür gesorgt, dass Hilda ihren Willen bekam. Ihr war es erlaubt worden, in unser Team zu wechseln. In Joels Team hatte somit eine Bärenkriegerin gefehlt und so war Elin dazugekommen.
Wäre Hilda nicht so egoistisch gewesen, hätte sich Elin nicht in der Situation befunden, die zur versehentlichen Verbannung geführt hatte. Unabhängig davon, dass Hilda Elin gegenüber eine ziemlich miese Freundin gewesen war. Als ich die Wahrheit über die Klinik herausgefunden hatte und Elin noch nichts davon erzählen konnte, hatte das unsere neue Freundschaft zerstört. Während ich im Aktivierungskäfig gewesen war, hatte Hilda meinen Platz als Zimmergenossin eingenommen. Elin hatte sich an die Freundschaft zu Hilda geklammert, aber die hatte sie lediglich ausgenutzt. Als Elin dann ganz tief unten gewesen war, hatte sich Hilda schon längst nicht mehr um sie gekümmert. Sie hatte niemanden zum Reden gehabt.
Ich warf Hilda einen verstohlenen Blick zu, aber sie schien sich nicht angesprochen zu fühlen, wenn es darum ging, etwas bei Elin wieder gutzumachen.
Sei‘s drum. Hilda war nicht die Einzige, die eine miese Freundin gewesen war.
»Egal, wer direkt schuld daran ist, dass Elin durch das Portal verbannt wurde«, sagte ich. »Und, ich meine, wir können uns sicher einig sein, dass man letztendlich den Eingeweihten die Schuld geben kann. Tatsache ist, dass ich Elin hätte helfen können, mit ihrer Situation besser umzugehen. Das hätte eine gute Freundin gemacht. Ich könnte als Entschuldigung anführen, dass ich nicht viel Ahnung von Freundschaft habe. Dass ich seit meiner Kindheit keine Freunde mehr hatte und etwas eingerostet war, wenn es darum ging, für jemanden da zu sein. Aber das ist nicht gut genug. Ich hätte etwas tun können und ich habe die Entscheidung getroffen, es nicht zu tun. Elin hat sich mir anvertraut und mir gesagt, wie schlecht es ihr geht. Sie hat zugegeben, dass sie in Berserker-Rage nicht die Trollwesen, sondern immer noch ihren Stiefvater vor Augen hat. Ihr Stiefvater hat sie jahrelang misshandelt, bis endlich die Berserkerin in ihr hervorgebrochen ist und sie zum Ausrasten brachte. Wäre das nicht passiert, wäre das Potenzial nie erkannt worden, und Elin wäre gar nicht hier gewesen. Elin wäre eine von den Hunderten von Kindern, die aus diesem kranken Experiment hervorgegangen sind, die nicht das Zeug zum Tierkrieger haben. Wie ihr vielleicht wisst, hat sie ihren Stiefvater umgebracht. Sie kam in Jugendhaft. Bis Dr. Isbister sie gerettet hat. So hat sie es gesehen. Sie hatte großes Vertrauen in die Eingeweihten und war ihnen gegenüber so dankbar.
Elin ist ein so sanfter, ein so guter Mensch. Sie kam sehr schlecht klar mit ihrer Bärenkriegerseite. Ich habe mir eingeredet, dass ich sie beschütze und ihr etwas Wertvolles bewahre, wenn ich ihr nicht die Wahrheit sage. Wenn ich ihr verheimliche, dass uns unsere Tierkrieger-Gene trollartig machen. Ich dachte, dann hätte sie eine Chance, nach diesem ganzen Albtraum als Mensch unter Menschen glücklich zu werden. Ich wusste, mir könnte das nicht gelingen. Für mich war es zu spät. Für alle anderen war es zu spät. Aber Elin … sie war eine Art Hoffnungsträgerin. Jetzt glaube ich, sie war es für mich. Für uns. Das war egoistisch von mir.
Ich hätte es ihr sagen sollen. Diese Menschlichkeit hat sie davon abgehalten, sich ganz mit der Bärenkriegerin in ihr zu identifizieren. Sie konnte sich nicht ganz darauf einlassen; und das wäre nötig gewesen, damit sie sich unter Kontrolle hat. Ich sage nicht, dass es allein meine Schuld ist, was Elin passiert ist. Aber ich hatte einen großen Anteil daran. Der Punkt ist, dass Elin meine beste Freundin war und ich mich falsch verhalten habe. Sie hat nur mich. Ich bin mir über nicht allzu viele Dinge im Klaren, die in dieser neuen Welt gerade passieren, aber eins weiß ich. Eins fühlt sich für mich richtig und gut an: Elin braucht mich und ich werde ihr helfen.«
Die anderen schwiegen betreten, nachdem ich meinen langen Monolog beendet hatte. Es war nicht leicht für mich, den anderen gegenüber so mein Herz zu öffnen, aber ich wollte, dass alle hinter mir standen.
»Deine Loyalität Elin gegenüber in allen Ehren«, schaltete sich Nic wieder ein. »Wir haben keine Ahnung, wie das Portal funktioniert, was sich auf der anderen Seite befindet, ob Elin noch lebt und wie ihr jemals wieder zurückkommen solltet. Dich selber in Gefahr bringen, hilft Elin auch nicht weiter. Wenn Elin noch zu helfen ist. Es gibt hier, in unserer Welt, genug zu tun. Wir brauchen dich. Was du vorhast … das …«, er fuchtelte frustriert mit den Armen. »Du könntest dich genauso von einer hohen Klippe stürzen und würdest dasselbe erreichen.«
»Ach, so ein Quatsch, Nic«, sagte ich ärgerlich. »Was für ein blöder Vergleich. Schließlich können wir mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, dass Jötunheim auf der anderen Seite des Portals liegt.« Ich zog den Zettel mit den Zeichen aus der Tasche und reichte ihn Magni, dem Auserwählten mit dem größten Wissen über Magie. »Hier habe ich das Portal mit den Runen aufgezeichnet, vielleicht hilft das.«
Nic wollte mir den Zettel aus der Hand reißen. »Gib her«, meinte er ungeduldig.
Aber Magni war schneller. Der blonde Hüne aus Norwegen sah Nic mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ich weiß gar nicht, warum du glaubst, hier alle Entscheidungen zu treffen. Ich denke, wir werden abstimmen, ob wir hinter Alannahs Plan stehen, oder nicht? Und ich finde es vernünftig, zu recherchieren, um was für ein Portal genau es sich handelt.«
»Ich sage ja nicht, dass ich das nicht vernünftig finde«, brummelte Nic.
Magni studierte die Zeichnung, während ich ein weiteres Argument für meinen Plan vorbrachte. »Wenn das Portal nach Jötunheim führt, habe ich die Chance, etwas über die Trollwesen herauszufinden. Ich meine, unser Wissen ist recht beschränkt. Unsere Informationen sind mehrere tausend Jahre alt. Wir haben keinen wirklichen Plan, wie wir gegen die Trollwesen vorgehen können. Klar, wir können versuchen, die, die noch hier sind, zu töten oder zu verbannen. Aber wird uns das gelingen? Und woher wissen wir, dass sie nicht doch wieder einen Weg in diese Welt finden? In Jötunheim könnte ich an echtes Insiderwissen herankommen, wie die Gefahr der Eroberung der Menschenwelt seitens der Trollwesen für immer gebannt werden kann.«
Nic rollte mit den Augen. »Wenn das Portal nach Jötunheim führt …«
»Ich glaube, das tut es«, meldete sich Magni zu Wort. Er erzählte von Yggdrasil, dem Weltenbaum, und auf welchen »Ästen« sich die verschiedenen Welten befinden sollten. »Da gibt es also theoretisch einen Weg von einem Ast zum anderen. Von Midgard, wo wir sind, nach Jötunheim. Alle Pfade werden mit Runen beschrieben und der Pfad, den wir brauchen, von uns in die Welt der Trolle, wird durch diese Rune repräsentiert.« Er stand auf und malte ein Zeichen an die Tafel. Es sah aus wie ein Pfeil nach oben. »Das ist die Rune Tyr.«
Dann malte er noch eine Rune, die wie ein kleines P aussah. »Und das ist Thurisaz. Die steht für Riesen, aber auch für Torwege.«
Magni erklärte, dass diese Runenkonstellation für ihn wie ein Weg nach Jötunheim aussah. Ich verstand nicht viel davon, aber die anderen Auserwählten mit etwas Kunna, also Magiewissen, nickten. Nic eher widerwillig und Rowan enthusiastisch. Joel zuckte nur mit den Schultern, als ich ihn ansah.
Er besaß große Erd-Magie, hatte aber nie trainiert. Er hatte geglaubt, sich aufgrund seines Alters aus der Affäre ziehen zu können, wenn es noch zu seinen Lebzeiten überhaupt zur zweiten Ragnarök kam. Er wollte den Kampf gegen die Trollwesen der Generation seines Enkels Nic überlassen. Deshalb hatte er wahrscheinlich nicht viel mehr Ahnung als ich.
Aber wenn drei Auserwählte sich ziemlich einig waren, dass das Portal nach Jötunheim führte, war das gut genug für mich.
»Was für mich keinen Sinn ergibt«, ließ Nic nicht locker, »wenn es jemanden gab, der ein Portal nach Jötunheim erschaffen konnte, einfach so … wieso dann jahrhundertelang die Brochs bewachen? Wieso haben wir davon nie erfahren?«
»Das ist eine echt gute Frage«, freute ich mich, dass Nic mir so in die Hand spielte. »Und deshalb wollte ich auch darum bitten, dass ein paar Tierkrieger mir dabei helfen, die Akten der Klinik zu durchforsten. Vielleicht finden wir etwas zu dem Portal …«
»Wir müssen unseren Feldzug gegen die Trollwesen vorbereiten, Alannah«, entrüstete sich Nic. »Wenn du mich fragst, haben wir schon viel zu viel kostbare Zeit auf diese Schnapsidee verschwendet. Morgen früh wollen wir los …«
»Dann gebt mir wenigstens bis morgen früh. Wieso wollt ihr denn euch alle vorbereiten?« Ich warf die Hände in die Luft. »Ihr wisst gar nicht, was euch erwartet. Brauchst du wirklich alle dafür? Du kannst doch bestimmt ein paar Leutchen entbehren. Ich meine, wenn wir etwas Nützliches zu dem Portal finden, wie toll wäre das! Vielleicht erfahren wir auch von einer Möglichkeit, wie man durch das Portal wieder hierher zurückkommt. Dann müsstest du ja wohl zugeben, dass mein Plan eine gute Idee ist. Ich könnte wertvolles Wissen über die Trollwesen sammeln. Ich könnte Elin retten. Und hoffentlich auch noch die anderen Tierkrieger, die unglückseligerweise bei der Verbannung während der zweiten Ragnarök mit durch die Portale gezogen wurden.«
Ich sah in die Runde und wusste, dass ich damit die Unterstützung einiger anderer meiner Kameraden hatte. Adira, die ihre Schwester Calixta auf diese Weise verloren hatte, ergriff gleich das Wort. »Also, ich melde mich freiwillig, Alannah bei den Recherchen zu helfen.«
»Ich auch«, sagte mein Freund John. Dankbar lächelte ich ihn an. Auch ein paar andere Hände gingen hoch.
Nic winkte ab. »Okay, okay, John und Adira können Alannah helfen. Aber das reicht. Und ihr habt bis morgen früh. Dann stimmen wir ab, ob Alannah mit uns kommt oder ob sie durch das Portal geht.«
Ich atmete erleichtert auf.
Während der restlichen Besprechung hörte ich gar nicht mehr richtig zu. Ich bekam nur mit, dass es einige Zankereien zwischen Nic und Magni gab. Keiner wollte dem anderen die Führungsposition zugestehen. Kurz überlegte ich, ob ich vorschlagen sollte, dass wir auch darüber abstimmen, aber dann ließ ich es bleiben.
Ich hatte meine eigene Mission.
Die Lichtung wurde unser neues Zuhause.
Die meiste Zeit versteckten wir uns in der kleinen Höhle, aber ab und zu gingen wir nach draußen, um auf der Wiese im Gras zu liegen und Sonne zu tanken.
»Finden uns die Wolfsungeheuer hier?«, hatte ich den Wolf beim ersten Mal gefragt. Ich redete mittlerweile mit ihm, so als ob er mich verstehen würde, und manchmal kommunizierte er auf seine Weise mit mir.
Auf diese Frage gab es keine Antwort. Wahrscheinlich liefen wir hier genauso wie anderswo Gefahr, von feindlichen Kreaturen entdeckt zu werden.
Aber der Wald war groß und wir mussten irgendwie überleben.
Der Wolf zeigte mir, wo ein Bach war, aus dem ich trinken konnte. Er führte mich zu Büschen mit kleinen sauren Beeren, von der Sorte, die seit Beginn meines Aufenthalts im Wald zu meinem Hauptnahrungsmittel gehört hatte.
Manchmal ließ er mich alleine und kam dann mit kleinen Tieren und Vögeln zurück, die ich über einem kleinen Feuer briet.
Anfangs hatte ich gezögert, ein Feuer zu machen.
»Unzubereitet bekomme ich es einfach nicht runter«, erklärte ich dem Wolf. »Ich habe in meiner Not hier schon viel roh runtergewürgt. Maden, Insekten. Aber komplett rohes Fleisch? Meinst du, wenn ich ein Feuer mache, dann werden wir gleich überfallen? Du weißt schon? Ein Feuer?« Ich deutete Flammen mit den Fingern an und machte ein Geräusch, das sich wie brennende Zweige anhören sollte.
Der Wolf legte den Kopf schief und schaute mich aufmerksam an.
»Ich suche draußen nach den nötigen Materialien. Kommst du mit?«
Der Wolf folgte mir aus der Höhle und trottete hinterher, als ich um die Lichtung herumschlich und verschiedene Sachen einsammelte.
Es war gar nicht so einfach, ein Feuer ohne Hilfsmittel zu machen, und die paar Male, die es mir gelungen war, hatte ich sehr lange dafür gebraucht. Wenn der Wolf merkte, was ich vorhatte, und es für keine gute Idee hielt, konnte er mich immer noch davon abhalten.
Da in der niedrigen Höhle der Rauch nirgends abziehen konnte, würde ich die Feuerstelle vor dem Eingang einrichten müssen. Und bislang hatte ich meine Feuer immer komplett gelöscht, weil ich weiterzog. Aber hier würde ich es mir einfacher machen und die Glut so lange wie möglich aufbewahren, damit ich nicht immer wieder stundenlang Funken schlagen müsste.
Ich grub also ein kleines Loch und legte es mit Steinen aus. Hinterher könnte ich Steine auf die Asche legen und so die Glut möglichst lange am Glimmen halten. Das Schwierigste in diesem Wald war es immer, trockenes Gras oder Ähnliches zu finden, das als Zunder dienen konnte.
Als ich auch das gefunden hatte, schlug ich meine beiden Kurzschwerter so lange zusammen, bis die Funken das Gras entzündet hatten. Der Trick dabei war, die Schwerter schnell fallen zu lassen, das Büschelchen vorsichtig hochzunehmen und durch sanftes Anblasen ein Feuer zu entfachen.
Der Wolf schaute mir die ganze Zeit über fasziniert zu.
Schließlich hatte ich es tatsächlich geschafft, ein kleines Feuer zu machen. Meine Arme taten mir weh und die Wunde an meinem Bein pochte. Aber immerhin konnte ich die Jagdbeute des Wolfs braten. Nichts in meinem Leben hatte je so lecker geschmeckt wie das Fleisch, das ich über dem Feuer auf unserer kleinen Lichtung zubereitete, während mein Freund, der Wolf, neben mir saß.
Dank dem Wolf ging es mir so gut wie nie in diesem Wald. In den letzten Monaten war ich sehr abgemagert, aber jetzt nahm ich wieder zu. Ich kurierte meine Verletzungen aus und fühlte mich bald wieder kräftig und gesund.
Eines Tages legte mir der Wolf keine Jagdbeute vor die Füße, sondern etwas ganz anderes: meinen Rucksack!
Er war mir schon bei meiner ersten Begegnung mit einem Wolfsungeheuer, kurz nach meiner Ankunft im Wald, abhandengekommen. Meine Kampfmontur war extra dafür gemacht worden, die Verwandlungen in eine Bärenkriegerin oder wieder zurück zum Menschen zu überstehen. Das spezielle Material hielt auch sehr warm. Besondere Verschlüsse sorgten dafür, dass ich meine Waffen, die beiden kurzen Schwerter, nicht verlor.
Doch der Rucksack mit Werkzeugen, Nahrungsvorräten und anderen Dingen, den ich durch das Portal mitgebracht hatte, war irgendwann bei der Verwandlung, dem Kampf oder während der anschließenden Flucht verschwunden.
Ich hatte mich in einem Fluss gewaschen, zurückverwandelt und war dann auf einen Baum geklettert, auf dem ich wahrscheinlich Tage ausgeharrt hatte. Selbst wenn ich mich an den Ort zurückgetraut hätte, wo ich dem Wolfsungeheuer begegnet war und den Rucksack verloren hatte, hätte ich die Stelle wahrscheinlich nicht wiedergefunden.
Jetzt nahm ich verzückt den verdreckten Rucksack entgegen und riss den Reißverschluss auf. Ich holte mein Taschenmesser und andere Werkzeuge hervor. »Du hast keine Ahnung, was man mit dem Zeug hier alles anstellen kann«, sagte ich euphorisch zu dem Wolf. »Das Leben hier wird viel einfacher, sooo viel einfacher, mit diesen Sachen. Guck mal.« Ich machte ein Feuerzeug an, doch der Wolf war weder erschrocken, noch besonders beeindruckt. Er schien sich einfach mit mir zu freuen. »Hast du das schon mal gesehen? Vielleicht habe ich sogar noch was …«
Ich wühlte im Rucksack herum und fischte einen Proteinriegel heraus. »Halleluja!«
Gierig riss ich die Folie ab und biss hinein. »Oh mein Gott«, murmelte ich mit vollem Mund Es war die Sorte mit Erdnussbuttergeschmack. »Du glaubst nicht, wie gut das ist. Bislang fand ich, die Dinger schmecken irgendwie wie Pappe, aber wenn man so etwas Süßes überhaupt nicht mehr gewohnt ist …«
Der Wolf schien mich amüsiert zu beobachten. Ich hielt ihm den halb aufgegessenen Riegel hin. »Willst du auch mal?«, sagte ich im Scherz. Irgendwie hatte ich das Gefühl, es wäre unhöflich, ihm nichts davon anzubieten, nachdem er den Rucksack gefunden hatte.
Der Wolf schnupperte vorsichtig daran. Seine Augen flackerten auf, als hätte er eine überraschende Erkenntnis gehabt.
Er öffnete die Schnauze und ich dachte schon, er wollte tatsächlich den Riegel verschlingen.
Stattdessen kamen Laute aus seinem Maul. Sie hörten sich verdächtig nach menschlicher Sprache an.
Ich war so verdutzt, dass ich dachte, ich müsste es mir eingebildet haben. Hatte ich von dem halben Riegel einen Zuckerschock erlitten?
»Was?«, fragte ich automatisch nach.
Ich ließ den Riegel vor Überraschung fallen, als der Wolf mit tiefer, grollender Stimme auf Englisch antwortete.
»Erdnussbutter.«
Hevera-Klinik, Shetland, 3 Tage nach der zweiten Ragnarök
Ich biss beherzt in mein Erdnussbutter-Sandwich. Glücklicherweise mochte ich Erdnussbutter.
Ingrid hatte eine große Menge davon auf Vorrat, und die letzten zwei Tage hatte es nicht viel anderes gegeben.
Ohne Strom konnte Ingrid keine richtigen Mahlzeiten kochen, aber das hielt sie nicht davon ab, ihren Job zu machen.
Und so waren wir auf ihre Anweisung hin nach der Besprechung in den Speisesaal im Erdgeschoss gegangen, wo die Haushälterin und die Pflegerin Anna am Vormittag schon alles für diese Mittagspause vorbereitet hatten.
Am liebsten hätte ich natürlich gleich mit den Recherchen losgelegt, aber mein knurrender Magen rief mich zur Vernunft.
Und jetzt saß ich an einer großen Tafel – mehrere Tische waren zusammengeschoben worden – mit den anderen überlebenden Tierkriegern, Auserwählten und dem Klinikpersonal, das nicht mit in den Bunker gegangen war.
Die Fenster waren noch mit Brettern zugenagelt und auch sonst war einiges von dem Schaden zu erkennen, der entstanden war, als Elins Verbannung durch das Portal die Klinik in ihren Grundmauern erschüttert hatte. Aber ich mochte die heimelige Atmosphäre, die durch die brennenden Kerzen entstand.
Mir wurde bewusst, dass es vielleicht die letzte gemeinsame Mahlzeit war. Ich wurde sogar ein bisschen wehmütig. Dass ich diese Klinik als eine Art Zuhause betrachten würde, hätte ich nie gedacht. Schließlich wollte ich immer von hier abhauen.
Die anderen würden morgen in den Kampf ziehen, aber Ingrid, Anna und unser Sportlehrer Brutus, der noch verletzt war, blieben hier in der Klinik.
Ich hoffte, ich könnte bald hierher zu ihnen zurückkehren. Mit Elin und den anderen Tierkriegern aus Jötunheim. Nach Hause.
Adira riss mich aus meinen, für mich außergewöhnlich rührseligen Gedanken. »Bist du fertig? Wollen wir loslegen?«
Ich nahm einen letzten Schluck aus meinem Wasserglas und stand auf.
John schnappte sich noch ein Sandwich und folgte uns dann kauend aus dem Speisesaal. »Wo wollen wir anfangen?«, fragte er mit vollem Mund.
»Mrs Darktowers Büro«, schlug Adira vor. »Sie hat den Laden hier geschmissen und wenn jemand von dem Portal wusste, dann sie.«
Ich zuckte mit den Schultern. Mrs Darktowers Büro war ebenfalls im Erdgeschoss und irgendwo mussten wir anfangen. Wir nahmen uns jeder eine der Laternen, die am Eingang standen, zündeten sie an und gingen den Gang hinunter.
Mrs Darktowers Reich zu betreten war ein merkwürdiges Gefühl. Mir steckte immer das Unbehagen in den Knochen, das mich in den ersten Wochen in der Klinik stets beschlichen hatte, wenn die »Generalin« mich herzitierte.
Als ich den Schreibtisch betrachtete, sah ich sie vor meinem inneren Auge dahinter thronen. Mrs Darktower, mit ihrer Helm-Frisur, für die sie jeden Tag bestimmt eine ganze Dose Haarspray brauchte, und mit dem übertriebenen Make-up, das aussah wie mit einem Spachtel aufgetragen. Augenbrauen, Lippenstift und Eyeliner waren stets so akkurat, dass ich die Vermutung hegte, die Farbe wäre eintätowiert.
Die Frau war bestimmt so alt wie Dr. Isbister, vermutlich Mitte vierzig. Aber wo jener durch seinen George-Clooney-Charme jünger gewirkt hatte, war mir die Generalin durch ihre unnahbare, stocksteife Art und die »Maske« eher älter vorgekommen.
Um ehrlich zu sein, hatte ich sie gehasst. Ich hatte geglaubt, dass wir in ihren Augen nichts als Instrumente waren, die der Sache dienten. Dr. Isbister war ein genialer Wissenschaftler, der sich auf kranke Art und Weise für unseren Vater gehalten hatte. Darauf war er stolz. Wir waren ihm wichtig gewesen.
Für Mrs Darktower waren wir nur »die Garde«, deren Aufgabe darin bestand, die Auserwählten zu beschützen, wenn diese die Trollwesen verbannten. Wir waren wichtig, ja, aber nur ein Mittel zum Zweck.
Erst als die zweite Ragnarök unmittelbar bevorstand, war mir klar geworden, dass sie sich selbst ebenfalls als Werkzeug betrachtete, nicht besser oder schlechter als wir. Und wenn es der Sache diente, sich gegen die Elite der Eingeweihten aufzulehnen, wenn sie schlechte Entscheidungen trafen, war sie sich nicht zu schade dafür.
Niemals würde ich den Blick vergessen, den sie uns und der Hevera-Klinik zugeworfen hatte, kurz bevor sie in den Helikopter gestiegen war, der sie zum Bunker bringen sollte. Ich hätte schwören können, dass sie kurz davor gewesen war, hier, bei uns zu bleiben. Doch am Ende hatte sie uns doch unserem Schicksal überlassen.
Das Bild der strengen Frau hinter dem Schreibtisch verblasste, als Adiras ungeduldige Stimme zu mir durchdrang. »Was stehst du da in der Tür, komm doch rein.«
Ich trat ein. John und Adira hockten auf dem Fußboden, Aktenberge und Papierstapel um sie herum. John zeigte darauf: »Hier ist alles schon mal umgekrempelt worden, als wir nach Instruktionen und Hinweisen zum Aufenthaltsort der Eingeweihten gesucht haben. Ich glaube, wäre da jemand über Dokumente gestolpert, in denen es um ein Portal nach Jötunheim ging, hätte derjenige Bescheid gesagt!«
»Aber du weißt doch, wie das ist, wenn man nach etwas ganz Bestimmtem Ausschau hält«, widersprach Adira. »Dann übersieht man andere, vielleicht wichtige Sachen. Wir müssen alles ganz genau durchgehen.«
Die dunklen, strubbeligen Haare fielen ihr ins Gesicht, als sie sich über einen Aktenstapel beugte und anfing, den ersten Ordner durchzublättern. Wenn jemand etwas finden würde, was bisher übersehen worden war, dann Adira. Sie war von Natur schon recht verbissen, aber ihr lag auch sehr viel daran, dass ich diese Mission antreten konnte. Nachdem ihr Bruder Ran während des Endkampfes am Mousa Broch zu Tode gekommen war, hatte sie nur noch ihre Schwester Calixta. Die Drillinge hatten sich sehr nahe gestanden und Adira, die eigentlich immer die Selbstbewussteste von den dreien gewesen war, musste sich jetzt sehr einsam fühlen. Ich wusste, sie klammerte sich verzweifelt an die Hoffnung, dass ich auch Calixta aus Jötunheim zurückbringen würde.
John machte sich am Aktenschrank zu schaffen und schaute sich an, was dort zu finden war. Im flackernden Licht der Laterne sah sein vernarbtes Gesicht besonders schrecklich aus. Ein anderer Wolfkrieger hatte ihn in der Aktivierungsphase angegriffen und beinahe zerfleischt. Ich hatte etwas Zeit an Johns Krankenbett verbracht und so waren wir Freunde geworden. Ich wusste, dass ich mich auf ihn verlassen konnte, und auch wenn er nicht, so wie Adira, tiefgehende persönliche Gründe dafür hatte, mir bei den Recherchen zu helfen, würde er genauso gewissenhaft sein.
Mein Blick schweifte durch das Büro und blieb wieder am Schreibtisch hängen. Offensichtlich hatte noch niemand gewagt, die penible Ordnung darauf zu zerstören, die Mrs Darktower gepflegt hatte. Es gab auch nicht viel durcheinanderzubringen. Ein Telefon, das nicht funktionierte. Eine Schreibtischunterlage. Der Computer, der ohne Strom auch nutzlos war. Ein Kugelschreiber, der parallel zur Schreibtischunterlage neben einem kleinen Block lag.
Einer Eingebung folgend ging ich um den Schreibtisch herum.
Sich auf Mrs Darktowers Bürostuhl zu setzen fühlte sich irgendwie frevelhaft an. Es gab mir einen Kick.
Ich zog die oberste Schreibtischschublade auf. Jemand anders hatte schon dieselbe Idee gehabt und darin herumgewühlt.
Die Generalin hatte bestimmt auch in ihren Schubladen Ordnung gehalten. Jetzt flogen darin diverse Büroutensilien durcheinander. Stifte, Büroklammern, Heftnotizblöcke, Lineal, Locher, Tacker, Tesafilm, ein Taschenrechner … und ein großer Schlüsselbund.
Ich nahm ihn heraus und betrachtete jeden Schlüssel einzeln. Wie von Mrs Darktower nicht anders zu erwarten, waren die Schlüssel akkurat in kleiner, gestochener Handschrift beschriftet. »Isbister Büro«, las ich zum Beispiel, oder »Putzraum 1.Stk.«. Auf einem der Schlüssel stand »Keller Lager«.
»Hey Leute, wurden gestern eigentlich schon alle Räume durchsucht?«
Adira antwortete ohne aufzuschauen: »Alle Büroräume im ersten Stock und die Privaträume oben. Wieso?«
»Weil ich hier einen Schlüsselbund gefunden habe und mich frage, ob es irgendwo eine verschlossene Tür gibt, hinter der wir noch nicht nachgeschaut haben.«
Jetzt sah Adira von ihrem Aktenstapel auf. »Soweit ich weiß, war keiner der Räume abgeschlossen.«
»War jemand schon im Keller?«
»Nicht dass ich wüsste«, antwortete Adira. »Da ist doch nur der Hauswirtschaftsraum, ein Abstellraum …«
»Ja, ein Abstellraum. Oder auch ein Lager. Kann es nicht sein, dass dort alte Akten aufbewahrt werden?«
»Möglich«, gab Adira zu.
»Wollen wir nachschauen?« Ich stand auf.
Adira betrachtete unschlüssig die Akten um sich herum, aber John war schon bei ihr und reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. »Komm. Wenn wir dort nichts finden, können wir immer noch hier weitersuchen.«
»Na gut.«
Zusammen gingen wir in den Keller.
»Es muss der Raum ganz hinten links sein«, meinte Adira. »Gegenüber dem Aktivierungsraum.«
Ich steckte den Schlüssel ins Loch und drehte um. Er passte.
Gespannt schob ich die Tür weiter auf und ließ Adira mit der Laterne in der Hand an mir vorbei. Dann folgten John und ich ihr in den vollgestellten, staubigen Raum. John hatte eine kleine Stablampe, die er jetzt anschaltete und damit in alle Ecken leuchtete.
Im Zimmer stapelten sich Möbel und Einrichtungsgegenstände sowie viele Kartons. Wir kämpften uns hinter eine Reihe Stühle und Schreibtische, wo wir an der Wand ein Regal entdeckten. Eine Kiste reihte sich fein säuberlich an die nächste und wir schauten probeweise hinein. Darin fanden wir alte Patientenakten, Dr. Isbisters Reporte an die Eingeweihten, weitere Forschungsergebnisse und andere Dokumente, aus denen wir nicht ganz schlau wurden. »Jackpot«, sagte John.
»Hier unten haben wir keinen Platz, das alles durchzugehen«, gab Adira zu bedenken.
»Am besten schleppen wir die alle nach oben in den dritten Stock. Dort haben wir Licht und können alles in Ruhe durchschauen«, stimmte ich zu. Die Fenster in der dritten Etage waren intakt geblieben und wir hielten uns hauptsächlich dort oben auf.
Wir nahmen jeder eine der schweren Kisten und trugen sie die Treppe hoch. Unterwegs rekrutierten wir andere, um uns zu helfen.
Es dauerte nicht lange, da standen die Kartons schön gestapelt in Mrs Darktowers ehemaligem Wohnzimmer. Wir sprachen nicht, während wir konzentriert die Dokumente darin durchblätterten.
»Oh mein Gott«, rief Adira auf einmal.
Ich sprang sofort auf. »Hast du was gefunden?«
Sie schüttelte den Kopf, schaute aber nicht von der Akte in ihrer Hand auf. »Nicht das, was wir suchen, aber ich habe gerade Informationen über unsere biologischen Eltern gefunden. Hier stehen die Namen, wo sie wohnen, ihre medizinischen Untersuchungsergebnisse und irgendwelche Abkürzungen … Moment, wofür stehen die …« Sie blätterte weiter. »Ah, für die Versuchsreihen. Hier ist aufgeschlüsselt, wer mit wem gepaart wurde und inwiefern das erfolgreich war.«
John und ich hielten regungslos inne, während Adira die Dokumente durchschaute. Noch vor ein paar Monaten, als ich gerade erst hinter das Geheimnis meines Ursprungs gekommen war, da hätte ich alles für solche Informationen gegeben, wie Adira sie gerade in der Hand hielt. Ich hätte sie für den Schlüssel zu meiner Identität gehalten. Aber jetzt spielte es eigentlich keine große Rolle mehr. Nic hatte mir erzählt, dass die leiblichen Eltern der Tierkrieger sehr gut dafür bezahlt worden waren, ihr Genmaterial beizusteuern.
Zu der Zeit, als die Magier – die Menschen mit Götterfunken, von denen unsere Auserwählten abstammten – die Trollwesen verbannten, hatten einige Tierkrieger existiert. Diese Elite-Krieger hatten, wie wir nun wussten, das Berserker-Gen, was ein Troll-Gen war. Eigentlich war es nichts Außergewöhnliches, dass es solche Halbwesen gab, denn früher hatten sich wohl Trollwesen, Menschen, Götter und wer weiß was sonst noch für Geschöpfe miteinander gepaart. Als die Prophezeiungen einer zweiten Ragnarök eine Garde der Elite-Kämpfer erwähnten, nahm man gleich an, diese Beschützer der Auserwählten würden Tierkrieger sein. Bloß wusste man nicht, dass im Zuge der Christianisierung diese Tierkrieger sehr schnell ausgerottet worden waren.
Die Eingeweihten pflegten Stammbäume der Familien mit Tierkrieger-Genen, aber als Dr. Isbister mit seinem genialen Plan kam, da war das Tierkrieger-Potenzial schon sehr ausgedünnt.
Endlich sprach Adira weiter: »Sieht aus, als ob das Ganze für unsere leiblichen Eltern wirklich recht … anonym abgelaufen ist. Sie haben lediglich Samen und Eier gespendet. Dann wurden wir von Leihmüttern auf die Welt gebracht.«
Das waren neue Informationen für uns. »Steht da Leihmütter? Oder Ammen?«, fragte ich.
»Sie werden hier Ammen genannt.«
»Steht da etwas von einer Alannah McGuire?«
Adiras Finger fuhr über das Blatt Papier. »Ja, sie steht recht weit oben. Und neben ihrem Namen steht noch, dass sie Vermittlerin war. Was immer das zu bedeuten hat.«
